Simas KARALIŪNAS (Vilnius) POLNISCH Warszawa UND

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Simas KARALIŪNAS (Vilnius) POLNISCH Warszawa UND
Studia Etymologica Cracoviensia
vol. 14
Kraków 2009
Simas KARALIŪNAS (Vilnius)
POLNISCH Warszawa UND LITAUISCH Ãpvaršuva
Der Ortsname Ãpvaršuva (Laukuva, Kreis Šilalė) (Vietovardžių žodynas,
26) ist strukturell ohne Zweifel aus dem Präfix ap- und dem Stamm -varšuva
zusammengesetzt. Varšuva fällt formell mit der Benennung der Hauptstadt Polens – litauisch Varšuva, polnisch Warszawa (Lietuviški tradiciniai vietovardžiai, 144) zusammen. Das Präfix ap- tritt auch in manchen Gewässernamen
auf, z.B. Apvardaĩ (See; bei Rimšė, Kreis Ignalina) (Lietuvos TSR upių ir ežerų
vardynas, 7; Vietovardžių žodynas, 25), dialektal Apardaĩ (mit weggefallenem
-v-). Früher wurde dieser Name Api-vardaĩ ausgesprochen, wie in historischen
Quellen bezeugt: so in russischen – Opivarda (Опиварда), in polnischen – Opiwarda (Būga 1958: 525). Nicht zu vergessen ist ferner, dass es auf dem Gebiet
Litauens auch mehrere Oikonyme gibt, die mit der Bennenung der Hauptstadt
Polens formell zusammenfallen, bzw. Ableitungen einer solchen Form sind:
Varšauka (Einsitze; Troškūnai, Kr. Anykščiai, Velykiai, Kr. Panevėžys), Varšuvėlė (Einsitz; Rūdiškės, Kr. Trakai) (Lietuvos TSR administracinio-teritorinio
suskirstymo žinynas, 338). Deren Stamm ist möglicherweise mit dem des Oikonyms Ãpvaršuva (s. unten) identisch. Bekannt ist auch der Familienname Varša
(Betonung unbekannt; Panevėžys, Vilnius), falls er nicht aus dem Polnischen
kommt, vgl. die polnischen Familiennamen Warsz, Warszo [Lietuvių pavardžių
žodynas (L – Ž), 1167].
Bei der Suche nach Appellativen mit Wurzeln wie im Toponym Ãpvaršuva,
fällt das Adjektiv lit. apvaržùs ‘verwelkt (von Birken)’ (Šatės, Kr. Skuodas –
LKŽ I 281) auf, das von der ebendort gebrauchten Zusammensetzung apvìržberžis ‘warzige Birke’ (← *apvìržęs béržas) und wahrscheinlich von apviržėlis
(Betonung unbekannt) nicht zu trennen ist, vgl. den von Juška gegebenen Beispielsatz: Vaikas, kurs neauga, tas apviržėlis (LKŽ I 283) ‘Ein Kind, das nicht
wächst, ist ein apviržėlis’. Daraus kann man Zugehörigkeit zum Verbum virGžti
(-ta, -žo) intr. ‘sich mit einer Kruste überziehen, an der Oberfläche steif werden;
schlechter werden, nicht wachsen’ (LKŽ XIX 678) folgern, häufig auch mit
dem Präfix ap- gebraucht, vgl. den Beispielsatz epušė nulupta, bet nepjauta, suviržta savė(je) (Tryškiai, Kr. Telšiai – LKŽ XIX 679) ‘die Espe abgeschält, aber
nicht gesägt, verhärtet sich’.
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SIMAS KARALIŪNAS
Wie ersichtlich, bestehen für die Erklärung von Ãpvaršuva andere Möglichkeiten als die Annahme einer Herleitung vom Namen der Hauptstadt Polens,
trotz formaler Entsprechung. Andererseits wurde die Frage der eventuellen baltischen Herkunft des Namens der Hauptstadt Polens Varšuva erörtert, so verband man z.B. den Namen Warszawa mit dem Gewässernamen Warszyn (< balt.
*virš-ī’n- adj. ‘oberer’) im Flussgebiet von Weichsel und Oder, den man für baltisch hielt und zu einigen Hydronymen im Gebiet Litauens: Viršýtis, Vìršupis
und VirGšupis (← lit. viršùs ‘Höhe; Spitze; Gipfel’ und ùpė ‘Fluss; Strom’) (Оriol
1991: 84; Оriol 1997: 353) stellte.
In seinem etymologischen Wörterbuch verknüpfte A. Brückner Warszawa
mit Personennamen. Zu Warszawa und auch zu der in den Dokumenten des
15.-16. Jh. belegten Form Warszewa meinte er: “przezwana od Warsza, czes.
Wrsz (Wrszowce)” (Brückner 1993: 603), d.h. ‘benannt nach Warsz, tschechisch
Wrsz (Wrszowce)’. Angenommen wurde auch, dass der Name Warszawa früher
die Benennung eines Grundbesitzes (“osada lub wieś Warsza”) war und der Personenname Warsz oder Warch selbst von derselben Wurzel wie poln. warchoł
‘Krakeeler, Lärmer; Schläger; Meuterer’ kam oder aus der Kürzung des Personennamens Warcisław resultierte (Staszewski 1969: 466).
In historischen Quellen ist der Name Warschaus zum ersten Mal im Jahre
1241 bezeugt, wo von der Schenkung des Dorfes Służew bei Warschau an einen
gewissen Gotald für einen Sieg gegen die Jotwinger die Rede ist: actum et datum Varschevie ‘verfügt und ausgegeben in Warschau’. Die Form mit dem Suffix -ev- ist durch den Beleg von 1386: in districtu Warszeuiensi bestätigt, doch
mit der Zeit wurde dieses Suffix in der polnischen Sprache geändert, indem es an
das allgemein übliche Suffix -ow, -owa, -owo (vgl. Varsouiam im Jahre 1355)
angepasst wurde, so dass endlich Formen mit dem Suffix -awa aufkamen, die
vom 15. Jh. an immer öfter verwendet wurden.
J. Staszewski nahm an, dass sich das Suffix -ev- im Bewusstsein der Sprecher zu -ow- infolge der Anpassung des Namens Warszewa an Gewässernamen
in Masuren ändern konnte, wie der Seename Warszawskie, der 1365 als Warssen
bezeugt wurde neben späterem Warschaw. J. Gerullis (1922: 197) hatte die Gewässernamen Warssen und Warschaw mit dem Flussnamen Varžė (Betonung
unbekannt) in Litauen und dem litauischen Appellativ varžas ‘Fischreuse’ verbunden. Die Frage ist auch, welcher Natur die Beziehung des Namens der polnischen Hauptstadt zur ähnlich lautenden Benennung der Vorstadt von Prag Vršovice ist, zumal es mehrere phonetisch ähnliche Benennungen von Bezirken von
Warschau und Prag gibt, so z.B. Solec, Ujazdów, Sielce, Rakowiec in Warschau
und Solnice, Ujezd, Sedlec, Rakovice in Prag und um Prag herum. Warum und
wie diese Ähnlichkeiten entstanden sind, etwa als Ergebnis einer Kolonisation,
von Einwanderung aus Pommern oder aus dem Gebiet um die Flüsse Narwa
und Pilica, – all das bleibt unklar (Staszewski 1969: 466-467).
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Sollte die Benennung von Warszawa tatsächlich von einem Personennamen
gekommen sein, würde es sich lohnen, auch an litauische Familiennamen zu
denken, wie Viršauskas (Kaunas), Viršelis (Kr. Molėtai), Viršickas (Kr. Pakruojis,
Panevėžys), Viršinskas (Kr. Zarasai), Viršulas (Kr. Panevėžys, Kr. Ukmergė),
Viršulas (Kr. Šilutė), Viršulis (Kr. Ukmergė), Viršulys (Kr. Širvintai) und Viršutis (Kr. Prienai, Kaunas) [Lietuvių pavardžių žodynas (L – Ž), 1230-1231]. Die
letzteren Familiennamen mit den Suffixen -ul- und -ut- kommen von lit. viršus
‘Höhe, Spitze, Gipfel’ [Lietuvių pavardžių žodynas (L – Ž), 1231]. Von diesem
Appellativ können auch alle übrigen Familiennamen hergeleitet werden, da sie
verhältnismäßig spät erschienen sind, und der Vokal i phonetisch kaum aus e entstanden sein kann.
Aber die Benennung der Hauptstadt Polens ist möglicherweise einer anderen Herkunft (falls überhaupt baltisch). Weil der Sonorlaut ar der polnischen
Sprache auch aus idg. *rO entstanden ist (Mańczak 1983: 32), vgl. polnisch gardło
‘Kehle; Kehlkopf’ < idg. *grOdlo, – kann Warszawa, in Dokumenten Warszewa
(< nom. coll. *VrOševā) etymologisch mit den ersten Gliedern solcher Eigennamen
im Territorium Litauens verknüpft werden wie Viršu-prūdė (Kardokai, Kazlų
Rūda [Lietuvos TSR upių ir ežerų vardynas, 199]), wo an zweiter Stelle ein prūdas ‘Teich’ (LKŽ X 820) steht, und Viršu-žiglis (Taurakiemis, Kr. Kaunas) –
wegen seines zweiten Gliedes vgl. žiglus und žyglus ‘schnell, geschick’ (LKŽ
XX 572), – sowie mit Viršu-rodukis (Marcinkonys, Kr. Varėna), ursprünglich
wahrscheinlich *Viršurodis mit dem Suffix -uk-. Die ersten Glieder dieser Gewässernamen waren u-Stämme wie dies auch beim Appellativ viršus ‘oberer,
höherer Teil; Überfluss…’ (LKŽ XIX 628-637) der Fall ist. Den Gewässernamen
Viržuva (Nebenfluss der Virvyčia, Viržuvėnai, Kr. Varniai) sowie den Flussnamen Viržuona (Nebenfluss der Šaltuona, Kr. Eržvilkas) verglich K. Būga mit
den Flussnamen Veiviržas und Viviržė (Betonung unbekannt) und verknüpfte sie
mit lit. viržės ‘Heidekraut’ (Būga 1958, 337; 1961, 545). Aber man kann diesen
Gewässernamen auch zur Verbalwurzel veržtis (-iasi, -ėsi) ‘schnell strömen;
sich ergießen, anschwellen, steigen’ (LKŽ XVIII 916), besonders persi-viršti (-ia,
-ė) ‘sich zur Oberfläche durchschlagen, umfassen’ (LKŽ XIX 617). In diesem
Fall wäre die Benennung der Hauptstadt Polens dem Gewässernamen oder eher
einem Oikonym entsprungen. Aber eine Ableitung vom Substantiv viršus ist
auch das Verb viršiuoti (-iuoja, -iavo) ‘an Höhe gewinnen, besiegen; z u s ä t z l i c h b e w i r t e n’ (LKŽ XIX 614). Der Infinitiv des lettischen Verbs
im Satz viņš virsās uz zirgu ‘er springt mit aller Kraft auf das Pferd’ kann auch
virsоties (nicht unbedingt virzоties) (ME IV 614) gewesen, also von derselben
Wurzel wie lett. virsus, lit. viršus gebildet worden sein. In diesem Kontext erscheint ein möglicher Zusammenhang von Warszawa, in historischen Dokumenten Warszewa (< nom. coll. *VrOševā) mit lit. viršus möglich. In der litauischen Sprache können die ursprünglichen Stammauslaute -u- und -ū- der Sub-
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stantive mit -eu- und -ou- in Wechselbeziehungen stehen, deshalb gab es früher
ohne Zweifel Suffixe *-eu-ā und *-ou-ā (Endzelynas 1957, 70-71; Skardžius
1943, 381 [= 1996]).
Aber das alles wäre nur die etymologische Bedeutung der Benennung der
Hauptstadt Polens. Die echte, s o z i a l e Bedeutung könnte daraus enstanden
sein, dass mit diesem Wort der Ort (ein Gut oder königliches Dorf) bezeichnet
wurde, wo der visitierende König (oder sein Beauftragter) sich aufhielt sowie aufgenommen und bewirtet wurde. Solche Orte sind in den folgenden Beispielen
ersichtlich: Opvoišovo 1) korolev. selo vъ Pojur. v., vozle im. Laukova, ležaščago vъ Mostaitjach; 2) oselychъ volokъ 7, a pustych 16 vъ Lovkov. voitovstve
[Опвойшово 1) королев. село въ Поюр. в., возле им. Лаукова, лежащаго въ
Мостайтях; 2) оселыхъ волокъ 7, а пустыхъ 16 въ Ловков. войтовстве]
(Sprogis 1888: 213) ‘Opvoišovo 1) königliches Dorf im Amtsbezirk Pajūris, neben dem Gut Laukuva, das in Mosteiten liegt; 2) bewohnte Walache 7, verlassen 16 im Amt Laukuva’.
Wie ersichtlich, gibt es in der Gegenwartssprache – anstatt des in historischen Quellen belegten Opvoišovo (Опвойшово) – die Benennung Apvaišava,
die die primäre Bedeutung ‘Ort (Gut), dessen Pflicht Annahme und Bewirtung
des visitierenden Königs (oder seines Statthalters) war’ hatte. Diese Benennung
ist mit dem Suffix -ava von *ap(i)vaišas oder *ap(i)vaišys ‘Bewirtung, Bewirten’ gebildet, und etymologisch gehört sie der Wurzel solcher Verben der litauischen Sprache wie apvaišinti (-ina, -ino) ‘alle bewirten’ (LKŽ XVII 957), gebraucht in den žemaitischen Mundarten, auch ap-viešėti (-vieši/-ia/-ėja, -ėjo)
‘zu Gast bleiben, besuchen; refl.: länger zu Gast bleiben’ (in Daukantas Schriften, im Wörterbuch von Juška und in Mundarten, z.B. Barstyčiai, Šatės [LKŽ
XIX 273]) und daraus gebildetem Substantiv vaišės ‘die Bewirtung, ihre Feierlichkeit, das Trinkgelage’, vgl. [Linarovio] pabaigtuvėms būdavo daromos vaišės
– patalkys su alumi ir šokiais (LKŽ XVII 954) ‘Zum Ende der Flachsernte
wurde Bewirtung – eine Geselligkeit mit Bier und Tanzen veranstaltet’.
Dass Warszawa, in historischen Quellen Warszewa (< nom. coll. *VrOševā),
die primäre Bedeutung ‘Ort, dessen Pflicht die Aufnahme und Bewirtung des visitierenden Königs war’ haben konnte, bestätigt das Verb viršiuoti (-iuoja, -iavo)
mit seiner Bedeutung ‘besiegen, überwinden; z u s ä t z l i c h b e w i r t e n’.
Simas Karaliūnas
Žadeikos 13-46
LT – 06324 Vilnius
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Literatur
LKŽ = Lietuvių kalbos žodynas, I1 (A – B). Redagavo J. Balčikonis, Vilnius,
1941; I2 (A – B), II2 (C – F). Antras leidimas. Atsak. redaktorius J. Kruopas,
Vilnius, 1968-1969; III (G – H) – V (K – Klausinys). Atsak. redaktorius K.
Ulvydas, Vilnius, 1956-1959; VI (Klausyti – Kvunkinti) – X (Pirm – Pūžuoti). Atsak. redaktorius J. Kruopas, Vilnius, 1962-1976; XI (R) – XVI (Tema
– Tulė). Vyr. redaktorius K. Ulvydas, Vilnius, 1978-1995; XVII (Tūlė – Valgus) – XIX (Veša – Zvumterėti). Vyr. redaktorius V. Vitkauskas, Vilnius,
1996-1999; XX (Ž). Vyr. redaktorius V. Vitkauskas, Vilnius, 2002.
Lietuviški tradiciniai vietovardžiai, Vilnius, 2002.
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Lietuvos TSR administracinio-teritorinio suskirstymo žinynas, II dalis, Vilnius,
1976.
Lietuvos TSR upių ir ežerų vardynas, Vilnius, 1963.
Vietovardžių žodynas, Vilnius, 2002.
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