1 DAS MAgAzin FÜR WlRTSCHAFT, GESELLSCHAFT

Transcrição

1 DAS MAgAzin FÜR WlRTSCHAFT, GESELLSCHAFT
Berenberg
DAS Magazin für Wirtschaft, Gesellschaft & Lebensart
N 9
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1
Editorial
Dr. Hans-Walter Peters,
Sprecher der persönlich
haftenden Gesellschafter
der Berenberg Bank
Verehrte Freunde des Hauses,
„Wahre Werte“ – was versteht man eigentlich darunter? Das kommt ganz auf
den Blickwinkel an. Gemeint sein können innere Werte, es kann der Wertekanon eines
Unternehmens sein, aber auch die monetären Werte, die wir in vielfältiger Form von
einer Generation an die nächste weitergeben.
Mit zwei dieser Ausprägungen beschäftigen wir uns in diesem Magazin.
Man könnte sie ganz schnöde als „Assetklassen“ bezeichnen, doch die Leidenschaft,
mit der sie von ihren Besitzern gehegt und gepflegt werden, wird dem bei weitem
nicht gerecht. Es handelt sich zum einen um wertvolle Uhren und zum anderen um
historische Autos, Vorkriegsrennwagen. Es sind nur zwei Beispiele, wie Menschen
sich Träume erfüllen. Andere sind glücklich, wenn sie einen großen Fisch an der Angel
haben – auch wenn es hier einmal nicht um den übertragenen Sinn, sondern vielmehr
um den Wortsinn geht. Unsere Autoren haben sich nämlich nicht nur bei Schweizer
Uhrmachern und auf dem Nürburgring umgesehen, sondern erlebten am Roten Meer
hautnah eine Gruppe von Hochseeanglern – „Big Game Fishing“ nennt sich das.
Ist der Wertmaßstab der Politik die Meinungsumfrage? „Nein!“, sagt CDU-Fraktions­
chef Volker Kauder. Mit ihm setzen wir unsere Reihe hochkarätiger Politikerinterviews
fort. „Man kann sich in der Politik nicht von demoskopischen Momentaufnahmen
leiten lassen. Das wäre kein guter Ratgeber.“
Ihr guter Ratgeber zu sein, Sie dabei zu unterstützen, Ihr Vermögen sicher
an die nächste Generation weiterzugeben – das ist unser Ziel und unser Bemühen.
Dafür setzen sich meine Kolleginnen und Kollegen jeden Tag aufs Neue ein.
Bei der Lektüre unseres Magazins wünsche ich Ihnen viel Vergnügen – und ich freue
mich auf den Austausch mit Ihnen!
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Inhalt
I n h a lt
Volker Kauder,
Vorsitzender der CDU-Fraktion
im Bundestag über Konflikte,
konservative Positionen
und das Krisenmanagement
unter Parteifreunden
ein Fischzug im Roten Meer
und ein Männertraum
wird wahr. Von Großwildjägern
zu Wasser, vom Singen
der Schnur und
vom Kampf gegen
die Kreatur
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Die teuersten Uhren
der Welt
In Genf werden noch
Werte von Hand geschaffen.
Die Meisterwerke erzielen
Höchstpreise bei
internationalen Auktionen
Klassiker am Start
Beim 69. ADAC-Eifelrennen,
unterstützt von der
Berenberg Bank, lieferten
sich die Boliden der
1920er-Jahre
packende Duelle
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C l a u d i a S c h i ffe r
braucht Flügel“
Sportliches Hochseeangeln,
E l ef a n t e n Re n n e n
„Eine Volkspartei
Abenteuer pur
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P a t e k P h i l i ppe
P OLITIK
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B i g g a me F i s h i n g
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E DITION
Herbert G. Ponting und der Wettlauf zum Pol
Das 250.000.000Dollar-Baby
Wenn es ein deutsches
Fräuleinwunder gibt,
dann ist es Claudia Schiffer,
die in 22 Jahren als Model
zur Multimillionärin wurde.
Sie hatte es so geplant
T V - L a d i es
Die Macht der Frauen im Fernsehen
Politik
Volker Kauder im Gespräch
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20
B i g G a me F i s h i n g
Männerträume am Roten Meer
W E RTANLA G E
Die teuersten Uhren der Welt
28
38
P AT E K P HILI P P E M U S E U M
Der Louvre der Uhren
BERENBERG
E L E F ANT E NR E NN E N
Klassische Boliden in der Eifel
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48
S AL Z B U R G E R F E S T S P I E L E
Nike Wagner über 90 Jahre Eventkultur
C l a u d i a S c h i ffe r
Das 250.000.000-Dollar-Baby
B E R E N B E R G News
Hamburgs Privatbank aktuell
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Imp r essum
Herausgeber: Berenberg Bank, Joh. Berenberg, Gossler & Co. KG,
Neuer Jungfernstieg 20, 20354 Hamburg;
Projektleitung: Karsten Wehmeier;
Redaktion: Dr. Werner Funk (v.i.S.d.P.); Emanuel Eckardt,
Constanze Lemke, Thomas Košinar, Roswitha Knye, Farimah Justus
Adresse: Dr. Werner Funk, Klein Fontenay 1, 20354 Hamburg;
Anzeigen: Armin Roth, Telefon (040) 361 31-425,
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Druck: NEEF + STUMME premium printing GmbH & Co. KG,
Schillerstrasse 2, 29378 Wittingen
Repro: E I N S A T Z Creative Production, 20359 Hamburg;
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung
der Redaktion. Keine Gewähr für unverlangt eingesandte
Manuskripte oder Fotomaterialien
Titelfoto: Herbert G. Ponting / ©2009 Scott Polar
Research Institute, University of Cambridge
Fotos Inhalt: Jim Rakete/Photoselection, Katja Hoffmann,
PR, picture-alliance/dpa, Dorothea Schmid
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B e r e n be r g E d i t i o n
Wettlauf zum Pol
Der Brite Herbert G. Ponting war ein Pionier der Polar-Fotografie,
mit der Kamera dokumentierte er die Vorgeschichte der Tragödie seines
Landsmannes Robert Scott und schuf dabei Ikonen der Fotogeschichte
Porträt Ponting: Royal Geographical Society, London
F o t o s : He r be r t G . P o n t i n g *
Te x t : P e t e r S a n d me y e r
Zwei wollen Erster sein.
Der uralte Wettstreit, immer wieder ausgetragen,
quer durch die Menschheitsgeschichte. Besonders fiebrig an der Wende
zum 20. Jahrhundert, als
es um die letzten noch
unerreichten
Flecken
der Erde geht. Längst ist
der Globus ausgekundschaftet, bekannt bis in
die Wüsten Asiens und
Herbert G. Ponting mit einer
die Dschungel des AmaFilmkamera im antarktischen Eis zonas. Nur seine eisigen
Kappen oben und unten
sind noch weiß und unbetreten. Stumme Unendlichkeit.
Letzte Terra incognita. Allerletzte Chance für eine Eintragung ins goldene Buch der geographischen Entdeckungen.
In den wissenschaftlichen Gesellschaften von London,
Amsterdam, Berlin, Kopenhagen und Boston debattierte
man sich die Köpfe heiß. Expeditionen wurden erwogen
und verworfen, beschlossen und vertagt. Es ging um nationales Prestige, wissenschaftliche Ehre, Forscherruhm und
den uralten Ehrgeiz, Erster zu sein.
„Der Nordpol ist unerreichbar“, hatte noch 1876 der
englische Expeditionsleiter George Nares verkündet, nachdem sein Vorstoß ins ewige Eis unter unsäglichen Mühen
nur bis 82° 30’ nördlicher Breite geführt hatte. Aber 33 Jahre
später wurden auch die letzten noch fehlenden 7° 30’ bezwungen: Zwei Amerikaner, Robert Peary und Frederick
Cook, kehrten im Abstand weniger Monate von arktischen
Expeditionen zurück und beanspruchten beide, als Erster
am Nordpol gewesen zu sein.
Eine einzige Gelegenheit blieb jetzt auf dem ganzen Globus noch, der Erste zu sein: der Südpol! Eine furchtbare
Herausforderung. Der südlichste Punkt der Erde, ihr extremster. Abgeschirmt von Eisgebirgen und ewigem Sturm,
von klirrendem Frost und fürchterlicher Finsternis; Mittelpunkt der kältesten, trockensten, windigsten Region der
Erde.
Allen Schrecken zum Trotz brannten zwei darauf, ihn als
Erster erreichen.
D
er eine: Roald Amundsen, norwegischer Abenteurer, getrieben von fanatischem Ehrgeiz nach Ruhm
und Geld. Eigentlich wollte er zum Nordpol, aber
dort wäre er nur noch der Dritte. Also sucht er sich ein anderes Ziel, das einzige, das noch Weltruhm einbringt. Mit dem
angeblichen Vorhaben einer Forschungsfahrt ins arktische
Eis erschleicht er sich Geld und Fridtjof Nansens legendären
Schoner „Fram“. Erst bei Madeira, als man ihn nicht mehr
zurückholen kann, offenbart er der Mannschaft das wahre
Ziel der Fahrt und schickt Briefe nach Oslo ab, in denen er
seine Absicht offenbart: den Sturm auf den Südpol.
Der andere: Robert Falcon Scott, ein Kapitän der britischen Marine, „irgendeiner“, schreibt Stefan Zweig in
seinen „Sternstunden der Menschheit“: „Er hat gedient zur
Zufriedenheit seiner Vorgesetzten, hat später an ­Shackletons
Expe­di­tion teilgenommen. Keine sonderliche ­Konduite deutetden Helden an, den Heros. Sein Gesicht das von tausend
Engländern, von zehntausend, kalt; energisch, ohne Mus­
* © 2009 Scott Polar Research Institute, University of Cambridge
Scotts Expeditionschiff „Terra Nova“
1910 im Packeis des McMurdo Sounds
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B e r e n be r g E d i t i o n
kelspiel,
gleichsam
beworben, Scott wählte
hartgefroren von verHerbert Ponting.
innerlichter Energie.
Der schnauzbärtige
Man spürt einen völlig
Hüne geht mit seiner
traumlosen Menschen,
tonnenschweren Ausrüeinen Fanatiker der
stung in Neuseeland an
Sachlichkeit.“ Im SepBord der „Terra Nova“,
tember 1909 hat er seier ist 40 Jahre alt und hat
ne Südpol-Expedition
schon einige Abenteuer
angekündigt. Seitdem
hinter sich.
Geboren und aufgearbeitet er planvoll an
wachsen ist er im südenihrer Verwirklichung.
glischen Salisbury, er hat
Der Träumer und
im Bergbau gearbeitet,
der Traumlose, der
ging dann nach Amerika
Ehrgeizige und der
und kaufte sich in KaliSachliche, der Heißfornien eine Obstfarm,
sporn und der Kühle,
mit der er scheiterte. Dader 38-jährige Abennach begann er, sich mit
teurer aus Norwegen
der noch immer jungen
und der vier Jahre älBernard G. Day, Elektriker und Mechaniker, brach mit der ersten
Kunst des Fotografierens
tere Kapitän der Royal
Gruppe von Scotts Winterlager aus zum Pol auf. Nach dem
zu beschäftigen, reiste als
Navy. Beide wollen
Zusammenbruch der Motorschlitten wurde er zum Basislager
Pionier der Reportageihre Flagge ins Eis des
zurückgeschickt
Fotografie durch China
Südpols rammen. Selund Japan, veröffentten war ein Duell scholichte ein Buch und belieferte mit seinen Bildern britische
nungsloser. Nie endete es schrecklicher.
Es beginnt ritterlich. Als sportlicher Wettstreit zwischen Magazine. Die Verbesserung der Drucktechnik ermöglichGentlemen. Aus Madeira sendet Amundsen ein Telegramm te erstmals das Abdrucken von Fotografien, und populäre
an seinen Konkurrenten: „Erlaube mir, Sie zu informieren, Blätter wie die „Illustrated London News“ und das „Strand
FRAM auf dem Weg zur Antarktis. Amundsen.“ Am 14. Ja- Magazine“ stürzten sich auf Pontings Bilder. Auch auf die,
die er während des Russisch-Japanischen Krieges 1905 aufnuar 1911 ankerte er in der Walfischbucht.
Scott bekommt das Telegramm von Amundsen bei sei- nahm. Dort war er dem irischen Abenteurer Cecil Meares
ner Ankunft in Melbourne. Drei Monate später, es ist der begegnet, der jetzt, fünf Jahre später, von Scott für seine Süd4. Januar 1911, erreicht sein Expeditionsschiff, der Walfän- pol-Expedition als oberster Hundeführer angeheuert wurde.
ger „Terra Nova“, Ross Island. Beide Konkurrenten errich- Meares brachte Scott und Ponting zusammen. Scott erkannte
Pontings Talent und begriff, dass dessen Fotos ihm nach der
ten ihre Winterlager.
Reise helfen würden, das dringend benötigte Geld einzunehnders als Amundsen, der nichts weiter will, als Er- men, mit dem er die Schulden bezahlen musste, die er für sein
ster am Südpol zu sein, möchte Scott auch umfang- Projekt aufgenommen hatte. Abenteuer wie das, das vor ihm
reiches Material sammeln für die spätere Nachberei- lag, wurden durch Fotografien zum ersten Mal für ein großes
tung seiner Expedition, für Bücher, Aufsätze und Vorträge. Publikum miterlebbar. Anders als die meist ins Heroische
In seiner Gruppe sind Wissenschaftler und ein professio- oder Pathetische geschönten Illustrationen herkömmlicher
neller Fotograf, der das Antarktis-Abenteuer dokumen- Expeditionsmaler zeigten Fotografien nicht mehr Interpretieren soll. Hundert Fotografen haben sich für diesen Job tationen der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst.
A
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Becker
B e r e n be r g E d i t i o n
Rund 50 Jahre war es jetzt her, dass bei einer der Suchexpeditionen nach dem in der Nordwest-Passage spurlos
verschollenen Sir John Franklin die erste britische „Kalytypie“ im Eis entstanden war, ein mit Silbernitrat und Jodkalium behandeltes Papierblatt, das lichtempfindlich war
und belichtet, entwickelt und fixiert werden konnte. Seit
diesem ersten primitiven Verfahren, einen Gegenstand mit
optischen und chemischen Mitteln zu reproduzieren, hatten die Erfindungen der Kollodium-Nassplatte und dann
der Gelantine-Trockenplatte der Fototechnik zu gewaltigen
Fortschritten verholfen und die Qualität der Bilder dramatisch verbessert.
Außer den vielen Utensilien und Chemikalien, die Ponting für die Einrichtung einer Dunkelkammer benötigte,
brachte er zwei Filmkameras und mehrere Fotoapparate in
das Basislager am Cape Evans. Rollfilme existierten zwar
schon, aber der Fotograf zog es vor, mit den bewährten Glasplatten des Formats 178 x 127 mm zu arbeiten. Auch mit ersten Farbaufnahmen auf Autochromplatten experimentierte
er. Über eine Eishöhle, die er fotografierte, schrieb Ponting:
„Von außen betrachtet schien sie nur weiß und farblos zu
sein; aber innen war sie eine wundervolle Symphonie von
Blau und Grün.“ In Farbe dokumentierte er auch seine
Dunkelkammer und das Innere der Holzhütte, in der Scotts
25 Überwinterer hausten.
P
onting dokumentierte das Leben dieser Männer in
der engen, vollgestopften Hütte, die durch ein hölzernes Schott noch einmal unterteilt war; ein Bereich
war Offizieren und Wissenschaftlern vorbehalten, der andere war für die Mannschaft. Er fotografierte die Männer
in ihren schmalen Kojen, begleitete sie bei ihrer Arbeit, beobachtete sie auf Ausflügen und trug während der langen
Wintermonate zum allabendlichen Bildungsprogramm mit
einem eigenen Lichtbildvortrag über Japan bei.
Sein Handwerk musste Ponting unter den klirrenden Bedingungen der Antarktis noch einmal neu lernen. Die Kameras, so stellte er fest, mussten grundsätzlich draußen bleiben,
weil sich Kondenswasser bildete, sobald er sie der Hüttenwärme aussetzte. Wenn er die Fotoplatten von außen in die
Dunkelammer transportierte, dann musste das mit äußerster
Vorsicht und sehr langsam geschehen, weil sie beim abrupten
Wechsel der extremen Temperaturunterschiede zerbrechen
konnten. Sogar seine physische Aufnahmetechnik musste
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Ponting neu lernen. Anfangs
kam er beim Fokussieren einmal
mit seiner Zunge gegen ein Metallteil der Kamera, und die Zunge fror sofort fest. Sie ließ sich
nicht mehr lösen, er musste sie
gewaltsam losreißen und büßte
dabei die Haut an der Spitze ein.
Bis heute gehören die Landschaftsbilder, die Ponting unter
diesen Bedingungen mit seiner
schweren Plattenkamera machte,
zu den Ikonen der Polarfotografie. Noch eindrucksvoller
und bewegender aber sind seine
Porträts der Männer, die er begleitete.
Während des ersten Winters
machen sich drei dieser Männer
zu einem 100-Kilometer-Marsch
auf, um Eier von Kaiserpinguinen zu sammeln, von denen man
sich wissenschaftlichen Aufschluss über die Entwicklung
der Reptilien zu Vögeln erwartete. Doch diese Erwartung erfüllte sich nicht, der Ausflug der
drei wurde zum Fiasko: Fünf Wochen ziehen sie ihren Schlitten durch die Dunkelheit der Polarnacht, das Thermometer
fällt auf 46 Grad unter null, der Wind weht mit Orkanstärke, die Kleidung friert steif, so dass die Männer manchmal
stundenlang mit verdrehten Köpfen laufen müssen, auch ihre
Schlafsäcke sind hart gefroren, sie bekommen den Einstieg
nicht mehr auf, der Schnee ist so trocken, dass sich der Schlitten wie durch Sand zieht, und am Ende weht der Sturm sogar
noch das Zelt weg. Einer der drei, Apsley Cherry-Garrard, ein
junger britischer Intellektueller, kurzsichtig und vermögend, hat die Erlebnisse dieser Reise später unter dem Titel
„Die schlimmste Reise der Welt“ („The Worst Journey in
the World“) veröffentlicht. Dass er und seine beiden
Gefährten überleben und lediglich leichte Erfrierungen
davontragen, grenzt an ein Wunder. Herbert Pointing
hat sie nach ihrer Rückkehr in das Basislager fotografiert,
und man braucht keine Beschreibung ihrer Torturen mehr,
Kein Platz für Heroen Unbeschönigt und detailgenau zeigt Ponting die drangvolle Enge der Hütte, in der Scotts
Expeditionsmannschaft überwintert
wenn man die Gesichter auf diesen Bildern betrachtet.
Man blickt in Augen, die das Grauen sahen. „War es das
wert?“, fragt Apsley am Ende seines Buches. Die Antwort
lässt er offen.
D
ie qualvolle Reise der drei Männer war wie ein
Vorzeichen für das, was der ganzen Scott-Expedition bevorstand. Konkurrent Amundsen bricht
am 19. Oktober 1911, zu Beginn des antarktischen Sommers, mit fünf Männern und 42 Schlittenhunden auf und ist
am 14. Dezember planmäßig und sogar acht Tage früher
als berechnet am Südpol. Er hat gesiegt. Er ist der Erste.
Er pflanzt die Fahne Norwegens auf. Er ist am Ziel, aber
auch „in völligem Gegensatz zum Ziel meines Lebens“.
Immer, schreibt Amundsen später, „hatte es mir der Nordpol angetan, von Kindesbeinen an, und nun befand ich
mich am Südpol! Kann man sich etwas Entgegengesetzteres
denken?“
Robert Falcon Scott gibt am 24. Oktober 1911 das Startsignal zum Marsch auf den Pol. Zwei Gruppen setzen sich
in Bewegung, insgesamt 16 Männer mit zwei Motorschlitten, zehn Ponys und 33 Hunden. Es sieht aus wie der besser
geplante und abgesicherte Angriff auf den Pol. Doch der
Marsch entwickelt sich zu einer Kette von Katastrophen.
Die Motorschlitten verrecken, die Pony brechen immer
wieder in den Schnee ein, die Hunde sind zu wenig, die
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B e r e n be r g E d i t i o n
Schlitten zu schwer, die Proviantdepots falsch angelegt.
Unter unsäglichen Strapazen erreichen Scott und vier seiner Gefährten schließlich am 16. Januar den Pol – und finden dort das Steindenkmal von Amundsen. „Ein grauenhafter Tag liegt hinter uns“, hält Scott in seinem Tagebuch
fest. „An diesen entsetzlichen Ort haben wir uns mühsam
hergeschleppt, und erhalten als Lohn nicht einmal das Bewusstsein, die Ersten gewesen zu sein.“
H
erbert Ponting ist beim Marsch zum Pol nicht dabei. Er bleibt im Basislager zurück. So bleibt es
ihm erspart, das dramatischste Foto dieser Expedition zu machen: Scott und seine vier Gefährten vor der
Fahne Norwegens am Pol, erschöpft, enttäuscht, entmutigt,
verzweifelt. Das Foto wird ein halbes Jahr später mit Scotts
Tagebüchern und seinem Abschiedbrief von einem Suchtrupp in dem Zelt gefunden, in dem er auf dem Rückmarsch
von einem brutalen Kälteeinbruch und tagelangem Schneesturm gefangen gehalten wird und erfriert. Vor dem Ende
schrieb er in sein Tagebuch: „All die Mühsal, all die Entbehrung, all die Qual – wofür? Für nichts als Träume, die jetzt
zu Ende sind.“ Dann korrigierte er noch penibel den Text
seiner Bitte, das Tagebuch an seine Frau zu schicken. Die
Worte „meine Frau“ strich er durch und schrieb darüber
„meine Witwe“.
Herbert Ponting kehrte 1912 nach London zurück. Auch
er hatte sich vor dem Aufbruch in die Antarktis verschuldet
und erwartet, sich mit den Erlösen aus der Expedition wieder zu sanieren. Seine Fotos und die Filme, die er gedreht
hatte, sollten das optische Futter für Scotts Vorträge, Aufsätze und Bücher sein. Doch Scott konnte keine Vorträge
mehr halten. Und mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs
1914 gab es so viele neue Tragödien, dass das Interesse des
Publikums an jener der fünf Männer im ewigen Eis der
Antarktis erlosch.
Der Sieger des Wettlaufes zum Pol, Roald Amundsen,
tingelte unterdessen durch die Vortragssäle Europas. Auch
er ein tragischer Held. Der große Abenteurer, der ein Kaiser
seiner Existenz sein wollte, wurde zum Sklaven des Publikums. Retardierendes Leben, Ruhm, der auf der Stelle tritt,
öde Verdienst-Routine, die mit akuten Geldnöten wechselt.
Die Reisen, die er noch machte, waren wissenschaftliche
und wirtschaftliche Katastrophen. Es ist wie eine Gnade, als
er sich im Mai 1928 mit einem Flugzeug von Tromsoe aus
auf die Suche nach dem irgendwo im Norden verschollenen
italienischen Luftschiffer Umberto Nobile begab und nie
wieder gesehen wurde.
Zwei wollten Erster sein. Beide fanden ihre letzte Heimat
im Eis. Der eine in der Antarktis, der andere in der Arktis.
Herbert Ponting brachte sich 1921 noch einmal mit
einem fotografischen Erzählband über die Antarktis in
Erinnerung, „The Great White South“. Doch der Erfolg
des Buches wie auch der anderer Projekte blieb mäßig.
Der Fotograf starb 1935 in London.
F o t o g r a f i e zum S a mme l n
B e r e n be r g E d i t i o n 9
Herbert G. Ponting († 1935)
„Grotto in Berg, Terra Nova in
Distance. Taylor and Wright”,
January 5th, 1911
B e r e n be r g E d i t i o n 1 - 8
Unterschiedliche Formate,
hochwertiger Barytabzug,
Auflage: 10,
signiert vom Fotografen,
Bestellfax: 040-411 72 008
Modern Platinum Palladium print,
printed 2010
Titled, dated and numbered by
Salto Ulbeek
No. 9
Herbert G. Ponting
Auflage: 30, 36 x 50
Ab 2200,- €
(Nummern 1-4/30)
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Bezugsquelle:
Flo Peters Gallery
Chilehaus C / Pumpen 8
20095 Hamburg
Telefon: 040-303 746 86
No. 4
No. 5
No. 6
F.C. Gundlach Esther Haase Herbert List
2400,- €
ab 1600,- €
ab 2500,- €
No. 1
Jim Rakete
950,- €
No. 7
René Burri
ab 2500,- €
No. 2
No. 3
Robert Lebeck Elliot Erwitt
1200,- €
1480,- €
No. 8
Jochen Knobloch
ab 2500,- €
T V - L a d i es
Die Macht
der Frauen
Deutschlands TV-Ladies beherrschen
den Bildschirm
Te x t : E m a n ue l E c k a r d t
D
ie Wende im Fernsehen verlief geräuschlos und ist doch
unübersehbar: Die Machtübernahme der Frauen im politischen Journalismus. Frauen berichten
von der Börse, leiten investigative Magazine und politische Gesprächssendungen.
Das Fernsehen wird leichter.
Im deutschen Fernsehen hatten Männer
das Sagen. Fast drei Jahrzehnte las KarlHeinz Köpcke in der Tagesschau Nachrichten vom Blatt, Hanns Joachim Friedrichs
reifte als „Mister Tagesthemen“ zum Leitbild journalistischer Qualität. Die Herren
Wieben und Wickert, Lueg und Lojewski gaben den Ton an, Frauen blieben im
Schatten dieser Lichtgestalten; das Damenprogramm beschränkte sich auf dekorative
Assistenz, mit extrabreit gezogenem Lidstrich und hochgetürmten Haaren, blonde
Schutzhelme auf der Baustelle Fernsehen.
Als erste politische Journalistin las Wibke
Bruhns 1971 in der Spätausgabe der heuteSendung die Meldungen des Tages. Nie-
mand zweifelte an ihrer Seriosität; nur
Werner Höfer vom Frühschoppen trug eine
dickere Hornbrille. Das Erste wollte nichts
übereilen, wartete ein halbes Jahrzehnt
und rückte Dagmar Berghoff ins Bild, bis
zur Jahrtausendwende sogar Chefsprecherin der Tagesschau, unverzichtbares Portal
einer Feierabendgestaltung, die sich im
Sitzenbleiben manifestiert. Der Deutsche
verharrt am Schirm, drei, vier Stunden am
Tag. Und die Konkurrenzprodukte aus
Mainz holten auf. Das ZDF löste sich zuerst vom staatstragenden Stil abgelesener
Verlautbarungen, brachte den „Redakteur
im Studio“ ins heute journal, der seine
Texte selbst schreibt und die Reihenfolge
der Meldungen mitbestimmt. Dieser Redakteur ist immer häufiger eine Frau.
Wo die Frontmänner der medialen Gesprächskultur nur zu gern von ihrer eigenen Bedeutungsschwere durchdrungen
sind, setzen Frauen locker das System
Wichtig außer Kraft, wie die erfrischend
uneitle Bettina Schausten.
Damenprogramm Frauen wie Judith Rakers, Marietta Slomka
und Anne Will prägen das neue Bild des Fernsehens
T V - l a d i es
„Politik verla ngt Hingabe“
des ZDF, und ist angetreten, Politik zu erklären
Frauenpower
Maybritt Illner
ist stets gut
vor­bereitet und
diskutiert mit
Spitzenpolitikern
auf gleicher
Augenhöhe
Äußerlich ein Muster an Zurückhaltung und dezent geschminkt zeigt Bettina Schausten, Leiterin des ZDF Hauptstadtstudios in Berlin neue Wege, sachorientiert, kompetent
und frei von Glamour. Die studierte Theologin predigt nie,
sieht ihre Aufgabe eher darin, Politik zu erklären, und sei es
als Stimmungsbild beim ZDF-politbarometer. Als Interviewerin ist sie unverkrampft, eine besonders offene Frage an
die Kanzlerin verpackte sie in der Sendung Was nun? in einen
Halbsatz: „… dass Ihr tief ausgeschnittenes Kleid im In- und
Ausland für Furore gesorgt hat ...“ Die Spielregeln verlangten,
dass die Interviewpartnerin den Satz vollendet. Das tat Angela Merkel dann auch: „... ist Ausdruck der Tatsache, dass eine
Frau Bundeskanzlerin ist.“ Damit hatte sie keine erstaunliche
Erkenntnis verkündet, außer der, dass es keine Fragen gibt,
die dieser Kanzlerin gefährlich werden können.
Im Parteienstreit um Posten und Positionen, der das ZDF
gelegentlich erschüttert, (der Blogger Stefan Niggemeier
nennt es das „Das Eins-links-eins-rechts-einen-fallenlassenSpiel“) läuft Schausten auf dem schwarzen Ticket. Ein hö-
18
D
ie Gesprächsführung ihrer Nachfolgerin Anne Will
ist souveräner. Den Unarten der Gäste, auf Fragen
nicht zu antworten, sondern stattdessen einstudierte Phrasen abzuspulen und Gemeinplätze von gähnender
Leere auszubreiten, begegnet sie mit Nachfragen und überlegener Autorität, ohne ihre Gesprächspartner bloßzustellen. Das machen die in der Regel selbst.
„Jeder Politiker will natürlich etwas darstellen, aber gewieft wirken dabei eigentlich die wenigsten“, hat ihre Kollegin Maybritt Illner beobachtet. „Ein Politiker ist extrem
unter Druck. Und das ist die Regel. Politiker wollen jederzeit eine möglichst erhellende und geniale Antwort geben.
Meistens können sie es nicht, antworten aber trotzdem wie
aus der Pistole geschossen. In dieser Situation leuchten in ihren Hirnen Textbausteine auf wie „Exit“-Zeichen in einem
notlandenden Flugzeug.“ Dann kommen Phrasen wie „Wir
müssen die Sozialsysteme zukunftsfest machen“, oder „der
Aufschwung muss verstetigt werden.“
Fotos: picture-alliance/dpa (5), Dirk Schmidt/Agentur Focus, André Rival/Agentur Focus
Damenwahl Bettina Schausten leitet das Hauptstadtstudio
heres Sendungsbewusstsein schadet nicht, auch ZDF-Kollege Peter Hahne ist diplomierter Theologe. Befragt, wie sie
zu viel Nähe zur Politik vermeiden wolle, antwortet sie dem
Satiriker Erwin Pelzig: „Indem ich alles immer wieder reflektiere, nicht auf jeder Katzenkirmes auftauche und um so
mehr aufs Handwerk, auf Fairness, journalistische Sorgfalt
und Unabhängigkeit achte. Davon abgesehen glaube ich jedoch, das ist weniger eine Frage der Methodik als eine Frage
der inneren Haltung.“
Den bisher größten Erfolg aller Frauen am Schirm verbuchte Sabine Christiansen. Die Tagesthemen-Moderatorin
wurde zur Quotenkönigin im Sonntagsstaat, und wurde
in den 428 Folgen ihrer Talkshow Sabine Christiansen im
Schnitt von mehr als vier Millionen Menschen gesehen, zusammengenommen ergibt das 1,804 Milliarden Zuschauer,
so viele Menschen leben nicht mal in China. Zweimal moderierte sie gemeinsam mit Maybritt Illner vom ZDF ein Kanzlerduell: 2002 zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder
und seinem Herausforderer Edmund Stoiber, 2005 zwischen
Schröder und der späteren Kanzlerin Angela Merkel. Ihr gelang es auch, das erste Interview mit einem amerikanischen
Präsidenten im deutschen Fernsehen an Land zu ziehen. Es
wurde das längste Interview, das George W. Bush je einem
ausländischen Sender gewährte, die Fragen waren allerdings
auch absolut schmerzfrei. Bohren war ihre Sache nicht.
„Politik verlangt Hingabe“, sagt sie. „Du musst dich mit
den Themen wirklich befassen, und ich bin offensichtlich
Politik-Junkie genug, um mich dazu nicht erst überreden
zu müssen.“ Sie liest von FAZ bis taz täglich sieben, acht
Tageszeitungen, dazu die Wochenmagazine. Die Berlinerin
Illner, geborene Klose, bis zur Wende Mitglied der SED,
begann ihre Karriere als Sportreporterin im DDR-Fernsehen. Auch Anne Will kam über die Sportschau ins Revier
der Quotenbringer. Der Weg dorthin ist mühsam, vor allem
wenn männliche Dominanz die Regeln vorgibt. Sandra
Maischberger hatte als Co-Moderatorin der politischen
Talkshow Talk im Turm neben dem Vollblutjornalisten und
ehemaligem Spiegel-Chef Erich Böhme keine Chance. „Ich
hab sie rausgeekelt“, offenbarte der im stern. „Dazu stehe
ich. Ein alter Esel und eine junge Gans passen nicht zusammen.“ 2003 hat sie dann den Talk-Sendeplatz der ARD am
späten Dienstagabend von Alfred Biolek übernommen, ihre
Talkshow Menschen bei Maischberger läuft nun im achten
Jahr. Sie sammelte rund ein Dutzend Auszeichnungen vom
Goldenen Schlitzohr bis zur Goldenen Kamera, wurde vom
knurrigen Altmeister Wolfgang Menge für ihr teilnehmendes
Zuhören und große Einfühlsamkeit gelobt und kann recht
hartnäckig sein. Fast zwanzig Jahre lang bemühte sie sich
um ein Gespräch mit Helmut Schmidt. Inzwischen war er
schon mehrere Male bei ihr zu Gast.
Doch es gibt auch Karriere-Knicks, die Männern naturgemäß nicht zustoßen können. Gabi Bauer, hoch gelobte
vielfach ausgezeichnete Fernseh-Journalistin, galt als „Mrs.
Tagesthemen“, gab aber die Moderation ab, als sie mit Zwillingen schwanger war. Seit 2006 moderiert sie das ARDNachtmagazin. Nun ist sie die „Königin der Nacht“.
Die Ausstattung der Nachrichtensendungen wird opulenter. Wenn Marietta Slomka, Moderatorin des heute journals, im Bild erscheint, wirkt sie fast verloren in den Weiten
des 700 Quadratmeter großen Studios, in dem auch Wagners
„Götterdämmerung“ Platz hätte. Doch die Kamera fährt
schnell heran, zeigt den eisblauen Blick, der cool die Nachrichtenwelt durchdringt. Der stets spöttisch-ironische Vortrag hat seinen Charme. Außerdem hat Frau Slomka Biss.
Das musste der wahlkämpfende FDP-Politiker Andreas
Pinkwart erfahren, als er versuchte, die studierte Volkswirtin
mit sinnfreiem Politsprech abzufertigen. Sie wollte wissen,
woher das Geld für Steuererleichterungen kommen solle,
wenn die Neuverschuldung Rekordhöhen erreiche, und fuhr
Quotenkönigin
Sabine Christiansen
lud 428-mal zum
Talk am Sonntag,
und erreichte
in achteinhalb Jahren mehr als
1,8 Milliarden
Zuschauer
unsanft dazwischen, als er davon sprach, dass man die Krise
gestalten müsse. „Das ist all das, was Sie im Wahlkampf auch
schon erzählt haben, aber wir sind ja ganz gespannt, wie Sie
das jetzt finanzieren wollen“, lächelte sie maliziös. Der Politiker wand sich, sprach vom nachhaltigem, vernunftgeleiteten Sparen. Die Journalistin ließ ihn nicht entkommen. Es
war wie das Zureiten eines Bullen beim Rodeo. Die Phrasen
staubten nur so. Sie blieb im Sattel.
Alte Gesichter, neue Gesichter. Steffen Seibert ging,
Maybritt Illner macht beim heute journal seinen Job. Inzwischen fand auch Judith Rakers, 34, ein neues Aufgabenfeld.
Die blonde Tagesschausprecherin moderiert neben Giovanni
di Lorenzo die Radio-Bremen-Talkshow 3 nach 9. Ab Herbst
2011 wird Günther Jauch, neben Frank Plasberg einer der
wenigen Männer, die im Run auf die attraktivsten Sendeplätze noch mithalten können, den Sonntags-Talk von Anne Will
übernehmen. Sein mutmaßlicher Minutenpreis liegt mit 4487
Euro wesentlich höher als bei Anne Will, die sich mit 3164
Euro zufrieden gibt. Es gibt eben noch Unterschiede.
19
Politik
„Wir sind im Aufwind“
W
ir haben es uns nicht leicht gemacht mit unserer
Freundschaft“, sagt Volker Kauder zuweilen, wenn
er über seine Beziehung zu Angela Merkel spricht. Sie
passen eben mit ihren programmatischen Profilen an einigen
Stellen nicht zusammen. Er ein überzeugter Konservativer,
sie eine CDU-Politikerin ohne vergleichbar feste weltanschauliche Standpunkte. Harmonisch aufeinander zugelaufen sind ihre politischen Lebensläufe nicht. Kauder war
es, der 2002 Angela Merkel klipp und klar mitgeteilt hat,
der Kanzlerkandidat der Union müsse jetzt Stoiber heißen
und nicht Merkel. Heute ist er als Fraktionsvorsitzender die
verlässlichste Stütze der Kanzlerin. Zwar hat er zuweilen
mit der Übernahme eines Ministeramtes geliebäugelt. Aber
dann blieb er seinem Posten treu. Aus Merkels Sicht ist der
Fraktionsvorsitz für ihn maßgeschneidert: Als Junge habe
er davon geträumt, Zirkusdirektor zu werden. Jetzt sitze er
auf einem Platz, der ähnliche Erscheinungsformen aufweise.
Herr Kauder, kennen Sie eigentlich den Mann, den der
CSU-Vorsitzende Seehofer unlängst mit den Worten begrüßte: „Beliebtester Politiker, Hoffnungsträger, Mann mit
beispielloser Karriere ...“
Politik
„Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand so schnell
Der kann Wahlen gewinnen und er kann uns helfen,
Er hat am Schluss meinen Namen genannt, aber jeder der
Zuhörer wusste, dass er den CSU-Senkrechtstarter Karl-Theodor zu Guttenberg meinte.
Und Sie fühlen sich dennoch heimisch in Ihrer Union, in
der sich die CSU solche Scherze auf Ihre Kosten macht?
Die Union ist meine politische Familie, in der ich groß geworden bin, an der ich mich freue und zuweilen leide.
Eher leiden oder eher freuen?
Derzeit freue ich mich. Wir sind im Aufwind. Nach der Sommerpause haben wir schon viele wichtige Entscheidungen
gefällt. Das Energiekonzept steht. Der Haushalt 2011 wird die
notwendige Konsolidierung der Staatsfinanzen einleiten. Bei
der Bundeswehrreform sind wir auf einem guten Weg. Wichtige Eckpfeiler der Hartz-IV-Reform stehen. Wir sind in einer
Phase, in der es nach vorne geht.
gen sich viele, sie fühlten sich in der CDU sehr vernachlässigt.
Bitte definieren Sie sich einmal als konservativen Politiker.
einen so breiten und positiven Zuspruch erhalten hat.
dass wir auch miteinander Wahlen gewinnen.“
Dazu möchte ich von ihm gerne wissen, ob er als CDU-Mitglied gesprochen hat oder als Mitglied der globalisierungskritischen Organisation Attac, wo er auch Mitglied ist. Ungeachtet dessen: Ich schätze Heiner Geißler sehr. Richtig ist an
seiner Kritik, dass die Menschen tief verunsichert sind in der
globalisierten Welt. Dennoch müssen wir den Wettbewerb
auch in einer globalisierten Welt annehmen. Wir Politiker sind
gefordert, die Globalisierung zu gestalten. Dazu haben wir
immer noch genügend Spielraum. Auch die Unternehmen
sollten sich dessen bewusst sein. Wir müssen den Menschen
Sicherheit geben. Dazu gehört zum Beispiel, dass junge
Menschen auch am Anfang in feste Arbeitsverhältnisse einsteigen können und sich nicht nur von Zeitarbeitsvertrag zu
Zeitarbeitsvertrag hangeln müssen.
Die CDU ist keine konservative Partei. Wir sind die christlichen Demokraten. Wir machen Politik auf der Grundlage
des christlichen Menschenbildes. Wir haben eine konservative, eine christlich-soziale, eine liberale Wurzel. Alle drei machen die Volkspartei CDU/CSU aus.
Ist denn die CDU in Ihren Augen nicht zu neoliberal?
Viele in der Partei beklagen es.
Wir stehen in einem harten globalen Wettbewerb mit anderen Volkswirtschaften. Wirtschaftliche Reformen waren in
der Vergangenheit notwendig. Auch die CDU hat sich dazu
bekannt. Da kam der Eindruck auf, dass wir Neoliberale sind.
Dies war immer eine Verkürzung. Unser Ansatz auch in der
heutigen Regierung ist breiter. Wir wollen Deutschland fit für
die Zukunft machen. Die Menschen sollen bessere Chancen
Wenn die Union wieder bundesweit über 40 Prozent
kommen will, muss die CSU wie in der Vergangenheit wieder auf 60 Prozent kommen. Doch davon kann sie doch nur
träumen bei derzeit weniger als 40 Prozent.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die CSU in Bayern wieder
zu einer absoluten Mehrheit kommen kann. Bayern und Baden-Württemberg waren immer die Spitzenländer der Union.
Und das werden sie auch bleiben. Bei der Landtagswahl in
Baden-Württemberg im nächsten März wird das auch deutlich gemacht werden.
haben. Dazu gehört auch, dass die Arbeitnehmer wieder einen fairen Anteil am Wirtschaftswachstum haben.
Man kann sich in der Politik nicht von demoskopischen Momentaufnahmen leiten lassen. Das wäre kein guter Ratgeber.
Einer Ihrer prominenten Parteifreunde, der frühere CDUGeneralsekretär Heiner Geißler, sieht das ganz anders: Die
CDU-Verluste, sagt er, seien nicht durch Vernachlässigung
konservativer Wähler bedingt, sondern dadurch, wir zitieren, dass die CDU „mit einer beachtlichen sozialpolitischen
Schieflage und ohne zukunftweisendes Konzept für eine humane Gestaltung des Globalisierungsprozesses die Interessen
einer zutiefst verunsicherten Bürgerschaft zugunsten einer
klientelorientierten Wirtschaftsideologie beiseite geschoben
hat.“ Kurz gesagt: die CDU sei nicht mehr die Mutter der
sozialen Marktwirtschaft.
Forsa sieht die CDU sogar unter 30 Prozent.
Umfragen sind Momentaufnahmen. In Umfragen sehe ich
allenfalls eine Herausforderung. Sie werden bald bessere Ergebnisse sehen. Die Bürger werden unsere Entscheidungskraft honorieren.
Fühlen Sie sich denn noch heimisch in Ihrer CDU? Sie nennen sich einen konservativen Politiker, und von denen bekla-
22
Foto: Getty Images
Wie bitte? Die Union liegt in Umfragen knapp über 30
Prozent, noch schlechter als schon beim schlechten Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 2009.
Sie gelten ja weithin als Realist. Jetzt müssen wir Sie doch
fragen: Sind Sie ein Traumtänzer? Sie sacken in Umfragen
ab, die Jugend läuft der Union weg, CDU und CSU verlieren Mitglieder zuhauf. Seit einem Jahr büßt die schwarzgelbe Koalition Zustimmung ein. Wo ist da die Wende?
Ich bin kein guter Tänzer, schon gar kein Traumtänzer. In der
Beschreibung der konkreten Situation, in der wir uns politisch befinden, sind wir uns sehr schnell einig. Ich bin aber
überzeugt, dass wir die Situation auch wieder ändern können. Wir müssen jeden Tag bereit sein, das Land ein Stück
voranzubringen. Wir müssen in unsere alternde Gesellschaft
wieder mehr junge Dynamik hineinbringen. Das ist eine riesengroße Herausforderung. Sonst hat dieses Land keine Perspektive.
Das Glaubwürdigkeitsdefizit des politischen Systems und
der derzeit auftretenden Akteure ist aber vor allem bei der
Jugend erheblich.
Es gibt in allen gesellschaftlichen Bereichen Irritationen. Ob
bei den Kirchen, den Gewerkschaften, den Verbänden und
auch in der Politik. Die Menschen bezweifeln, ob diese Organisationen ihre Anliegen noch vertreten.
Sie beschreiben eine dramatische Entwicklung sehr verharmlosend. Manches spricht dafür, dass bei der nächsten
23
Politik
„Umfragen sind Momentaufnahmen. Ich sehe darin allenfalls eine Herausforderung. Sie werden bald bessere
Ergebnisse sehen. Die Bürger werden unsere Entscheidungskraft honorieren.“
Bundestagswahl die Partei der Nichtwähler auf jeden Fall
größer ist als Union oder SPD.
ich mache die kniefälle vor der Partei der nichtwähler nicht
mit. Ein Staatsbürger sollte in einer demokratie, für die Menschen oft Jahrhunderte gekämpft haben, zur Wahl gehen.
auswahl unter den Parteien ist doch genug da.
Laufen wir Gefahr, in eine plebiszitäre Demokratie abzudriften, in der das parlamentarische System durch die Glaubwürdigkeitskrise der Parteien unter die Räder kommt. Nehmen Sie doch nur die Bewegung in Stuttgart, die sich dort
gegen das Projekt der Bahn stemmt. Sie gewinnt an Kraft,
tagtäglich.
Wie klug war es von Kanzlerin Merkel, sich so massiv
hinter ein Bahnprojekt zu stellen? Letztlich verknüpft sie
ihre politische Zukunft in Berlin mit einem überaus offenen
Projekt.
ich sehe das nicht so. die landesregierung dringt mehr
und mehr mit ihren argumenten durch. die Bahnlinie ist
auch eine nationale aufgabe – die linie von Bratislava
nach Paris über Stuttgart sogar eine europäische.
die kanzlerin hat damit deutlich gemacht, dass es sich nicht
nur um ein regionales Projekt handelt, sondern dass es für
die Bundesrepublik von großer Bedeutung ist. Eines ist doch
auch sicher: Wir haben über das Projekt 15 Jahre beraten.
die Öffentlichkeit war immer beteiligt. nun müssen wir konsequent bleiben und das Projekt auch verwirklichen.
Und weshalb sehen das denn die Bürger nicht?
Bei Stuttgart 21, das räume ich ein, müssen wir unsere argumente noch besser vermitteln.
CDU und SPD treiben dort vor allem den Grünen Wähler zu.
Vielleicht hat sie es nur getan, weil bei einer Niederlage
der Vorwurf käme, sie habe den baden-württembergischen
nun mal langsam. Es wird erst am 27. März 2011 gewählt.
Die Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Wahlbeteiligung und Stimmenanteile bei
Wahlbeteiligung in %
100%
91,1
86,0
75%
87,8
87,7
86,8
90,7
86,7
88,6
89,1
84,3
78,5
82,2
77,8
79,1
79,0
Zurück aus Stuttgart nach Berlin. Sie haben mit der FDP
Ihre Traumkoalition bilden können ...
75%
77,7
Unsere Wunschkoalition!
70,8
40%
se
nis
35%
30%
25%
45,3%
45,2%
45%
31,0%
b
ge
ler
h
Wa
29,2%
47,6%
48,6%
46,1%
45,8%
50%
48,8%
44,5%
44,3%
44,9%
U
CS
U/
CD
39,3%
se SPD
Wahlergebnis
31,8%
28,8%
42,6%
42,7%
43,8%
42,9%
38,2%
36,2%
37,0%
41,4%
40,9%
36,4%
35,1%
33,5%
38,5%
38,5%
35,2%
34,2%
33,8%
25%
23,0%
0%
Konrad Adenauer
1949
1949
Heinrich von Brentano Heinrich Krone
1949-1955
1955-1961
1953
1957
Heinrich von Brentano
1961-1964
1961
Rainer Barzel
1964-1973
1965
1969
Karl Carstens
1973-1976
1972
Helmut Kohl
1976-1982
1976
Alfred Dregger
1982-1991
1980
1983
Na schön, wie kann denn diese Wunschkoalition ihr Erscheinungsbild verbessern? Nehmen wir mal Umweltminister Norbert Röttgen. Der will sich offenbar auf Teufel
komm raus auf Kosten der Koalition nur profilieren.
Wolfgang Schäuble
1991-2000
1987
1990
1994
Friedrich Merz
2000-2002
1998
Angela Merkel
2002-2005
2002
2005
Volker Kauder
seit 2005
0%
Fotos: pictures-alliance/dpa (10), laurence Chaperon, Pr
50,2%
50%
Angenommen – wir wissen, dass Sie da jetzt widersprechen, aber einmal angenommen –, Ihr Baden-Württemberg
geht Ihnen nach mehr als einem halben Jahrhundert CDURegierung verloren, droht dann nicht auch im Kanzleramt
ein politisches Erdbeben? Vor allem dann, wenn es in Stuttgart zu einer grün-roten Regierung käme.
ich bin kein Politikwissenschaftler, sondern handelnder Politiker. deshalb befasse ich mich nicht mit Fragen, was würde
passieren, wenn. Wir haben noch sechs Monate Zeit, unser
Ziel zu erreichen. ich werde den Baden-Württembergern sagen: Es geht um die gute Zukunft unseres landes und damit
auch um eure. Stuttgart 21 ist nur ein teil unserer Pläne, wie
wir das land voranbringen wollen.
Bundestagswahlen: Der lange Abstieg
100%
Ministerpräsidenten Stefan Mappus nicht unterstützt?
angela Merkel ist von dem Projekt überzeugt. deshalb hat
sie sich dahinter gestellt. an eines möchte ich in diesem
Zusammenhang auch erinnern: der endgültige Beschluss
fiel in der Zeit der großen koalition. SPd-Verkehrsminister
tiefensee hat das Projekt am Ende unterschrieben. Wie die
SPd sich jetzt verhält, ist für mich ein akt politischer Schizophrenie.
ich will nicht auf einzelne Personen eingehen. richtig ist, dass
wir das Bild unserer koalition verbessern können, indem wir
unsere Politik geschlossen vertreten. Wann ist denn die Union nahe an die 40 Prozent gekommen? immer dann, wenn
sie geschlossen aufgetreten ist.
Beim Energiekonzept ist etwas beschlossen worden, was
mit dem nicht übereinstimmt, was Röttgen zuvor verkündet
hatte. Höchstens acht Jahre längere Laufzeit für die Atommeiler, hatte er gesagt. Kaum waren zwölf Jahre beschlossen,
hat dieser Minister daran herumgemäkelt.
norbert röttgen hat das Energiekonzept zuletzt mehrfach
verteidigt.
2009
Bundestagswahlen 1949 bis 2009
24
25
Politik
„Ich begleite Angela Merkel seit Jahren. Wir telefonieren jeden Tag miteinander. Ich kann ihr
jeden Tag die Dinge sagen, die nicht in Ordnung sind.“
Haben Sie Röttgen eigentlich verziehen, dass der einmal
nach Ihrem Fraktionsvorsitz geschielt hat?
Das ist für mich überhaupt kein Thema. Ich wurde gerade als Fraktionsvorsitzender wiedergewählt. Mit großer Mehrheit.
Wie berechtigt ist die Hoffnung, dass die schwarz-gelbe
Regierung in Zukunft geschlossener auftreten kann als bisher? Die letzten zwölf Monate waren ein eher deprimierendes Schauspiel.
Der Zusammenhalt hat sich in den letzten Wochen stark verbessert.
Sehen Sie eine ernst zu nehmende Gefahr, dass es rechts
der Union zu einer erfolgreichen Parteigründung kommt?
Eine neue Partei auf Bundesebene zu gründen ist ein außerordentlich schwieriges Unterfangen. Wir werden auch unsere
Stammwähler wieder mehr von unseren Zielen überzeugen
können.
Vielleicht hat der Politikprofessor Gerd Langguth recht,
der sagt, es gebe keine neue rechte Partei, weil die derzeitige Konservatismus-Debatte in der Union eine versteckte innerparteiliche Merkel-Schelte ist?
Nein. Nein. Es findet überhaupt keine Diskussion in dieser
Richtung statt.
Verzeihung, man kann die CDU-Politiker doch kaum
noch zählen, die sich immer mal wieder über die führungsschwache Moderatorin Merkel beklagten, mal über die Sozialdemokratisierung der CDU durch sie jammern. Sie scheinen ein bedingungslos treuer Soldat der Kanzlerin zu sein.
Ich begleite Angela Merkel seit Jahren, und ich spreche ihr
gegenüber alle Probleme an. Aber ich glaube nicht, dass es
erfolgreiche Politik ist, wenn man Krawall nach außen für die
Hauptsache hält und dann glaubt, dadurch komme man in der
Öffentlichkeit gut weg. Die Zusammenarbeit zwischen Angela
Merkel und mir ist gemessen daran, was andere Fraktionsvorsitzende für ein Verhältnis zu früheren Kanzlern hatten, ganz
anderer Natur. Wir telefonieren jeden Tag miteinander. Ich
kann ihr jeden Tag die Dinge sagen, die nicht in Ordnung sind.
Welche Rolle kommt einem Stefan Mappus in der CDU
künftig zu? Ein neuer Konservativer in Ihrem Sinn? Und
welche Rolle sehen Sie für ihn in der Zukunft?
Zunächst schätze ich an ihm, dass er ein dynamisch zupackender Mensch ist. Er will etwas bewegen. Der sagt immer
wieder, dass er vor allem für seine Kinder eine gute Zukunft
schaffen will. Das ist überzeugend. Im Bereich der Wirtschaftspolitik wird er eine wichtige, zentrale Rolle in der Union übernehmen. Er weiß, wie wir unser Land modernisieren
müssen, um nicht rückständig zu werden. Im Übrigen bin ich
der Pate seines ältesten Sohnes und dadurch ihm und seiner
Familie besonders verbunden.
Baden-Württemberg verhalten, wird es mit Schwarz-Grün
hundertprozentig nichts. Sie werden mit ihrer weitgehend
perspektivlosen Politik die Menschen auf Dauer nicht überzeugen.
Sehen Sie auch für Karl-Theodor zu Guttenberg eine
so gute Zukunftsperspektive? Könnte er tatsächlich einmal
Kanzlerkandidat der Unionsparteien werden, worüber heute schon viele Ihrer Parteifreunde geradezu schwärmerisch
reden?
Die Frage stellt sich mir nicht, denn er ist nicht bei uns. Einige seiner Befunde sind ja richtig. Aber ich muss auch sagen, dass er ebenso zu völlig absurden Konsequenzen rät.
Wer vorschlägt, an Akademikerinnen 50 000 Euro Prämie zu
bezahlen, wenn sie unter 30 Jahren ein Kind bekommen, der
sollte vor allem als Sozialdemokrat mal darüber nachdenken, ob er hier nicht einen Klassenkampf von oben empfiehlt,
der menschenverachtend ist.
Wir haben eine glänzende Bundeskanzlerin, und das wird sie
noch eine lange Zeit bleiben. Deshalb ist es überflüssig, über
weitere Kanzlerkandidaten zu spekulieren. Zu Guttenberg ist
eine Bereicherung unserer Unionsfamilie und ein sehr talentierter Politiker. Ich freue mich über jeden in meiner Fraktion,
der bei den Menschen ankommt und erfolgreich ist.
Weshalb reden Sie so zurückgenommen über einen Hoffnungsträger, der geradezu umschwärmt wird von Medien
und Wählern? Einen vergleichbaren Senkrechtstart hat in
der Union seit Jahrzehnten keiner mehr hingelegt.
Ich kann mich in der Tat nicht erinnern, dass jemand in meiner oder auch einer anderen Partei so schnell einen so breiten und positiven Zuspruch erhalten hat. Ich wünsche mir
wirklich, dass dies auch so bleibt. Karl-Theodor zu Guttenberg kann uns helfen, dass wir miteinander Wahlen gewinnen. Wir brauchen solche Talente wie ihn in Berlin.
Um damit die Grünen wieder etwas zu entzaubern? Alle
kuscheln mit ihnen rum, die CDU ebenso wie die SPD.
Wenn die Grünen in Zukunft irgendwann mal wieder in eine
Regierungsverantwortung kommen, werden die alten Konflikte in der Partei wieder aufleben. Die Grünen sind zurzeit
ein Sammelbecken für jede Form von Protest. Aber ich kann
nicht erkennen, wo eine Zukunftsperspektive formuliert wird.
Auch der Union wird seit Jahren perspektivlose Politik
vorgeworfen, vor allem in der Integrationspolitik. Angenommen, Herr Sarrazin wäre CDU-Mitglied und nicht in
der SPD, würden Sie dann auch seinen Rausschmiss aus der
Partei betreiben?
Glauben Sie eigentlich, dass die deutsche Wirtschaft bei der
derzeitigen Geburtenrate ohne Zuwanderung aus dem Ausland auskommt, um den Bedarf an Facharbeitern zu decken?
Wenn es uns gelingt, die Integration zu verbessern, benötigt
unser Land keine Zuwanderung. Dass der eine oder andere Spezialist dazukommen muss, ist keine Frage. Aber ich
möchte nicht gerne haben, dass das überholte Modell einiger
deutscher Fußballclubs auch von der Wirtschaft übernommen wird, das unter dem Motto steht: „Wir kaufen die Fertigen ein“. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist heute
nur deshalb so erfolgreich, weil sie den eigenen Nachwuchs
mittlerweile exzellent ausbildet.
Sie empfehlen der deutschen Politik und Wirtschaft also
Integrationspolitik nach dem Rezept des Deutschen Fußballbundes?
Aber natürlich. Damit werden wir Weltklasse bleiben.
Also bitte, eine schwarz-grüne Koalition könnte es doch
allenthalben sein. Etwa in Baden-Württemberg.
Wenn etwas glasklar ist: So wie die Grünen sich derzeit in
D a s G esp r ä c h f ü h r t e n W e r n e r F u n k u n d
H a n s P e t e r Sc h ü t z | Fotos : J i m Ra k e t e
26
Rub
B
ig r
G iakme F i s h i n g
Vom Glück geküsst
Oliver Schwenke (links) und Uwe
Kauntz präsentieren stolz ihre Beute:
zwei kapitale Hundezahn-Thunfische
Strike! Strike! Strike!
Ein Schlag auf den Köder, das Wasser kocht, es beginnt ein zäher Kampf
aber wer sich auf die Suche nach dem Fisch des Lebens macht, der braucht
mit der Kreatur. Sportliches Hochseeangeln ist Abenteuerlust pur,
ebenso Respekt und Demut vor der Natur.
B i g G a me F i s h i n g
„Das Kreischen der Rollenbremse lässt dein Herz hämmern.
Jetzt sind alle Sinne geschärft“
F o t o s : K a tj a H o ffm a n n
Te x t : H a n s B o r c h e r t
Hochseeangeln ist Teamsport Egal ob beim Poppern mit
Casting -Wurfruten (Bild oben) oder nach einem Biss
beim Trolling: Jeder hilft jedem. Manchmal muss man
den Kameraden beim Stand-up-Drillen am „fighting belt“
festhalten, sonst ginge er während des Kampfes über Bord
30
Z
ugegeben: Ich hatte nicht den Hauch einer
Ahnung. Nicht vom Fischen, nicht von
diesem Sport. Ich hatte nur einen ganzen
Giftschrank voller Vorurteile. Dazu ein
paar neue Segelschuhe, meine zerfledderte
Hemingway-Ausgabe von „Der alte Mann
und das Meer“ und die Weisheit eines Onkels, der sagte:
„Wer auf ein Schiff steigt, der glaubt an sein Glück.“ So kletterte ich an Bord – mit Gottvertrauen.
Natürlich machten sie mich sofort zu ihrem Logbuchführer. „Man kann auch nach Worten fischen“, beschloss Oliver
Schwenke, 43, und drückte mir Kladde samt Stift in die
Hand. Ich schrieb: „Auf Großwildjagd im Jurassic Park.“
Das war ihr Motto, und dahinter verbarg sich der Traum
vom großen Fischzug im Roten Meer. Wonach wir suchten
und was wir fangen wollten, das waren ausnahmslos die großen Killer und Kämpfer des Meeres. Schwerttragende Raubtiere wie Marlin oder Segelfisch. Ausdauernd, zäh und gefährlich. Zahnbewehrte Fressmonster wie Gelbflossen- und
Hundezahn-Thunfische. Barrakudas. Pfeilschnelle Wahoos.
Und dazu muskulöse Riffgangster vom Stamm der Giant
Trevally. Ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang, denn so
viel verriet Oliver noch, bevor unser Schiff von Marsa Alam
aus in die tiefschwarze Mitternachtsweite gen Zielgebiet
St. John’s Reef ablegte: „Wohin wir unterwegs sind, das ist
Terra Incognita.“
Oli war neben Bau-Ingenieur Carsten Niederlag, 42, und
IT-Service-Manager Uwe Kauntz, 33, unser Mann mit der
größten Big-Game-Erfahrung an Bord. Ob Florida oder
Malediven, Mauritius oder Karibik – er war schon überall.
Ein Kerl wie der wiedergeborene Seewolf. Muskelbepackt
und braungebrannt. Das lange Haar zum Zopf gebunden,
viele kleine Ringe im Ohr, nie um einen Spruch verlegen. Ein
Lebenskünstler, angetrieben von vielerlei Talenten in immer
neuen Existenzen. Mal Tischler, dann Schauspieler, Rocksänger, Musikproduzent. Aber zuletzt: „Tackle Dealer“. In
dieser Funktion Betreiber des szenebekannten Big Game
Online Shops in Berlin.
Seine Ausrüstung war danach. Alles Rolls Royce. Ruten,
Rollen, Schnüre, Köder – jedes einzelne Stück vom Feinsten.
Gesamtwert annährend 30.000 Euro. Knappe Ansage dazu:
„Du kannst Trabbi fahren oder Porsche. Die werden dich
beide von A nach B bringen, die Frage ist nur: wie schnell,
wie komfortabel? Und genauso ist es beim Angeln.“
Auszugsweise notierte ich, was er mit fiebrigen Händen
aus Koffern, Köchern und Kistchen hervorkramte und was
zuvor auf dem Flughafen ganze 45 Kilo an Übergepäck auf
die Waage gebracht hatte. Zum Vorschein kamen Accurate ATD Platinum TwinDrag-Rollen mit Reibungsdämpfer
aus Titanium, Stückpreis 1799 Euro. Kamen Alutechnos
Trolling-, Ocean Xtreme Popper- und Alutechnos Standup-Ruten zu Preisen von 250 bis 400 Euro. Kamen Seaguar Fluoro Carbon-Schnurspulen, je dreißig Meter zu 99,99
Euro. Kamen jede Menge „Lures“ genannte und säuberlich
in Sichttaschen verpackte kunterbunte Köder. Zu 9 Euro, zu
24 Euro, zu 49,99 Euro. Und noch jede Menge Nebengeräusche – vom vollgepackten Werkzeugkasten über Messer
und Flachzange mit Seitenschneider bis hin zu „Harness“
und „Gimbal“ genannten Fighting Belts.
Aber lassen wir das und springen in die Gegenwart des
ersten Morgens. Der sieht unser Schiff einem galaktischen
Schlachtkreuzer gleich über die Wellen tanzen. Im Heck stecken steil und schlank neun Ruten. Es ist Herrgottsfrüh, 6.30
Uhr. Wir machen sieben Knoten. Schleppfahrt, genannt Trolling. Der Kampf mag beginnen. Die Weichen sind gestellt.
Wisst ihr, wie das ist, wenn die Sonne im roten Streitwagen aus dem Meer emporfährt und sich die Nervosität an
Deck hinter gedämpften Stimmen versteckt? Die Welt hält
den Atem an und alles ist ein einziger, lauernder Gedanke.
Wir blinzeln durch schmale Augenschlitze ins goldene Licht.
Reglos, zugleich gespannt. Dennoch trifft uns der Schlag auf
einen der ausgelegten Köder unvermittelter noch als ein ansatzlos abgefeuerter Magenhaken. Es ist, als explodiere im
wirbelnden Heckstrudel eine Granate, und urplötzlich ist die
Hölle los.
„STRIKE“, brüllt Oli. „STRIKESTRIKESTRIKE“, brüllen Carsten und Uwe.
Maschine auf Stopp, sie rennen los. Stürzen zu ihren Ruten, von denen eine nach vorne peitscht. Schnur rast, rast immer schneller, jagt gegen den Widerstand der Rollenbremse,
die gequält ihr Lied singt. Sirenenhaft, in wilden Terzsprüngen ansteigend. Schrill, scharf, durchdringend. „Burning
reels“, nennen sie das, und Carsten diktiert ins Logbuch:
„Es gibt kein schöneres Geräusch als diesen nahezu
ans Schmerzzentrum reichenden Sound. Er weckt deinen
Fluchtinstinkt. Alle Sinne sind geschärft, dein Herz hämmert,
die Adrenalinausschüttung ist enorm, aber zugleich sind deine
Gedanken sehr, sehr klar.“
Verflixt fingerfertig Das Binden von Knoten- und Spieß­
verbindungen auf schwankenden Schiffsplanken will geübt
sein. Es gibt weit über hundert unterschiedliche Varianten,
und ihre Herstellung trainieren Hochseeangler oft fern
des Meeres daheim am Wohnzimmertisch
31
B i g G a me F i s h i n g
„Angeltag ist immer, aber nicht immer ist Fangtag.
Manchmal beißt einfach kein Fisch“
Uwe hat den Biss. Er ringt schon mit der Beute. Was am
Haken hängt, verbirgt sich in der Tiefe und hat noch keinen
Namen. „Jetzt bloß keinen Schnursalat“, ruft Oli. Er und
Carsten holen ihre Leinen ein, helfen, so gut sie können. Legen Uwe den Kampfgurt um, schaffen herumliegendes Material aus dem Weg. Feuern ihn an, flehen: „Lass den bloß
nicht nach Panama.“ Später sagt Oli:
„Big Game ist Teamsport. Du wirst nie alleine einen Rekordfisch fangen. Dazu gehören der Bootskapitän, die Besatzung, deine Kollegen. Einer bekommt den Biss, dem muss geholfen werde, selbst wenn er vier Stunden braucht, um seinen
Fisch zu landen. Und da ist keiner, der sagt: Mach voran, wir
wollen auch noch angeln. Das ist Gesetz: Du darfst deinen
Fisch fangen.“
Uwe drillt. Drillen ist Pumpen. Rute ins Kreuz ziehen,
nach vorne beugen und dabei kurbeln, was das Zeug hält.
Immer auf und nieder. So gewinnt man Schnur. Zentimeter
um Zentimeter. Bis die tobende Kreatur an der Wasseroberfläche auftaucht. Ein wenig löst sich die Spannung. „Barrakuda“, brüllt Carsten. „Barrakuda.“
In diesem Pfeilhecht steckt unbändige Kraft. Es windet
sich, peitscht mit der Schwanzspitze das Wasser, ist ein einziger zuckender Muskel und hängt doch fest am Haken.
Verloren ist der Kampf, auch das Leben. Unsere ägyptischen
Bootsleute halten nichts von fangen und freilassen. „Catch
and kill“ ist ihre Devise. Nur ein toter ist ein guter Fisch,
und was angelandet wird, das gehört der Crew.
Ein Gaff genannter Enterhaken ist ihre tödliche Waffe.
Dessen gekrümmte Spitze gräbt sich in die bebende Flanke
des Barrakudas, dann katapultiert ein harter Ruck den Fisch
an Deck. Es ist ein kapitaler Bursche mit Mördergebiss. 16
Kilo schwer, 1,35 Meter lang. „Jetzt fahren wir nicht mehr als
Schneider heim“, freut sich Carsten, gesteht aber auch: Das
mit dem Töten sei eine zwiespältige Sache.
„Unser Ding ist mehr ‚catch and release‘, denn du bist
dankbar, wenn du das gefangene Tier ohne schwere Verletzungen wieder in seinen Lebensraum entlassen kannst. Ein
Schlag mit der Flosse, der taucht ab und ist weg – allein das
ist ein fast göttlicher Moment. So ein Fisch erfüllt ja meistens
einen ganz persönlichen Traum, und den sieht man viel lieber
frei davonziehen als im Kühlfach verschwinden.“
Eigentlich ist jetzt Frühstückszeit, aber von wegen. Nicht
heute. STRIKE um 7.20 Uhr. Ein mächtiger HundezahnThun hängt an Olis Angel. Nach acht Minuten entert der 20
Kilo schwere Fisch das Deck. STRIKE um 9.27 Uhr. Wieder
ein Dogtooth. Dieser bringt 25 Kilo auf die Waage, und jetzt
blitzt regelrechtes Jagdfieber in Olis Augen. STRIKE um
10.16 Uhr. Barrakuda Numero zwei schlägt auf den Köder.
Double STRIKE um 10.38 Uhr: erneut ein Barrakuda, aber
auch ein Gelbflossen-Thun. „Was für eine Show“, ruft Uwe,
da sprintet Oli schon wieder zu seiner Rute.
Unglaublich, aber wahr: STRIKESTRIKESTRIKE.
Gelungener Fischzug Wunschbeute vieler Big Gamer ist ein Giant Travelly, genannt GT. Die in allen Regenbogenfarben
schillernde Riesenstachelmakrele fängt man beim Poppern in der Dünung vor steil abfallenden Riffkanten
32
Ein Blick zur Uhr. Es ist erst elf. Draußen, wo der Köder
eine leichte Blasenspur gezogen hat, kocht jetzt das Wasser,
und es braucht Olis ganze 100 Kilo Lebendgewicht, um auch
noch diesen Kampf zu bestehen. Er stemmt sich mit den bloßen Füßen gegen die Reling und drillt. Stand up, die aberwitzig gekrümmte Angel in beiden Händen. Brüllt, Schweißperlen auf der Stirn: „Das ist der Burner.“ Lässt sich, was
vorgeht, beschreiben? Carsten versucht es:
„Angeln hat ganz viel mit Gefühl zu tun, denn der Kampf
spielt sich für unser Auge zum Großteil unsichtbar unter der
Wasseroberfläche ab. Da wird wenig rational gedacht, das ist
eine Bauchgeschichte. Reines Feeling. Man weiß, wie weit sich
die Rute zu biegen vermag, weiß, wie die Schnur klingt, wenn
sie im Wind singt. Man spürt in den Fingerspitzen, welche
Bewegungen unter Wasser stattfinden und versucht anhand
des Fluchtverhaltens rauszukriegen: Kämpft der Fisch an der
Oberfläche? Geht er in die Tiefe? Bleibt er einfach stehen?
Macht er lange, macht er kurze Fluchten? Wie weit kann ich
mein Gerät noch belasten? Was kann ich dem Fisch noch zumuten? Überhaupt: Welche Art Fisch könnte das sein?“
Olis Beute fightet verzweifelter noch als alle Kundschaft
zuvor. Flüchtet, lässt sich Meter um Meter andrehen, sammelt neue Kräfte, flüchtet erneut. 120 Meter Schnur sind irre
schnell abgespult, darauf lastet ein immenser Wasserdruck.
Jetzt die Rollenbremse richtig einstellen und keine falsche
Bewegung. Sonst ist er weg. Sekunden dehnen sich zu Minuten, es ist ein zähes Kräftemessen. Mensch gegen Kreatur. Allmählich verliert der Gegner an Kraft, muss dem Zug
nachgeben, taucht ins gleißende Sonnenlicht. Noch vier Meter, drei, dann nur noch einer. Und Ende. Das Gaff schlägt in
einen dreißig Kilo schweren Hundezahn-Tuna, und alles an
Bord brüllt wie von Sinnen: „Doggy Day, Doggy Day.“
Damit war nicht zu rechnen. Fünf FTs in nur vier Stunden. FT, das ist ihr Kürzel für „Fettes Teil“ und ich notiere,
was Oli nach Atem ringend herausstößt:
„Angeltag ist immer, aber nicht immer ist Fangtag. Manchmal beißt einfach nichts. Nette Leute an Bord, tolles Revier,
aber kein Fisch. Du bist frustriert, echt am Arsch. Und dann
ist auf einmal alles nur noch Action. Beim Big Game spielst
du immer mit dem Unerwarteten, dem Unberechenbaren.
Manchmal möchtest du gar nicht wissen, was da unterwegs
ist. Ich hatte mal eine Makrele als Köder draußen, darauf bissen große Wahoos, aber alle, die ich nicht schnell genug drillen
konnte, die kamen mit abgebissenem Kopf und ohne Rumpf
raus. Noch etwas anderes, Gefährlicheres war hinter denen
her. Aber was es war, das weiß ich bis heute nicht, denn als
dieser Killer selbst am Haken hing, hat er mir ein zweieinhalb
Millimeter starkes Stahlseil gesprengt – damit lässt sich mühelos ein VW-Bus abschleppen.“
Es gibt diesen Aspekt: das Größte, das Geilste, die Erfüllung überhaupt. Big Game Fishing ist Männersehnsucht pur.
Jagen, nicht Sammeln. Ist gelebte Großwild-Fantasie und
testosterongesteuerter Reflex eines Urinstinkts. Sagt Uwe:
„Wenn es knallt, spürst du jede Faser in deinem Körper. Du
bist wie elektrisiert, aber zugleich fühlst du dich von Gottes
Hand berührt. Womit du kämpfst, das ist so vital, so frei und
lebendig, es flößt dir Ehrfurcht ein. Vor seinem Willen, seiner
Größe, seiner Kraft. Wenn du am Ende Erfolg hast, dann ist
das ein unbeschreiblich emotionales Gefühl.“
Der Nachmittag sucht ein Ereignis, aber das Angelglück
rutscht uns zwischen die Wellen. Revierwechsel. Unser Kapitän geht auf Südkurs. Dort fällt die Riffkante 256 Meter
33
B i g G a me F i s h i n g
„Womit du kämpfst, das ist so vital, so frei und so lebendig –
es flößt dir Ehrfurcht ein“
tief ab. Unter bewölkter Stirn ruht sein Blick auf der weiten
Wasserfläche. Sucht nach Zeichen. Nach kreisenden Möwen,
nach den markanten Finnen ziehender Segelfische, nach
plötzlich aufkochendem Wasser. So genannte Baitballs sind
sicheres Zeichen für Kämpfe unter Wasser. Dann jagt der
Thunfisch und treibt seine Beute an die Oberfläche.
Aber nichts. „Salao“ nennt das Hemingway. Pech. 84 Tage
kreuzte sein alter Mann über das Meer. Ohne Biss und Beute.
Spencer Tracy lieh ihm auf Hollywoods Leinwand das Gesicht. Großes Kino. Carsten Niederlag, geboren und aufgewachsen in der ehemaligen DDR, sah den Film viele Male,
verschlang das Buch. Es wurde seine Bibel und sein Versprechen auf zukünftiges Glück.
„Der Film war wie eine Initialzündung. Die Handleine,
das kleine Boot, die goldene Rolle. Ich war damals sieben
Jahre alt und was ich da sah, wurde meine Sehnsucht. Ein
Traumgespinst natürlich, denn wir kamen ja nicht raus, und
diese Angelrealität war ebenso unerreichbar wie die Reise
zum Mond. Die Wende änderte dann alles. Big Game war
nun möglich, und meiner Frau war das auch klar. Die hat
mich als Angler kennengelernt und wusste immer: In dem
Mann schlummert ein Fischer.“
Darüber reden wir in der Zwischenzeit, wenn nichts passiert: Angelfieber und Leidenschaft. Uwe Kauntz, geboren in
Siebenbürgen, fühlt sich vor einer Reise immer wie ein Boxer, der in den Ring steigt. Will, das es endlich losgeht. Will,
wie er sagt, die Früchte seiner peniblen Vorbereitung ernten.
Das Einstellen des Zugwiderstands an seinen Rollenbremsen
gehört dazu. Dabei hilft ihm ein Spiel mit seiner Tochter. Ihr
bindet er Schnur um die Taille, und damit läuft sie los. Abends
dann, wenn seine Frau gemütlich im Sofa sitzt und Fernsehen
schaut, übt er am Esstisch das Binden von Knoten und Spießverbindungen. Es gibt weit über hundert Varianten, die heißen Offshore Swivel und Unit. Oder Spider Hitch, Dacron
Loop, Tube Nail. Heißen Sneel und Rapala.
„Knoten und Montage, das ist ein ganz eigenes Kapitel
und dazu eine Wissenschaft für sich. Das Knüpfen erfordert
Fingerspitzengefühl und großes Wissen um den jeweiligen
Einsatz. Jeder hat so seine Favoriten, und keiner lässt sich
gerne in die Karten blicken. Die Knoten sollten sicher hal-
Ausgeflippt und zugenäht Die Präsentation der Beute gehört zum Ritual: Carsten Niederlag freut sich über den Fang
eines Giant Travelly, derweil präpariert Oliver Schwenke schon fachmännisch eine Makrele als nächsten Köder
34
ten und das Zusammenbinden muss schnell gehen, auch unter widrigsten Umständen. Das lässt sich trainieren, und ich
stelle mir dabei schon die Drill-Situation vor und nehme den
Kampf mit dem Fisch gedanklich vorweg.“
Oliver Schwenke verbessert seine Technik am computergesteuerten Drillsimulator im Hinterzimmer seines Ladens.
Carsten Niederlag wiederum zieht es in das Untergeschoss
seines Hauses. Dort hat er sich sein eigenes Reich geschaffen.
Mit Seekarten von Angelrevieren und den entsprechenden
Fischvorkommen an der Wand. Mit Regalen, in denen liegt,
was es für seinen Sport braucht. Ruten, Schnüre, Rollen, Haken, Wirbel. Alles säuberlich geordnet, beschriftet, abgelegt.
„Der Keller ist meine ganz andere Welt. Die Vorfreude
wohnt dort, denn das Angelfieber steigert sich vor einer Reise
von Monat zu Woche zu Tag. Ich beschäftige mich mit Ködern, baue verschiedene Rutenkombinationen zusammen,
packe probeweise, um das Gewicht zu bestimmen. Packe wieder aus, baue um, sortiere alles neu – ich glaube, ich mache
das nur, um diesen Kick zu haben und ein Stück weit weg zu
sein aus der Normalität.“
Auch uns ist die Welt abhanden gekommen, aber sie fehlt
uns nicht. Fern liegen längst alle Landdinge. Die Familie, die
Frauen. Kinder, der Job. Nah, ganz nah ist dafür der nächste
Adrenalinstoß. Gestern, an Tag zwei, war nur das gähnende
Nichts. Köder riggen und Material pflegen, dösen und kein
Biss. Jetzt nährt wachsendes Licht wieder unsere Hoffnung
auf Erlösung. Ein Barrakuda entert früh das Deck, wird abgehakt und darf ausnahmsweise zurück ins nasse Element.
Es herrscht Gerechtigkeit an diesem Morgen „Der“, ruft
Carsten dem Gaff schwingenden Bootsmann zu, „ist für Allah.“
Nennt ihn wie ihr wollt, aber der Herr im Himmel lohnt
die gute Tat. Er schenkt uns in Gestalt smaragdgrün funkelnder Korallenbänke eine regelrechte Südsee-Verheißung, und
schon gibt es kein Halten mehr. „Näher ran, jetzt wird gepoppert“, ruft Oli hinauf zur Brücke, und der Kapitän steuert pflichtschuldig mitten hinein in die Dünung. Das Schiff
krängt wie verrückt, verrückter noch gebärden sich die Angelfreunde. Im Nu stehen sie mit ihren extrem biegsamen
Casting-Wurfruten vorne am Bug und schleudern, selbst im
Erhoben und gewogen Barrakudas sind pfeilschnelle Räuber mit furchteinflößendem Mördergebiss. Uwe Kauntz stemmt
ein 16 Kilo schweres und 1,35 Meter langes Exemplar. Das Gewicht eines jeden Fischs wird mittels Handwaage ermittelt
35
B i g G a me F i s h i n g
„Angeln ist Psychologie und zugleich Aberglaube.
Jeder schwört auf seine Geheimwaffe“
Anglers Augenweide
Ob Köder, Rollen oder Ruten –
das richtige Material spielt
beim Big Game Fishing eine
große Rolle. Die Liste an
Zubehör ist unendlich groß
und ­befördert die Materialsucht,
genannt „Tackle-Wahn“. Der
Fischer, so heißt es, „muss an
sein Material glauben können“
36
Schlingern des Bootsrumpfes gefährlich schwankend, ihre
Oberflächenköder gen Riffkante.
Zu dritt nebeneinander platziert ist das riskant und so gar
nichts für kleinmütige Feiglinge. Jetzt bloß in Deckung. Es
mag nämlich sein, das der messerscharfe Stahlhaken nicht hinausfliegt, sondern sich tief ins Fleisch des seitlich postierten
Nachbarn gräbt. Solche Verletzungen sehen übel aus, und
darüber gibt es grausige Berichte. Also brüllt Carsten „Action“ und setzt erst dann an zum Fünfzig-Meter-Wurf. Keiner kann das so geschmeidig, so kraftvoll wie er. Und keiner
peitscht den Köder danach mit so kompromisslos harten
Schlägen zurück über das Wasser. Die Methode gleicht einer
Folter, denn mit jedem Ruck rammt er sich das Rutenende in den Rippenbogen, dort färbt sich Stunden später alles
hübsch veilchenblau. Man muss schon angelverrückt sein,
um sich das freiwillig anzutun. Wiederum bewundern alle
seine Technik. Wo lernt man das? Antwort: an einem Baggersee der Heidenauer Kiesgrube nahe Leipzig. Dort trainiert er zweimal die Woche je zwei Stunden. So wird man
Popper-König.
„Für mich ist das die ehrlichste, die sportlichste Form des
Angelns. Da ist Fischen noch Arbeit, länger als eine halbe
Stunde stehst du das körperlich überhaupt nicht durch. Dann
bist du am Limit. Manchmal gibt es Blickkontakt zu den
Beutefischen. Man sieht, wie sie im Wasser stehen, versucht
zielgenau zu werfen, und mit Glück kommt sofort die Attacke. Das gibt einen Mördersplash im Wasser, wenn du dann
nicht aufpasst, reißt es dir die Rute aus der Hand.“
Zwei dunkle Schatten, groß wie Tischplatten, jagen Uwes
Köder. Anschlag. Kurz und hart. Dann nichts mehr. Lose
Schnur, Vorfach gesprengt. Totalverlust. Oli drillt einen
Barrakuda. Zwei, drei und hopp an Bord. Das war einfach.
Jetzt Carsten. Der schreit: „Jowjowjow“. Rute im 90-GradWinkel. Anschwellende Blutgefäße, Halsschlagader dick wie
eine Ringelnatter. Tiefes, angestrengtes Grunzen: „Komm,
komm, komm.“ Jetzt wird es richtig persönlich, denn was am
Haken hängt, gehört in die Kategorie „Wunschfisch“. Giant
Travelly stand ganz oben auf der Liste, und alsbald befördern bleischwere Arme eine kapitale Riesenstachelmakrele,
im Big-Game-Jargon „Riffsau“ genannt, ans Sonnenlicht.
Schuppen wie ein regenbogenfarbenes Ballkleid, 26 Kilo
schwer. Zu verlockend war wohl der Köder Marke Carsten
Eigenbau: gelb-schwarz lackiert wie eine Tigerente und bestückt mit den Glasaugen eines Teddybären.
„Angeln ist Psychologie und zugleich Aberglaube. Jeder
erholt sich ebenfalls, macht 100 Meter - die dritte Flucht. Dann
schwört auf seine Geheimwaffe, und wenn man einen Köspringt er, schon näher jetzt, und ich sehe, wie groß der mit
der hat, der fängt, dann bleibt man dabei. Geangelt wird mit
seinen zwei Metern Länge ist. Von da an habe ich inständig
bunten, in Größe, Gewicht und Kopfform unterschiedlichen
gebetet. Es war ein echt harter Kampf, und darauf bin ich jetzt
Fisch-Imitaten aus Hart- oder Weichplastik. Manche haben
sehr stolz: Ich habe ihn Stand-up gedrillt und alles war selbst
aufgeklebte Schuppenfolie, andere, wie der ,Oli Special Island
gemacht – Leinen, Knoten, Köder.“
Der Fisch des Lebens ist eine Definitionsfrage. Sagt Oli.
Lure‘, tragen ein Ballyhoo genanntes Röckchen. Das Auge
Salz- oder Süßwasser? Ganz allgemein: Sorte, Größe, Anangelt eben mit, und das abgefahrene Design dient nur einem
gelmethode, Kampfzeit? Es kann, wie bei Carsten, der erste
Zweck: Der Fischer muss an sein Material glauben können.
kleine Weißfisch sein. Aus dem Wasser gezogen mit sieben
Ist so eine Art Krankheit. Wir nennen das Tackle-Wahn.“
Jahren. Den bekam die Mutter, und er wurde sofort gebraUwe sitzt an Deck. Es ist drei Stunden nach Mitternacht.
ten. Ein kapitaler, knapp 1,20 Meter große Hecht war es
Der Mond rundet sich an diesem letzten Tag und bleicht das
bei Uwe. Zusammen mit dem Vater saß er im Regen an der
Meer mehlweiß wie einen Möwenflügel. Was macht er da,
Theiß. Er sagt: Den Augenblick, als der Fisch raus kam, habe
so ganz allein, in Melancholie versunken? Von allen Glücker nie vergessen. Oli wiederum erinnert sich an Blue Marlin,
lichen war zuletzt er der Glücklichste. Carsten landete zwei
Kapverdische Inseln.
weitere GTs, und auch Oli er„Ich lag in der Koje, döste
hielt zum Abschied noch seivor mich hin, da knallte es. Der
nen Travelly. 24 Kilo schwer,
Marlin stieg auf einen Köder ein,
das Tier. Er hievt ihn hoch und
der gar nicht in sein Beuteschema
küsst ihn im Überschwang aufs
passte. Aber so ist das: Du kannst
nasse Maul. Uwe aber, Uwe
reinhängen was du willst, am
hängt bei der letzten SchleppEnde entscheidet der Fisch, wofahrt etwas ganz Besonderes
rauf er beißt. Ich also schnell die
am Haken. Ein Sailfish. Davon
Badehose an, raus und von da an
hat er geträumt, das lässt ihn
viereinhalb Stunden Fight. Ich
nicht mehr los und schon gar
weiß noch, wie erschöpft ich war
nicht schlafen.
„Der Biss kommt um 17.20
und was mich hat durchhalten
Uhr. Ich höre die Bremse,
lassen. Es war der Gedanke: Gib
sehe sofort, wie er springt. Der
nicht auf, der Fisch gibt ja auch
nimmt wahnsinnig viel Schnur,
nicht auf.“
circa 150 Meter. Die zweite
Mein letzter Eintrag. Und
Flucht geht sogar 300 Meter,
Ende. Die Tür schwingt auf, alles
dann macht der Kapitän einen
sagt: zu Hause. Nach einer WoFehler. Er fährt in die falsche
che im „Jurassic Park“. Nichts
Richtung. Ich muss nach vorne
schwankt mehr, und alle Erinnean die Bugspitze, dann wieder
rung wird allmählich zu einem
zurück. Immer den Fisch am
fernen Echo. Es sei denn, das TeHaken und Oli im Rücken.
lefon schellt. Dann ertönt schrill
Der hält mich am Gurt fest,
und grell Olis-Accurate-Sinfonie.
sonst wäre ich über Bord. Nach Mann und Meer Gleich einer Galionsfigur hält ein
Es war sein Abschiedsgeschenk,
25 Minuten bin ich schon ganz Besatzungsmitglied Ausschau nach neuer Beute.
ein Klingelton. Er signalisiert bei
müde, aber ich schüttele den Gut zu sehen sind die Flossenfinnen von Marlin und
Anruf: STRIKE.
Arm aus und weiter. Der Fisch Segelfisch
37
W e r t a n l a ge
Die teuersten Uhren der Welt
Fotos : J e n s G ö r l i c h
Te x t : E m a n ue l E c k a r d t
Perfektion ist keine Frage der
Zeit. Luxuslimousinen werden
in vierzig Stunden montiert,
eine Uhr von Patek Philippe
zu bauen, kann ein Jahr dauern.
Ein Werkstattbericht
ueen Victoria hatte ihre immer dabei, KarlTheodor zu Guttenberg trägt eine, und Nicolas Sarkozy auch, ein Geschenk von Carla
Bruni. Frauen, heißt es, entwickelten inzwischen die gleiche Leidenschaft für mechanische
Uhren wie Männer. Und sie haben ein Gespür
für Klasse. Eine Uhr von Patek Philippe ist nichts für Parvenüs in italienischen Maßhemden, deren linker Ärmel zwei
Zentimeter kürzer ist, damit man sieht, welche Uhr sie am
Handgelenk tragen. Die Zeitmesser der Genfer Manufaktur
Patek Philippe sind optisch eher dezent, gelten als Meisterwerke der Uhrmacherkunst, und als durchaus krisenfeste,
sichere Wertanlage. Die zwanzig teuersten Armbanduhren,
die je bei Auktionen verkauft wurden, stammen allesamt aus
dem Hause Patek Philippe. Warum ist das so? Was ist das
Geheimnis dieses Erfolgs?
Auf den ersten Blick erschließt es sich nicht. Ein Hausbesuch in der Manufaktur in Plan-les-Quates vor den Toren
Genfs. Moderne Fabrikationshallen, klinisch sauber, lichtdurchflutet. Lange Tische, Menschen, die konzentriert ihrer
Arbeit nachgehen. Hier entstehen Uhren nach alter Väter
Art, mechanische Präzisionsgeräte, handgemachte Wertgegenstände mit Unruh, Anker und Hemmungsrad.
Niemand braucht solche Uhren, um zu wissen, wie spät
es ist. Zeit lässt sich überall ablesen. Hier geht es um Handwerkskunst in höchster und zugleich kleinster Form, eine
Kultur im Verborgenen. Die wahre, die innere Schönheit
dieser anachronistischen Meisterwerke sehen nur die Uhrmacher und am Ende der Meister, der sie zusammensetzt.
Daniel Jaquet hat 43 Jahre bei Patek Philippe gearbeitet, zuletzt als Leiter der Projektgruppe für die Automatikuhr mit der Referenznummer 5960, an deren Entwicklung
zwanzig Mitarbeiter rund vier Jahre lang gearbeitet haben.
1964 hat er hier angefangen. „Seither hat sich unendlich viel
geändert. Die Informatik hat uns weitergebracht, aber bei
den Werkzeugmaschinen erst einmal alles auf den Kopf gestellt.“ Seit er in Pension ist, führt er Besucher durchs Haus,
erzählt von den Grundprinzipien Tradition und Innovation.
Nein, das ist keine Floskel für Betriebsführungen, sondern
ausbalanciertes Spannungsfeld der Unternehmenskultur,
Erkenntnis eines zwei Jahre währenden Selbstfindungsprozesses, den Philippe Stern, bis 2009 Präsident des Unternehmens, angestoßen hatte. Alle Abteilungen waren daran
beteiligt; alle sollten aufschreiben, was Patek-PhilippeQualität bedeutet. Das Resultat wurde Firmenphilosphie,
gipfelt im Patek-Philippe-Siegel, Gütezeichen des derzeit
strengsten Verfahrens zur Qualitätskontrolle in der Uhrenindustrie.
Innere Schönheit
Perfekte Arbeit unter
der Lupe. Die Oberfläche einer Wippe für
komplizierte Uhren
wird geprüft
Urfassung Prototyp des Star Kalibers, einer Taschenuhr mit 21 Komplikationen, die nur als Vierer-Set angeboten wurde.
Für 8,7 Millionen Euro
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39
W e r t a n l a ge
Im Atelier Taillage, der Miniaturwunderkammer für den Zwergenbiss,
werden Zähne poliert und winzige Rädchen entgratet
Der Weg dorthin ist weit, braucht unendlich viele sehr
kleine, geruhsame Schritte. Man muss ihnen nur zusehen,
den Uhrmachern mit der ruhigen Hand, vor sich eine Winzigkeit unter der Lupe, ein Werkstück, das manchmal mit
bloßem Auge kaum zu erkennen ist, wie der Zapfen zwischen zwei Rubinen, der gerade mal ein siebenhundertstel
Millimeter misst und später in 28 800 Halbschwingungen
pro Stunde rotieren wird. Ist das noch Stahl? Achsen dünn
wie Heuschreckenfühler, Schräubchen klein wie das Auge
eines Goldkäfers, mit einem Gewinde, dessen geschliffene
Präzision nur der Blick durchs Mikroskop offenbart.
I
m Atelier Taillage, der Miniaturwunderkammer für
den Zwergenbiss, werden Zähne gefräst, Zähne poliert,
winzige Rädchen entgratet, die nur mit einer Pinzette
erfasst werden können. Neben dem Objektträger klebt ein
Stück grüne Knetmasse wie Kaugummi auf Irrwegen, ein
Hilfsmedium, um kleinste Teile festzuhalten, die sonst ein
Luftzug davon blasen würde. Ein einziges dieser filigranen
Zahnräder herzustellen, braucht bis zu 60 Arbeitsschritte.
Nur dreißig Prozent der Arbeiten seien funktional unentbehrlich, erklärt Daniel Jaquet; der Rest, das Anglieren,
Abrunden und Vergolden, das Polieren, Perlieren und Guillochieren, dient der Perfektion, der stufenweisen Vervollkommnung des untadeligen Gesamtbildes, der Schönheit.
Garantiert rostfrei
Fingerlinge verhindern, dass die winzige
Kupplungswippe mit
menschlichen Schweiß
in Berührung kommt
Eigentlich waren sie schon immer so. Sehnsucht nach
Vollkommenheit, der Ehrgeiz, die schönsten aller Uhren zu
bauen, trieb den polnischen Adligen Antoine Norbert Graf
de Patek am 1. Mai 1839 in Genf mit seinem Landsmann,
dem Uhrmacher Francois Czapek die Uhrenmanufaktur
Patek, Czapek & Co. zu gründen. Czapek ging bald eigene
Wege, Patek gewann den genialen französischen Uhrmacher Jean-Adrien Philippe als neuen Partner, den Erfinder
des Kronenaufzugs. Eine revolutionäre Tat: Endlich war es
möglich, Uhren ohne separaten Schlüssel aufzuziehen und
auch gleich die Zeiger zu stellen.
Seit 1851 nannte sich die Firma Patek Philippe & Co.,
zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde sie in eine
Aktiengesellschaft umgewandelt und investierte vor allem
in Ideen: 1902 wird ein Patent für einen Doppel-Chronographen mit Schleppzeiger angemeldet, 1925 erscheint die
weltweit erste Armbanduhr mit ewigem Kalender, 1927 gehen die ersten Armbandchronographen in Serie.
Als die Weltwirtschaftskrise das erfolgsverwöhnte Unternehmen erfasst, übernehmen die Brüder Charles und Jean
Stern, bis dahin Fabrikanten von Zifferblättern, die Aktienmehrheit und schließlich das ganze Unternehmen. Patek
Philippe ist nun wieder ein Familienbetrieb und produziert
Klassiker mit Zukunft. Die 1932 eingeführte „Calatrava“, benannt nach einem spanischen Ritterorden, wird heute noch
äußerlich kaum verändert produziert, das „Calatrava-Kreuz“
seither als Logo der Manufaktur in die Kronen geprägt. 1937
kommt die Weltzeituhr, 1962 die erste Armbanduhr mit ewigem Kalender und automatischem Aufzug, 1977 das weltweit flachste Automatikwerk mit nur 2,40 mm Höhe.
Den vorläufigen Höhepunkt markiert das Jahr 1989.
Nach neun Jahren Entwicklung präsentiert Patek Philippe
zum 150. Firmenjubiläum die komplizierteste Uhr, die jemals gebaut wurde, ein Werk mit 33 Komplikationen und
1728 Bestandteilen, zu groß um es noch am Arm zu tragen.
Die Taschenuhr mit dem Kaliber 89 bietet auf zwei Seiten 24
Zeiger und 12 Hilfszifferblätter sowie ein Abbild der Milchstraße mit 2800 Sternen des nördlichen Nachthimmels. Zu
Minimalistische Kunst
Das Profil eines
0,8 Millimeter großen
Zahnrades wird poliert,
ein Stahlstift dient
als Achse
40
Fertigungsraum für Filigranes
Ende der Mittagspause.
In der „Pivotage“ werden Achsen
rolliert und Triebräder poliert
W e r t a n l a ge
Zum 150. Firmenjubiläum präsentiert Patek Philippe das Caliber 89,
die komplizierteste Uhr, die je gebaut wurde
den uhrmacherischen Feinheiten zählen eine Minutenrepetition mit großem und kleinem Läutwerk, Wecker, Tourbillon und ewiger Kalender, ein Schleppzeiger-Chronographenwerk und ein Rad, das sich in 400 Jahren nur einmal
vollständig dreht. Dann nämlich wird nach dem Gregorianischen Kalender das Schaltjahr einmal ausgesetzt.
Die Jubiläumsuhr wurde nur fünfmal gebaut, für mehr
reichte die Kapazität nicht aus. Eins der schweren Kaliber blieb
als Prototyp im Hause. Aber das Thema Taschenuhr blieb aktuell. Zur Jahrtausendwende produzierte Patek Philippe die
Star Caliber 2000, eine Taschenuhr mit 21 Komplikationen,
die nur als Vierer-Set in einer limitierten Auflage von 20 Stück
zum Preis von 8,7 Millionen Euro angeboten wurde.
Z
Obligate Zwischenprüfung Gibt es Kratzer? Einschläge? Eine Mitarbeiterin kontrolliert die Brücken in einer 50-StückSchachtel, ehe sie weiter verarbeitet werden. Im Werk einer Uhr mit Minutenrepetition werden die Funktionen angepasst.
Die klingenden Tonfedern laufen außen ums Werk (oben rechts). Entladen von der Transfermaschine. Stück für Stück wird
jede einzelne Platine (Grundplatte) genauestens untersucht (unten rechts)
42
wei Jahre später kommt die Sky Moon Tourbillon
mit der Referenznummer 5002 heraus, die erste doppelseitige und zugleich komplizierteste Armbanduhr, die Patek Philippe je gefertigt hat, mit Minutenrepetition und Tourbillon, ewigem Kalender und den Anzeigen
von Mondalter (die Anzahl der Tage seit dem letzten Vollmond), Schaltjahrzyklus, Wochentag, Monat und Datum
mit Rückstellzeiger (springt bei Monatsende, auch am 28.
oder 29. Februar zuverlässig auf die Eins). Auf der Rückseite
bewegt sich unter einem Saphirglas der Sternenhimmel der
nördlichen Hemisphäre gegen den Uhrzeigersinn und zeigt
die Winkelbewegung der Sterne und des Mondes in einem
Zyklus von 29 Tagen, 12 Stunden und 44 Minuten. Von dieser Uhr werden pro Jahr nur zwei Exemplare hergestellt, der
Preis liegt derzeit für die Platin-Version bei 897.130 Euro.
Erfindergeist ist die Unruh der Firma. In ihrer Geschichte hat die Manufaktur rund achtzig Patente angemeldet,
zuletzt für eine Uhr mit Tourbillon, die zehn Tage Gangautonomie garantiert. Das Gestell des Tourbillons dreht sich,
um die Erdanziehung auszugleichen, um die eigene Achse,
ein minimalistisches Wunderwerk aus 72 Einzelteilen mit
einem Gesamtgewicht von 0,3 Gramm.
Die Nachfrage nach solchen technischen Raffinessen
ist groß, Luxusuhren boomen. Patek-Philippe-Uhren sind
Raritäten. Das Werk hat in 170 Jahren weniger als ein Prozent der Schweizer Uhren gebaut, die heute in einem Jahr
produziert werden. Die inzwischen älteste unabhängige
Uhrenmanufaktur in Familienbesitz gilt im Premiumbereich unangefochten als die Nummer eins. Dabei wäre fast
alles schief gegangen.
Uhrmacherkunst in Höchstform
Paul Buclin, Maître Horloger, präsentiert Meisterwerke
der Manufaktur. Taschenuhren mit vielfältigen
Komplikationen takten Sekunden, Mondphasen und
die Zeiträume des Universums
In den siebziger Jahren fegte ein eisiger Wind durch die
Manufakturen. Die Schweizer Uhrenindustrie war auf das
elektronische Zeitalter nicht vorbereitet. Die Lawine billiger
Quarzuhren aus Japan begrub eine ganze Branche unter sich.
Von 90000 Arbeitsplätzen gingen 70000 verloren. Traditionsmarken wurden zu Spottpreisen verkauft. Doch die Familie
Stern gab nicht auf. „Wenn nur eine einzige Manufaktur übrig bleibt, sollten wir es sein“, glaubte Philippe Stern, „schon
wegen der vielen Sammler.“
1983 kam die Swatch auf den Markt. Die Billiguhr rettete
die Schweizer Uhrenindustrie, die sich nach und nach erholte. Handgearbeitete Luxusuhren erleben ein triumphales
Comeback. Doch die Schweizer Uhrenindustrie sieht anders
aus. Die meisten der alten Manufakturen sind inzwischen in
43
W e r t a n l a ge
mächtig wuchernden LuxuskongloKlangbild der Uhren mit Minutenmeraten aufgegangen, allen voran im
repetition. Ping, Ping schlagen zwei
Richemont-Konzern in Bellevue (KanHämmerchen die Stunden auf der tieton Genf), der die Marken Baume &
fen Tonfeder, dann folgen die ViertelMercier SA, Cartier, IWC, Jaeger-Lestunden mit einem Doppelschlag und
Coultre, Lange & Söhne, Officine Pazum Schluss die verbleibenden Minunerai, Piaget, Roger Dubuis, Vacheron
ten auf der hohen Tonfeder. Doch es
Constantin und Van Cleef & Arpels
genügt nicht, dass Maître Buclin zuunter seinem Dach versammelt.
frieden ist. Erst wenn Thierry Stern,
Die Swatch Group SA, als Holder Präsident, und sein Vater und
ding in 50 Ländern vertreten, hat unVorgänger Philippe Stern den Klang
ter anderem die Uhrenmarken Breakzeptieren, darf die Uhr verkauft
guet, Blancpain, Glashütte-Original,
werden. Ein Insider-Tipp: Gold und
Omega, Longines, Rado und Union
Weißgold klingen immer besser als
im Portfolio. Im Luxuskonzern Moet
Platin.
Vermögenswert
Die 5002P, derzeit teuerste lieferbare
Hennessy Louis Vuitton S.A. (LVMH)
Das Unternehmen ist ausgelastet.
Uhr von Patek Philippe: Unverbindliche
ticken Uhren nur am Rande: TAG
Patek Philippe verkauft rund 42.000
Preisempfehlung 897.130 Euro
Heuer, Dior Watches, Zenith und
Uhren im Jahr. Laut aktueller PreisHublot. Seiteneinsteiger F. A. Porsche
liste sind derzeit 160 Uhren lieferbar,
hat sich die Marke Eterna gesichert,
rund, elipsenförmig oder in Tonneauund Montblanc, Schreibgerätehersteller mit Nebenlinien, Form, mit oder ohne Mondphasenanzeiger, Schleppsekunde
konnte die hochklassige Manufaktur Minerva SA erobern.
und Tourbillon, in Gelbgold, Weißgold, Rotgold, Stahl oder
als Platinversion, mit guillochierter „Clous de Paris“-Lündkontrolle bei Patek Philippe, Zugang ist nur in nette und römischen Zahlen oder als Offiziers-Armbanduhr
staubfreier Schutzkleidung gestattet. Hier wird jedes mit Turbankrone.
Uhrwerk 18 Tage hart geprüft, wird das Werk drei
Siebzehn Basiskaliber stehen zur Wahl, darunter fünfzehn
Tage lang geschüttelt, gestoßen und gedreht, um das Tragen für Armbanduhren mit bis zu zwölf Komplikationen. Jede
am menschlichen Handgelenk zu simulieren. Die Hochzeit, vierte Uhr trägt den Vermerk „Spezialanfrage“, für die es
das Zusammenfügen von Uhrwerk und Gehäuse erfolgt in Wartezeiten gibt. Quarzwerke gibt es auch, in den Dameneinem keimfreien Glaskasten, in dem leichter Überdruck uhren Nautilus, Aquanaut und Twenty~4, der mittlerweile
herrscht. Die Zeremonie wirkt etwas verblasen: Aus dem meistverkauften Uhr von Patek Philippe, lieferbar in allen
Kasten dringt ein steter Luftstrom nach draußen, damit kein Stufen der Haute Joaillerie mit Brillianten und BaguetteStäubchen den Weg hinein findet.
Diamanten bis in die Preisklasse von weit über einer halben
Die fertige Uhr wird abermals 18 Tage lang in die Man- Million Euro.
gel genommen, durchläuft noch einmal die gleichen Tests,
Wer eine Patek Philippe kauft, erwirbt damit das Anrecht
die schon das Werk ohne Gehäuse hinter sich gebracht hat. auf lebenslange Betreuung – der Uhr, übertragbar auch auf
Jede Uhr wird eine Stunde ins Wasser gelegt, und danach – kommende Generationen. Jede Uhr, die das Werk seit seiimmer noch im Wasser – einem Druck ausgesetzt, der dem ner Gründung 1839 verlassen hat, ist registriert, und wird
Druck in 30 bis 120 Meter Wassertiefe entspricht. Danach – sofern sie nicht von unfähigen Uhrmachern verschandelt
kommt die Uhr auf eine Hitzeplatte. Ein Wassertropfen wurde – auch vom Werk überholt. Revision und Reparatur
wird auf das Saphirglas geträufelt, läuft es an, ist Wasser in sind garantiert. Der Zeitrahmen ist weit gesteckt. Die Star
der Uhr. Alles noch mal von vorn.
Caliber braucht in neunzig Jahren eine neue JahrhundertDie höchsten Weihen bekommen die Uhren, die Paul scheibe, weil dann ein Schaltjahr ausfällt. Die nächste wird
­Buclin, Maître Horloger, vorgelegt werden. Er prüft das dann erst wieder in vierhundert Jahren fällig.
P a t e k P h i l i ppe M useum
Zum Schießen
Die Frères Rochat fertigten um 1810 diese
schmucke Duellpistole. Beim Abdrücken kommt
ein zwitscherndes Vögelchen aus dem Lauf
Der Louvre der Uhren
Das Patek Philippe Museum in Genf
E
44
Foto : PR
E
ine vergleichbare Schau wird man nicht finden. Das
Trommeluhr aus dem 16. Jahrhundert, Meisterwerke
Patek Philippe Museum zeigt die umfassendste
der Uhrmacherfamilie Rousseau und die Pendeluhr
Sammlung kostbarer Uhren aus fünf Jahrhundes niederländischen Astronomen Christiaan Huyderten, in Szene gesetzt in einem renovierten viergegens (1629–1695), der als Erfinder der Unruh in die
schossigen Gewerbebau im Zentrum von Genf, als
Geschichte einging.
Zu den Höhepunkten der Sammlung zählen
einzigartiges kulturelles Welterbe, ein Louvre der
fili­grane fürstliche Scherzartikel aus der Zeit zwiUhren.
Auf 2000 Quadratmetern sind historische
schen 1760 und 1850. Duellpistolen versprühen
Maschinen, Werkbänke und Werkzeuge
Parfüm oder lassen beim Abdrücken ein Vözu bestaunen und mehr als 2200 kostgelchen zwitschern, nussgroße Mandolinen
bare Sammlerstücke der Uhrmacherticken von innen, Kirschen und mit Edelsteikunst hinter Glas, perfekt ausgeleuchnen verzierte Käfer messen die Zeit, Fracktet. Animationsfilme spielen die vor
uhren zeigen wilde Beeren und die Lilien auf
Jahrhunderten minutiös ausgetüftelten
dem Felde. Moses berührt einen Berg und
Funktionen kompli­zierter Räderwerke
ein Wasserfall aus Silber rettet das dürstenUhrlaute
in Zeitlupe nach; geniale Kleinkunst, ande Volk Israel, Automaten als Taschenkino,
Anhänger mit integriertem
schaulich inszeniert. Gezeigt werden
zauberhafte, zahnradgetriebene Smartphones
Musikautomat von 1810
die noch vergleichsweise urig wirkende
aus dem Zeitalter der Erfindungen.
45
P a t e k P h i l i ppe M useum
Der Bau an der Rue des Vieux-Grenadiers ist zuvon Dänemark oder Umberto I. von Italien, die Uhr
gleich ein Museum der europäischen Malerei – en mides Komponisten Peter Tschaikowsky oder der
niature. Detailgenaue Emailbilder auf Taschenuhren
zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie.
Der erste Stock des Museums ist dem Gesamtund Automaten spiegeln die Epochen der Kunst, ins
werk von Patek Philippe gewidmet, von den frühen
Winzige transponierte Kopien barocker FürstenportMeisterwerken der Manufaktur aus der ersten
räts, schimmernde Seestücke, romantische LandHälfte des 19. Jahrhunderts über Art-decoschaften, wundersam zeitlos leuchtende Emaillen
Formen zum legendären Kaliber 89 und dem
der „chinesischen Kaliber“, jener Uhren, die an
10-Days-Tourbillon
zur
Jahrtausendwendie europäischen Kolonien in Kanton und Made. Auch die erste Armbanduhr der Schweiz
cao geliefert wurden, oft paarweise, eine skurrile
stammt aus dem Hause Patek Philippe, ein zierMode, die der Nachwelt einzigartige Sammlerstücke
liches Schmuckstück, 1868 gefertigt. Damals
hinterließ.
Philippe Stern, langjähriger Präsident von
war es noch undenkbar, dass Herren jemals
Patek Philippe, dessen Privatsammlung
solchen Damenschmuck am Arm tradas Fundament dieses Museums bildet, hat
gen würden. 1889 wurde die erste Armdreizehn Paare beigesteuert und zeitweise
banduhr patentiert, aber erst im frühen
Schlicht genial
durch Leihgaben bedeutender Sammlungen
zwanzigsten Jahrhundert setzte sie sich
Pendeluhr von Breguet mit
ergänzt. Königliche Taschenuhren sind zu seals Männermode durch, in wahrhaft beZeitgleichung
und
Thermometer
hen, wie die von Queen Victoria, ­Christian IX.
eindruckender Vielfalt.
Frühwerk
Tragbare Dosenuhr aus Eisen,
um 1540 in Süddeutschland gebaut
Patek Philippe Museum
Rue des Vieux-Grenadiers 7
CH-1205 Genf
Tel. +41 (0) 22 807 09 10
www.patekmuseum.com
Geöffnet Di-Fr 14-18,
Sa 10-18 Uhr
46
Fotos : Patek Philippe Museum
Glanzstücke für China, gefertigt um 1800: Genfer See mit Montblanc in Emaille; das schmucke Herz schlägt alle
Viertelstunde, und wurde wie die Mango-Uhr als Paar produziert; die Kriegerin der Antike zeigt die Stunden mit links
B e r e n be r g E l ef a n t e n r e n n e n
„Wenn ich ehrlich bin: ich brems’ nicht viel“
Showdown der
Motorsport-Klassiker
aus großer Zeit:
Unterstützt von
der Berenberg Bank
kommt es im Rahmen
des 69. ADAC Eifel­rennens
zum Aufeinandertreffen
der Mercedes- und BentleyBoliden aus den goldenen
zwanziger Jahren
B e r e n be r g E l ef a n t e n r e n n e n
Freude am Fahren: Bei Veranstaltungen mit historischen Renn­wagen hat
nicht unbedingt der Schnellste auch den größten Spaß
Te x t : H a n s B o r c h e r t
F o t o s : D o r o t h e a sc h m i d
Z
uerst die Wahl: Bentley oder Mercedes. Dann
entscheide man sich: Rennstrecke oder Garage.
Ist man Sammler, so sonne man sich im Glanz
der stillgelegten historischen Preziose – für die
schon mal 5 Mio. Euro gezahlt werden – und
freue sich an ihrer blankgeputzten Unversehrtheit. Ist man
allerdings ein Mann, also ein richtiger Mann, dann gibt man
Gummi und brennt mit 180 Sachen durch den Hatzenbachbogen am Ring.
Nordschleifenfeeling pur. Flugplatz, Fuchsröhre, Metzgesfeld, Caracciola-Karussell. Hohe Acht, Brünnchen, Schwalbenschwanz, Döttinger Höhe. 20,83 Kilometer immer Vollgas, aber bitte nicht vergessen: vorher antreten zum Gebet.
Die Kerns sind von solchem Kaliber. Vater Peterheinz
und noch mehr Thomas, der Sohn. Mit seinem weißen
7.2-Liter-6-Zylinder-Mercedes 720 SSKL, Baujahr 1930,
hängt er bei Trainingsrunden dem ADAC-Intervention Car
nahezu im Auspuff. Rolf Siebert, dem Mann am Steuer des
3-Liter-Audi RS, wird ganz mulmig. Später treffen sich die
beiden im Fahrerlager.
Fragt Kern: „Ihr konntet doch auch nicht schneller,
oder?“
Siebert: „Nee. Ich hab mich nur gefragt: Was hast du eigentlich für Reifen?“
„Lkw.“
„Und wat iss mit deinen Bremsen?“
„Na ja, wenn ich ehrlich bin: Ich brems nich viel.“
Hört, hört! So feiern die „good old days“ des Motorsports
rund um das 69. Eifelrennen Wiederauferstehung. Drei
herrlich nostalgische Tage und ein Höhepunkt mit gewichtigem Namen: Elefantenrennen. Lauter bullenstarke Legenden am Start. Dunkelgrüne Speed-Six und Blower-Monster
gegen schneeweiße Kompressor-Heuler Typ S (Sport), SSK
(Super-Sport-Kurz) und SSKL (Super-Sport-Kurz-Leicht).
Dazu Lagonda, Bugatti, Aston Martin.
Sie alle Champions der Vorkriegsjahre. Angetreten zu
einem packenden Revival und dabei maßgeblich unterstützt
von der Berenberg Bank. „Ein Event mit Extrakick, genannt
Gänsehautgefühl“, sagt Kommunikationschef Karsten Wehmeier und erläutert die Idee zum ambitionierten Sponsoring.
„Der Rennsport mit historischen Fahrzeugen und seine
Marken-Rivalität ist faszinierend, und er passt hervorragend
zu unserer Bank – denn auch bei uns stehen Pflege und Erhalt von Werten hoch im Kurs.“
50
Tierisch schön
Für Liebhaber
alter Automobile
zählen nicht allein
PS und Hubraum.
Sie erfreuen sich an
der Vielzahl hübsch
gearbeiteter Details,
siehe MercedesLenkrad und
-Kühler samt Stern
Genial einfach
Ob Armaturenbrett
mit KompressorÖlversorgung unter
Glas oder gleich
der ganze Motor:
Die Technik des
Bentley Blower hat
einen großen Vorteil
– man kann selbst
Hand anlegen
Kleine Zeitreise gefällig? Die letzte Schlacht dieser Boliden wurde 1930 in den Ardennen geschlagen, beim Klassiker jener Tage – den 24 Stunden von Le Mans. Für Mercedes
tritt Rudolf Caracciola gegen die Meute der Bentley-Boliden an. Einer gehetzt von allen. Das ist die Dramaturgie des
Rennens, und am Ende steht zur deutschen Enttäuschung
der vierte englische Triumph in Folge.
Und was sind das auch für wunderbare Karossen. Jede
ist auf ihre Art ein Unikat, denn die Firma Bentley lieferte
lediglich Motor, Chassis, Aufhängung und Getriebe, während der restliche Aufbau dem Wunsch des Käufers und den
von ihm beauftragten Blechschneidern, sogenannten coach
buildern, überlassen blieb.
Man nehme zum Beispiel das spätere Siegfahrzeug des
Elefantenrennens in der Eifel, den mit Schriftzug „Mothergun“ in Silbermetallic lackierten Le-Mans-Champion von
1927. Er trägt ein windschnittiges Leichtmetallkleid, und
selbst von heute aus betrachtet erscheint er seiner Zeit weit
voraus. Klassisch zu nennen ist dagegen der Anblick eines
Bentley Blower mit Roots-Kompressor, Jahrgang 1930. Ihm
verleihen ein paar Schalter-Elemente aus Spitfire-Kampfmaschine und Lancaster-Bomber eine eigenwillig-persönliche Note im Armaturenbrett. Der stolze Besitzer steht
gleich daneben: Es ist Sati Lall, ein Nachfahre des Gründers
der Assam Company, einst im British Empire gerühmt als
„Roth­schild von Kalkutta“.
Lall rollte selbstredend auf eigener Achse von London
gen Eifelkurs. Er wurde dabei „mehrmals bis auf die Unterwäsche nass“, musste gar einmal selbst zum Schraubenschlüssel greifen – und dennoch geht ihm nichts über mannhafte Tradition. „Das ist Ehrensache: Race on sunday, drive
on monday.“
Aber bitte – weitere Vorstellung der illustren Teilnehmerschar gestattet? Unter den „Bentley Boys“ der Moderne findet sich auf deutscher Seite neben einem Maschinenbau-Professor, einem Schokoladen-Fabrikanten und einem
Druck- und Database-Unternehmer auch Bernd Dimbath,
seines Zeichens Geigenbauer. Ihm, der ebenso Brot-undButterautos wie Kadett A- und B-Modelle mag, gilt sein
Bolide als „automobile Stradivari der zwanziger Jahre“. Allerdings bekennt er freimütig: „Den zwei Tonnen schweren
Wagen mit hundert Sachen durch die Fuchsröhre zu steuern
– das ist schon ein echt dolles Ding. Aber zum Glück geht es
bei uns nicht um Leben und Tod.“
51
B e r e n be r g E l ef a n t e n r e n n e n
Die Legende lebt Wie schon 1927 beim 24-StundenRennen von Le Mans, so auch 2010 am Nürburgring:
Sieg für Bentley „Mothergun“ mit Michael Rudnig am
Steuer
Dennoch bereitet das Fahren der urtümlichen Gefährte
mit ihren Drei-bis-Acht-Liter-Motoren und einer Leistung
bis zu 350 PS echte Mühe. „Das ist richtig anstrengend“,
stöhnt Michael Rudnig, später Siegfahrer hinter dem Steuer von „The Mothergun“. „Man braucht richtig Muskeln.“
Und Hasso G. Nauck ergänzt: „Die Dinger sind eher für den
Geradeauslauf gebaut und nicht für einen kurvenreichen,
modernen Grand-Prix-Kurs. Für den Fahrer jedenfalls ist
das echt ein Akt der Arbeit.“
Wobei schon Kuppeln, Bremsen und Gasgeben einem
regelrechten Kunststück gleichen, weil die Anordnung der
Pedale (rechts Bremse, Mitte Gas, links Kupplung) gewöhnungsbedürftig ist und man, wie Dimbath sagt, „beim Schalten nur einen Versuch hat.“
Wer sich das freiwillig auch bei Überland-Fahrten von
oft Hunderten von Kilometern antut, der muss, nein, der
ist definitiv ein wahrer Enthusiast. Nauck war mit seinem
4,5-Liter-Bentley „Open Tourer“ von 1928 schon über dreitausend Kilometer nonstop unterwegs. „Einmal Rom und
retour“, sagt er. Alte Autos gab es in seinem Leben zwar viele
– vom Austin Healey über Porsche bis zu AC –, aber nur
der Bentley war „immer so ein Traum“. Aus seiner Sicht eine
logische, mit der eigenen beruflichen Karriere durchaus vergleichbare Entwicklung: „Je weiter man nach oben klettert,
desto spannender wird es.“
Peter Godehardt beschreibt die Neigung zu seinem 2,4
Tonnen schweren grünen 8-Liter-Monster dagegen eher wie
eine Krankheit. „Am Anfang ist es Leidenschaft, danach ein
Bazillus.“ Sein Bentley sah schon den indischen Subkontinent, sah Südafrika, sah Argentinien. Erklärender Hinweis
für den staunenden Laien: „Ich fahr halt immer mit meinem
Mechaniker.“ Demnächst ist eine Rallye im Konvoi geplant –
mit vier Fahrzeugen kreuz und quer über den Balkan.
Obwohl beinharter Konkurrent, lobt Mercedes-Kompressor-Clubmitglied Peterheinz Kern die Rivalen von jenseits des Kanals. Ihm sind im Museum oder in der heimischen
Garage auf ewig abgestellte historische Fahrzeuge ein echtes
Greuel. Darüber kann er sich immer wieder ereifern. „Das
sind doch keine Stehzeuge. Da ist doch Seele drin. Die müssen bewegt werden, sonst sind solche Autos tot, tot, tot.“
52
Kerns Privileg ist das unerschöpfliche Wissen um noch
existierenden Wagen der berühmten S-Serie. Technik, Geschichte, Einsatz: Er weiß um jedes Detail und kennt sie alle.
Dazu ist er selbst im Besitz einer absoluten Rarität. Es handelt sich um den Typ 680 S mit 6,8-Liter Maschine und 180
PS Leistung bei Kompressor-Einsatz. Rudolf Caracciola bestritt damit 1927 das erste Rennen auf dem Nürburgring.
„Der Wagen war über Jahrzehnte verschollen“, erzählt
Kern. „Gefunden haben wir ihn mehr durch Zufall in einem
New Yorker Schuppen, Stadtteil Bronx. Es wuchs damals
ein Baum durch das Bodenbrett, und wir hatten zu Anfang
nicht den Hauch einer Ahnung, um welches Fahrzeug es
sich handelte. Von dem Typ wurden nur acht Exemplare
gebaut, und dieser kam lediglich drei Mal zum Einsatz.“
Eine wahre, eine nahezu unglaubliche Geschichte. Man
könnte nun denken, Kern fahre seinen schier unbezahlbaren
Boliden mit Samthandschuhen. Aber weit gefehlt. Beim
Trainingslauf über die Nordschleife fliegt er am Bergwerk
ab und ramponiert leicht das Heck. Soll er deshalb auf das
Rennen verzichten? „I wo, daran kein Gedanke.“
Also Start. Im Le-Mans-Stil. Die Piloten sprinten zu
ihren Fahrzeugen. Und los. Mercedes gegen Bentley – die
Revanche nach 80 Jahren. Natürlich Vollgas. Aber nicht
mehr verbissen, nicht mehr unerbittlich. „Man fährt nur
so schnell wie es geht, ohne etwas kaputt zu machen“, sagt
Bernd Dimbath. Ohnehin lautet die Order der Rennleitung:
„Passt auf euch und eure Fahrzeuge auf. Alles piano und mit
Umsicht.“
Thomas Kern, der Zweitplazierte, nennt das „einen Fingerbreit Sport“. Und gesteht: „Mit diesen Elefanten ist nicht
zu spaßen. Mein SSKL ist mir zwar wie an den Arsch gewachsen, und wenn ich ihn nahe am Limit fahre, dann bin
ich mit allen Sinnen dabei. Aber
es gibt eine haarfeine
Grenze,
die sagt mir: als
Berufsrennfahrer wärst du mit
dem Ding längst Frischer Lorbeer Für die Berenberg
tot. Glück und Bank übernahm Kommunikationschef
Pech zugleich – Karsten Wehmeier die Ehrung der Sieich bin eben zu ger Stanley Mann, Michael Rudnig und
Thomas Kern (v.l.n.r.)
spät geboren.“
s a l zbu r ge r F es t sp i e l e
Fest und Spiel
Die Salzburger Festspiele sind 90 Jahre alt geworden.
Nike Wagner fragt: Ein Grund zum Feiern?
N
early Ninety“ heißt das letzte
große Werk des amerikanischen
Choreographen Merce Cunningham, weltweit gefeiert, wie das
„Really Ninety“ der Salzburger, die erfolgreiche Riesenchoreographie aus Oper, Konzert und Schauspiel, eingebettet in strahlendes
Kirchenbarock und eine Naturkulisse, die das
enge Städtchen zur sprichwörtlichen „Auster“
machen, die sich jeden Sommer öffnet, um ihre
Perlen aus „Fest, Geist, Musik und Spiel“ zu
zeigen.
Die elegante Welt trifft sich immer noch in Salzburg, international, vorwiegend münchnerisch und amerikanisch,
häufig im Festdirndl, aber auch auf High Heels und in Miniröcken. Schlampiges Theaterschwarz oder Warhol-Bunt
für die Herren haben sich eingebürgert. Immer noch gibt es
die Mozartmatineen, Mozartopern, Mozartkugeln und Mirabell-Gärten, hallen die Jedermann-Rufe über den Domplatz. Aber auch zeitgenössisch-dissonante Klänge mischen
sich in diese harmonia mundi und drastisches junges RegieTheater verbreitet „Szene“-Atmo.
Wir flanieren die Ufer der Salzach entlang, rechter Hand
das traditionsreiche Café Bazar mit seinem cremig-festen
Wiener Eiskaffee und den Sacher-Würstln, links schweift
der Blick die Felswände hoch zum trotzigen Museum der
Moderne und mitten in die „schöne Stadt“ (Georg Trakl)
zum Salzburg-Ärgernis schlechthin: einer Mozart-Plastik
des Künstlers Markus Lüpertz, der zierliche genius loci als
klobige Frauengestalt.
Neunzig Jahre sind die Festspiele Lebensader dieser Stadt,
versorgen sie mit Kunst-Blut, und der Dank der Wirtschaft
bleibt nicht aus, das „Ehre sei Gott in der Höhe der Preise“,
wie Karl Kraus schon 1922 zürnte, als er vor
Wut über den Verbund von Religion, Kunst und
Geschäft aus der katholischen Kirche austrat.
Wieso kann man die 100-Jahr-Feier nicht abwarten? Das ältere Bayreuth, erlebte zum Zentenarium 1976 einen Umbruch in Stil und Gesellschaft, als der Avantgarde-Komponist Pierre
Boulez den „Ring“ dirigierte und ein junger
französischer Regisseur den Nationalmythos
der Deutschen ins Industriezeitalter versetzte.
Wie wollen die Salzburger sich selber toppen
in zehn Jahren? Oder fließt der Euro einfach
nur schneller ins Kulturtouristen-Paradies, wenn eine runde Dezimalzahl – egal welche – vor einer Saison klebt? Solcher Zahlenzauber hatte Salzburg zuletzt 2006 erfasst, als es
im Mozartjahr 2006 gelang, die Zahl seiner Bühnenwerke
in wunderbarer Weise von 16 auf 22 zu erhöhen und diese
spektakulär, wenn auch zumeist nicht festspielwürdig, auf
die Salzburger Bühnen zu stemmen.
Wie immer. Werfen wir einen Blick zurück, um der Feierlaune gerecht zu werden. Wer hat hier nicht alles gesungen,
dirigiert, inszeniert, getönt, gewirkt. Eine von der Berenberg
Bank und dem Festspiel-Freundeskreis ermöglichte Ausstellung widmete sich in diesem Jahr dem Großen Salzburger
­Welttheater von A bis Z. Mit einem nostalgischen KulissenDefilee – audiovisuell aufbereitet – ist es aber nicht getan.
Was wollten und sollten die Festspiele, wie lösten sie ihre
Ansprüche ein?
Als „Triumphpforte österreichischer Kultur“ waren sie
vom legendären Theatermann Max Reinhardt und Hugo
von Hofmannsthal im Jahr 1918 erdacht worden, um dem
gedemütigten Schrumpfstaat Österreich eine neue kulturell
bestimmte Identität zu geben – ein „Friedenswerk“ sollten
Jedermann jederzeit
55
s a l zbu r ge r F es t sp i e l e
sie sein, das Scheitern der Monarchie über eine europäische
Kulturpolitik kompensieren und die verlorenen Kronländer
über ihre Künste wieder auffangen. Das aber war Anpassungsrhetorik, um politische und finanzielle Unterstützung
für das Festspielprojekt zu bekommen. Denn „österreichisch sein“ bedeutete damals: deutsche Kultur haben. Und
wenn Hofmannsthal das Wort „europäisch“ in seinen programmatischen Gründungs-Aufsätzen gebrauchte, so meinte er damit ein „idyllisches“ Europa vor der französischen
Revolution, fern vom Chaos der Gegenwart, von Hunger
und Inflation.
G
roßartig war die künstlerische Ausbeute der Anfangsjahre nicht. Hofmannsthal recycelte seine
Bearbeitung eines englisches Moralspiels vom Everyman von 1911, Max
Reinhardt erreichte die kirchliche Erlaubnis, diesen Jedermann vor dem Dom zu
inszenieren, und der bei der Gründung der
Festspiele mitbeteiligte Komponist Richard
Strauss schaute zu. Hofmannsthal, Reinhardt und Strauss ignorierten den scharfen
Wind der Geschichte, der ihnen durch die
Künstlergeneration der neuen Sachlichkeit
ins Gesicht blies. „An ihrem Ursprung um
1920 waren die Salzburger Festspiele ein
Projekt der Antimoderne. In der prästabilierten Harmonie des barocken Welttheaters erblickten die Festspielgründer das
Heilmittel, das die zerrissene Welt zumindest im Ästhetischen kitten sollte“, schreibt
der Salzburger Theaterpublizist Andres
Müry („Jedermann darf nicht sterben“).
56
Das Heilmittel wirkte. Von der Selbstdefinition der Österreicher als der „eigentlichen Kulturdeutschen“ war der
Applaus für einen politischen Anschluss an Großdeutschland nicht mehr weit. Ab 1938 wurden die Festspiele zum
Schauplatz nationalsozialistisch bestimmter Kultur, der Jedermann als Produkt eines Juden abgesetzt, Max Reinhardt
ging ins Exil, und die „Arisierungsprofiteure“ Clemens
Krauss, Wilhelm Furtwängler und Karl Böhm ersetzten
Bruno Walter und Arturo Toscanini.
Im Unterschied zu Bayreuth lebten die Salzburger Festspiele nach dem Krieg viel schneller – schon 1945 – wieder
auf und von 1948 bis zu seinem Tod 1989 regierte das „Wunder Karajan“. Zunächst mit vielen interpretatorischen und
künstlerischen Aufbrüchen – Oscar Fritz Schuh und Caspar
Neher fürs zeitgenössische Musiktheater,
der mäßig moderne Gottfried von Einem
und eine hervorragende Sänger-Riege. Je
länger die Ära Karajans aber dauerte, desto
entschiedener nahm sie alleinherrscherliche
Züge an, nicht nur im Breitwand-Bau des
neuen Festspielhauses, in szenischer Stagnation. Die lähmende Karajan-Ästhetik offenbarte dessen Defizite in der Moderne und
förderte die Interessen von Schallplattenindustrie und Tourismus. Salzburg boomte
wirtschaftlich, auf die aktuelle Kunstdiskussionen hatte es sich nie eingelassen.
Nach Karajans Tod mischte ein neues
Leitungsteam das katholische Salzburg und
seine selbstzufriedene Bussi-Bussi-Gesellschaft auf. Gérard Mortier und Hans Landesmann stellten sich dem Anspruch eines
Festivals auf Gegenwärtigkeit und wechsel-
Fotos: action press, Getty Images (3), picture-alliance/dpa (2) PR (2)
Vergangene Größe Gründerjahre mit Bruno Walter, Thomas Mann und Arturo Toscanini (links) und Herbert von Karajan
(rechts). Markus Lüpertz ärgert Salzburg mit einer Mozart-Skulptur (unten)
Heimatloser Ödipus Klaus Maria Brandauer mit seinen
Töchtern Antigone und Ismene
Umjubelte Julia Salzburgs Superstar Anna Netrebko mit
ihrem Romeo Pjotr Beczala
ten von Karajans „Interpreten-Kultur“ zu einer „Werkkultur“, dem Interesse an der Sache selbst. Mortier hat Salzburg
als „Werkstatt“ verstanden – wieso auch sollte man hier mehr
von Mozart verstehen als anderswo? – und versichert, dass
er nicht nach Salzburg gekommen sei, um „die Wirtschaftskammer zu befriedigen“.
Die folgenden Intendanten milderten diesen Kurs und die
verschreckte snob society fand sich wieder ein, angezogen
von Namen wie Anna Netrebko und Ausstattungspomp.
Doch ein Zurück zu Karajan konnte es nicht geben. Das
weltweite Kooperationsgeschäft und der Zeitgeist ließ selbst
verstockte Konservative unsicher werden, ob sie nicht etwa
als ewig Gestrige zurückblieben. Der Oberammergau-Effekt
des szenisch inzwischen sanft modernisierten „Jedermann“
– sollte das bei der ranzigen Moritat möglich sein! – mag
geblieben sein, er ist nun einmal der „Parsifal“ Salzburgs,
die sichere Nummer und finanziert das gesamte Schauspiel.
Aber bisweilen gibt es sogar in der Oper, künstlerisch erfolgreich, die neue Musik (Luigi Nono), gar eine Uraufführung
(Wolfgang Rihm): vorsichtige Schritte nach vorn. Aber man
muss auch wissen, wer diese zu großen Teilen finanziert: Es
ist die Konzert-Sparte mit ihrem sechsstelligen Betrag an
die teure Schwester Oper. Diese Konzerte wiederum, in der
Hand des Konzertdirektors Markus Hinterhäuser, eines Pianisten vornehmlich neuer Musik, verblüffen nun seit einigen
Jahren die Konzertgemeinde durch phantasievoll-stimmiges
Komponieren von Programmen aus neu und alt.
Behauptungskultur jedoch ist auch in Salzburg die Regel:
da wird behauptet, dass ein jährliches „Motto“ die Buntheit
des Angebots sinnvoll ordne. Aber nur Programminseln der
Konzert-Dramaturgie lösen diesen Anspruch ein, kleine Festivals innerhalb des großen. Es gibt durchaus „Moderne“
inmitten des antimodernen Salzburgs. Doch wie damals dem
Deutschtum, wirft sich Salzburg dem Gott Mammon, wie
er im „Jedermann“ auftritt – oder auch in neueren medialen
Gewändern –, zu Füßen, nicht anders als viele andere Festivals, Bayreuth nicht ausgenommen. Muss das so sein?
Die Salzburger Wirtschaftskammer beziffert die Umwegrentabilität der Festspiele auf 230 Millionen Euro jährlich,
Kulturtourismus sei ein stark wachsendes Segment, schaffe
Tausende von Arbeitsplätzen. Die Salzburger und die Bregenzer Festspiele bringen dem Staat rund 80 Millionen Euro
an Steuern ein. Solchen Zahlen gegenüber ist jede Frage nach
einem Kunstverständnis machtlos, und jede Behauptung, es
gehe hier zentral um die Kunst, widerlegt. Immer noch ist
das „Ehre sei Gott in der Höhe der Preise“ die stetig anschwellende Leitmelodie in Kultur und Politik. Salzburg
wird bald hundert Jahre und hoffentlich ein bisschen weise:
Ganze zehn Jahre hat es Zeit, um den Konsumbürger Jedermann in einen Zeitgenossen der Zukunft zu verwandeln.
D i e Au to r i n
Nike Wagner, 65,
Musik-, Theater- und Litarturwissenschaftlerin, lebt in Weimar
und Salzburg. Die Urenkelin
von Richard Wagner (und Ur-UrEnkelin von Franz Liszt) hatte
mehrfach ihren Anspruch auf
die Leitung der Festpiele in
Bayreuth angemeldet.
Seit 2004 leitet sie die „Pélerinages“, das Kunstfest Weimar.
57
C l a u d i a S c h i ffe r
Modell Deutschland
Claudia Schiffer wirbt als Fahnen­
jungfer für das Land der Ideen
Te x t : J o c h e n S i eme n s
Das
250.000.000
Dollar Baby
58
E
s ist schon sehr lange her, vielleicht 15 Jahre, als
ich Claudia Schiffer einmal fragte, ob sie an diesem Tag und in dieser Stunde den Stand ihres
Bankkontos kenne. Das war an einem Abend in
einer New Yorker Hotellobby, Naomi Campbell lief vorbei, Christy ­Turlington saß zwei Tische weiter,
die Modewelt schwappte in die Nacht. Claudia schaute
mich ungerührt an und sagte: Ja. Auf den Pfennig genau?
Ja. Aber sie müsse doch sicher mehrere Konten haben? Ja,
und? Sie kenne alle. Damals war sie vielleicht 25, und es gab
das Internet noch nicht wie heute, man konnte also nicht auf
einem Laptop oder Handy seine Kontostände online sehen.
Sie mache das, sagte sie, mündlich telefonisch.
Es war die Zeit, als Claudia Schiffer schon sieben Jahre
eine Karriere hatte; und es war auch die Zeit, als Schiffer
zu der Riege von Supermodels gehörte, den neuen Model-
stars also, die für einen Laufsteg-Auftritt 10.000 Dollar und
mehr bekamen. Und Claudia hatte viele Laufsteg-Auftritte,
New York, Paris, Mailand, sie war in fast jeder Schau jedes
großen Designers zu sehen, sie war auf den Covern von Vogue, Elle und Harper’s Bazaar. Sie war so berühmt, dass es
in New York oder in Paris Verkehrsstaus gab, wenn sie über
die Straße ging. Es müssen also längere Telefonate gewesen
sein, wenn sie ihre Kontostände kontrollierte. Es war aber
auch die Zeit, in der sie, in Deutschland einmal befragt, was
sie sich für 100 Mark kaufen würde, sagte: „Für 100 Mark?
Da bekommt man nicht mal ein T-Shirt“, und von der auch
der Satz überliefert ist: „Warum soll ich einem Taxifahrer
Trinkgeld geben, den ich sowieso nie wiedersehe?“
Es war die Zeit, in der die Modewelt anfing zu raunen, „die
Schiffer ist nur hinterm Geld her“, sie sei eine geistige Tochter des Geldhais Howard Hughes. Dass die Modelagenten
und Designer sich leise beschwerten, war in Wahrheit laute
Verlogenheit, denn wie in jedem anderen Geschäft geht es
auch in der Mode nur und nochmal nur um Geld. Und dass
eine noch nicht mal 30-jährige, 1,82 Meter große Blonde aus
Deutschland selbst den Wert ihres Handschlags berechne­
59
C l a u d i a sc h i ffe r
N
un mag man sich fragen,
was für eine Abiturientin, die vielleicht Jura
studiert hätte, an einem Modelberuf eigentlich so aufregend sein
soll – Laufsteg rauf, Laufsteg runter,
Kamera hier, bitte lächeln – und Claudia Schiffer wäre heute die erste, die
sagen würde: Nichts. Es ist wirklich
eine hohle Tätigkeit, es ist ein Gesicht
und einen Körper verleihen.
Aufregend daran ist dagegen das
Geldverdienen, oder anders gesagt,
sich selbst zum Vorstandsvorsitzenden des eigenen Körpers zu machen.
Und wenn in der Modewelt immer
wieder leise gelästert wird, Claudia
Schiffer sei überschaubar unterhalt-
60
sam, aber unüberschaubar finanzversessen, kann
man das auch umdrehen und sagen, Claudia Schiffer ist die ökonomische Kunst, aus blonden
Haaren, einem 1,80 Meter langen Körper mit
einer Architektur, bei der Gott beste Laune
gehabt haben muss, 250 Millionen Dollar gemacht zu haben.
Einmal saß ich mit ihr auf einem Balkon in
Los Angeles, und wir sprachen wieder über
Geld. Ich fragte sie, ob sie nicht längst ausgesorgt hätte. Sie war damals 29. „Darum geht
es nicht“, sagte sie, „an den Summen, die ich
verlange und die gezahlt werden, kann ich
meinen Marktwert ablesen, sie sind sozusagen meine Marktforschung.“ Am Nachmittag waren wir dann in einem Studio in
Venice Beach, wo sie fotografiert wurde,
und der Fotograf machte Polaroids, um
das Licht und die Posen zu testen, ab
und zu konnte man viel von Claudias
Busen sehen. Nach drei Stunden war
alles fertig und alle wollten gehen und
standen in der Tür, man verabschiedete sich. Claudia Schiffer drehte noch
einmal um, sammelte die Polaroids, die
teils schon im Mülleimer lagen, ein und
nahm sie mit, „wer weiss, wo die sonst landen“, sagte sie. Nur ein Zentimeter zu viel
Busen, hier von einem Assistenten oder der
Putzfrau eingesammelt und irgendwo veröffentlicht, hätten den Marktwert Schiffer
beschädigen können.
Ihren Markt kontrollieren, beschützen, abzugrenzen und aufzuwerten,
nichts anderes, was Mercedes mit sei-
Durchsichtig und millionenschwer
Lächelnd trägt das Unternehmen
Schiffer seine Haut
zu Markte
Das Leben als Laufsteg, und jeder Schritt ist kalkuliert. Im Mai posierte sie hochschwanger für Vogue, vor 22 Jahren brachte
sie Brigitte auf den Titel. Ein langbeiniges Erfolgsunternehmen als Körperschaft öffentlichen Interesses
ner S-Klasse oder American Express mit seiner schwarzen
Karte auch machen – das konnte man von Claudia Schiffer
lernen. In London fragte ich sie einmal, warum sie so selten
und ungern Interviews geben würde, Deutschland interessiere sich doch für sie, sie könne doch auf den Titelseiten
wohnen.„Nein, auch wenn es gute Interviews im stern oder
im Spiegel sein würden, sie nützen mir nichts. Mein Markt
sind die Vogue oder die Elle, die großen edlen Magazine.
Und die wollen sozusagen unter sich bleiben, da schadet mir
zu viel normale Presse, weil mein Markt exklusiv bleiben
soll.“ Überflüssig zu sagen, dass Claudia auch „normale“ Interviews nur macht, wenn es etwas zu verkaufen gibt, wenn
also ein Shampoo oder ein Lippenstift erwähnt werden. Nur
war sie da in der Vergangenheit nicht immer instinktsicher,
und warb als erklärte Gesundernährerin und Mutter ausgerechnet für einen völlig überzuckerten Süßriegel für Kinder,
der, davon kann man ausgehen, in ihrer Küche nicht zu finden sein wird.
Fotos: picture alliance/dpa (5), Getty Images
te, ärgerte die, die an diesem Handschlag verdienen wollten und nun
erstmal selbst zahlen sollten. Von
mir, so das Credo der Rheinberger
Anwaltstochter, deren Vater die
ersten Verträge formulierte, als
sie 17 war, von mir gibt es nichts
umsonst. Ob sie ihr Lächeln einfach so anknipsen könne, auch
wenn es ihr nicht gut gehe, wurde
sie einmal gefragt. „Ja, das kann
ich“, sagte sie, „wenn es bezahlt
wird“ hat sie dann nicht gesagt.
Heute ist Claudia Schiffer 40
und lebt mit ihren drei Kindern
und ihrem Mann, dem Filmproduzenten Matthew Vaughn, in
London. Das Forbes Magazine
schätzt ihr Vermögen auf 250
Millionen Dollar, Tendenz steigend, denn Claudia arbeitet
immer noch, wenn auch weniger als früher und nur mit
ausgesuchten Kunden wie
Chanel oder L’Oreal.
A
ber das ist Werbung, und für Claudia Schiffer sind
das Mechanismen einer Industrie, die Schein und
nicht Sein verkauft. Man kann auch davon ausgehen, dass sie nie mit strohigen Splisshaaren zu kämpfen
hat, von denen sie in der Werbung erzählt, und die nur von
einem L’Oreal-Shampoo geheilt werden können. Früher,
vor 12 Jahren, war ihr monetärer Sinn noch etwas gröber,
als sie für für geschätzte 600.000 Mark eine private Modenschau für die Ehefrauen des libanesischen Kabinetts gab.
Oder als sie für damals 200.000 Mark in der Slowakei einen
Autobahnabschnitt eröffnete und mit dem damaligen Des-
poten Vladimir Meciar über den Asphalt tanzte. Über die
Slowakei sagte sie danach, sie hätte sich doch nur das schöne
Land ansehen wollen.
Später moderierte es Claudia Schiffer eleganter, als sie
2005 mit ihrem Sohn Caspar einen Werbespot für jenen besagten Süßriegel drehte, und man sich fragte, ob das schon
Kinderarbeit sei. Nein, das habe sich ergeben, weil sie ihr
Kind eben mit zur Arbeit nehme wollte und es sich an die
Kameras gewöhnen könne, „außerdem gab es einen ­Beitrag
für sein Sparschwein.“ Dass es dabei auch eine andere, eine
40-jährige vermögende Frau mit spendablem Gewissen gibt,
weiß kaum jemand. So warb sie in Berlin mit ihrem Gesicht um Spenden für das Holocaust-Denkmal, unterstützte
die Forderung nach einem Schuldenerlass für die ärmsten
Länder und engagierte sich für die deutsche Knochenmark­
spen­derdatei.
So was macht sie ganz im Stil alter Upperclass – tu was
und sprich nicht darüber. Aber auch um eine Schlange von
Bittstellern zu vermeiden. Das Model Claudia Schiffer gibt
es so lange, wie es das wiedervereingte Deutschland gibt.
1989 wurde sie erstmals für ein Cover der Elle fotografiert. Kurz danach saß ich mit ihr in Paris auf der Place de la
Concorde auf dem Rand eines Brunnens, wir kannten uns
nicht, und sie war 17, und ich fragte sie Teenager-Fragen.
Was sie mögen würde, und was sie nicht ausstehen könne,
so Sachen eben. Eine Antwort fand ich damals noch seltsam,
„Schmarotzer, die überall mit essen gehen und nie bezahlen“
fände sie ganz schlimm, sagte sie, mit 17. Heute versteht man
das.
61
B e r e n B e r g News
HWWI/Berenberg-Städteranking
62
Platzierung 2010
Platzierung 2008
1. Frankfurt am Main
1.
2. München
2.
3. Düsseldorf
11.
4. Bonn
9.
5. Köln
7.
6. Wiesbaden
4.
7. Hamburg
7.
8. Berlin
24.
9. Dresden
5.
10. Hannover
15.
11. Leipzig
25.
12. Aachen
14.
13. Karlsruhe
6.
14. Nürnberg
17.
15. Münster
21.
16. Stuttgart
3.
17. Duisburg
21.
18. Bremen
16.
19. Augsburg
12.
20. Dortmund
10.
21. Essen
19.
22. Braunschweig
20.
23. Mannheim
13.
24. Kiel
25. Gelsenkirchen
28.
26. Mönchengladbach
18.
27. Bielefeld
28. Wuppertal
23.
29.
29. Bochum
30. Chemnitz
27.
30.
Quelle: HWWI/Berenberg-Städteranking
Foto : Getty Images
S
tädte sind Motoren des regionalen Wachstums. Ihre
Zukunftsfähigkeit entscheidet über die Rolle, die
Deutschland künftig im internationalen Wettbewerb
spielen wird. Die deutschen Städte haben in den kommenden
Jahrzehnten strukturelle Veränderungen zu bewältigen. Ihre
ökonomischen Perspektiven hängen entscheidend davon ab,
wie sie die Auswirkungen der demografischen Entwicklung
in den Griff bekommen, und wie sie den fortschreitenden
Wandel zu wissens- und forschungsintensiven Produktionsweisen bewältigen werden.
In der Tendenz stärkt dieser Strukturwandel die Bedeutung der Städte vor allem, wenn es ihnen gelingt, als
Impulsgeber für regionales Wachstum, den Unternehmen
der Wissenswirtschaft attraktive Standortbedingungen zu
bieten. Das Qualifikationsniveau der Stadtbevölkerung ist
vergleichsweise hoch, Universitäten und Forschungseinrichtungen befinden sich überwiegend in urbanen Zentren. Die
räumliche Nähe von Unternehmen in den Städten fördert
den Wissens- und Erfahrungsaustausch, sowie Innovation
und Weiterentwicklung von Technologien.
Das aktuelle HWWI/Berenberg-Städteranking (vgl. Abbildung) analysiert die Standortbedingungen der 30 größten deutschen Städte im Hinblick auf wirtschaftliche und
demografische Dynamik, Bildung, Internationalität und die
Erreichbarkeit europäischer Agglomerationen. Die Ergebnisse der Studie zeigen stark ausgeprägte Unterschiede der
Standortbedingungen sowie der ökonomischen und demografischen Dynamik. Das Spitzenduo bilden, wie bereits im
HWWI/Berenberg-Städteranking 2008, Frankfurt am Main
und München aufgrund ihrer hervorragenden Standortfaktoren und der günstigen demografischen Aussichten. Beide Metropolen punkten in ihrer Internationalität, die sich
in ihrer Attraktivität für Studenten und Touristen aus dem
Ausland zeigt. Frankfurt am Main bleibt als internationales
Verkehrsdrehkreuz in der Spitzenposition unerreicht.
Seine hohe Wirtschafts- und Bevölkerungsdynamik brachte Düsseldorf im Vergleich zur Untersuchung aus dem Jahre
2008 vom elften auf den dritten Platz. Auschlaggebend waren
die inzwischen sehr guten Voraussetzungen für Unterneh-
men der Wissenswirtschaft. Auf den Plätzen
vier bis fünf folgen mit Bonn und Köln zwei
weitere Städte aus Nordrhein-Westfalen.
Hervorzuheben sind zudem die Platzierungen von Berlin, Leipzig und Dresden,
in denen sich in der jüngeren Vergangenheit
ein deutlicher ökonomischer und demografischer Aufwärtstrend zeigt; auch die Zahl
der Arbeitsplätze ist deutlich gestiegen und
die Zukunftsperspektiven sind günstig: die
demografischen Prognosen für diese drei
Städte gehen von einer weiteren Zunahme
der Bevölkerung aus. Für die Städte an der
Spitze des Rankings können die ökonomischen Entwicklungsperspektiven in der
nahen Zukunft als sehr günstig bewertet
werden, weil sie in keinem der betrachteten
Bereiche ausgeprägte Defizite aufweisen.
Am unteren Ende der Skala befinden sich
mit Mönchengladbach, Bielefeld, Wuppertal, Bochum und Chemnitz Städte, die in
den Bereichen Bildung und Internationalität
deutliche Standortnachteile haben sowie bei
der Arbeitsplatzentwicklung zurückbleiben. Zudem stellen sich die demografischen
Trends in diesen Städten ungünstig dar, was
in der Tendenz ihre ökonomischen Entwicklungspotenziale negativ beeinflusst.
Der Unterschied zu den wachsenden
Städten in der oberen Hälfte des Rankings
ist signifikant. Zahlreiche Städte sind in ihren Standortfaktoren deutlich abgeschlagen,
insbesondere in ihrer Ausstattung mit der
Schlüsselressource „Wissen“.
Berlin hat
sich etabliert
Foto: Mareike Suhn
Die Spitze setzt
sich deutlich ab
Karsten Saft, Immobilienexperte der Berenberg Bank,
über Gewinner und Verlierer im Wettbewerb der Städte
Zum zweiten Mal hat die Berenberg Bank zusammen mit dem HWWI
Deutschlands Großstädte auf ihre Zukunftsfähigkeit hin untersucht. Wer
sind die Gewinner?
Zu den deutlichsten Aufsteigern zählen Berlin, Leipzig und Düsseldorf. Berlin hat sich in den vergangenen Jahren sehr gut als Immobilienstandort
etabliert. Die Mieten in Berlin-Mitte sind in zahlreichen Teilmärkten rapide
gestiegen und liegen nun teilweise gleichauf mit Hamburg. In Berlin wird es
nach unserer Einschätzung in den kommenden Jahren zu weiteren Preissteigerungen kommen. Die Hauptstadt ist im nationalen und auch im internationalen Vergleich einfach unterbewertet gewesen. An der Spitze etabliert haben sich Frankfurt und München, aber auch Köln, Bonn, Wiesbaden
und Hamburg zählen beständig zur Spitzengruppe.
Wo lohnt es sich Ihrer Meinung nach besonders, in Immobilien zu investieren?
Ganz vorn sehen wir nach wie vor München und Hamburg. Sie sind nach
unserer Einschätzung die beiden nachhaltigsten Standorte für Immobilieninvestitionen. München belegt beim Zuwanderungssaldo in den letzten
sechs Jahren mit + 76.018 Platz eins und Hamburg mit + 52.955 Platz drei.
Dies spiegelt besonders die steigende Attraktivität dieser Städte wider und
symbolisiert ihre Verankerung als „regionale Wachstumspole“. Gerade wurde Hamburg zur Umwelthauptstadt Europas 2011 gewählt und ist somit
auch international ein Vorbild.
Gibt es auch klare Verlierer? Gibt es Standorte, an denen Sie nicht in
Immobilien investieren würden?
Aus unserer Sicht gibt es fast überall gute Lagen, an denen es sich lohnen
kann, in Immobilien zu investieren. Es bedarf jedoch einer sehr genauen
Standortprüfung. Generell würde ich immer von Investitionen abraten,
wenn man als Investor nicht über lokale Kenntnisse verfügt oder entsprechende Berater hat.
Welche Platzierung im Städte-Ranking hat Sie besonders überrascht?
Überrascht hat mich das Abrutschen von Stuttgart von dem ehemals dritten auf den 16. Platz. Ich halte Stuttgart für einen sehr attraktiven Immobilienstandort. Interessant wird die Frage sein, ob und wie sich „Stuttgart 21”
auf den lokalen Immobilienmarkt auswirken wird.
63
K o l um n e : sc h m i e d i n gs B l i c k
Deutschland:
Ein goldenes Jahrzehnt als Lohn der Mühe
64
betriebe sich mehr als sonst bemüht haben, ihre Stammbelegschaft zu halten.
Aus dem Ausland wird uns manchmal vorgehalten,
Deutschland habe seine jüngsten Erfolge auf Kosten seiner
Handelspartner erzielt. Wie bei vielen letztlich absurden
Thesen steckt ein Körnchen Wahrheit darin. Jeder Arbeitnehmer, der sich weiterbildet, jedes Unternehmen, das seine Kosten senkt, jedes Land, das Strukturprobleme angeht,
verbessert damit seine Position im Wettbewerb mit anderen.
Deutschland ist wieder ein Standort, an dem es sich für Unternehmen lohnt, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Aber geht
dies wirklich zu Lasten anderer? Nein. Wenn jeder sich weiterbildet, wenn alle Unternehmen auf die Zeichen der Zeit
reagieren, wenn alle Staaten ihr Haus in Ordnung bringen,
kann letztlich der Wohlstand aller steigen.
Stellen wir uns einmal vor, Deutschland hätte die Wende
am Arbeitsmarkt nicht geschafft. Dann hätten wir nach dem
schärfsten Konjunktureinbruch der letzten sechzig Jahre
jetzt wieder weit mehr Arbeitslose als zuvor, über den bisherigen Negativrekord von fünf Millionen Anfang 2005 hinaus.
Deutschland ist die mit Abstand größte Wirtschaft Europas.
Könnte es für unsere Nachbarn wirklich besser sein, wenn
ihr wichtigster Absatzmarkt jetzt sechs statt drei Millionen
Arbeitslose hätte?
Deutschland kann auf ein goldenes Jahrzehnt hoffen. Aber
wenn wir nicht aufpassen, könnte dies der Schwanengesang
unserer Wirtschaftskraft werden. Angesichts unserer niedrigen Geburtenrate und angesichts unserer Schwierigkeiten,
manche Einwanderer voll in unseren Arbeitsmarkt zu integrieren, brauchen wir weitere Reformen, um den Wohlstand
unserer alternden Gesellschaft zu sichern. Leider ist es nur
allzu menschlich, sich auf Erfolgen auszuruhen. Angesichts
der besseren Arbeitsmarktlage schwingt das politische Pendel
langsam wieder von Reformen zum Stillstand oder sogar zum
Rückschritt. Wenn wir den Arbeitsmarkt wieder mehr regulieren, auch durch immer mehr politisch gesetzte Mindestlöhne,
wenn wir das Einstiegsalter in die Rente nicht voll an die steigende Lebenserwartung anpassen oder generell wieder mehr
Staatswohltaten verteilen, als wir uns leisten können – dann
könnte Deutschland in einigen Jahren wieder zurückfallen.
D r . H o l ge r S c h m i e d i n g i s t se i t 1 . O k t o be r
C h efv o l k sw i r t d e r B e r e n be r g B a n k .
Z uv o r w a r e r C h efv o l k sw i r t E u r o p a d e r
B a n k o f Ame r i c a M e r r i l l Ly n c h .
Foto: Mareike Suhn
Deutschland hat es geschafft. 40 Jahre lang ging bei uns der Trend in die
falsche Richtung. Von Abschwung
zu Abschwung stieg die Zahl der Arbeitslosen immer höher,
während sich die langfristigen Wachstumsaussichten immer
weiter eintrübten. Jetzt haben wir unser größtes Wirtschaftsproblem in den Griff bekommen: den Arbeitsmarkt. Seit dem
Höchststand von über fünf Millionen Anfang 2005 ist die Arbeitslosigkeit bis zum Herbst 2010 um nahezu zwei Millionen
gesunken, trotz der Lehman-Krise zwischendurch. Deutschland kann auf ein goldenes Jahrzehnt hoffen mit mehr Wachstum, weniger Arbeitslosen, einem solideren Staatshaushalt
und mehr Spielraum für den privaten Verbrauch. Anders als
früher kann der Trend, um den unsere Konjunktur schwankt,
jetzt nach oben statt nach unten weisen.
Diesen Erfolg haben wir uns mühsam erarbeitet. Während
die Verbraucher in den USA, Großbritannien und Spanien
nach 2003 eine rauschende Party auf Pump feierten, haben wir
den Gürtel enger geschnallt. Mit schmerzhaften Einschnitten
bei den Sozialleistungen und einer ausgeprägten Sparpolitik
haben wir den Staatshaushalt weitgehend saniert. Mit den
Hartz-Gesetzen haben wir den Unternehmen mehr Chancen
eingeräumt, neue Arbeitsplätze zu schaffen, auch über Zeitarbeit. Gleichzeitig haben wir den Menschen mehr Anreize gegeben, Arbeit aufzunehmen, selbst wenn sie nicht gut bezahlt
wird und mancher Lohn vom Staat aufgestockt werden muss.
Viele deutsche Unternehmen hatten lange Zeit keine
Wahl gesehen: Um dem Kostendruck daheim auszuweichen,
mussten sie weitere Arbeitsplätze nach Osteuropa oder Asien
verlegen. Nach der Rezession von 2001/2002 ist es ihnen
aber zunehmend gelungen, mit ihren Belegschaften flexiblere
Regeln für den Arbeitseinsatz bei uns auszuhandeln. Gleichzeitig haben die Gewerkschaften einen Stillstand oder sogar
leichten Rückgang im Lebensstandard vieler Arbeitnehmer
akzeptiert. Anders als nahezu überall sonst in der westlichen
Welt sind die Löhne in Deutschland nicht stärker gestiegen
als die Preise. So konnten die Unternehmen den Produktivitätsfortschritt nutzen, um Kostennachteile auszugleichen.
Seit Ende 2007 ernten wir die Früchte unserer Mühsal.
Deutschlands kleines Jobwunder geht weit über die normale
Konjunktur hinaus. Nach der Lehman-Pleite haben bei uns
weit weniger Menschen ihre Arbeit verloren als in früheren
Abschwüngen. Einiges davon können wir dem Puffer Kurzarbeit zurechnen. Noch wichtiger aber war, dass Industrie-
B e r e n be r g News
„Baggern“ für den guten Zweck:
55.000 Euro für Kinder
120.000 Euro für Beckenbauer Stiftung
Anlässlich der Eröffnung unserer Salzburger Repräsentanz
fand das erste Berenberg Bank Invitational zugunsten der
Franz Beckenbauer Stiftung im Golfclub Mondsee statt.
Zusammen mit unseren Gästen gingen Sport-Größen wie
Franz Beckenbauer, Sepp Maier, Costantino Rocca, Franz
Klammer, Hansi Hinterseer und Sven Ottke an den Start.
„Wir freuen uns, dass dank der großartigen Unterstützung
unserer Partner die phantastische Summe von 120.000 Euro
zusammengekommen ist, die nun der Franz Beckenbauer
Stiftung zur Verfügung gestellt wird“, so Dr. Hans-Walter
Peters. Maßgeblichen Anteil daran hatten der Unternehmer
Frank Stronach sowie Hans Peter Porsche. Extra für dieses
Turnier aus Südkorea angereist war FIFA-Vizepräsident Dr.
Mong-Joon Chung.
„Mit dieser großartigen Summe können wir Menschen
helfen, mit denen das Schicksal nicht so großzügig umgegangen ist wie mit uns – körperlich und geistig Behinderten
und unverschuldet in Not geratenen Menschen“, sagte Franz
Beckenbauer sichtlich bewegt beim anschließenden Dinner
auf Schloss Fuschl. Dazu überraschte Festspiel-Präsidentin
Helga Rabl-Stadler Thomas Gyöngyösi, den Leiter der
Berenberg-Repräsentanz Salzburg, und seine 160 Gäste mit
einem musikalischen Highlight: „Don Giovanni“ Christopher Maltmann zeigte wenige Tage vor Eröffnung der Salzburger Festspiele eindrucksvoll sein Können.
Spitzen-Research
Europas Finanzszene kürte die Berenberg Bank gleich in
drei Kategorien zum besten Dienstleister im Bereich deutsche Small- und Mid-Cap-Unternehmen: Platz eins für Research, Sales und Corporate Access.
Das Berenberg Investment Banking hat sich in den letzten Jahren insbesondere bei deutschen Nebenwerten einen
hervorragenden Ruf erarbeitet. Das bestätigte die Umfrage
unter 9200 Fondsmanagern und Investoren durch Thomson
Reuters. In der Gesamtwertung der Aktienanalysen deutscher Unternehmen belegte Berenberg nach Commerzbank
und vor Deutscher Bank Platz 2. Berenberg erstellt derzeit
Research über 200 Unternehmen in 17 Sektoren und will
diese Zahl in den nächsten Monaten auf 400 verdoppeln.
I h r e A n sp r ec h pa r t n e r
Berenberg Bank · Neuer Jungfernstieg 20 · 20354 Hamburg
Private Banking: Michael Otto (040) 350 60-513
Investment Banking: +44 20 3207-7800
Commercial Banking: Andreas Schultheis (040) 350 60-441
Asset Management: Tindaro Siragusano (040) 350 60-713
Niederlassung Bielefeld · Welle 15 · 33602 Bielefeld
Volker Steinberg (0521) 97 79-100
Repräsentanz Braunschweig · Vor der Burg 1 · 38100 Braunschweig
Torben Friedrichs-Jäger (0531) 120 582-20
Niederlassung Bremen · Hollerallee 77 · 28209 Bremen
Thomas Müller (0421) 348 75-11
Niederlassung Düsseldorf · Cecilienallee 4 · 40474 Düsseldorf
Raymund Scheffler (0211) 54 07 28-10
66
Aigner
Niederlassung Frankfurt · Bockenheimer Anlage 3 · 60322 Frankfurt/Main
Lars Andersen (069) 91 30 90-13
Niederlassung München · Possartstraße 21 · 81679 München
Carsten Gennrich (089) 25 55 12-100
Niederlassung Stuttgart · Panoramastraße 17 · 70174 Stuttgart
Oliver Holtz (0711) 490 44 90-10
Repräsentanz Wiesbaden · Wilhelmstraße 12 · 65185 Wiesbaden
Albrecht von Harder (0611) 711 85-10
Repräsentanz Salzburg · Sigmund-Haffner-Gasse 16 · 5020 Salzburg
Thomas Gyöngyösi +43 662 444 000-11
Berenberg Bank (Schweiz) AG · Kreuzstrasse 5 · 8034 Zürich
Jens Schütrumpf +41 44 284 21-84
Fotos: Marko Pauleweit, Wolfgang Meindl
Berenberg-Golfturnier:
Bereits zum dritten Mal engagierten
sich die Mitarbeiter der Berenberg
Bank für den guten Zweck: Wer beim
BerenbergKids Beachvolleyball teilnehmen wollte, musste sich vorher
beim Spenden sammeln ordentlich
ins Zeug legen: 55.000 Euro kamen
so zusammen! Unterstüzt wurde die gute Sache auch durch
Tagesschau-Sprecher Marc Bator, Box-Weltmeisterin Ina
Menzer und Sängerin Gabriela Gottschalk, die mit Berenberg Partner Andreas Brodtmann spielten ( Foto).
Insgesamt sammelten die Mitarbeiter der Berenberg Bank
seit 2007 über 400.000 Euro für Kinder. Darüber hinaus
engagieren sie sich aber auch mit direkter Hilfe.
Rub r i k

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