A.4.1.3 Annäherung an Europa: Abschied von

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A.4.1.3 Annäherung an Europa: Abschied von
ASYL- UND FLUCHTMIGRATION
Verfahren geprüft, zudem haben die Antragsteller in diesem Fall keine Möglichkeit, die Entscheidung gerichtlich
anzufechten. Seit der Einführung dieser Staatenliste sind
die Asylanträge in Kanada deutlich zurückgegangen (Alboim/Cohl 2012): Innerhalb eines Jahres halbierte sich
die Zahl von 20.223 (2012) auf 10.299 (2013) (UNHCR
2014a). Im GEAS gibt es zwar keine direkte Entsprechung
zu den DCO. Auf eine europaweit einheitliche Liste sicherer Herkunftsstaaten konnten sich die EU-Mitgliedstaaten bei den Verhandlungen zum GEAS-Paket nicht
verständigen. Nach der neuen Asylverfahrensrichtlinie
(RL 2013/32/EU) können die Länder aber auf nationaler Ebene weiterhin entsprechende Listen einsetzen. In
Deutschland sind neben allen EU-Mitgliedsländern seit
Längerem der Senegal und Ghana als sichere Herkunftsstaaten100 eingestuft (§ 29a Abs. 2 AsylVfG). Im November 2014 wurde die Liste um Serbien, Mazedonien sowie
Bosnien und Herzegowina erweitert.101 Es ist allerdings
kaum zu begründen, dass ein Herkunftsland in einem EUMitgliedsland als sicher gilt und in einem anderen nicht.
In Anbetracht dessen sollte die EU ihre Bemühungen
wieder aufnehmen, eine EU-weite Liste sicherer Herkunftsländer von Flüchtlingen zu definieren.
A.4.1.3 Annäherung an Europa: Abschied von der
liberalen kanadischen Flüchtlingspolitik?
Der Vergleich zwischen dem GEAS und Kanada zeigt einen
doppelten und zeitlich versetzt ablaufenden Konvergenzprozess. Wie der SVR (2014: 79–90) ausführlich beschrieben hat, wurde der Schutzanspruch in Europa sukzessive erweitert (etwa auf Verfolgung durch nichtstaatliche
Akteure und auf geschlechtsspezifische Verfolgung);
diese zunehmend weite Auslegung der GFK wurde auch
maßgeblich von Gerichten forciert (vgl. dazu auch Dreyer
2014). Für diesen Prozess kann der in Kanada praktizierte asyl- und flüchtlingspolitische Weg als ein wichtiger
Orientierungspunkt gelten. Allerdings ist auch die andere
Seite dieses Konvergenzprozesses zu bedenken: Vor allem
nach dem 11. September 2001 wurden im kanadischen
Recht auch stärker regulierende Instrumente verankert
(die in Europa bereits etabliert waren) und dadurch der
Zugang zum kanadischen Asylsystem eingeschränkt
(Macklin 2013; Tab. A.5).
Dieser Konvergenzprozess erfolgte schrittweise: Er
begann 2001 mit dem Immigration and Refugee Protection Act (IRPA), der vor allem Kanadas Möglichkeiten
erweiterte, Flüchtlinge abzuschieben. 2002 setzte er sich
mit dem STCA fort, das strukturell dem Dublin-System
entspricht, und endete schließlich (vorläufig) mit dem
Balanced Refugee Reform Act (BRRA), der eine Liste sicherer Herkunftsländer (Designated Countries of Origin,
DCO) einführte, und der Bill C-31 von 2012, die abgelehnte Flüchtlinge von der Option eines Daueraufenthalts
ausschließt. Vor diesem Hintergrund liegt es tatsächlich
nahe, von einem „European Turn in Canadian Refugee
Policy“ (Soennecken 2014) zu sprechen.
Dieser transatlantische Ost-West-Export flüchtlingspolitischer Steuerungsinstrumente und daraus ableitbare
Konvergenzprozesse dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen Europa und Kanada in der
Flüchtlingspolitik weiterhin einen zentralen Unterschied
gibt, der etwas mit der Geografie Kanadas und Europas
zu tun hat. Kanada ist für Asylsuchende grundsätzlich viel
weniger zugänglich als die EU.102 Denn seit der Verabschiedung des STCA, das die Einreise von Asylsuchenden
über die USA und damit über den Landweg ausschließt,
ist Kanada nahezu vollständig ‚abgeriegelt‘. Das Territorium der EU ist dagegen vergleichsweise leicht erreichbar,
nicht nur auf dem Landweg, sondern auch über den Seeweg – trotz der Stärkung von Frontex. Nur vor diesem Hintergrund kann die kanadische Flüchtlingspolitik in ihrer
spezifischen Anlage verstanden werden. Sie kann großzügig sein, die GFK weit auslegen und Flüchtlingen sofort
den Weg in den Daueraufenthalt eröffnen, weil die Geografie ihr einen Teil der Arbeit abnimmt. Diese autonome Position sichert die Flüchtlingspolitik noch weiter ab,
indem sie zunehmend Resettlement-Verfahren bevorzugt
(was durchaus auch zu Lasten des klassischen Asylverfahrens geht), denn damit kann sie Kontingente festlegen
und Flüchtlinge nach bestimmten Kriterien auswählen.
Diese Selektivität, die bereits im System etabliert ist, hat
sich durch die jüngsten Reformen weiter verstärkt. Auch
in ihrer öffentlichen Rhetorik behandelt die kanadische
100 Als sichere Herkunftsländer definiert Art. 16a Abs. 3 GG Staaten, „bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen
politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder
Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die
die Annahme begründen, dass er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird.“
101 Die drei in Deutschland neu hinzugekommenen Länder fallen etwa in Österreich schon länger in die Kategorie der sicheren Herkunftsländer.
Österreich listet neben den 27 EU-Staaten Norwegen, Island, Liechtenstein, die Schweiz, Kanada, Neuseeland, Australien, Serbien, Montenegro,
Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und den Kosovo.
102 In den knapp 100 Jahren zwischen 1914 und 2011 reisten weniger als 3.000 Flüchtlinge irregulär auf dem Seeweg nach Kanada ein (Macklin
2013). Nachdem in den Jahren 2009 und 2010 zwei in Thailand gestartete Boote mit insgesamt 568 tamilischen Flüchtlingen in British Columbia
gelandet waren, wurden die Gesetze zu irregulärer Einreise verschärft. Seit 2012 können nach der Bill C-31 irregulär eingereiste Flüchtlinge auf
unbestimmte Zeit inhaftiert werden; dies wurde explizit als Abschreckungsmaßnahme ausgewiesen. Kanada hat sich hier bewusst am australischen
Modell orientiert (Johnson 2010; Times Colonist 2012).
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Jahresgutachten 2015