1 Zivilrechtliche Vorfragen im Baubewilligungsverfahren Dr. Monika

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1 Zivilrechtliche Vorfragen im Baubewilligungsverfahren Dr. Monika
Zivilrechtliche Vorfragen im Baubewilligungsverfahren
Dr. Monika Hintz, Fürsprecherin, Rechtsamt Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion (BVE)
1.
Sind im Baubewilligungsverfahren zivilrechtliche Aspekte zu prüfen?
Im Baubewilligungsverfahren muss die Bewilligungsbehörde überprüfen, ob ein Bauvorhaben den massgebenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften entspricht.1 Zu diesen Vorschriften gehört insbesondere das Bau- und Planungsrecht, aber auch die Gesetzgebung in den
Bereichen Umweltschutz, Energie, Strassen, Brandschutz, Wasserbau etc. Die Einhaltung
zivilrechtlicher Vorschriften und Vereinbarungen ist dagegen in der Regel nicht zu prüfen.
Die Betroffenen müssen entsprechende Ansprüche bei den Zivilgerichten geltend machen.
Im Baubewilligungsverfahren können sie ihre zivilrechtlichen Einwände und Ansprüche nur
als Rechtsverwahrung anmelden.2
Dieser Grundsatz der strikten Trennung zwischen Zivil- und Verwaltungsrecht wird jedoch im
Baubewilligungsverfahren in folgenden zwei Fällen durchbrochen3:
Die Baurechtsgesetzgebung setzt in verschiedenen Vorschriften den Bestand ziviler
Rechte voraus und macht die Erteilung der Baubewilligung davon abhängig (z.B. bei Erschliessungsanlagen oder Abstellplätzen auf fremdem Grund, bei Näherbaurechten oder
bei Nutzungsübertragungen; siehe dazu Ziff. 2 - 6).
Zivilrechtliche Fragen sind auch von Bedeutung, wenn die Bauherrschaft nicht bzw. nicht
alleinige Eigentümerin des Baugrundstückes ist und die Bewilligungsbehörde klären
muss, ob die Zustimmung der Grundeigentümerschaft erforderlich ist (dazu Ziff. 7).
Wenn zivilrechtliche Verhältnisse massgebend sind, ist die Baubewilligungsbehörde befugt,
diese vorfrageweise selbst zu prüfen, sofern das zuständige Zivilgericht die Frage nicht
schon rechtskräftig entschieden hat.4 In einem allfälligen späteren Zivilprozess ist das Zivilgericht jedoch nicht an die Beurteilung durch die Baubewilligungsbehörde gebunden. Die
Feststellungen der Baubewilligungsbehörde über zivilrechtliche Vorfragen sind nämlich nur
ein Element der Entscheidfindung und der Begründung und nehmen an der Rechtskraft des
1
Art. 2 des Baugesetzes vom 9. Juni 1985 (BauG; BSG 721.0)
Art. 32 und Art. 36 Abs. 2 Bst. f des Dekretes vom 22. März 1994 über das Baubewilligungsverfahren (Baubewilligungsdekret, BewD; BSG 725.1)
3
Aldo Zaugg/Peter Ludwig, Kommentar zum Baugesetz des Kantons Bern, Band I, 4. Auflage, Bern 2013, Art. 2
N. 4a; BVR 2004 S. 412 ff. E. 3.2, 2003 S. 385 ff. E. 4.b, 1990 S. 374 ff. E. 2.b
4
Merkli/Aeschlimann/Herzog, Kommentar zum bernischen VRPG, 1997, Art. 5 N. 5; Aldo Zaugg/Peter Ludwig,
a.a.O., Art. 2 N. 4a; Häfelin/Müller/Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Auflage, Zürich 2010, Rz 61;
BGE 131 III 546 E. 2.3
2
1
Bauentscheides nicht teil. Sie dürfen daher auch keinen Niederschlag im Dispositiv finden.5
Ein privatrechtlich Berechtigter hat somit nach einem Bauentscheid nach wie vor die Möglichkeit, seine Rechte auf dem Zivilweg durchzusetzen bzw. eine seinen Rechten widersprechende Baute oder Anlage mittels einer zivilrechtlichen Anordnung zu verhindern.
Statt einen zivilrechtlichen Aspekt vorfrageweise selbst zu prüfen, kann die Baubewilligungsbehörde ihr Verfahren auch sistieren und den Parteien Gelegenheit geben, die privatrechtliche Frage durch das zuständige Zivilgericht entscheiden zu lassen (Art. 38 VRPG6).7 Die
Baubewilligungsbehörde hat grundsätzlich einen grossen Ermessensspielraum bei der Frage, ob sie eine zivilrechtliche Vorfrage selbst prüfen oder ihr Verfahren sistieren will. Das bedeutet aber nicht, dass sie ihr Verfahren völlig nach Belieben einstellen oder weiterführen
darf. Sie muss ihren Ermessensspielraum sachgerecht und pflichtgemäss ausfüllen und dabei auch die betroffenen Interessen berücksichtigen.8 Dabei hat sie zu beachten, dass ihr
Verfahren in der Regel wesentlich länger dauert, wenn sie es sistiert und die Beteiligten zur
Klärung einer Vorfrage auf den zivilprozessualen Weg verweist. Im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot wird die Baubewilligungsbehörde daher in nicht allzu komplexen Fällen
die zivilrechtlichen Vorfragen selbst prüfen müssen. Eine Sistierung des Baubewilligungsverfahrens kann dagegen angezeigt sein, wenn sich sehr heikle zivilrechtliche Fragen stellen,
umfangreiche Beweismassnahmen erforderlich sind oder wenn bereits ein Verfahren zur Klärung der zivilrechtlichen Vorfrage hängig ist.9
2.
Erschliessungsanlagen auf fremdem Grund
2.1
Wann ist eine zivilrechtliche Vereinbarung erforderlich?
Gemäss Art. 7 Abs. 1 BauG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Bst. c BauV10 dürfen
Bauvorhaben nur bewilligt werden, wenn sichergestellt ist, dass das Baugrundstück auf den
Zeitpunkt der Fertigstellung des Baus oder der Anlage – falls notwendig sogar bereits bei
Baubeginn – genügend erschlossen sein wird. Dazu gehört, dass die notwendigen Erschliessungsanlagen rechtlich sichergestellt sind. Bei bereits bestehenden Erschliessungsanlagen auf fremdem Grund setzt dies voraus, dass die Bauherrschaft über das Recht verfügt, sie zu nutzen. Sind die Erschliessungsanlagen erst noch zu erstellen, muss entweder
5
Merkli/Aeschlimann/Herzog, a.a.O., Art. 5 N. 5; Häfelin/Müller/Uhlmann, a.a.O., Rz 69; BVR 2004 S. 412 ff.
E. 3.2, 1993 S. 115 ff. E. 2.b, 1990 S. 374 ff. E 2.b sowie aus der neueren Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts VGE 2013/133 vom 3. Oktober 2013 E. 4.1, VGE 2010/90 vom 1. November 2010 E. 3.2, VGE 22811 vom
10. September 2007 E. 2.4
6
Gesetz vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege (VRPG; BSG 155.21)
7
Merkli/Aeschlimann/Herzog, a.a.O., Art. 5 N. 6 und Art. 38 N. 3
8
Merkli/Aeschlimann/Herzog, a.a.O., Art. 38 N. 11
9
BVR 1990 S. 374 ff. E. 2.c; Merkli/Aeschlimann/Herzog, a.a.O., Art. 5 N. 6
10
Bauverordnung vom 6. März 1985 (BauV; BSG 721.1)
2
ein für die Grundeigentümerschaft verbindlicher Überbauungs- oder Strassenplan bestehen
oder die Bauherrschaft muss das Recht zu ihrer Erstellung, Erhaltung und Nutzung haben.
Besteht kein verbindlicher Plan, ist also eine zivilrechtliche Vereinbarung zwischen den beteiligten Grundeigentümern, die der Bauherrschaft die notwendigen Rechte an den Erschliessungsanlagen einräumt, erforderlich (z.B. ein Wegrecht oder ein Durchleitungsrecht).
2.2
Zeitpunkt des Vorliegens der Vereinbarung
Art. 4 Bst. c BauV verlangt, dass die erforderlichen Rechte der Bauherrschaft zur Erstellung
und Erhaltung bzw. Nutzung der Erschliessungsanlagen bereits vor Erlass des Bauentscheides vereinbart und spätestens bei Baubeginn erworben sind. Was bedeutet dies? Die notwendige Vereinbarung – in der Regel ein Grunddienstbarkeitsvertrag11 – muss bereits vor
der Ausfällung des Bauentscheides vorliegen.12 Dies muss die Baubewilligungsbehörde vorfrageweise prüfen. Es ist nicht zulässig, die Baubewilligung ohne die notwendige Vereinbarung zu erteilen mit der Auflage, die Bauherrschaft habe bis zum Baubeginn eine ausreichende Lösung für die Erschliessungsfrage nachzuweisen. Liegt keine wirksame Vereinbarung vor, muss der Bauabschlag erteilt werden.13 Der Erwerb des Rechts, das heisst der
Grundbucheintrag, muss dagegen nicht bereits im Zeitpunkt der Erteilung der Baubewilligung
erfolgt sein, sondern erst vor Baubeginn.14 Bei einer Dienstbarkeit genügt daher im Zeitpunkt
der Erteilung der Baubewilligung ein entsprechender Vertrag mit der Ermächtigung zum Eintrag im Grundbuch nach Rechtskraft der Baubewilligung. Mittels Auflage ist im Bauentscheid
festzulegen, dass der Grundbucheintrag vor Baubeginn erfolgen muss.
2.3
Auslegung von Dienstbarkeiten
Im Rahmen der vorfrageweisen Prüfung einer Grunddienstbarkeit, die der Bauherrschaft das
Recht zur Erstellung, Erhaltung und Benutzung einer Erschliessungsanlage über fremden
Grund einräumt, muss die Baubewilligungsbehörde allenfalls Inhalt und Umfang der Dienst-
11
Es ist zu beachten, dass die Errichtung einer Grunddienstbarkeit seit dem 1. Januar 2012 eine öffentliche Beurkundung erfordert (Art. 732 Abs. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10. Dezember 1907 (ZGB; SR
201)
12
Ausführlich zum Ganzen Urs Eymann, “Die richtige öffentlichrechtliche Berücksichtigung der privatrechtlichen
Erschliessungsregelungen im Baubewilligungsverfahren“, in KPG-Bulletin 4/2003 S. 94 ff.
13
Aldo Zaugg/Peter Ludwig, a.a.O., Art. 7/8 N. 9 und Art. 38-39 N. 16; BGE 127 I 103 E. 7.d; VGE 23339/23342
vom 3. November 2008 E. 4.4.1, VGE 23204/23205 vom 11. Juni 2008 E. 2.5.2 am Schluss; Entscheide der BVE
vom 8. April 2013 E 2.c-d (RA Nr. 110/2013/29), vom 2. Juli 2010 E. 4.c (RA Nr. 110/2010/31), vom 24. August
2009 E. 5 (RA Nr. 110/2009/48), vom 25. November 2008 (RA Nr. 110/2008/74), vom 30. Juni 2006 (RA
Nr. 110/2006/68) und vom 20. Juli 2001 E. 2.c (RA Nr. 11158-00)
14
Eymann, a.a.O., S. 95 f.; Aldo Zaugg/Peter Ludwig, a.a.O , Art. 7/8 N. 12; VGE 2010/90 vom 1. November
2010 E. 3.2; BVR 1990 S. 374 ff. E. 3.d, 1988 S. 172 ff. E. 3.d
3
barkeit mittels Auslegung feststellen.15 In einem neueren Entscheid hat das Verwaltungsgericht das Vorgehen bei der Auslegung von Dienstbarkeiten einlässlich dargestellt16:
VGE 2013/133 vom 3. Oktober 2013
„4.2 Den rechtlichen Rahmen für die Ermittlung von Inhalt und Umfang einer Dienstbarkeit bildet vorab
Art. 738 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, woraus die Rechtsprechung eine Stufenordnung ableitet. Ausgangspunkt ist der Wortlaut des Grundbucheintrags. Soweit sich daraus Rechte und Pflichten deutlich ergeben, ist dieser Wortlaut uneingeschränkt massgebend, wobei diese Fälle eher selten
sein dürften (BVR 2004 S. 412 E. 3.3 mit Hinweisen). Nur wenn der Wortlaut unklar ist, darf im Rahmen des Eintrags auf den Erwerbsgrund zurückgegriffen werden, d.h. auf den Begründungsakt, der
als Beleg beim Grundbuchamt aufbewahrt wird (Art. 948 Abs. 2 ZGB) und einen Bestandteil des
Grundbuchs bildet (Art. 942 Abs. 2 ZGB). Ist auch der Erwerbsgrund nicht schlüssig, kann sich der Inhalt der Dienstbarkeit - im Rahmen des Eintrags - aus der Art ergeben, wie sie während längerer Zeit
unangefochten und in gutem Glauben ausgeübt worden ist (vgl. Art. 738 Abs. 1 und 2 ZGB; BGE 138
III 650 E. 5.3; BGer 5A_617/2009 vom 26.1.2010, E. 2.1; BVR 2004 S. 412 E. 3.4). Je genauer ein
Eintrag formuliert ist, desto weniger Raum bleibt für eine Auslegung nach dem Erwerbsgrund und der
unangefochtenen Ausübung (vgl. Peter Liver, in Zürcher Kommentar Band IV 2a, 2. Aufl. 1980, Art.
738 ZGB N. 36; Schmid/Hürlimann-Kaup, Sachenrecht, 2. Aufl. 2003, N. 1277). Die Auslegung des
Erwerbsgrunds erfolgt in gleicher Weise wie bei sonstigen Willenserklärungen. Nur wenn eine tatsächliche Willensübereinstimmung zwischen den Parteien unbewiesen bleibt, ist der Vertrag nach dem
Vertrauensgrundsatz auszulegen, das heisst so, wie er nach seinem Wortlaut und Zusammenhang
sowie namentlich auf Grund der Bedürfnisse des herrschenden Grundstücks und mit Rücksicht auf
Sinn und Zweck der Dienstbarkeit verstanden werden durfte und musste. Diese allgemeinen Auslegungsgrundsätze gelten vorbehaltlos unter den ursprünglichen Vertragsparteien, im Verhältnis zu Dritten dagegen nur mit einer Einschränkung, die sich aus dem öffentlichen Glauben des Grundbuchs
(Art. 973 ZGB) ergibt, zu dem auch der Erwerbsgrund gehört. Bei dessen Auslegung können gegenüber Dritten, die an der Errichtung der Dienstbarkeit nicht beteiligt waren und im Vertrauen auf das
Grundbuch das dingliche Recht erworben haben, individuelle persönliche Umstände und Motive nicht
berücksichtigt werden, die für die Willensbildung der ursprünglichen Vertragsparteien bestimmend waren, aus dem Dienstbarkeitsvertrag selber aber nicht hervorgehen und für einen unbeteiligten Dritten
normalerweise auch nicht erkennbar sind (BGE 130 III 554 E. 3.1, 108 II 542 E. 2; BVR 2004 S. 412
E. 3.4.2; je mit Hinweisen).“
Bei der Auslegung einer bereits länger bestehenden Dienstbarkeit geht es oft auch um die
Frage, ob eine geänderte Nutzung auf dem berechtigten Grundstück noch vom Umfang der
Dienstbarkeit umfasst wird und ob allenfalls eine unzulässige Mehrbelastung vorliegt. Letzteres kann ein Thema sein, wenn die Parteien den Umfang der Dienstbarkeit nicht konkret beschränkt haben. Diesfalls richtet er sich nach den Bedürfnissen des berechtigten Grundstückes. Verändern sich die Bedürfnisse des berechtigen Grundstücks, darf dem Verpflichteten
eine übermässige Mehrbelastung nicht zugemutet werden (Art. 739 ZGB). Das Bundesgericht erachtet dabei eine Mehrbelastung, die auf eine objektive Veränderung der Verhältnisse, wie etwa die Entwicklung der Technik (z.B. Autos statt Fuhrwerke), zurückgeht und nicht
auf einer willentlichen Änderung der bisherigen Zweckbestimmung beruht, als zulässig. Erst
wenn die – verglichen mit dem früheren Zustand – gesteigerte Inanspruchnahme des belasteten Grundstücks eine erhebliche Überschreitung der Dienstbarkeit bedeutet, liegt eine un15
Zur Auslegung von Dienstbarkeiten: Etienne Petitpierre, Basler Kommentar ZGB II, 4. Auflage, Art. 738 N. 4 ff.;
Peter Liver, Zürcher Kommentar Band IV/2a, 1980, Art. 738 ZGB N. 20; BGE 139 III 404 ff. E. 7, 131 III 345
E. 5 f., 128 III 265 ff., 128 III 169 E. 3a, 107 II 331 E. 2; BGer 5C.199/2002 vom 17.12.2002 E. 3.1
16
Vgl. dazu auch die Literaturangaben und BGE in Fussnote 15 sowie BVR 2004 S. 412 ff. E. 3.3 ff.; VGE
23204/23205 vom 11. Juni 2008 E. 2.4; Entscheide der BVE vom 15. Mai 2013 E. 4.b (RA Nr. 110/2013/47), vom
24. August 2007 E. 2.c (RA Nr. 110/2007/71), vom 30. November 2006, E. 3 (RA Nr. 110/2006/70, publiziert auf
der Website der BVE), vom 6. Dezember 2004 E. 2.c (RA Nr. 11072004/43) und vom 5. April 2004 E. 3.d (RA
Nr. 110/2003/120)
4
zumutbare Mehrbelastung vor. Die Zunahme muss aber derart stark sein, dass mit Sicherheit angenommen werden kann, sie überschreite die Grenze dessen, was bei der Begründung der Dienstbarkeit vernünftigerweise in Betracht gezogen worden sein könnte.17 Eine
Vergrösserung oder Vermehrung der Gebäude auf dem berechtigten Grundstück, die zur
Folge hat, dass ein Weg stärker begangen und befahren wird, wird in der Regel nicht als
Überschreitung des Dienstbarkeitsrechts angesehen.18 Zu diesen Themen einige Beispiele
aus der bernischen Praxis:
VGE 21729 vom 12. Januar 2004, in BVR 2004 S. 412 f.
Dem Entscheid liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Der Bauherr stellte ein Baugesuch für das Erstellen einer Werkstatt für einen Zimmereibetrieb in der gemischten Wohn- und Gewerbezone. Die
Bauparzelle wird über das benachbarte Grundstück erschlossen. Dessen Eigentümer erhoben Einsprache und machten geltend, das bestehende Wegrecht gelte nur für den Zu- und Weggang zu einem Wohnhaus, nicht aber zu einem Zimmereibetrieb. Das Verwaltungsgericht prüfte vorfrageweise,
ob das Wegrecht die Erschliessung zur geplanten Zimmerei sicherstellt, und kam zum Schluss, dass
das Wegrecht für eine Parzelle in der Wohn- und Gewerbezone nicht nur zu Wohnzwecken, sondern
auch für einen Gewerbebetrieb ausgeübt werden dürfe und die zusätzlichen Fahrbewegungen nicht
zu einer unzumutbaren Mehrbelastung der Dienstbarkeit führten.19
VGE 17900 vom 10. Mai 1990, in BVR 1990 S. 374 ff.
In diesem Fall prüfte das Verwaltungsgericht im Zusammenhang mit einer Erschliessungsanlage auf
fremdem Grund vorfrageweise den Inhalt eines Wegrechts mit folgendem Wortlaut: „Herr L. räumt der
Verkäuferin längs der südlichen Grenze der von ihm erworbenen Parzelle ein Wegrecht in der Breite
von 3 m zu ihrer Restparzelle ein.“ Der Dienstbarkeitsbelastete machte geltend, das Wegrecht sei auf
den Gärtnereibetrieb beschränkt, der bei Errichtung der Dienstbarkeit auf dem herrschenden Grundstück bestanden habe. Das Verwaltungsgericht kam zum Schluss, dass sich dafür keine Hinweise
fänden. Der Wortlaut der Dienstbarkeit sei allgemein gehalten; es handle sich um eine sogenannte
„ungemessene“ Dienstbarkeit, deren Umfang durch die Bedürfnisse des herrschenden Grundstückes
bestimmt werde. Die zulässigen Bedürfnisse des berechtigten Grundstückes richteten sich nach den
Möglichkeiten, die die öffentlichrechtlichen Bauvorschriften zuliessen. Es seien keine Hinweise ersichtlich, dass sich das Wegrecht ausschliesslich auf die Erschliessung des bestehenden Gärtnereibetriebes beziehe.
BDE vom 5. April 2004 (RA Nr. 110/2003/120)
Einer Bauherrin wurde der Abbruch eines Einfamilienhauses und der Neubau von zwei Doppeleinfamilienhäusern mit acht Parkplätzen bewilligt. Die Bauparzelle wird über drei benachbarte Grundstücke
erschlossen, zu deren Lasten ein Wegrecht besteht, das im Grundbuch als „Fuss- und Fahrwegrecht“
eingetragen ist. Deren Eigentümer erhoben Beschwerde und rügten, mit dem Bauvorhaben werde der
Umfang der Dienstbarkeit überschritten. Da bei deren Errichtung das Einfamilienhaus bereits bestanden habe, hätten die Belasteten davon ausgehen dürfen, das Wegrecht betreffe nur ein Einfamilienhaus. Die BVE kam nach einer vorfrageweisen Prüfung zum Schluss, die Grundbuchbelege enthielten
keine Angaben zu Art oder Umfang des Wegrechts, insbesondere keine Hinweise darauf, dass die
Dienstbarkeit lediglich in Bezug auf das Einfamilienhaus erteilt worden sei. Der Zweck der Errichtung
des Fuss- und Fahrwegrechts sei offensichtlich die Sicherstellung der Erschliessung der heutigen
Bauparzelle gewesen, und zwar ohne Beschränkung. Zudem sei die heutige Bauparzelle im Zeitpunkt
der Dienstbarkeitserrichtung noch in zwei Parzellen aufgeteilt gewesen. Es habe daher damals in Betracht gezogen werden müssen, dass es im Laufe der Zeit zu einer intensiveren Beanspruchung des
Wegrechts kommen könnte. Es liege keine unzulässige Mehrbelastung im Sinne von Art. 739 ZGB
vor.
17
BGE 139 III 404 ff. E. 7.3, 131 III 345 ff. 4.3.1
BGer 5A_602/2012 und 5A_625/2012 vom 21. Dezember 2012 E. 4.3 mit Hinweisen
19
Das Verwaltungsgericht verweist auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung, die wiederholt eine unzulässige
Mehrbelastung verneinte, wenn durch Umbauten die Anzahl der Benützerinnen und Benutzer eines Wegrechts
steigt (BGE 122 III 358 E. 2.c mit Hinweisen). Ausführlich zur Frage der Mehrbelastung Peter Liver, a.a.O.,
Art. 739 N. 1 ff.; Entscheide der BVE vom 10. Juni 2013 (RA Nr. 110/2012/202, E. 5.g und Nr. 110/2012/208,
E. 6.g).
18
5
BDE vom 28. Januar 1998 (RA Nr. 11133-97)
Laut diesem Entscheid liegt keine unzulässige Mehrbelastung eines Fahrwegrechts vor, wenn im
Wohnteil eines Bauernhauses, das im Zeitpunkt der Errichtung der Dienstbarkeit nur eine Wohneinheit
hatte, neu drei Wohneinheiten entstehen.
3.
Abstellplätze auf fremdem Boden
Eine weitere Situation, in der das Baurecht einen zivilrechtlichen Tatbestand voraussetzt, ist
gegeben, wenn sich die nach Art. 16 BauG erforderlichen Abstellplätze auf fremdem Boden befinden. Art. 49 Abs. 3 BauV verlangt in diesen Fällen eine grundbuchliche Sicherstellung, sofern die Gemeinde im Bau- oder Parkplatzreglement nichts anderes geregelt hat.
Ohne diese grundbuchliche Sicherstellung darf die Baubewilligung nicht erteilt werden.20 Dazu ist ein entsprechender Dienstbarkeitsvertrag erforderlich. Die Baubewilligungsbehörde hat
dessen Vorliegen zu überprüfen. Ein Mietvertrag, auch wenn er im Grundbuch vorgemerkt
ist, reicht nicht aus.21
4.
Nutzungsübertragungen
Auch bei Nutzungsübertragungen nach Art. 94 BauV und Art. 32 BMBV22 muss vor Erteilung einer Baubewilligung vorfrageweise geprüft werden, ob ein entsprechender Grunddienstbarkeitsvertrag vorliegt.23 Der Dienstbarkeitsvertrag ist vor Baubeginn zur Eintragung
im Grundbuch anzumelden.
5.
Näherbaurechte
Schliesslich sind zivilrechtliche Vorfragen auch im Zusammenhang mit Näherbaurechten relevant. Die Gewährung eines Näherbaurechts ist zwar ein zivilrechtlicher Vorgang, hat aber
baupolizeiliche Bedeutung.24 Sein Bestand und Umfang sind daher vorfrageweise zu prüfen.25 Dabei können sich in der Praxis verschiedenste Fragen stellen. Oft geht es dabei um
die Form der Zustimmung oder darum, ob ein Näherbaurecht generell gilt oder projektbezo-
20
VGE 23339/23342 vom 3. November 2008 E. 4.4.2, VGE 21305 vom 14. März 2002 E. 5.b; Aldo Zaugg/Peter
Ludwig, a.a.O., Art.16-18 N. 24
21
BVR 1987 S. 49 ff. E. 4; Entscheid der BVE vom 8. April 2013 E. 3.c (RA Nr. 110/2013/29)
22
Verordnung über die Begriffe und Messweisen im Bauwesen vom 25. Mai 2011 (BMBV, BSG 721.3)
23
Zur Nutzungsübertragung Aldo Zaugg/Peter Ludwig, a.a.O., Art. 13 N. 8b mit Hinweisen
24
Zum Näherbaurecht Aldo Zaugg/Peter Ludwig, a.a.O., Art. 12 N. 12
25
VGE 2013/133 vom 3. Oktober 2013 E. 4.1
6
gen ausgestaltet ist, das heisst, ob die Zustimmung zum Näherbau nur für ein genau definiertes Vorhaben gilt. Dazu zwei Beispiele aus der Praxis der BVE:
BDE vom 23. August 2002 (RA Nr. 11076-02), in BVR 2003 S. 254 ff.
Die BVE hielt in diesem Entscheid fest, für die Zustimmung zu einem Näherbau sei eine unmissverständliche, in Schriftform gehaltene und eigenhändig unterzeichnete Willensäusserung, dem Näherbau zuzustimmen, notwendig. Die blosse Unterzeichnung eines Situationsplanes genüge nicht.
BDE vom 21. November 2012 (RA Nr. 110/2012/141)
Nachbarn hatten sich im Jahre 2009 im Zusammenhang mit der Erstellung eines Gartenhäuschens
ein gegenseitiges Näherbaurecht für “unbewohnte An- und Nebenbauten“ eingeräumt. Später war
umstritten, ob sich dieses Näherbaurecht nur auf das im damaligen Zeitpunkt erstellte Gartenhäuschen bezog oder auch weitere künftige An- und Nebenbaute umfasst. Die BVE kam zum Schluss,
dass die Vereinbarung aufgrund des klaren Wortlautes nach Treu und Glauben so verstanden werden
musste, dass sie ein generelles, nicht projektbezogenes, zeitlich unlimitiertes Näherbaurecht beinhaltet.
6.
Spezialfälle
Neben den geschilderten Fällen, in denen das Baurecht selbst zivilrechtliche Tatbestände
voraussetzt, gibt es Situationen, in denen auch gestützt auf andere im Baubewilligungsverfahren massgebende öffentlichrechtliche Vorschriften zivilrechtliche Vorfragen geprüft werden müssen. So kommt es immer wieder vor, dass sich in Baubewilligungsverfahren die
Frage stellt, ob eine Privatstrasse durch die Errichtung einer Wegdienstbarkeit dem
Gemeingebrauch gewidmet wurde und damit als öffentliche Strasse gilt.26 Dies ist beispielsweise der Fall wenn ein Bauvorhaben zur Aufhebung oder (teilweisen) Schliessung einer Strasse führen würde. Ein solches Vorhaben ist nur bewilligungsfähig, wenn die betroffene Strasse nicht öffentlich ist.27 Ist eine Strasse dagegen dem Gemeingebrauch gewidmet
und damit öffentlich, ist ein solches Bauprojekt nicht vereinbar mit Art. 65 SG, der vorsieht,
dass öffentliche Strassen grundsätzlich von jedermann benutzt werden dürfen. Da Bauvorhaben auch die Vorschriften der Strassengesetzgebung einhalten müssen, können sie in
solchen Fällen nicht bewilligt werden. Die Baubewilligungsbehörde hat daher bei entsprechenden Konstellationen zu prüfen, ob eine Dienstbarkeit errichtet wurde, mit der die betroffene Strasse dem Gemeingebrauch gewidmet wurde. Dazu ein neuerer Entscheid des
bernischen Verwaltungsgerichts:
VGE 2009/433 vom 22. Februar 2011
Hintergrund des Entscheides: R. ist Eigentümer des Grundstücks A, das zwischen der H.-Gasse und
der S.-Gasse liegt. Über das Grundstück A verläuft das A.-Gässlein, welches die H.-Gasse und die S.Gasse verbindet. R. reichte ein Baugesuch ein zur Schliessung des auf seinem Grundstück liegenden
Teils des A.-Gässleins mit zwei Toren. Das Verwaltungsgericht hielt in seinem Entscheid fest: „2.2 Zu
den «nach anderen Gesetzen im Baubewilligungsverfahren zu prüfenden Vorschriften» gemäss Art. 2
BauG gehören auch diejenigen der Strassengesetzgebung (BVR 2008 S. 332 E. 3.1; Zaugg/Ludwig,
Kommentar zum bernischen BauG, Band l/ll, 3. Aufl. 2007/2010, Art. 2 N. 4). Die Vorinstanz und die
26
27
Art. 9 und Art. 13 Abs. 3 Bst. b des Strassengesetzes vom 4. Juni 2008 (SG; BSG 732.11)
BVR 2008 S. 332 ff. E. 3.5; BVR 2011 S. 341 ff. E. 2.2
7
Gemeinde haben das Baugesuch des Beschwerdeführers abgewiesen, weil es ihrer Auffassung nach
strassenrechtliche Bestimmungen verletzte. Sie sind zum Schluss gekommen, der nördliche, durch
den Bogendurchgang verlaufende Teil des «A-Gässli» sei strassenrechtlich als Privatstrasse im Gemeingebrauch und damit als öffentliche Strasse zu qualifizieren. Das Bauvorhaben beschränke den
Gemeingebrauch und sei daher abzuweisen. Der Beschwerdeführer ist demgegenüber der Auffassung, das «A-Gässli» sei keine öffentliche Strasse. – Öffentliche Strassen dürfen im Rahmen ihrer
Zweckbestimmung, ihrer Gestaltung, der örtlichen Verhältnisse und der geltenden Vorschriften von allen unentgeltlich und ohne besondere Erlaubnis benutzt werden (sog. Gemeingebrauch, vgl. Art. 65
Abs. 1 des Strassengesetzes vom 4. Juni 2008 [SG; BSG 732.11]). Ein privates Bauvorhaben, welches den Gemeingebrauch einseitig aufhebt oder einschränkt, kann deshalb nicht bewilligt werden
(vgl. BVR 2008 S. 332 E. 3). Ist eine Strasse hingegen nicht öffentlich, so hat die Eigentümerin oder
der Eigentümer das Recht, die Strasse zu sperren oder aufzuheben (vgl. zum Ganzen BVR 2008 5.
332 E. 3, insbesondere E. 3.5). Entscheidend für die Zulässigkeit des Vorhabens ist somit, ob das «AGässli» als öffentliche Strasse zu qualifizieren ist oder nicht. Darüber ist im vorliegenden Verfahren
vorfrageweise zu entscheiden (vgl. auch Urteil des VGer Aargau vom 27.11.1990, in AGVE 1991 S.
305 E. 1).“
7.
Bauen auf fremdem oder gemeinschaftlichem Grund
7.1
Art. 10 Abs. 2 BewD
Zivilrechtliche Fragen sind im Baubewilligungsverfahren auch dann von Bedeutung, wenn eine Baute oder Anlage auf fremdem Boden oder auf gemeinschaftlichem Grundeigentum erstellt werden soll. In diesen Situationen verlangt Art. 10 Abs. 2 BewD die unterschriftliche
Zustimmung des Grundeigentümers bzw. der Grundeigentümerin. Diese Zustimmung ist allerdings im Gegensatz zu den vorgängig dargestellten Fällen nicht eine Voraussetzung für
die Erteilung der Baubewilligung. Ihr Fehlen führt daher nicht zum Bauabschlag. Die Vorschrift will nämlich laut ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts nur vermeiden,
dass sich die Baubewilligungsbehörden mit Vorhaben befassen müssen, die aus zivilrechtlichen Gründen nie verwirklicht werden können, weil die Grundeigentümerschaft ihnen nicht
zustimmt. Es handelt sich somit um eine reine Ordnungsvorschrift, die unnötigen Verwaltungsaufwand und Verfahrensleerlauf verhindern will. Sie bezweckt dagegen nicht, umstrittene private Rechte, die dem Bauvorhaben entgegenstehen könnten, abschliessend im Baubewilligungsverfahren statt im Zivilverfahren zu überprüfen. Art. 10 Abs. 2 BewD will nur sicherstellen, dass die Bauherrschaft ein schutzwürdiges Interesse an der Beurteilung ihres
Baugesuches hat. Massgebend ist also nicht die Unterschrift bzw. die Zustimmung als solche, sondern das Rechtsschutzinteresse des Baugesuchstellers bzw. der Baugesuchstellerin. Fehlt ein solches Interesse, muss die Baubewilligungsbehörde auf das Baugesuch nicht
eintreten. Hat die Bauherrschaft dagegen ein eigenes schutzwürdiges Interesse, ist die Zustimmung bzw. Unterschrift der Grundeigentümerschaft nicht erforderlich.28 Weiter ist zu be28
Zum Ganzen: Aldo Zaugg/Peter Ludwig, a.a.O., Art. 34 N. 10; BVR 2005 S. 130 ff. E. 3.1, BVR 1989 S. 406 ff.
E. 3, BVR 1976 S. 479 ff. E. 2; VGE 2012/164 vom 7. Januar 2013 E. 2.2, VGE 22811 vom 10. September 2007
E. 2.3, VGE 22354 vom 15. August 2005 E. 3, VGE 21717/21719 vom 21. Mai 2004 E. 5.3; VGE 21600 vom
11. Februar 2004 E. 2.1, VGE 21305 vom 14. März 2002 E. 3d; vgl. auch den Entscheid des Bundesgerichts
1C_172/2007 vom 17. März 2008 E. 4, der die Praxis des Verwaltungsgerichts bestätigt. Entscheide der BVE
8
achten, dass auch bei nachträglichen Baugesuchen das Fehlen der Zustimmung irrelevant
ist: Bei nachträglichen Baugesuchen ist das Bauvorhaben nämlich bereits realisiert und
muss von den Baubewilligungsbehörden auch dann auf seine Übereinstimmung mit den bauund planungsrechtlichen Vorschriften überprüft werden, wenn die Unterschrift der Grundeigentümerschaft fehlt.29
7.2
Schutzwürdiges Interesse der Bauherrschaft
Ein eigenes schutzwürdiges Interesse der Bauherrschaft ist gegeben, wenn sie ein Bauvorhaben ohne Zustimmung der Grundeigentümerschaft verwirklichen darf. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn sie Inhaberin eines Baurechts ist, welches das Bauvorhaben zulässt. Ein schutzwürdiges Interesse ist auch zu bejahen, wenn die Bauherrschaft Stockwerkeigentum besitzt und das Vorhaben nur ihr Sonderrecht betrifft oder wenn sie ein Enteignungsrecht hat. In diesen Situationen ist auch ohne Unterschrift der (übrigen) Grundeigentümer auf das Baugesuch einzutreten.
Aus dem Zweck des Zustimmungserfordernisses, also der Verhinderung unnötiger Verfahren, ergibt sich, dass die Baubewilligungsbehörde das schutzwürdige Interesse an der
Durchführung des Baubewilligungsverfahrens nur in eindeutigen Fällen verneinen sollte.
Dies ist dann der Fall, wenn die Realisierung des Bauvorhabens aufgrund zivilrechtlicher
Regelungen bzw. mangels Zustimmung des Grundeigentümers offensichtlich nicht möglich
oder völlig ungewiss ist. In diesen Situationen muss die Baubewilligungsbehörde nicht auf
das Baugesuch eintreten. Wenn dagegen bloss unklar ist, ob einem Bauvorhaben ein zivilrechtliches Hindernis entgegensteht, darf nicht schon wegen der fehlenden Unterschrift der
Grundeigentümerschaft das Rechtschutzinteresse der Bauherrschaft am Baugesuch verneint
werden.30
Bei der Beurteilung, ob die Unterschrift der Grundeigentümerschaft erforderlich ist, sind somit zivilrechtliche Aspekte von Bedeutung und daher vorfrageweise zu prüfen. In der Praxis
sind häufig Konstellationen mit Stockwerkeigentümergemeinschaften und Baurechtsverhältnissen umstritten.
vom 14. Dezember 2012 E. 2.b (RA Nr. 110/2012/143), vom 14. November 2012 E. 9.c (RA Nr. 110/2012/88),
vom 23. September 2011 E. 6 (RA Nr. 110/2010/150), vom 11. September 2011 E. 3.b (RA Nr. 110/2009/79),
vom 6. September 2010 E. 2 (RA Nr. 110/2010/38), vom 22. September 2009 E. 2.b (RA Nr. 110/2009/74), vom
30. April 2009 E. 3.b (RA Nr. 110/2009/7), vom 20. September 2006 E. 3.b (RA Nr. 100/2006/92)
29
VGE 2012/164 vom 7. Januar 2013 E. 2.2; VGE 21600 vom 11. Februar 2004 E. 2.1; BVR 1989 S. 406 ff. E. 3,
BVR 1986 S. 70 ff. E. 7; Entscheid der BVE vom 12. April 1999 (RA Nr. 110/1999/11) teilweise wiedergegeben im
Aufsatz von Anita Horisberger Jecklin, a.a.O., S. 85; Aldo Zaugg/Peter Ludwig, a.a.O., Art. 34 N. 10
30
Aldo Zaugg/Peter Ludwig, a.a.O., Art. 34 N. 10; BVR 2005 S. 130 ff. E. 3.1 mit Hinweisen; VGE 22811 vom
10. September 2007 E. 2.3 mit Hinweisen; BDE vom 14. November 2012 E. 9.c (RA Nr. 110/2012/88) und vom
20. September 2006 E. 3b (RA Nr. 110/2006/92)
9
7.3
Stockwerkeigentum
Bei gemeinschaftlichem Eigentum ist zu klären, wer das Baugesuch mitunterzeichnen muss.
Stellt zum Beispiel eine einzelne Stockwerkeigentümerin oder ein einzelner Stockwerkeigentümer ein Baugesuch, hat die Bewilligungsbehörde zu prüfen, ob es der Zustimmung der übrigen Stockwerkeigentümerinnen und -eigentümer bedarf oder ob die Baugesuchstellerschaft
ein eigenes schutzwürdiges Interesse an der Beurteilung des Baugesuches hat. Letzteres ist
der Fall, wenn das Baugesuch das Sonderrecht des Gesuchstellers oder der Gesuchstellerin
nach Art. 712a Abs. 1 ZGB betrifft. Ein Sonderrecht ist das Recht, bestimmte Räume bzw.
Teile eines gemeinschaftlichen Gebäudes ausschliesslich zu nutzen, zu verwalten und baulich auszugestalten. Der konkrete Umfang der aus dem Sonderrecht resultierenden Befugnisse ergibt sich dabei nicht bloss aus dem Gesetz, sondern auch aus dem Errichtungsakt
und dem Reglement der Stockwerkeigentümergemeinschaft. Betrifft das Bauvorhaben gemeinschaftliche Teile, ist je nachdem, ob es sich bei den baulichen Massnahmen um notwendige, nützliche oder luxuriöse handelt, die Zustimmung der Mehrheit oder der Gesamtheit aller Stockwerkeigentümer notwendig (Art. 647c bis Art. 647e ZGB).31 Diese gesetzliche
Zuständigkeitsordnung kann durch das Stockwerkeigentümerreglement geändert werden.
Zur Erläuterung zwei Beispiele aus der Praxis der BVE32:
BDE vom 6. September 2010 (RA Nr. 110/2010/38)
Die Ehegatten K, Stockwerkeigentümer, planten eine Verglasung ihres Balkons. Ein anderer Stockwerkeigentümer erhob Einsprache und machte geltend, es sei die Zustimmung aller Stockwerkeigentümer erforderlich. Die BVE kam im Rahmen der vorfrageweisen Prüfung zum Schluss, die Balkonverglasung habe eine Fassadenveränderung zur Folge, welche die äussere Gestalt und das Aussehen des Gebäudes beeinflusse, weshalb gemeinschaftliche Teile betroffen seien (Art. 712b Abs. 2
Ziff. 2 ZGB). Dies bedürfe mindestens der Zustimmung der Mehrheit der Stockwerkeigentümer. Da der
Einsprecher als Eigentümer der Mehrheit der Stockwerkeigentumsanteile nicht mit dem Vorhaben einverstanden sei, könne es offensichtlich nicht verwirklicht werden. Die Baubewilligungsbehörde hätte
daher nicht auf das Baugesuch eintreten dürfen.
BDE vom 11. September 2009 (RA Nr. 110/2009/79)
Ein Stockwerkeigentümer erhielt eine Baubewilligung für einen Kamin eines Schwedenofens, der über
die Fassade des Gebäudes führen sollte. Die Mehrheit der Stockwerkeigentümer, die auch den grössten Teil der Sache vertraten, stimmte dem Bauvorhaben zu. Ein einzelner Stockwerkeigentümer, der
nicht zugestimmt hatte, führte Beschwerde bei der BVE. Diese kam zum Schluss, dass der Bequemlichkeit dienende bauliche Massnahmen zwar grundsätzlich der Zustimmung aller Miteigentümer bedürfen. Sie dürften aber auch gegen den Willen eines nicht zustimmenden Miteigentümers ausgeführt
werden, wenn die Mehrheit, die zugleich den grösseren Teil der Sache vertritt, zustimmt, der Nichtzustimmende nicht dauernd beeinträchtigt und sein Kostenanteil übernommen wird. Die vorfrageweise
Prüfung der zivilrechtlichen Fragen ergebe, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit die Zustimmung der
Mehrheit der Stockwerkeigentümer ausreiche. Das Bauvorhaben sei nicht offensichtlich unzulässig;
der Bauherr habe ein schutzwürdiges Interesse an der Beurteilung des Baugesuches.
7.4
Baurecht
31
Ausführlich zu den Rechtsfragen betreffend Stockwerkeigentum im Baubewilligungsverfahren: Anita Horisberger Jecklin, Die Stockwerkeigentümerinnen und -eigentümer im Baubewilligungsverfahren, KPG-Bulletin 3/2004,
S. 80 ff.
32
Vgl. zusätzlich die Fallbeispiele bei Anita Horisberger Jecklin, a.a.O. sowie BVR 1993 S. 115 ff.
10
Bei Baurechtsverhältnissen muss die Baubewilligungsbehörde prüfen, ob die Zustimmung
des Baurechtsberechtigten genügt oder ob auch die Zustimmung des belasteten Grundeigentümers bzw. der Grundeigentümerin erforderlich ist. Dies hängt davon ab, wie das Baurecht ausgestaltet ist. Dazu zwei Praxisbeispiele:
BDE vom 13. Juni 2003, E. 4 (RA Nr. 110/2002/182), bestätigt durch VGE 21717/21719 vom 21. Mai
2007. E. 5.3, bestätigt durch BGer 1C_172/2007 vom 17. März 2008
Die Inhaberin eines selbständigen und dauernden Baurechts erteilte einem Telekommunikationsanbieter die Zustimmung, auf dem Dach ihres Gebäudes eine Mobilfunkanlage zu erstellen. Die Baubewilligungsbehörde und sämtliche Rechtsmittelinstanzen entschieden, dass die Unterschrift der Baurechtsnehmerin ausreiche. Da das Baurecht ein eigenes Grundstück darstelle, sei die Unterschrift des
Baurechtsgebers nicht erforderlich, zumal der Baurechtsvertrag keine Beschränkungen enthalte, die
eine Zustimmung der Baurechtsnehmerin verbiete.
BDE vom 5. Januar 2004 (RA Nr. 110/2003/142), VGE 21871 vom 8. Juni 200433
Der Grundeigentümer R räumte der landwirtschaftlichen Genossenschaft S ein selbständiges und
dauerndes Baurecht ein zur Erstellung von Getreidesilos und der dazu notwendigen Erschliessungsanlagen. Später reichte die T. AG ein Baugesuch ein für den Neubau einer Mobilfunkanlage auf einem
der Silos. Das Baugesuch wurde von der Baurechtsnehmerin S unterzeichnet, nicht jedoch vom baurechtsbelasteten Grundeigentümer. Dieser erhob Einsprache und machte geltend, das Errichten einer
Mobilfunkanlage werde vom Baurecht nicht umfasst. Die Gemeinde trat mangels Zustimmung des
Grundeigentümers nicht auf das Baugesuch ein, worauf die T. AG Beschwerde erhob. Die BVE kam
wie die Gemeinde zum Schluss, dass das Baurecht eindeutig nur für die Errichtung von Getreidesilos
eingeräumt worden war und daher für die Mobilfunkanlage auch die Zustimmung des Grundeigentümers erforderlich gewesen wäre. Das Verwaltungsgericht bestätigte den Entscheid der BVE Aus den
Erwägungen der BVE: „3.b … Das Baurecht umfasst nicht zwingend die volle Verfügbarkeit der Baurechtsparzelle durch den Bauberechtigten. Dem baurechtsbelasteten Grundeigentümer verbleibt nicht
in jedem Fall nur das "nackte Eigentum". Inhalt und Umfang des Baurechts werden vielmehr durch die
Parteien im Baurechtsvertrag definiert und allenfalls eingeschränkt, der - als Grundbuchbeleg - dieselbe dingliche Wirkung hat wie der kurze, allgemein gehaltene Eintrag der Dienstbarkeit im Grundbuch
(Art. 779b ZGB). Demnach hängt das Erfordernis der Unterschrift des baurechtsbelasteten Grundeigentümers davon ab, wie das Baurecht im Baurechtsvertrag ausgestaltet ist bzw. ob das Baurecht
auch das vorgesehene Bauprojekt umfasst.".
7.5
Weitere Fälle
Das schutzwürdige Interesse der Bauherrschaft, das eine Zustimmung der Grundeigentümerschaft entbehrlich macht, kann sich nicht nur bei Baurechtsverträgen oder bei Stockwerkeigentumsverhältnissen ergeben, sondern auch bei Mietverhältnissen oder beim Vorliegen
von Enteignungsrechten:
BDE vom 23. September 2011 (RA Nr. 110/2010/150)
Der Regierungsstatthalter erteilte einer Gemeinde die Baubewilligung für den Neu- und Ausbau eines
Fuss- und Radweges. Die Bauparzelle befindet sich im Perimeter der Überbauungsordnung „Detailerschliessungsstrasse F“. Dagegen reichte W Beschwerde ein und machte geltend, das Vorhaben beeinträchtige seine Baurechtsparzelle und er sei nicht bereit, sein Baurecht für die Erstellung des Wegs
zur Verfügung zu stellen. Die BVE hielt fest, es könne auf die Unterschrift von W verzichtet werden,
wenn die Baugesuchstellerin ein eigenes schutzwürdiges Interesse an der Beurteilung des Baugesuches habe; dies sei unter anderem dann der Fall, wenn sie das Enteignungsrecht besitze. Mit der erfolgten Genehmigung des Überbauungsplans sei das Enteignungsrecht für die darin festgelegten Erschliessungs- und Verkehrsanlagen erteilt worden (Art. 128 BauG). Die Zustimmung von W sei daher
nicht erforderlich.
VGE 22811 vom 10. September 2007
33
Der Verwaltungsgerichtsentscheid ist publiziert in BVR 2005 130 ff., allerdings ohne die Erwägungen zum Inhalt des Baurechtsvertrages.
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1999 schloss eine Grundeigentümerin mit einem Telekommunikationsunternehmen eine als Mietvertrag bezeichnete Vereinbarung ab, in der sie sich verpflichtete, gegen Bezahlung eine Fläche auf dem
Dach ihres Gebäudes für die Installation, den Betrieb und den Unterhalt von Telekommunikationsausrüstungen zur Verfügung zu stellen. In der Folge wurde eine Mobilfunkanlage bewilligt und erstellt.
2005 reichte das Telekommunikationsunternehmen ein Baugesuch für den Umbau der Anlage ein (Ersatz der GSM-Antennen durch GSM/UTMS-Kombiantennen), das die Grundeigentümerin nicht unterzeichnete. Der Regierungsstatthalter erteilte trotzdem die Baubewilligung. Die BVE wies eine dagegen
erhobene Beschwerde der Grundeigentümerin ab; das Verwaltungsgericht bestätigte diesen Entscheid. Das Verwaltungsgericht prüfte vorfrageweise, ob das Mietvertragsrecht bzw. der Mietvertrag
die Zustimmung der Vermieterin zum Bauvorhaben zwingend vorschreibt und ob sich das Bauvorhaben an den Rahmen des Mietvertrages halte. Es kam zum Schluss, dass jedenfalls nicht von vornherein auszuschliessen sei, dass die Mieterin befugt sei, das Bauvorhaben ohne Zustimmung der
Grundeigentümerin zu realisieren. Daher habe die Mieterin ein eigenes schutzwürdiges Interesse an
der Beurteilung des Baugesuches.
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