TEACCH – was hinter dem Namen steckt: Grundlagen, die man

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TEACCH – was hinter dem Namen steckt: Grundlagen, die man
1. Didaktik und Methodik
Didaktik im ursprünglichen Sinne als Theorie allen Lehrens und Lernens
umfasst alle Aspekte, die im Zusammenhang mit der Vermittlung zu tun
haben, absichtsvoll Lernprozesse zu fördern. Dies beinhaltet vor allem Ziele, Themen, Inhalte, Methoden, Medien, Organisationsformen und deren
wechselseitigen Bezüge (vgl. Ilse 1984). Didaktik wird geprägt von den
Theorien des Lernens und von den am Unterricht beteiligten Menschen.
Didaktik bestimmt die Prinzipien, nach denen die Psychomotorikerin ihr
Handeln ausrichten und kritisch beraten kann. In diesem Zusammenhang
spricht man von dem didaktischen Dreieck als Bild für die wechselseitigen
Beziehungen zwischen Erwachsenem, Kindern und Lerninhalt (Flechsig
1996).
Methodik dagegen bezeichnet die Lehre der angewandten Methoden. Methodik kann als eine Dimension der Didaktik angesehen werden. Sie handelt von der Gestaltung, dem „Wie“ des Lehrens, während Didaktik sich
auch mit dem „Was“ befasst.
In einer kommunikativen Didaktik wird Unterricht als ein kommunikativer Prozess zwischen den Kindern bzw. zwischen Erwachsenem und Kind
betrachtet und die Beziehungsebene betont. Wenn das Lernen (konstruktivistisch gesehen) als einen Prozess der Selbstorganisation von Wissen
verstanden wird, werden möglichst reichhaltige und multimodale Umgebungen benötigt, welche die subjektiven Erfahrungsbereiche des Kindes ansprechen. Gerade in der Psychomotorik sollen die individuellen Bedürfnisse
und Verhaltensweisen der Kinder die speziellen Angebote beeinflussen. Dabei muss besonders die Bedeutung des angebotenen Inhalts für das Kind
berücksichtigt werden.
Deshalb ist es notwendig, vielfältige Möglichkeiten auf den verschiedenen
Ebenen der Didaktik und Methodik in der Psychomotorik zu unterscheiden.
Nur so können geeignete Maßnahmen ausgewählt werden, um den einzelnen Kindern in der Psychomotorikstunde gerecht zu werden.
Psychomotorische Didaktik- und Methodik-Ebenen
Verschiedene Ebenen beeinflussen die Stundenvorbereitung und -gestaltung:
yy Die pädagogisch-therapeutische Grundhaltung ist der Kern jeder Interaktion.
yy Der Ansatz prägt das Stundenbild durch einen theoretischen Hintergrund.
yy Die Intention deckt Bedürfnisse, Ziele und Themen auf und setzt entsprechende Antriebskräfte frei.
yy Arbeitsfeld und Lebensphasen verlangen nach alters- und klientgerechten
Angeboten.
yy Die Methodik des Stundenaufbaus strukturiert die Form und Einteilung
der Stunde.
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Didaktik und Methodik
yy Die Handlungsmethoden bilden das Angebot, Beziehungsgestaltung und
Verhalten der Psychomotorikerin.
yy Die Methodenformen werden als Mittel benutzt, um die Stundeninhalte
erlebbar zu machen.
yy Äußere organisatorische Bedingungen wie Rahmen und Struktur besitzen großen Einfluss auf die Gestaltung der Stunde und das kindliche
Verhalten.
yy Vielfältige und attraktive Materialien finden als Medien Verwendung (vgl.
Kapitel Material).
yy Die Reflexionsebene verbindet Erlebnis und Bewusstsein (vgl. Kapitel
Abschluss, Vorbereitung).
Jede dieser dargestellten Ebenen beinhaltet verschiedene didaktisch-methodische Möglichkeiten, von denen jeweils eine oder mehrere zu einer
speziellen Situation passend sein können. Die Kunst besteht darin, auf
jeder dieser didaktisch-methodischen Ebenen zweckmäßige Puzzlesteile
für das Gesamtbild der Psychomotorikstunde zu finden. Eine noch unerfahrene Psychomotorikerin wird sich zuerst auf ein Schema verlassen, um
Sicherheit und Erfahrung zu sammeln. Sie sollte sich von der Vielfalt nicht
verwirren lassen, sondern um die Alternativen wissen, die für sie und die
Gruppe hilfreich sein können.
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Grundhaltung
Unter Stress oder Unsicherheit werden nicht nur die Kinder, sondern auch
Erwachsene schnell auf bekannte und bewährte Mittel zurückgreifen, auch
wenn sie nicht sinnvoll sind. Diese Pauschalangebote führen die Vorbereitung bedingungslos und konsequent durch, die Psychomotorikerin reagiert
immer mit der gleichen Methode, das Kind hat selten Mitspracherechte.
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1.1 Grundhaltung
Pauschalangebote erscheinen in der Vorbereitung als einfach. Sie geben der
Psychomotorikerin Sicherheit und Klarheit, vorteilhaft bei Anfängern der
Psychomotorik. Sie geben dem Kind eine Zeitlang Sicherheit, durch immer
gleiche Methoden und Verhaltensweisen der Psychomotorikerin sowie einen
verlässlich strukturierten Stundenaufbau. Dagegen wecken Pauschalangebote bei unpassenden Situationen Störungen. Sie verhindern adäquate Reaktionen. Sie vermeiden Flexibilität. Sie verhindern neue Rollen und neue
Perspektiven. Sie stellen sich in der strikten Anwendung als schwierig dar.
Ideal wäre es, wenn in jeder erforderlichen Situation neue didaktischmethodische Möglichkeiten eingesetzt werden können – wenn sie benötigt
werden. Dies setzt einerseits das Wissen um die Vielfalt voraus, andererseits auch einen gewissen Erfahrungsschatz oder Sicherheit, sich flexibel
und variabel verhalten zu können.
1.1 Grundhaltung
Menschenbild, Entwicklungstheorien, Ausbildung oder Institution verlangen nach einer entsprechenden Sichtweise der Psychomotorikerin.
Es können zwei gegensätzliche Kategorien gefunden werden:
Defizitorientierung
Die Defizitorientierung sieht nach den kindlichen Schwächen und Auffälligkeiten, um diese gezielt fördern und beheben zu können. Da die Schwierigkeiten auffällig sind und Probleme bereiten, ist es anscheinend im Interesse des Kindes und aller Beteiligten, diese Schwachstellen näher zu
untersuchen, um Rückschlüsse für eine möglichst optimale Behandlung
ziehen zu können.
Wenn nur die Schwachstellen der Kinder im Bezug zur „Normalität“ gesehen werden, entgehen dem Psychomotoriker eine Reihe von wichtigen
Informationen, die für die kindliche Entwicklung förderlich sind. Das Kind
wird gefördert, um möglichst schnell die geplanten Ziele – die Behebung
der Schwierigkeiten – zu erreichen. Eine defizitfixierte Behandlung verdeutlicht den Kindern (wieder einmal!) ihre Unfähigkeiten und schafft
den Zwang, diese verändern zu müssen. In diesem Sinne schwächt Defizit­
orientierung die Kinder. Die Vorausplanung der anscheinend notwendigen
Veränderung wird zielgerichtet und der pädagogisch-therapeutische Erfolg
am Verschwinden der Defizite gemessen. Der Erfolg einer solchen meist
funktionellen Behandlung ist abhängig von den „korrekten“ Ergebnissen
einer durchgeführten defizitorientierten Diagnostik.
Die Aufgabenstellung lautet:
„Was das Kind nicht kann, wird geübt.“
Ressourcenorientierung
Die Ressourcenorientierung sieht nach den kindlichen Ressourcen, um diese gezielt zur Begleitung der kindlichen Entwicklung und zur Lösung von
Schwierigkeiten einzusetzen.
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Didaktik und Methodik
Ressourcen sind individuelle Stärken, Fähigkeiten und Kompetenzen, eigene Potentiale für Lösungen bei Krisen sowie unterstützende Bedingungen und Kraftquellen auch zur Bewältigung von Problemen. Jedes Kind
besitzt Kompetenzen und zeigt in bestimmten Lern- und Spielsituationen
positive Qualitäten. Ressourcenorientierung benutzt diese unauffälligen Situationen, erfolgreichen Handlungsstrategien und Lernprozesse. Sie sucht
mögliche Wege, um die Ressourcen in Erscheinung treten zu lassen. Sie
stärkt das Kind und dessen Selbstwertgefühl. Nicht der Kampf gegen die
Auffälligkeit wird als sinnvoll angesehen, sondern der Ausstieg aus dem
Kampf, sowie das Akzeptieren und Bestärken der bestehenden Fähigkeiten
und hilfreichen Bedingungen, ohne die Auffälligkeiten mit anderen Normalitäten oder Ansprüchen zu vergleichen.
Der Verzicht auf das Wissen um die kindlichen Schwachstellen und auf
dementsprechende kindliche Förderprogramme kann Erwachsene verunsichern. Wird sich das Kind in seinen Schwachstellen weiter entwickeln,
auch wenn die Defizite nicht geübt und verbessert werden? Werden die
Schwierigkeiten nur ausgeblendet?
Die Aufgabenstellung lautet:
„Was das Kind kann, darf es üben.“
Wir denken selten an das was wir haben,
aber immer an das, was uns fehlt.
(A. Schopenhauer)
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1.1 Grundhaltung
Beide Kategorien pädagogisch-therapeutischer Grundhaltung können unterteilt werden in jeweils zwei unterschiedliche Sichtweisen, die im Folgenden
definiert werden. Eine Sonderrolle nimmt die Entwicklungsorientierung
ein, die zwischen beiden Kategorien positioniert ist.
Grundhaltung
Defizitorientierung
Ressourcenorientierung
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Symptomorientierung
Die „offen-sichtlichen“, „augen-scheinlichen“, äußerlich erfassbaren Symptome werden in relativ kurzer Zeit diagnostiziert. Sie weisen auf eine
zugrunde liegende Krankheit und Störung hin (Seewald 1999), die angeblich im Kind persönlich liegen. Es kann ein detailliertes Zustandsprofil einzelner betroffener Teilbereiche erstellt werden. Die erkannten Symptome
werden, wenn möglich, bekannten Erscheinungsbildern (zum Beispiel Syndromen) zugeordnet. Es wird daraufhin eine meist funktionelle Behandlung
geplant und durchgeführt, um die sichtbaren Schwächen des Kindes zu
beheben. Vorteile der Symptomorientierung liegen in der Vergleichbarkeit
mit der Norm, in schneller Lernzielbestimmung und in deutlich sichtbaren
Behandlungsansätzen. Vernachlässig wird dagegen der Einfluss komplexer
Systeme (System des gesamten Körpers mit seinen zahlreichen Subsystemen, der Familie, der Umgebung, der Schule etc.). Auch werden die im
Vergleich verwendeten Normen als stabil vorausgesetzt und nicht hinterfragt. Und es kann nicht garantiert werden, dass das Behandeln des Symptoms den Mangel beheben kann.
Sebastian kann nicht auf dem Bauch liegend Rollbrett fahren. In der
Psychomotorikstunde übt er spielerisch diese Art des Rollbrett Fahrens,
indem er einen Ball vor sich herrollt.
Die Aufgabenstellung lautet:
„Die sichtbaren Schwächen werden durch Übung verbessert.“
Kausalorientierung
Die sichtbaren Schwächen werden nach verschiedenen Ursachen hinterfragt. Dazu benutzt man oftmals linear-kausale Entwicklungsmodelle, die
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Didaktik und Methodik
zurückverfolgt auf mögliche ursächliche Schwierigkeiten hinweisen. Bei
mangelnden Leistungen höherer Fähigkeiten werden die entsprechenden
basalen Voraussetzungen überprüft und eventuell funktionsgestörte frühere „Bausteine“ in die Verantwortung genommen. So werden wie in einem Puzzlespiel einzelne anscheinend gestörte Teile zu einem Gesamtbild
der „Auffälligkeit“ zusammengefügt. Auch hier wird die Verursachung der
Schwierigkeit als personenbezogene kindliche Entwicklungsstörung gesehen und nicht als Definition durch das Umfeld oder als Kommunikationsstörung zwischen mehreren Beteiligten.
Dementsprechend wird die entdeckte Ursache Thema einer kindlichen Behandlung. Der Vorteil liegt im Gegensatz zur Symptomorientierung im Erforschen von mehreren Störungsvoraussetzungen. Dies benötigt allerdings
einen großen Aufwand verschiedener Untersuchungen für das Resultat
einer nie beweisbaren Hypothese der anscheinenden Ursache.
Sebastian kann nicht auf dem Bauch liegend Rollbrett fahren. Eine
anscheinende Ursache kann der mangelhafte Muskeltonus sein. In der
Psychomotorikstunde darf Sebastian mit schweren Weichbodenmatten
spielen. Eine andere Ursache kann das mangelhafte Gleichgewichtssystem sein. In der Psychomotorikstunde darf Sebastian häufig schaukeln.
Die Aufgabenstellung lautet:
„Fehlende grundlegende Informationen, die für eine „gesunde“ Entwicklung
notwendig sind, werden dem Kind angeboten.“
Entwicklungsorientierung
Entwicklungsorientierung als Sonderform kann entweder der defizitären
oder der ressourcenorientierten Sichtweise zugerechnet werden, abhängig von der jeweiligen Interpretation der momentanen Fähigkeiten und
Schwierigkeiten des Kindes. Die Basis für eine individuelle Intervention
stellt der momentane Entwicklungsstand des Kindes dar. Es wird auf den
Vergleich mit einer angenommenen Norm verzichtet. Als erster Schritt
wird diese Ebene der Entwicklung akzeptiert. In bezug auf die mögliche
Förderung ergeben sich für die Psychomotorikerin zwei Möglichkeiten.
Sieht die Entwicklungsorientierung die momentanen kindlichen Fähigkeiten als veränderungs- und verbesserungswürdig an, will sie deshalb die
bisherigen Grenzen einer Weiterentwicklung überwinden und neue Fähigkeiten initiieren. Dementsprechend werden innerhalb dem Kind diese neu
zu lernenden Bereiche angeboten. Dies würde zu einer defizitorientierten
Sichtweise führen. „Was soll das Kind als nächstes lernen?“
Sebastian kann auf dem Rollbrett sitzend fahren. Spielerisch wird die
nächste motorische Entwicklungsebene angeboten, z. B. sich kniend mit
einem Fuß abzustoßen. Sebastian sammelt auf hohen Kasten liegende
Bälle ein.
Die Aufgabenstellung lautet:
„Der momentane Entwicklungsstand des Kindes wird durch individuelle
Förderung erweitert.“
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1.1 Grundhaltung
Dagegen akzeptiert eine stärkende Grundhaltung nicht nur den erfassten
Entwicklungsstand und die momentanen kindlichen Grenzen. Sie stabilisiert das Kind auf seinem bisherigen Entwicklungsniveau und in seinen
individuellen Lernmethoden, ohne es perspektivisch und zielorientiert „erziehen“ oder fördern zu wollen. Sie bietet Spiele und Informationen auf
der bekannten, bisher erreichbaren Stufe an, die das Kind mit seinen momentanen Fähigkeiten bewältigen kann. Das Hauptargument ist das Vertrauen, dass bei genügender Stabilität und Sicherheit sowie ausreichender
Information die kindliche Entwicklung eigenständig vorangetrieben wird.
Sebastian kann auf dem Rollbrett sitzend fahren. Es werden Spiele
angeboten, die es Sebastian erlauben, auf dem Rollbrett sitzend zu fahren. Sebastian fährt mit dem Partner auf einem Rollbrett, Rücken an
Rücken, wobei er sich mit den Füßen abstößt.
Die Aufgabenstellung lautet:
„Das Kind erhält Angebote auf dem Niveau seines momentanen Entwicklungsstandes.“
Stärkenorientierung
Hier werden die Stärken, Kompetenzen, Bedürfnisse, positive Qualitäten,
erfolgreiche Lernstrategien und Kompensationsleistungen des Kindes in
den Mittelpunkt von Diagnostik und Entwicklungsbegleitung gestellt: „Was
kann das Kind gut?“ und „Was wünscht sich das Kind?“ Die kindlichen
Schwierigkeiten werden nicht beachtet, nicht aus Desinteresse an den Problemen des Kindes, sondern um durch den Perspektivenwechsel bewusst
die Stärken des Kindes, ein positives Selbstkonzept und seine Selbstheilungskräfte zu betonen. Die kindlichen Fähigkeiten, Handlungslösungen
und Bedürfnisse werden bedeutender als von Erwachsenen vorgegebene Ergebnisse erachtet. Sie sind eher im Freispiel als durch vorgegebene Übungen ersichtlich. „Steve de Shaver ist sogar der Auffassung, man könne auf
die Kenntnis der Beschwerden ganz verzichten, wenn man nur genügend
über die denkbaren Lösungen weiß“ (Weiss 1999, 97). Dazu benötigt die
Psychomotorikerin Vertrauen in die eigenständige Entwicklung des Kindes.
Sie sorgt für eine entsprechend reizvolle Umgebung, in der das Kind genügend Sinneseindrücke und Bewegungserfahrungen erhält.
Sebastian kann nicht auf dem Bauch liegend Rollbrett fahren. Er kann
jedoch sehr geschickt das Rollbrett durch Tunnels und Slaloms schieben, ohne irgendwo anzustoßen. Die Psychomotorikerin ermöglicht ihm,
dies weiterhin spielen zu können.
Die Aufgabenstellung lautet:
„Die Stärken und Interessen des Kindes werden verstärkt.“
Lernfeldorientierung
In der Lernfeldorientierung wird jede Auffälligkeit im Kontext des kindlichen Systems betrachtet, da sie unter bestimmten für das Kind schwierigen Bedingungen entsteht bzw. von diesen verdeutlicht wird. Man beob-
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Didaktik und Methodik
achtet nicht die Symptome an sich, sondern eher die Zu- und Abnahme der
„Auffälligkeiten“ unter unterschiedlichem Einfluss äußerer Faktoren. Dem
Kind werden diejenigen materiellen und sozialen Faktoren angeboten, die
es im Spiel und im Lernen unterstützen und stärken können.
Sebastian kann nicht auf dem Bauch liegend Rollbrett fahren. Er wird
wütend, wenn er schwierige Aufgaben mit dem Rollbrett erfüllen muss.
Er wirkt ausgeglichen, wenn er selbstbestimmt für sich in einer abgeteilten Raumecke mit dem Rollbrett spielen kann. Die Psychomotorikerin bietet Sebastian so oft wie möglich selbstbestimmte und beschützte
Spielsituationen an.
Die Aufgabenstellung lautet:
„Förderliche gesunde Bedingungen des kindlichen Lernfelds werden vermehrt berücksichtigt und erweitert.“
1.2 Theoretische Ansätze
Auch wenn es bisher keine exakte Definition des Begriffes „Ansatz der
Psychomotorik“ gibt, wird er als theoretisches Begründungsmodell für die
verschiedenen Praxiserfahrungen verwendet. In der ersten Zeit der Psychomotorik wurden unterschiedliche Theorien aus psychologischen und pädagogischen Modellen herangezogen, um einen theoretischen Hintergrund
Ansätze der
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1.2 Theoretische Ansätze
für die praktischen Erfolge zu liefern. Lange Zeit konnten diese, manchmal
auch widersprüchlichen, Theorien innerhalb der Motologie nebeneinander
stehen. Erst in den letzten Jahren wird versucht, sich in den unterschiedlichen Ansätzen – zumindest theoretisch – von einander abzugrenzen und
wissenschaftlich in fundierter Klarheit zu legitimieren. Die folgenden verschiedenen Ansätze und Positionen werden in anderen Büchern ausführlich
dargestellt (Fischer 2001; Köckenberger 2004; Zimmer 1999).
Menschenbild
Jedem theoretischen Konzept und jedem praktischen Handeln liegt ein
sogenanntes Menschenbild zugrunde (Annahmen über das Wesen des Menschen). Menschenbilder beeinflussen das praktische Handeln.
Das humanistische Menschenbild gilt als Grundlage aller psychomotorischer Ansätze. In ihm sind folgende Annahmen postuliert:
yy Jeder Mensch ist immer eine ganzheitliche Persönlichkeit, die aus dem
komplexen Zusammenspiel aller Teilaspekte besteht.
yy Jeder Mensch strebt von sich aus nach Autonomie, Selbstverwirklichung,
Glück und Zufriedenheit, Kompetenz, Integration von Neuem und nach
Sinnhaftigkeit des Erlebens. Diese Motivation ist der Antrieb, sich eigenständig entwickeln zu wollen und entsprechend benötigte Informationen
in seiner Umgebung zu suchen und zu integrieren. Dabei dient der Körper
als Mittler von Selbständigkeit (Zimmer 1999). Persönliche Entwicklungen
werden im notwendigen Austausch des sozialen Kontextes gesehen. Sie
werden zu Veränderungen in der Umwelt beitragen.
yy Jeder Mensch ist sein eigener bester Therapeut, jedes Problem beherbergt
schon seine Lösungen (Rogers 1973). Dazu werden manchmal Unterstützung und Begleitung von außen benötigt, um blockierte Entwicklungsprozesse wieder in Gang zu setzen.
Im Gegensatz dazu steht ein mechanistisches Menschenbild, das den Menschen ähnlich einer „black-box“ definiert, die bei entsprechenden äußeren
Bedingungen und Übungen erwartete Verhaltensweisen und Lernerfolge
produziert. Dieses linear-kausale Denken wird m. E. der Komplexität von
internen und externen Zusammenhängen nicht gerecht. Außerdem vernachlässigt es die dem Menschen innewohnenden Entwicklungs- und Selbstheilungskräfte.
Psychomotorische Übungsbehandlung (J. Kiphard)
In der Übungsbehandlung werden den Kindern mit Hilfe von Bewegungserfahrung und attraktivem Material Möglichkeiten angeboten, ihre diagnostizierten Schwächen spielerisch auf meist vorgegebenen methodischen Wegen
zu reduzieren. Motorische Erfolge verhelfen dem Kind zu einem besseren
Selbstbewusstsein. Dabei hat die Persönlichkeit des Therapeuten („Meisterlehre“ nach Seewald 1991) einen hohen Stellenwert. Klinisch orientiert will
die Psychomotorik eine Brücke schlagen zwischen einerseits Schulmedizin,
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Didaktik und Methodik
Physiotherapie, Krankheitsbild und andererseits Motivations- und Spieltheorien (Panten 2005).
Holger mit der Diagnose ADHS fährt mit dem Rollbrett und sammelt
Tennisbälle ein. Er lernt, seine Bewegungen mit dem Rollbrett zu kontrollieren, sich im Raum zu orientieren und auf die Tennisbälle zu
konzentrieren.
Kompetenztheoretischer Ansatz (F. Schilling)
Die Kinder befinden sich in ständiger Interaktion mit ihrer Umwelt. Sie
probieren aus, korrigieren und handeln gezielt. Dabei passen sie sich an
die Bedingungen der Umwelt an und bemühen sich gleichzeitig, die Umwelt an ihre Bedürfnisse anzupassen (Piaget 1950). Dieser Austausch wird
in der Einheit von Wahrnehmung und Bewegung als Gestaltkreis zwischen
Subjekt und Objekt beschrieben. Erfahrungen mit dem eigenen Körper
sowie der materiellen und sozialen Umwelt schaffen Handlungskompetenz.
Automatisierte und adäquat einsetzbare Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster dienen als Grundlage und Werkzeuge dieser Handlungsfähigkeit. In
der handlungsorientierten Psychomotorik müssen Kinder selbst handelnd
eigene Erfahrungen machen, um ihren bisherigen Entwicklungsrückstand
aufzuholen.
Evelyn will Lastwagen fahren. Sie stellt den kleinen umgedrehten Kasten auf das Rollbrett und klettert hinein. Sie bemerkt, dass sie sich
nicht vorwärtsschieben kann und bittet Sarah, sie zu schieben. Sarah
will auch lieber Lastwagen fahren und steigt mit in den Kasten. Als
beide Fahrer keine schiebewilligen Kinder finden können, verlassen sie
den Lastwagen und spannen ein Seil durch den Raum, an dem sie sich
in ihrem Lastwagen entlang ziehen können.
Kindzentrierter Ansatz (R. Zimmer)
Die Kinder sind die Fachleute ihrer eigenen Entwicklung, deren Motor
Bewegung und Spiel darstellen. Sie können ihren individuellen Weg verfolgen, wenn sie über Körpererfahrung ihre Selbstwirksamkeit erleben. Die
Psychomotorikerin stellt die Umwelt mit Hilfe von Spielsituationen zur
Verfügung. Sie wird zur Beobachterin, die in einer liebevoll aufmerksamen
Atmosphäre die Handlungen der Kinder wertneutral spiegelt und kommentiert. Dabei steht die Identitätsbildung und Bildung eines positiven
Selbstkonzepts im Mittelpunkt der psychomotorischen Förderung. Neben
Bewegungserfahrungen wird dies auch über Veränderung der Selbstwahrnehmung und neuer Beziehungsgestaltung erreicht. Dieser mototherapeutische Ansatz (Volkamer/Zimmer 1986) überträgt die Erfahrungen der
non-direktiven Gesprächstherapie (Rogers 1973) und Spieltherapie (Axline
1980) auf den Bewegungsbereich.
Die Kinder erhalten Rollbretter, Gymnastikseile und Markierkegel. Ein
Teil der Gruppe baut eine Straße, ein anderer Teil saust mit den Rollbrettern durch den Raum. Die Psychomotorikerin bestätigt erfolgreichen
Straßenbau und Bewegungslust.
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1.2 Theoretische Ansätze
Verstehender Ansatz (J. Seewald)
Das Menschenbild wird durch die Kernaussage geprägt: „der Mensch ist
verurteilt zum Sinn“ (Merleau-Ponty in: Seewald 2007, 18). Kinder suchen
den Sinn und entwickeln ihr Selbst, indem sie sich leibbewusst und symbolisch in Bewegung und im Spiel ausdrücken. Dabei hilft die Fähigkeit des
„Leiblichen“ als belebter Körper Sinn in äußere Dinge und eigene Handlungen zu legen und sie dadurch lebendig zu machen. Alle – auch anscheinend
krankhafte – Symptome und Verhaltensweisen haben eine Bedeutung, zum
Beispiel um früher Erlebtes zu kompensieren bzw. erneut zu gestalten.
Leibliche Bewegung als Bedeutungsphänomen erzählt von der kindlichen
Lebensgeschichte (Hammer 2004). Über den offenen Dialog zwischen Psychomotorikerin und Kind wird versucht, diese Grundbedeutung eher intuitiv als kognitiv zu verstehen und Ausdrucksmöglichkeiten in Spielräumen
anzubieten. Werden frühere Konflikte im Spiel symbolisch ausgedrückt,
können sie gelöst werden. Die Psychomotorikerin folgt im offenen gleichberechtigten Dialog den Bedürfnissen der Kinder oder bietet Vorschläge,
um Erlebnisse durch eine symbolische Darstellung zu verarbeiten. Dabei
verbessert sich die Motorik beiläufig (v. Lüpke 1997). Im Mittelpunkt einer
verstehenden Psychomotorik steht die Frage, was das Kind bewegt.
Stefan fährt auf dem Rollbrett liegend. Er transportiert auf seinem
Rücken schwere Schaumstoffmatten zu einem Lager. Manchmal atmet
er schwer. So anstrengend ist seine Arbeit. Kaum gönnt er sich eine
Pause. Die Psychomotorikerin hilft mit beim Transport und stöhnt
laut: „Wir schaffen es nie.“ Schließlich lässt Stefan sich auf die Matten
fallen, die Psychomotorikerin neben ihm. Stille. Atmen. „Haben wir es
jetzt geschafft?“ fragt sie. Er nickt. Stille. „Lass uns noch mal Matten
mit dem Rollbrett holen und du sagst dabei, das schaffst du nie?!“
fragt er. „Das schaffst du nie!“ Sie fahren nochmals mit dem Rollbrett
und stöhnen. Schließlich schüttelt Stefan den Kopf und grinst: „Ich
habe es aber geschafft.“ Im Elterngespräch erzählt der leistungsbetonte
Vater von seinen Sorgen um Stefan.
Systemisch-Konstruktivistischer Ansatz (R. Balgo)
Jeder schafft sich seine Wirklichkeit selbst, jeder ist also auch dafür verantwortlich. Individuelle Wahrnehmungen verhindern Vergleiche, aber
auch das Verstehen anderer Wirklichkeiten (Watzlawick 2002). Der Beobachter erfährt nur seine eigene wahr-genommene Welt. Störungen sind nie
objektiv, sondern immer im Bezug zum Beobachter und den Interaktionen
zu sehen. Der Schnittpunkt der Realitäten ist schwer zu bestimmen und
auszuhandeln. Wir müssen als wahr nehmen, was wir wahrnehmen. Ein
wichtiger Grund, das Kind in seiner Wahrheit respektvoll als autonom und
gleichberechtigt zu achten und Beurteilungen und vorgebende Therapieansätze zu unterlassen.
Alle Menschen bilden ein eigenes System in sich. Sie leben und bewegen
sich in verschiedenen äußeren Systemen. Sie leben in ständiger Beeinflussung und Veränderung. Alles hat eine Ursache und zieht Folgen nach sich.
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Didaktik und Methodik
Kindliches Verhalten wird immer erst im Bezug zum System sinnvoll. In
einer systemischen Praxis werden bestehende Lösungsmöglichkeiten und
Ressourcen verstärkt und erweitert. Neue konkrete Erfahrungen werden
angeboten, die bisherige Wirklichkeitsdefinitionen im Kontext eines jeweiligen Systems umschreiben und verändern können.
Arthur fährt am liebsten mit dem Rollbrett mit Schwung gegen die
Weichbodenmatte. Wenn andere Kinder mitspielen wollen, beginnt er
die Weichbodenmatte umzukippen und darauf zu springen. Die Psychomotorikerin schlägt vor, alle Rollbretter unter die Weichbodenmatte zu
legen und Rodeo zu spielen. Arthur versucht auf der Matte zu stehen,
während alle Kinder sie heftig bewegen. Arthur genießt das Toben und
gleichzeitig die Unterstützung durch die Gruppe.
Kommunikationstheoretischer Ansatz (I. Olbricht)
Auffälligkeiten und Störungen werden als momentane Störung in der Kommunikation zwischen allen Beteiligten gesehen. Kommunikation braucht
Raum zu entstehen, sich auszudrücken und Aktionen zu erleben. Kindliches Verhalten bezieht sich innerhalb einer Situation immer auf das
soziale Umfeld, in bewussten wie unbewussten Botschaften. In einer kommunikationsorientierten Psychomotorik werden mit Hilfe der konkreten
Bewegungs- und Spielerfahrung die „störenden“ Missverständnisse und
Fehlinterpretationen zwischen Sender und Empfänger korrigiert und kommunikative Kompetenz angebahnt. Hohe Bedeutung erhält auch der Ausdruck anscheinend nicht-kommunizierter Inhalte.
Sabrina stellt eine Langbank auf zwei Rollbretter. Sie schiebt ihren
Bus durch den Raum. Felix bekommt Angst und schiebt sein Rollbrett
weg, „zufällig“ in Richtung Sabrina. Sabrina stolpert und fällt hin. Felix setzt sich auf den Bus. Sabrina ist verblüfft. Die Psychomotorikerin
meint zu Felix: „Ich glaube, du musst Sabrina erst mal fragen.“ Sabrina schreit, dass Felix von ihrem Bus absteigen soll. Sie setzt sich auf
den Bus. Felix schiebt den Bus durch den Raum.
Körperenergetische psychomotorische Praxis (A. Eckert)
Das anthropologische Menschenbild (der Mensch ist sinnhaft mit der Welt
verflochten und drückt sich leiblich in dieser Welt aus) ist am Sein des
Menschen orientiert (Merleau-Ponty in Eckert 2004). Das Kind sucht nach
Gewinn von Identität und Autonomie. Chronische Blockierungen des Energieflusses entstehen durch unverarbeitete und ungelöste Erlebnisse, Kindheitserinnerungen sowie prägende Rollen. Sie verhindern den authentischen Ausdruck des Lebendigen, sichtbar über die Körperhaltung und Körpersprache. Diese Blockaden können in einem psychophysischen Lösungsprozess wieder an die Oberfläche kommen und aufgelöst werden (Lowen
1975). Findet nie eine Lösung statt, bleibt die ursprüngliche Lebendigkeit
und Kreativität verloren. Die Psychomotorik begleitet das Kind auf der Suche nach dem Weg zu seinem Kern. Bei Lösungen wird die „Öffnung“ des
22
1.2 Theoretische Ansätze
Organismus deutlich. In der Psychomotorik werden solche Spiele, Interaktionen und Erlebnisse gesucht, in denen das Kind Gefühle zeigen kann und
authentisch und lebendig wirkt.
Die ängstlich wirkende Corinna spielt nicht mit, wenn die Kinder Rollbrett fahren. Sie sitzt am Rand des Raumes und beobachtet. Die Psychomotorikerin setzt sich neben sie auf ein Rollbrett. Nach einer Weile
sitzen beide gemeinsam auf dem Rollbrett und stoßen sich mit den
Füßen ab. Sie drehen sich im Kreis. Sie fahren schneller. Sie machen
Pause. Corinna schmiegt sich für einen Moment eng an die Psychomotorikerin und lacht. Ihre Augen strahlen. Sie wirkt lebendig.
Analytisch-orientierte Psychomotorik (B. Aucouturier)
Jede Handlung des Kindes ist sinnvoll und psychomotorischer Ausdruck
seiner tiefen Gefühle und Bedürfnisse. Ein Maximum an Empfindungen
des Körpers und mit dem Körper ist notwendig, um zur körperlichen Ganzheit zu gelangen, um sich für den symbolhaften Ausdruck öffnen zu können. Die tonisch-emotionale Reifung des Kindes betrifft neben Kommunikation und Kreativität auch die Repräsentation des Körperabbildes in Raum
und Zeit, um sein eigenes Tun aus der Distanz (Dezentrierung) beobachten
zu können. Dazu werden dem Kind in der Einzelpsychomotorikstunde sensomotorisches Erleben, Rollenspiel und Gestaltung zur freien Benutzung
angeboten. Die Psychomotorikerin stellt aktiven Kontakt zu dem Kind über
den tonischen Dialog (vgl. Kapitel Dialog) oder Imitation her, betont die
Unterschiedlichkeit zwischen sich und dem Kind oder unterbricht überraschenderweise gewohnte kindliche Bewegung, Raumdistanz, Zeittempo,
Rollen und Kommunikation.
Felix baut für sich und sein Rollbrett eine enge Höhle aus Schaumstoffsteinen. Die Psychomotorikerin darf nicht zu ihm hinein. Er zeigt keine
Lust, mit seinem Rollbrett durch den Raum zu fahren. Die Psychomotorikerin nimmt ein eigenes Rollbrett und baut sich auch eine Höhle.
Lange Zeit Stille. Felix schaut aus seiner Höhle zu ihr. Sie erwidert
ruhig seinen Blick und fährt aus ihrer Höhle langsam in seine Richtung. Er schaut weg. Sie berührt ihn behutsam und spürt, wie sich
sein Körper entspannt. Sie zieht ihn auf seinem Rollbrett aus der Höhle und durch den Raum. Immer wilder. Felix lacht. Sie hält inne und
verschwindet in ihrer Höhle. Felix wirft ihre Höhle ein …
Expressive Psychomotorik
Die expressive Psychomotorik benutzt die Erfahrungen des Psychodrama
(Moreno 1959), um den Kindern die Möglichkeit zu bieten, belastende oder
unverdaute Erlebnisse auszudrücken, im Spiel zu wiederholen und neue
Lösungen und Rollen zu erproben. Psychomotorisches Material vereinfacht
den Einstieg, Erinnerungen und Ungewohntes in einer spielerischen kindgerechten Umgebung zu erleben. Das Kind kann in eigener Regie dramatische Aufführungen als körperlichen Ausdruck bisheriger Erlebnisse und
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Didaktik und Methodik
erhoffter Wünsche gestalten. Dazu werden die anderen Kinder zu Mitspielern in arrangierten Träumen, Filmen, Theaterspielen, Phantasiewelten
(Köckenberger 2004).
Manuel darf heute Zauberer sein. Er verzaubert alle Kinder in langsam
fahrende Rollbrett-Rennfahrer, denen er selbst auf seinem roten Rollbrett schnell davon fahren kann. Die Kinder sollen sich laut über die
Niederlage ärgern. Nach einiger Zeit wird Manuel kurz zum Zuschauer, während ein Kind seine Rolle übernimmt. Von außen betrachtet
stellt er fest, dass der schnelle Rennfahrer eigentlich einen Freund will.
Wieder in seiner Rennfahrerrolle darf in seinem Rennauto ein Partner
mitfahren. Die anderen Rennautos sind weiterhin langsam und deren
Fahrer ärgerlich. Zu zweit freuen sich Manuel und sein Partner.
1.3 Intentionsebene
Jegliche menschliche Handlung wird durch Motivation angetrieben. Auch
jede Stundenvorbereitung und praktische Psychomotorik-Erfahrung wird
durch das Vorhaben einzelner Kinder, der Psychomotorikerin und der Gruppe beeinflusst. Deshalb ist es auf alle Fälle wichtig, die unterschiedlichen
Beweggründe aufzudecken.
Allgemein wird Motivation
yy von basalen Bedürfnissen
yy von nahen oder fernen, geplanten oder spontan entstehenden Zielen
yy von Themen geprägt.
Intention
bedürfnisorientiert
zielorientiert
themenzentrierte
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1.3 Intentionsebene
Die Psychomotorikerin wird entscheiden müssen, welche der vorherrschenden Intentionen welcher Beteiligten in der Stunde Berücksichtigung finden
können.
Berücksichtige ich die Ziele einzelner Kinder, die Bedürfnisse der Psychomotorikerin oder die Themen der Gruppe?
Bedürfnisorientierte Intention
Nach humanistischer Theorie sind basale Bedürfnisse in jedem Menschen
vorhanden. Sie steuern meist unbewusst menschliches Verhalten. Sie bilden
die Grundlage für Handlungen, Verhalten, Emotionen, Lern- und Kontaktbereitschaft. Unbefriedigt verhindern sie Interaktion, Veränderungen und
Entwicklung. Elementare Bedürfnisse sind der Wunsch nach Lebenserhaltung, Sicherheit, Selbständigkeit und Zuneigung (vgl. Kapitel Bedürfnisse).
„Mit welchen Bedürfnissen komme ich (das Kind, die Gruppe) in die
Psychomotorikstunde?
Nach was verspürt Manual im Moment tiefe Sehnsucht?“
Bedürfnisorientierung bedeutet, den offensichtlichen oder verdeckten basalen Bedürfnissen einzelner Kinder, der Psychomotorikerin und der Gruppe
Raum zu gewähren, sie zu respektieren und möglichst zu befriedigen. Dazu
bedarf es Sicherheit und Freiraum sowie Respekt vor diesen Grundbedürfnissen. Absprachen regeln kontroverse Bedürfnisse.
Zielorientierte Intention
Ziele beschreiben Zuwachs im Kompetenzbereich und Erfüllung von Wünschen, aber auch Lösungen von Problemen und Veränderungen im Verhaltensbereich. Im Gegensatz zu den ständig anwesenden Bedürfnissen dürfen
Beteiligte der Psychomotorikstunde wählen, ob sie Ziele ausdrücklich formulieren und erreichen wollen. Ziele können geplant sein oder offensichtlich, verdeckt, verallgemeinert oder utopisch sein. Ziele können im Moment
entstehen. Ziele wollen verfolgt und erfolgreich abgeschlossen werden. Ziele
können unterschieden werden in spontan entstehende Ziele, kurzfristig erreichbare Nahziele und langfristige Fernziele.
Ziele können gesetzt werden von einzelnen Kindern, der Gruppe, der Psychomotorikerin, externen Beteiligten (Eltern, Lehrerin, Ärztin, Verwandte,
Institutionsleiter) sowie Kultur und Gesellschaft.
„Was will ich heute (in nächster Zeit, in ferner Zeit) erreichen? Wie
kann der erste Schritt aussehen? An was bemerke ich das Erreichen
des Zieles? Welches Bedürfnis steckt hinter dem Ziel des Kindes? Wie
wichtig ist der Gruppe heute das Erreichen ihres Zieles? Kann die Lehrerin im Moment ihr Ziel zurückstellen?“
Ziele müssen ernst genommen, dürfen aber auch hinterfragt werden. Dazu
bedarf es
yy klarer Zielformulierungen
yy praktikabler kleiner erfolgversprechender Teilziele
yy deutlicher Erfolgskontrollen
yy Absprachen bei kontroversen Zielen der Beteiligten.
25
Didaktik und Methodik
Themenzentrierte Intention
Themen prägen das Erleben in der Psychomotorikstunde. Sie können entweder den Rahmen bilden (Rennautos). Sie können den Mittelpunkt der
Stunde bilden (Bauen).
Themen können
yy im Curriculum oder im Förderplan verlangt werden (in der Psychomotorik
z. B. Sozial-, Selbst- und Materialerfahrung).
yy als Entwicklungsthema der Kinder auftauchen (z. B. Kraft – Ohnmacht –
Grenzen, Kontakt – Austausch).
yy als Lebensthema der Beteiligten anwesend sein (z. B. Durchsetzungsvermögen).
yy als Bewegungs- und Leibthema erfüllt werden (z. B. Spaß, Genuss, Spiel,
Raumerlebnisse, Miteinander – Gegeneinander).
yy als Symbolthema ausgedrückt werden (z. B. Anerkennung).
yy als momentane Störung oder Problemsituation in Erscheinung treten (z. B.
Unkonzentriertheit).
Themen werden gebildet durch die aktuelle Lebenswelt und Lebenssituation der Kinder und Erwachsenen, durch vergangene prägende oder unverdaute Erfahrungen, durch Informationsbedürfnis entwicklungsbereiter
Kinder, durch momentane Bedürfnisse, durch Erfahrungen in der letzten
Psychomotorikstunde und durch vorgegebene Lernziele und erwachsenenzentrierte methodische Wege (vgl. Kapitel Bedürfnisse).
„Was wollen wir heute als Thema erfahren? Welches Thema ist heute
bei einzelnen Kindern vorherrschend? Welches Thema braucht in der
Gruppe Raum? Welches Thema will ich vorgeben?“
1.4 Lebensphasen und Arbeitsfelder
Lebensphasen beschreiben unterschiedliche Zeiträume während des Lebens, die für bestimmte Lernprozesse besonders geeignet erscheinen. Die
Entwicklungspsychologie spricht hierbei von Entwicklung als lebenslangen
individuellen Prozess mit unterschiedlichen Bewältigungsstrategien bei
Herausforderungen, beeinflusst von Lebensbedingungen und -erfahrungen.
Entwicklung wird als Spezialisierung gesehen, die stets – auch im höheren
Alter – die Aspekte Wachstum und Abbau enthält. Dabei prägen unterschiedliche Entwicklungs- und Lebensthemen die einzelnen Phasen (vgl.
Erikson 1989; Fischer 2001; Seewald 2007; Kapitel Entwicklung). Deshalb
verlangen psychomotorische Arbeitsfelder verschiedener Lebensphasen nach
differenzierten didaktisch-methodischen Mitteln. Ähnliche Methodik kann
in verschiedenen Arbeitsfeldern zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
26
1.4 Lebensphasen und Arbeitsfelder
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Behinderung
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Frühförderung
In der Lebensphase von Säuglingen und kleinen Kindern sind Körper-,
Bewegungs- und Materialerleben, Selbsterfahrung, Egozentrismus, schnelle
Bedürfnisbefriedigung sowie verlässliche Bindungen, der sichere Austausch
und enge Kontakt zu den Eltern wichtig. Themen sind sensomotorische
Entwicklung, Vertrauen – Misstrauen, Selbständigkeit und Selbstkontrolle – Selbstzweifel, Geben – Erhalten, Fordern – Umsorgt werden, Greifen
– Loslassen, Berühren – Berührt werden, Erforschen – Verdauen, Dialog –
Monolog, Gleichzeitigkeit von Denken und Fühlen.
Gehalten werden, entspannt liegen, in Höhlen kriechen, Körperkontakt
empfinden, massiert werden, (tonischen) Dialog erleben, matschen und
kneten, schaukeln und geschaukelt werden, im Wasser schweben, sich
fallen lassen, seinen Körper spüren, auf dem Boden bewegen, Hindernisse überwinden, Augenkontakt halten.
Kindergarten
In der Lebensphase vom Kindergartenalter sind Bewegungssicherheit, Bewegungs- und Spielfreude, Materialeinsatz und -variation, experimentelle Erfahrungen, symbolhaftes Spiel, Familie, erste willkürliche Partnerabsprachen und Perspektivenwechsel wichtig. Themen sind Initiative –
27
Didaktik und Methodik
Schuldgefühl, Nähe – Distanz, Sicherheit – Unsicherheit, Raumeroberung
– Geborgenheit, Erfolg – Misserfolg, Verbindung von Denken, Fühlen und
Handeln.
Bewegung und Material erfahren, frei spielen, sich verstecken, den
Raum erobern, Rollbretter und Roller fahren, Singspiele und Geschichten erleben.
Schule
In der Lebensphase vom Grundschulalter sind Bewegungsgeschicklichkeit,
Rollen- und Regelspiele, Absprachen in Gruppen, Bilden von Beziehungen
zu Gleichaltrigen, Empathie, Rollen- und Regelspiele, sowie Interesse an
abstraktem Wissen wichtig. Themen sind Werksinn – Minderwertigkeitsgefühl, Tüchtigkeit und Fleiß – Faulheit, zielgerichtetes Handeln – Spielfreude, Gewissen, Werte und Moral, Erwerb der Kulturtechniken, Eroberung
der Umgebung, Unternehmungen, Kompetenz und Ausdauer.
mit Rollen und Regeln spielen, Absprachen treffen, gemeinsam tanzen,
Inlineskates fahren, konstruieren, Bewegungslandschaften gestalten,
die Höhe erobern (klettern), Geschicklichkeitsspiele und feinmotorisches
Material benutzen, Handlungen durch Worte ergänzen, Jonglage und
Judo üben, Trampolin springen.
Jugend
In der Lebensphase von Jugendlichen sind Grenzerfahrung, Impulsivität,
Umgang mit Gefühlen, Rebellion und Ablösung vom Elternhaus, Peergruppen, Gruppenidentifikation, Übernahme von Geschlechterrolle, Vereins- und
Leistungssport als Selbsterfahrung, Eroberung der Welt und Gier nach der
Lebensfülle wichtig. Themen sind Identität – Ablehnung und Selbstzweifel, Identitätsdiffusion, Nähe – Distanz, Abgrenzung – Anpassung, Leistungsvergleich – Verweigerung, Selbstverwirklichung – Konformität, Eigenständigkeit – Ideologie und Wertefindung, Kreativität – Destruktivität,
Kontrolle – Selbstkontrolle, körperliche Veränderung und Verunsicherung
– körperliche Höchstleistung.
Wettkampfspiele, veränderte Sportspiele, Streethockey, Abenteuersport,
Risikospiele, Klettern, Erlebnis- und Zirkuspädagogik, Kampfspiele,
Mountainbike, Radtouren, Nachtwanderung, Projekte, Psychodrama,
Kooperationsspiele und Trampolin.
Erwachsene
In der Lebensphase von Erwachsenen sind familiäre und berufliche Sozialisation, soziale Beziehungen und soziales Netzwerk, Verantwortlichkeit für
Eltern, Kinder, Ehe, Beruf, Wirtschaftlichkeit und Gesellschaft, konkrete
Zukunftsentwürfe, Entscheidungsbereitschaft, Handlungs- und Organisationskompetenz sowie Zeitmanagement wichtig. Themen sind Intimität und
Solidarität – Isolierung, Generativität – Selbstabsorption, Freundschaft
und Kooperation – Rivalität und Konkurrenz, Belastung – Entspannung,
Leistung und Karriere – Enttäuschung und Sinnfrage, sich Verlieren – sich
28
1.4 Lebensphasen und Arbeitsfelder
Finden, Zentrieren und Verwurzeln – Lösen, Beständigkeit – Unruhe, Sorge – Fürsorge, Anspannen – Entspannen, Stärke – Schwäche.
Entspannungstechniken, Bewegungsfreude, Spaß in der Gruppe, Tanz,
Leiberfahrung, emotionaler Ausdruck, Stressbewältigung, Gestaltung
von Umwelträumen, Erleben von Natur, nonverbale Kommunikation
(über Material, Berührung), Körpersprache, Theaterspiele, Gruppenspiele und zwischenmenschliche Wahrnehmung.
Senioren
In der Lebensphase von Senioren sind Erhaltung und Reduktion von körperlichen Fähigkeiten, Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen, Selbständigkeitsverlust, Philosophie und Auseinandersetzung mit dem Tod
wichtig. Themen sind Integrität und Akzeptanz – Unzufriedenheit und
Verzweiflung, Verantwortung – Abgeben von Verantwortung, Erinnern –
Vergessen, Erfahrungsschatz und Weisheit – Einfachheit und Trivialität,
Übersicht und Bilanz – Rückzug, Würde – Scham, Versorgt werden – sich
Sorgen.
Kontaktspiele, Ausdauerspiele, Gedächtnisschulung, Entspannung, Bewegungsförderung mit Musik, Materialerfahrung, Kooperationsspiele,
gemeinsames Tun, Naturerfahrung, Spazieren gehen, Geschichten gemeinsam erzählen, Atemübung, Erhalt der Selbständigkeit, Wahrnehmung der Mitmenschen und Orientierungsübungen.
Menschen mit einer Behinderung
Menschen mit einer Behinderung sind prinzipiell keine andere Art von
Menschen. Sie haben ein Recht auf individuelle Entwicklung ihrer Ressourcen und Möglichkeiten. Einerseits durchleben sie genauso die einzelnen o.g. Lebensphasen mit ihren darin enthaltenen Entwicklungsthemen,
vielleicht in veränderter Form und Gewichtung. Auf der anderen Seite
werden sie mit der Problematik des Vergleichens mit der Norm, des Erlebens von Anders-Seins, der fremden und eigenen Nicht-Akzeptanz, der
voreingenommenen Kontakte, dem Angewiesensein auf fremde Hilfe sowie
einem ständigen Leben und Handeln in betreuten Situationen konfrontiert.
Deshalb sind ihre zusätzlichen Lebensthemen verstärkt Überleben und
Lebensfreude – Lebensangst und Resignation, Selbstbestimmung – Fremdbestimmung, Selbstwirksamkeit und Kompetenz – Abhängigkeit, Verständnis – Verstehen, Natürlichkeit – Künstlichkeit, Normalität und Akzeptanz
– Auffälligkeit und Ausgeschlossensein, Lust – Zwang. Außerdem werden
meist die Themen aus der frühkindlichen Phase, vor allem eine sensomotorische Lebensweise (Mall 2005) sowie Suche nach Kontakt, Beziehung,
Bindung und Vertrauen das ganze Leben Begleiter sein.
Vertrauens- und Beziehungsaufbau, sensomotorische Erfahrungen,
Wohlgefühl, Kommunikation und Verständnis, „unpädagogische und
ziellose“ Bewegungs- und Handlungserlebnisse, Vermittlung von selbst
verursachten Effekten, Erfolg und Kompetenz, Entdeckung eigener Ressourcen und Problemlösungen.
29
Didaktik und Methodik
Therapie
Pädagogik beschreibt als Erziehungswissenschaft die alltägliche Unterstützung der Kinder, um eine optimale Entwicklung zu gewährleisten. Durch
Erziehungsmethoden wird die kindliche Entwicklung kulturell und gesellschaftlich beeinflusst. Pädagogik arbeitet im präventiven salutogenetischen
Bereich.
Therapie dagegen wird definiert als Intervention bei Störungen der Gesundheit, des Verhaltens und Erlebens, um andauernd nachteilige Beeinträchtigungen des Individuums zu verhindern. Sie befasst sich mit Auffälligkeiten, Entwicklungsschwierigkeiten oder tatsächlichen psychologischen
und organischen Krankheitsbildern. Therapie bedarf einer ärztlichen Dianose. Allgemein werden in der Therapie Heilungs- und Behandlungsverfahren und Präventionsmaßnahmen verwendet.
Schwerpunkte einer psychomotorischen Therapie sind die Aufarbeitung von
hinderlichen Blockaden, Lösung von Problemen sowie die Unterstützung
von Lern- und Entwicklungsprozessen. Therapie bewegt sich im Spannungsfeld von
yy einerseits Leistungsvergleich, Leidens- und Zeitdruck und Lösungserwartung und andererseits bestehenden Teufelskreisen und Veränderungsverweigerung
yy einerseits Vermeidung weiterer Störungen und andererseits Aufdeckung
unverdauter oder hinderlicher Erlebnisse
yy einerseits Zeitdruck und andererseits Akzeptanz und Gelassenheit als
Basis jeglicher Veränderung
yy einerseits von Diagnostik abhängigen Interventionen und andererseits von
Diagnostik unabhängigen Angeboten
yy einerseits psychotherapeutischer und andererseits physio-, ergo- und mototherapeutischer Ausrichtung
yy einerseits Angebote zur Verbesserung funktioneller Kompetenzen und
andererseits Bestärkung von Kompetenz und Selbstwertgefühl.
Differenzierung in Einzel-, Kleingruppen- und Gruppensetting aufgrund
von Intension, Bedürftigkeit, Ausbildung, Institution, Kostenträger und
Raumgröße.
1.5 Methodik
Methodik umfasst Fragen der Stundenanalyse und Unterrichtsplanung,
die Art der Aufbereitung, Präsentation und Vermittlung von Lerninhalten,
Strukturierung und Organisation des Unterrichts sowie die angewandten
Methoden. Methodik handelt also von dem „Wie“ des Unterrichtens. Zur
Methodik zählen Stundenaufbau, Handlungsmethoden, Methodentechniken
und Organisationsformen.
Methodik kann wie ein Krückstock aufgefasst werden: Wenn das Zusammenspiel zwischen Psychomotorikerin, Kind und Thema richtig laufen gelernt hat, d.h. von alleine „läuft“, wird der strukturierende helfende Stock
30
1.5.1 Stundenaufbau
überflüssig, vielleicht sogar hinderlich. Abseits „in die Ecke“ gestellt, kann
in Notsituationen jederzeit wieder darauf zurückgegriffen werden.
Solange es unterschiedliche Kinder, unterschiedliche Psychomotorikerinnen, unterschiedliche Bedürfnisse und Themen gibt, solange darf es keine
einheitliche Methodik und kein „einfältiges“ Patentrezept für Stundenvorbereitung und Durchführung der Psychomotorikstunde geben. Um der Heterogenität von Gruppen und Rahmenbedingungen gerecht zu werden, müssen bewusst oder intuitiv verschiedene methodische Werkzeuge verwenden
werden. Diese vielfältigen Methoden werden jedoch ziemlich wirkungslos
bleiben, solange die Methode nicht auf ein Verstehen der Situation, des
kindlichen Bedürfnisses und Verhaltens gegründet ist (Luft 1977).
1.5.1 Stundenaufbau
In Ausbildung und Praxis der Psychomotorik ist das Dogma immer noch
weit verbreitet, dass eine Bewegungsstunde unbedingt gleichbleibend in
verschiedene Phasen einzuteilen ist. Es gibt jedoch nicht nur verschiedene Phasenmodelle, sondern auch mehrere Möglichkeiten, eine Stunde
aufzubauen. Die Psychomotorikerin erhält die ausdrückliche Erlaubnis,
unterschiedliche Stundenstrukturierungen einsetzen zu dürfen. Die einzelnen Phasen können sich in Zeitdauer, Intensität, Zielsetzung und Thema
unterscheiden.
Die Stundenform kann durch eine unterschiedliche Einteilung verschieden
gegliedert werden:
yy phasengebundener Stundenaufbau
yy phasenvariabler Stundenaufbau
yy phasenfreier Stundenaufbau
Stundenaufbau
phasenfrei
phasengebunden:
sportpädagogisch
motopädagogisch
psychomotorisch
phasenvariabel
31
Didaktik und Methodik
Dabei werden einzelne Phasen durch unterschiedliche Übergänge getrennt,
verbunden oder verdeutlicht. Diese Übergänge können unterschiedlich lange Zeit in Anspruch nehmen, abhängig von dem Ziel und der Gestaltung
des Übergangs, von der kindlichen Aufmerksamkeitsausdauer sowie der
kindlichen Bedürfnisbefriedigung.
1.5.1.1 Phasengebundener Stundenaufbau
Folgende Modelle sind nur einige Möglichkeiten, die Psychomotorikstunde
in eine fest einzuhaltende Phasenabfolge einzuteilen. Aus den beschriebenen Modellen wird für jede einzelne Gruppe der geeignete Stundenaufbau
ausgewählt. Genauso können auch neue Phasenmodelle selbst entwickelt
oder bekannte Modelle abgewandelt und an die spezifische Situation der
Gruppe angepasst werden. Meistens stellt es sich als sinnvoll heraus, wenn
die Vorteile des phasengebundenen Stundenaufbaus genutzt werden sollen,
der Gruppe das gleiche Phasenmodell über einen längeren Zeitraum anzubieten.
Der Vorteil einer festen Phaseneinteilung liegt für Kinder und Erwachsene in der Sicherheit, die durch die immer gleiche, rituelle Einteilung der
Stunde geschaffen wird. Man kann sich auf den Ablauf verlassen, er wird
vorhersehbar. Die Stunde ist für die unerfahrene Psychomotorikerin leichter planbar.
Den Nachteil macht aus, dass diese Struktur starr eingehalten wird, auch
wenn es nicht den Themen, Bedürfnissen oder momentanen Ereignissen
entsprechen sollte. Der immer gleiche Ablauf kann Neugier und Spannung auf Unerwartetes verhindern. Einigen Kindern wird der gemeinsame
Wechsel der Phasen schwer fallen, besonders wenn sie ihr Erleben der
Phase noch nicht befriedigend beenden konnten. Die Kinder können nicht
unterschiedliche Phasen zur gleichen Zeit erspielen.
sportpädagogisch
Weit verbreitet ist das 3-Phasenmodell aus der Sportpädagogik.
yy Die Aufwärmphase besteht aus gymnastischen Bewegungsformen oder
einem Fangspiel, um die Kinder für intensivere Bewegung aufzuwärmen,
mit dem Raum und der Gruppe vertraut zu machen und die folgende
Hauptphase vorzubereiten.
yy Die Hauptphase wird von Schwerpunktthemen aus pädagogisch-therapeutischen Zielen gestaltet.
yy Den Ausklang der Stunde bildet meist ein Gruppenspiel, z. B. ein Kreisoder Ballspiel.
motopädagogisch
Das folgende 4-Phasenmodell wurde lange Zeit in der Motopädagogik unterrichtet.
yy Die Einstimmungsphase wird durch ein Ritual oder eine kleine Bewegungsgeschichte gebildet.
32
1.5.1 Stundenaufbau
yy Die Phase „freie Materialerfahrung“ erlaubt den Kindern angebotenes
Material kennen zu lernen, dessen Eigenschaften auszuprobieren, es
nach ihren Bedürfnissen einzusetzen und neue Ideen mit dem Material
zu erfinden.
yy In der folgenden Hauptphase werden Ideen der Kinder aufgegriffen,
nachgemacht, verändert, in Partnerübungen und Gruppenspiele gestaltet.
Auch der Erwachsene setzt Impulse mit speziellen Übungen und Spielen
mit diesem Material. Manchmal kann auch ein zweites Material mit dem
bisherigen kombiniert werden, um neue Bewegungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten.
yy Die Entspannungsphase lässt die Stunde ausklingen und die Kinder zur
Ruhe kommen. So können die Kinder das Erlebte verdauen und die Stunde strukturiert und geordnet beenden.
psychomotorisch I
Etwas abgewandelt erscheint ein neueres psychomotorisches 5-Phasenmodell (Passolt 2003).
yy In der Eingangsphase ist Raum für Begrüßung, Kontaktaufnahme, Zeichen- und Regelvereinbarung.
yy Das extensive Spiel lässt die Kinder mit einem Tobe- oder Fangspiel ankommen und als psychophysische Regulation eventuellen Bewegungsdrang
abbauen.
yy In der folgenden Intensivphase ist Raum für eine Stundeneinführung des
heutigen Themas, für Kreativität und Gestaltung, für Wertschätzung der
kindlichen Handlungen und Erlebnisse sowie für emotionalen Ausdruck
im Rollenspiel.
yy Die Entspannungsphase lässt die Stunde ausklingen und die Kinder zur
Ruhe kommen. So können die Kinder das Erlebte verdauen und die Stunde strukturiert und geordnet beenden.
yy In der Reflexionsrunde erläutern die Kinder, was gut oder schlecht war,
was sie erlebt haben bzw. die Psychomotorikerin was sie beobachtet hat.
Genauso können Wünsche für die nächste Stunde besprochen werden.
psychomotorisch II
In der Psychomotorik nach Aucouturier wird nach einem 4-Phasenmodell
gearbeitet (Esser 1992).
yy Die einleitende impulsive Phase beinhaltet Toben und Zerstören als
Spannungsabbau.
yy Die anschließende sensomotorische Phase bietet Übungen an, um die
Körperstruktur aufzubauen und zu erfahren.
yy Am meisten Zeit sollte die symbolische Phase einnehmen, die Raum für
den tonisch-emotionalen Ausdruck gewährt.
yy Die Stunde wird durch die konstruktive Phase beendet, die Darstellung,
Gestaltung und Kommunikation über das Erlebte ermöglicht.
33
Didaktik und Methodik
1.5.1.2 Phasenvariabler Stundenaufbau
Die Phasen müssen nicht in fester Reihenfolge, sondern sie können variabel eingesetzt werden. Während die Psychomotorikerin Inhalt und einzelne
Phasen der Stunde vorbereitet, werden Zeitpunkt, Länge und Häufigkeit
des Einsatzes der einzelnen Phasen von den Bedürfnissen der Kinder und
momentanen Situationen bestimmt. Diese variable Struktur ermöglicht
ein Jonglieren mit den einzelnen Stundenbausteinen, indem Phasen wiederholt, verlängert, verkürzt oder adäquat gewichtet werden können. Die
Reihenfolge ist flexibel, unterliegt der ständigen Überprüfung und kann
verändert werden. Die Psychomotorikerin ist aufmerksam und hält den
Spielfluss durch passende Phasen in Bewegung (flow).
Zum Beispiel kann ein Wechsel stattfinden
yy zwischen Anspannung (Ausagieren) und Entspannung
yy zwischen Einzel-, Partner- und Gruppensituationen
yy zwischen einzelnen geplanten Bausteinen.
Das motopädagogische Phasenmodell könnte wie folgt variabel angepasst werden:
Entspannung – freie Materialerfahrung – Einstimmung in ein Thema –
Entspannung – Hauptteil – freie Materialerfahrung als Ausklang.
Der Vorteil des phasenvariablen Stundenaufbaus liegt in der Möglichkeit,
auf die meist nicht vorhersehbaren Bedürfnisse, die Tagesverfassung oder
Reaktion der Kinder mit einer flexiblen Abfolge der Phasen eingehen zu
können. Trotzdem ist eine notwendige Sicherheit durch die Vorbereitung
der Phasen und Verlässlichkeit der Durchführung gegeben.
Als Nachteil könnte die notwendige Variabilität der Phasen gesehen werden. Wann ist welche Phase angesagt oder beendet? Bestimmt das Verhalten einzelner Kinder oder die Erfahrung des Erwachsenen? Die Auflockerung des festen Stundenablaufes könnte vielleicht zu mehr Eigenwillen und
dadurch weniger Anpassung der Kinder in das Gruppengeschehen führen.
1.5.1.3 Phasenfreier Stundenaufbau
Die Kinder bestimmen den Verlauf der Stunde durch die Wahl der Spielsituation, dessen Zeitdauer und Veränderungsmöglichkeiten. Es wird auf
die Aneinanderreihung oder Abwechslung verschiedener Phasen verzichtet.
In einer Spielsituation können Kinder selbständig zwischen Toben, Ruhe,
Rückzug, Gemeinsamkeit, Gestaltungsmöglichkeit oder Rollenspiel wechseln. Da alle Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten in einer Situation
vorhanden sein dürfen, stehen den Kindern diese gleichzeitig zur Verfügung. Der phasenfreie Stundenaufbau nähert sich dem natürlichen Spiel
der Kinder außerhalb von Pädagogik und Therapie an, in dem keine Uhr
oder kein Erwachsener bestimmt, wann das Kind sich zu entspannen oder
schnell zu bewegen oder symbolhaft darzustellen hat. Solch eine lebendige
Spielsituation gewähren und begleiten zu können, setzt Erfahrung und Flexibilität der Psychomotorikerin voraus.
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