Kleine deutsche Metrik

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Kleine deutsche Metrik
Kleine deutsche Metrik
Wenn man unter der Metrik einer Literatur, soweit es ihre Grundzüge betrifft,
das System der Prinzipien versteht, nach denen hier aus Sätzen Verse werden,
dann ist von der deutschen Literatur der Neuzeit zu sagen, daß sie eine ganze
Reihe solcher Systeme, eine Vielzahl von Metriken ausgebildet hat.
1.1 Deutsche Metrik: Keineswegs die einzige, allenfalls die wichtigste ist das
von Martin Opitz begründete System, das die Silben der Sätze nach ihrem
akzentuellen Gewicht in Reihen aus gleichen Elementen (den Versfüßen) zu
ordnen und diese Reihen durch einen partiellen Gleichklang am Ende (den Endreim) zu verbinden verlangt. Nach diesen Prinzipien werden noch heutzutage,
wenngleich nur selten von Dichtern höheren Rangs, Gedichte abgefaßt:
Wenn allzu früh der Morgen graut,
dann ist der ganze Tag versaut.
Metrisch unterscheiden sich diese Verse nicht im mindesten von Versen aus dem
Barock, wie:
Wer sich in sich umsonst verzehrt,
Ist wahrlich seiner selbst nicht werth.
Hier wie dort handelt es sich um paargereimte vierhebige Jamben nach dem
Schema:
¼ — ¼ — ¼ — ¼ —
¼ — ¼ — ¼ — ¼ —
a
a
So ist man jedoch nicht immer verfahren. Andere Systeme begnügen sich schon
mit der Reimbindung (wie im Freien Knittel) oder mit der bloßen Ordnung
nach Füßen (wie im Blankvers). Wieder andere regulieren in Reimversen nur die
Anzahl der Silben (wie im Renaissancevers) oder ziehen allein die Anzahl der
Tonsilben in Betracht (wie im Volkslied). Und wieder andere sehen für gereimte
oder reimfreie Verse auch ungleiche Füße vor (Madrigalvers, Hexameter) oder
bemessen die Silben nicht allein nach dem Akzentgewicht (Vossens Hexameter).
Klopstocks Freie Rhythmen verzichten sowohl auf die Reimbindung als auch auf
eine geregelte Fußordnung – mit der Folge, daß viele Gedichte der Gegenwart
statt aus Versen nur mehr aus Zeilen aufgebaut erscheinen.
1.2 Deutsche Versgeschichte der Neuzeit: Historisch läßt sich die Vielzahl der
Systeme in drei Gruppen zusammenfassen. Die erste gehört in der Hauptsache
dem 16. und 17. Jahrhundert an; sie umfaßt diejenigen Systeme, die den Vers
allemal durch den Reim und zumeist auch zahlenmäßig, nicht aber auch nach
Füßen regulieren: Freie Knittel; Strenger Knittel; Volkslied; Meistersang und
Kirchenlied; Renaissancevers. Der zweiten Gruppe, die das Dichten im übrigen
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Abhandlungen vornehmlich zur Verstheorie
17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts fast vollständig bestimmt,
sind außer dem grundlegenden opitizianischen System auch die in Fußordnung
oder Reimbindung freieren Systeme zuzurechnen: Madrigalvers; Blankvers. Die
dritte Gruppe umfaßt die durch Klopstock inaugurierten Systeme der nach
antikem Vorbild vom Reim befreiten und die Füße wechselnden Dichtung:
Hexameter und Odenmaße; Freie Rhythmen. Von der Versdichtung des 19.
und 20. Jahrhunderts ist (trotz mancher Erweiterung des Formbestandes) kein
wirklich neues System entwickelt worden. Alexandrinisch macht sie etwa noch
in den Werken von Borchardt oder Brecht mit Ausnahme allenfalls des Prinzips
der Silbenzählung von allen Systemen Gebrauch, die in Deutschland bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts ausgebildet worden sind.
2.1 Freier und Strenger Knittel: Die Metrik des hohen Mittelalters hat die
Zeitenwende nur in Resten überlebt. Der Reimpaarvers, der bei Konrad von
Würzburg schon fast das Gleichmaß vierhebig jambischer Alternation erreicht:
Ein ritter unde ein frouwe guot
diu haeten leben unde muot,
wird im 16. Jahrhundert teils vom Freien, teils vom Strengen Knittel abgelöst.
Der Freie läßt es bereits bei der Reimbindung bewenden und fällt insofern auf
den Stand der frühmittelhochdeutschen Dichtung zurück:
sind die thüfel alls bös alls diße wiber gegen mier
so ist es pyn vnd grußemm gnug das bedunck mich schier.
(Niklaus Manuel, 1525)
Die Silbenzahl schwankt zwischen 4 und 16, liegt aber in den meisten Fällen
zwischen 7 und 11, so daß sich vier Tonsilben oft schon von selbst ergeben:
Do kam zu ir ein altes weib,
Die hiess im schneiden den magen us dem leib.
(Vigil Raber, 1511)
Nach diesem Muster (wenngleich unter irriger Berufung auf Hans Sachs) wird
die Versart gegen Ende des 18. Jh. wieder aufgegriffen:
Sie ist rumpfet, schrumpfet, bucklet und krumb,
Aber eben ehrwürdig darumb.
(Goethe, 1776)
Seitdem macht man, zumal im komischen Fach, gern vom Freien Knittel Gebrauch:
Und das war nun der Komödie Schluß:
Wir hoffen, ihr saht ihn nicht ohne Verdruß.
(Bertolt Brecht, 1951)
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Die Metrik des Strengen Knittels, nach der sich im 16. Jahrhundert ein großer
Teil der dramatischen und epischen Dichtung richtet, normiert demgegenüber
allein die Silbenzahl des Reimpaarverses, und zwar in der Weise, daß sie bei
einsilbigem (männlichem) Reim 8 und bei zweisilbigem (weiblichem) Reim 9
beträgt. Natürlich ergeben sich auch hier oftmals Verse mit vier Tonsilben und
nicht selten sogar von jambischen Tonverlauf:
Im hag kan sie sich wol verschleiffen
Und singet frölich für und für.
Nun hat der löw viel wilder thür,
Die wider die nachtigall blecken,
Waldesel, schwein, böck, katz und schnecken.
(Hans Sachs, 1523)
In beiden Arten des Knittels ist die Abfolge männlichen und weiblichen Paare
nicht geregelt, und noch im Strengen weist der Reim selber vielfach unreine
oder unebene Bindungen auf (tun : man; still : Beispiel). Auch darum (und
wegen des vielfachen Silbenschindens: seinem Ê seim; Engel Ê Engl) hat das
17. Jahrhundert den Hans-Sachsischen Vers nachhaltig in Verruf gebracht.
2.2 Volkslied; Meistersang, Kirchenlied: Auf ähnlichen Wegen führt das
16. Jahrhundert die strophische Dichtung des Mittelalters fort. Wie der Freie
Knittel mehr dem frühen als dem späten Reimpaarvers entspricht, zeigt das
sogenannte Volkslied sich näher der früh- als der späthöfischen Lyrik verwandt.
Die Verse sind bei grundsätzlich freier Silbenzahl so bemessen und meist durch
Paar- oder Kreuzreim so miteinander verknüpft, daß jede Strophe leicht auf die
jeweils vorausgesetzte Melodie gesungen werden kann. Dazu ist erforderlich
nur: daß der einzelne Vers ein gewisses Minimum an Tonsilben (von Fall zu
Fall: meist drei oder vier) enthält und daß zumal sein Schluß eine bestimmte
Form aufweist (von Fall zu Fall: weiblich oder männlich). Aber selbst damit, wie
ebenso mit dem Reim, nimmt es das Volkslied oft nicht genau. Als Bausteine der
Strophenmaße dienen außer dem Reimpaar (a) vor allem die Vagantenzeile (b),
die Nibelungenzeile (c) und die Chevy-Chase-Zeile (d):
(a) Es blies ein jeger wol in sein horn
und alles was er blies das war verlorn.
(b) Was will ich aber heben an
von dem Danhauser singen.
(c) Aber will ich singen
und singen ein news gedicht.
(d) Nun fall, du reif, du kalter schne,
fall mir auf meinen fuß!
4m a
4m a
4m a
3w b
3w a
3m b
4m a
3m b
Zu den vierzeiligen Strophenmaßen, die oftmals noch den alten Langzeilenreim bewahren (xaxa), treten außer der sechszeiligen Schweifreimstrophe (aab
ccb) auch verschiedene Maße mit ungerader Zeilenzahl: Dreizeiler (teils mit
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Dreireim: aaa), Fünfzeiler (wie die Lindenschmidtstrophe: aabxb), Siebenzeiler (etwa nach Art der späteren Luther-Strophe: ababccx). In verschiedenen
Formen sind außerdem Wiederholungsfiguren wie der Kehrreim (Refrain) im
Gebrauch.
Während die vergleichsweise freie Metrik des Volkslieds seit dem Ende des
18. Jahrhunderts, obwohl gezähmt, im Kunstlied zu neuer Geltung gelangt, hat
die zweite Manier, in der das 16. Jahrhundert die Lieddichtung des Mittelalters
weiterführt, keine Renaissance mehr erfahren. Der schulmäßige Meistersang
reguliert in seinen teils aus der Sangspruchdichtung übernommenen, teils neuerfundenen ›Tönen‹ (allemal in der Barform: AAB) durchweg die Silbenzahl
der Verse, und ebenso verfährt das protestantische Kirchenlied, dessen Strophenmaße freilich sehr viel einfacher gehalten sind. Die jeweils vorausgesetzten
(alten oder neuen) Melodien verlangen von jedem Vers außer einer bestimmten
Kadenz (männlich oder weiblich) nur eine bestimmte Anzahl von Silben gleich
welcher Beschaffenheit. Dabei stellen sich zumal jambische Tonverläufe immer
wieder her:
Erhalt vns HErr bey deinem Wort,
Vnd steur des Bapsts vnd Türcken Mord
Die Jhesum Christum deinen Son,
Wolten stürtzen von deinem Thron.
(Luther, 1543)
Erst im 17. Jahrhundert wird auch das Kirchenlied streng nach Füßen reguliert.
2.3 Deutsche Renaissancedichtung: Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert
überführen die Nachdichter des Hugenottenpsalters und die Nachahmer der
Pléiade bis ins Detail auch die metrischen Prinzipien der Franzosen in die geistliche und weltliche Poesie zumal des südwestdeutschen Raums. Während aber
die Unterscheidung zwischen weiblichen und männlichen Wörtern (schmerzen :
schmerzhaft) und die Hochschätzung des Rührenden Reims (fahren : Gefahren),
Opitzens Reform nicht lange überlebt, bleiben viele der Versmaße, Strophenformen und Gedichtarten, die in der deutschen Renaissancedichtung erstmals zur
Geltung kommen, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (einige davon bis heute)
in dauerndem Gebrauch. Als neue Versmaße sind besonders der 10/11-silbige
»vers commun« und der 12/13-silbige Alexandriner zu nennen, beide überdies
gegliedert durch eine Zäsur, die dort nach der 4. und hier nach der 6. Silbe eine
syntaktische Grenze (mindestens: Wortschluß) verlangt:
Ach süße sehl ¢ muß ich dich dan verlieren,
Ietz da ich dich ¢ starck zu halten gedacht?
Nymfen, deren anblick ¢ mit wunderbarem schein
Kan unser hertz zugleich ¢ hailen oder versehren.
(Weckherlin, 1619/1616)
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Unter den neuen (oder erneuerten) Strophenformen zeichnet sich vor allem
der Sechszeiler mit Kreuzreim- und Paarreimbindung (ababcc) durch eine Vielzahl von Spielarten aus. Ihr größtes Verdienst jedoch hat sich die deutsche
Renaissancedichtung mit der Einführung des Sonetts erworben. Es teilt 14 Verse
(im 17. Jahrhundert meist Alexandriner) in zwei Quartette mit der Reimordnung abba/abba und zwei Terzette mit freier Reimordnung (etwa: cdc/dcd).
Im Grundriß hat sich diese Gedichtart bis heute in der deutschen Poesie gehalten.
Was den zeitgenössischen Vortrag von Versen betrifft, die nur die Silbenzahl normieren, so ist den Zeugnissen jedenfalls nicht zu entnehmen, daß er
unter mannigfacher Tonbeugung alternierend (jambisch oder trochäisch) vor
sich gegangen wäre. Zumindest für die Sprechverse der Renaissancedichtung ist
vielmehr aktzentgemäßer Vortrag anzunehmen – auch darum, weil sich der ihrer
französischen Vorbilder, etwa auf der Bühne, sicherlich keinem solchen Zwang
unterworfen hat. Im Fall des Strengen Knittels ist aus anderen Gründen weder
mit einem viertaktigen (Heusler) noch gar mit einem alternierenden (Pretzel)
Vortrag zu rechnen.
3.1 Opitzens Versreform: Das von Martin Opitz (Buch von der Deutschen
Poeterey. Breslau 1624) begründete System schließt sachlich und zeitlich unmittelbar an die Renaissancedichtung an. Während aber deren Strophenformen und
Gedichtarten zunächst keine nennenswerte Abwandlung erfahren, werden die
einzelnen Versmaße nun nach dem Vorbild der Niederländer und unter Berufung auf die Metrik der Römer in der Weise neu bestimmt, daß sie von jedem
Vers eine bestimmte Anzahl nicht mehr bloß von Silben, sondern außerdem von
Füßen verlangen; zunächst: Jamben oder Trochäen. Im Unterschied jedoch zur
Dichtung der Antike, in der die Silben nach ihrer »größe« (nämlich ihrer Dauer)
gemessen werden, soll man im Deutschen vielmehr »aus den accenten vnnd dem
Thone« erkennen, welche Silbe in die Senkung und welche in die Hebung eines
Fußes gehört. Während also im Lateinischen ein Wort wie ›potest‹ darum einen
Jambus bilden kann, weil die (betonte!) erste Silbe kurz und die zweite (wegen
der Doppelkonsonanz) lang ist, kommt für denselben Zweck im Deutschen ein
Wort wie »vermocht« nur aufgrund dessen in Betracht, daß (wie immer es um
die Dauer der beiden Silben bestellt sein mag) der Wortakzent hier die zweite
Silbe trifft. Reine Jamben, wie Catull sie aus abwechselnd kurzen und langen
Silben bildet:
Quis hoc potest videre, quis potest pati,
wären dann im Deutschen durch eine ebensolche Plazierung der etwa folgendermaßen gewichteten Silben herzustellen:
Auß Vénus ánbefèhl zu Phóebus híngesàndt.
(Opitz, 1624)