Alltagstrott bei der Arbeit, viel Spannung im politischen
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Alltagstrott bei der Arbeit, viel Spannung im politischen
Alltagstrott bei der Arbeit, viel Spannung im politischen Leben Rundbrief Nr. 7 aus Bogotá von Marcela Hernández González und Jürg Schiess, Sept. 2008 In der ersten Juniwoche führte Interteam Kolumbien in Bogotá sein Jahrestreffen durch. Dies war nicht nur eine gute Gelegenheit, mit den im Land arbeitenden Kooperanten Erfahrungen auszutauschen und Freud und Leid eines Einsatzes in einem schwierigen Umfeld zu besprechen. Auf der Traktandenliste stand auch die Formulierung des Länder- Die Kooperanten von Interteam in Kolumbien. programms 2008 – Designer und Programmierer haben wir in 2012. Das Resultat der Diskussionen: die den vergangenen Wochen mit Hilfe von Schwerpunkte der Arbeit von Interteam Ralph Mrowietz, der von Beruf Webliegen in den kommenden Jahren auf der Publisher und ebenfalls InterteamStärkung der Zivilgesellschaft sowie auf Kooperant ist, riesige Fortschritte gemacht. der Ernährungssicherheit. Ohne diese Ein Blick auf die neue Homepage beiden Faktoren sind in Kolumbien mehr (www.ilsa.org.co) lohnt sich zweifellos. soziale Gerechtigkeit und Friede kaum Was das politische Geschehen in möglich. Was unsere Arbeit angeht, hat Kolumbien betrifft, war in den versich ansonsten nicht viel Erwähnenswertes gangenen Monaten einiges mehr los. Die ereignet. Marcelas Bemühungen, im Befreiung von Ingrid Betancourt aus den Armenvierte Cazucá eine Frauengruppe Händen der linksextremen Guerillaaufzubauen, kommen, wenn auch bewegung Fuerzas Armadas Revoluschleppend, voran; zudem steht die cionarias de Colombia (FARC) war nur Organisation eines Wettbewerbs vor der eines von vielen Ereignissen, das uns in Tür, in dem von Frauen geführte Atem hielt. Der Inhalt des vorliegenden Mikrounternehmen bewertet werden. Und Rundbriefes ist daher vor allem eine in meinem Fall gibt es lediglich zu Analyse der aktuellen politische Lage im berichten, dass das elektronische Bulletin Land. Im Weitern gibt es eine Fotogalerie von ILSA weiterhin remit Eindrücken vom gelmässig erscheint und Inhaltsverzeichnis Jahrestreffen, und am endlich Bewegung in die 1. Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es Schluss findet der Neukonzipierung der keinen nachhaltigen Frieden……….2 Leser wie immer ein Website des Instituts ge- 2. Eindrücke von dem Jahrestreffen Kurzporträt von Interkommen ist. Nach prak- von Interteam Kolumbien.................5 team. Wir wünschen tisch einem Jahr voll von 3. Interteam: Begegnung, Austausch, eine interessante und leeren Versprechungen Entwicklung......................................6 spannende Lektüre! von Seiten verschiedener 1 Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es keinen nachhaltigen Frieden In den vergangenen Monaten hat sich hier in Kolumbien einiges ereignet: die Befreiung von Ingrid Betancourt aus ihrer sechsjährigen FARCGeiselhaft im Dschungel, die Mobilisierung von Millionen von Kolumbianern, die auf der Strasse für Frieden und die Freilassung al“Als Politiker muss ich dir etwas gestehen.” „Hast du eine Geliebte?“ „Nein, einen ler Entführten und Haftbefehl.“ Quelle: El Espectador Gefangenen der dass der schon mehr als 40 Jahre dauernde Guerilla demonst-rierten, der (natürliche) Bürgerkrieg mit militärischen Mitteln Tod des FARC-Gründers Manuel allein nicht zu beenden ist. Ohne grössere Marulanda alias „Tiro fijo“, die soziale Gerechtigkeit ist Friede nicht Ermordung eines Mitglieds des FARCmöglich, so ihre Überzeugung. Oberkommandos durch die eigene Was dies betrifft, hat Kolumbien nach wie Leibwache, die Aufgabe der als „Rambo vor ein schlechtes Zeugnis vorzuweisen: der FARC“ bekannten Guerillaführerin Während sich die Regierung in ihren „Karin“, etc. Die Liste der an und für sich militärischen Erfolgen sonnt, leben rund positiven Meldungen liesse sich noch um 50% der Bevölkerung in Armut, und die einiges verlängern. Kein Wunder also, dass Zahl der ungefähr drei Millionen intern die Regierung bereits vom militärischen Vertriebenen nimmt täglich zu. Zudem Sieg über die FARC spricht und das Ende leiden 13% der Kinder an chronischer des bewaffneten Konflikts in greifbarer Mangelernährung, und die Verteilung des Nähe sieht. Reichtums ist skandalös: die 20% Ärmsten der Bevölkerung verfügen über 2,5%, die Schlechtes Zeugnis 20% Reichsten über 61% des Kritische Beobachter schätzen die Lage Volkseinkommens. jedoch weniger rosig ein. Zum einen ist die Guerilla-Bewegung nach wie vor in weiten Kurzfristiges Denken Teilen des Landes präsent und verfügt – Die Wirtschaftspolitik der Regierung obwohl angeschlagen– über eine nicht zu dürfte kaum dazu beitragen, diese unterschätzende militärische Schlagkraft. Probleme zu überwinden. Sie strebt eine Nachrichten über Anschläge, Scharmützel, radikale Liberalisierung der Märkte und Erpressungen und Entführungen sind eine Konzentration der Aktivitäten auf den beinahe an der Tagesordnung. Erst anfangs Export von natürlichen Ressourcen und September riss eine Bombe vor dem Agro-Produkten an. Die Erfahrungen, die Justizpalast in Cali vier Personen in den Lateinamerika in den 90 Jahren mit diesem Tod und verletzte Dutzende. Und zum Wirtschaftsmodell gemacht hat, haben anderen sind viele Analysten überzeugt, 2 “Von wem ist wohl das Kind?” „Wer weiss. Sie wird hier ja von jederman vergewaltigt.“ Quelle: Semanario Voz gezeigt, dass auf diese Weise zwar das Wirtschaftswachstum –wenigstens kurzfristig- angekurbelt wird, Armut und Ungleichheit jedoch nicht vermindert werden. Es herrscht inzwischen unter vielen Ökonomen der Konsens, dass eine liberale Wirtschaftspolitik nur dann nachhaltiges Wachstum garantiert und soziale Missstände erfolgreich beseitigt, wenn sie durch massive Investitionen in neue Technologien, Humankapital, Produktionskapazitäten und Infrastruktur begleitet wird und der Staat den Aufbau von international wettbewerbsfähigen Wirtschaftszweigen gezielt fördert. Eine solch langfristig ausgerichtete Wirtschaftspolitik ist in Kolumbien jedoch nicht auszumachen. Diese scheint vielmehr von kurzfristigen Eigeninteressen der herrschenden Elite bestimmt. „Mafiöser“ Friede Die Aussichten sind aber nicht nur in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht düster. Auch was die Politik betrifft, ist die Situation der -wie Politiker bei jeder Gelegenheit betonen- „ältesten Demokratie Lateinamerikas“ prekär. Zwar hat die Regierung zwischen 2003 und 2005 mit den Paramilitärs einen Frieden ausgehandelt. Analysten sprechen jedoch von einem „mafiösen“ Frieden, in dem die Machtstrukturen der Paramilitärs nicht zerschlagen, sondern vielmehr konsolidiert und legalisiert wurden. Für diese These spricht unter anderem, dass der Kongress, der das entsprechende Friedensgesetz ausgerabeitet hat, von Paramilitärs unterwandert ist (gegen rund ein Drittel der Abgeordneten, die meisten von ihnen Anhänger des Präsidenten, laufen Untersuchungen wegen Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen). Hinzu kommt, dass kürzlich 14 ranghohe Paramilitärs an die USA ausgeliefert wurden, was die Hoffnungen der Opfer paramilitärischer Gewalt, die ganze Wahrheit über das ihnen zugefügte Unrecht zu erfahren, drastisch reduziert hat. Und ohne Wahrheit ist auch eine gerechte Reparation der verlorenen materiellen Güter mehr als unwahrscheinlich. Weitere Probleme, welche die kolumbianische Demokratie in ein schlechtes Licht stellen, sind der zermürbende und mit Kriegsrhetorik geführte Machtkampf zwischen der Regierung und dem Obersten Gerichtshof, der die Untersuchung in Sachen „Parapolitik“ leitet, sowie regelmässige Enthüllungen über enge Kontakte von Politikern, hohen Beamten und Militärs zu Drogenbossen. Ausserdem treibt die Regierung eine Justizreform voran, welche ihre Macht zulasten jener der Judikative erweitern würde, und die Verfassung scheint je nach aktueller Interessenlage der Elite geändert zu werden. Im Moment wird von Anhängern des Präsidenten, dessen Popularität nach der Befreiung Betancourts in bisher unerreichte Höhen schoss, darauf hingearbeitet, die Verfassung so zu modifizieren, dass eine zweite Wiederwahl des obersten Mandaten im 2010 möglich wird. Vergifetes Klima Zusätzlich zur Schwächung der demokratischen Institutionen leidet die 3 kolumbianische Politik unter einem vergifteten Klima und einer Polarisierung der Positionen, was eine objektive und demokratische Diskussion der gewaltigen Probleme, die das Land zu bewältigen hat, kaum zulässt. Dieser lähmende Zustand wird noch dadurch verschlimmert, dass sich Politiker jeglicher Couleur im Alltagsgeschäft in Machtspielen und – kämpfen aufreiben, und Sachthemen oftmals zweitrangig scheinen. All dies, gepaart mit einer Wirtschaftspolitik, welche die ökonomischen Ungleichheiten eher verschärft als beseitigt, ist ein denkbar schlechtes Fundament für sozialen Ausgleich und einen nachhaltigen Frieden. Billige Strategie Jenen Personen und Organisationen, welche an der langfristigen Wirksamkeit der vorwiegend militärischen Strategie im Kampf gegen die Guerilla zweifeln, wirft die Regierung Blauäugigkeit oder gar Sympathie für die FARC vor. Und nicht selten werden sie verächtlich als „nützliche Idioten“ der Guerilla abgestempelt. Diese Anschuldigungen sind jedoch nichts weiter als eine billige Strategie, regierungskritische Geister zu diskreditieren. Kaum ein vernünftiger Mensch glaubt daran, dass die FARC ein gangbares politisches und Wahrheit – Gerechtigkeit – Wiedergutmachung soziales Projekt verfolgen. Vielmehr ist klar, dass diese Guerilla-Bewegung, die in der Bevölkerung praktisch keinen Rückhalt mehr hat, immer mehr zur Verbrecherbande degeneriert, die sich über Drogen, Entführungen und Erpressungen finanziert und vom und für den Krieg lebt. Gleichzeitig liegt es aber auf der Hand, dass fehlende Bildung, Armut, wirtschaftliche Ausgrenzung und ein politisches System, das die Bedürfnisse grosser Teile der Bevölkerung nicht berücksichtigt, der beste Nährboden für illegal bewaffnete Gruppierungen jeglicher Gesinnung sind – unabhängig davon, ob diese nun hehre Ziele verfolgen oder, wie im Fall Kolumbiens, jegliche moralische Legitimität verloren haben. Wer in einer Gesellschaft keine Aussichten auf ein würdiges Leben hat, wird nur allzuleicht durch die materiellen Versprechen und den ideologischen Diskurs solcher Gruppen verführt. Das wirksamste Mittel, die Guerilla zu bekämpfen, sind langfristig also nicht Waffen, sondern die Stärkung der Demokratie und eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche zu einer gerechteren Einkommensverteilung führt und die Chancen für eine lebenswerte Existenz für alle verbessert. Ein solches Szenario fürchtet die traditionelle Elite aber mehr als die paar tausend Guerilleros, die meist fern von den Metropolen ihr Unwesen treiben. Der Grund: Es würde bedeuten, dass sie ihre eigenen Interessen hinter jene der Nation stellen, ihren Gürtel ein wenig enger schnallen und einen Teil ihrer Macht abtreten müsste. Eine Vorstellung, die in den Köpfen jener, die das Sagen haben, keinen Platz hat. Quelle: El Tiempo 4 Eindrücke von dem Jahrestreffen von Interteam Kolumbien Gemütliches Beisammensein bei Fondue und Wein. Während eines Vortrages über die soziale Realität Kolumbiens. Ana María Fankhauser (Kooperantin in Popayán), Ralph Mrowietz (Bogotá), Coni Gerhardt (Cali). Marcela zusammen mit Harry Allmendinger, Kooperant in Cali, und Interteam-Assistentin Esperanza Torres sowie deren Tochter. Esperanza Torres, Rafael Bäni, Barbara Koller (Kooperanten in Sincelejo), Karin Etter (Cauca), Marcela. 5 Interteam: Begegnung, Austausch, Entwicklung Interteam ist eine Organisation der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit. Sie vermittelt und begleitet Fachleute in dreijährige Einsätze nach Afrika und Lateinamerika. Die rund 70 Interteam-Fachleute stellen ihre Erfahrungen und ihr Engagement in den Dienst der Menschen im Süden. Sie setzen sich für menschenwürdige Lebensbedingungen und für eine Verminderung der Armut ein. Dies tun sie in den Bereichen Ernährung, Gesundheit und Bildung. Spenden für die InterteamSpendenaufruf Wer Interteam finanziell unterstützen möchte, wird gebeten, seine Spende mit dem Vermerk “Marcela Hernández González / Jürg Schiess” auf das Postkonto der Organisation einzuzahlen. Die Konto-Nummer lautet wie folgt: 60-22054-2. All jenen, die einen Beitrag leisten, danken wir schon jetzt recht herzlich! Fachleute kommen vollumfänglich deren Engagement im Süden zugute. Interteam-Einsätze sind immer gegenseitiges Lernen. Interteam-Fachleute sensibilisieren aufgrund ihrer Erfahrungen auch uns in der Schweiz für die Anliegen der Menschen im Süden. Interteam engagiert sich seit 1964 für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung und garantiert einen verantwortungsvollen Umgang mit Spenden und Mitgliederbeiträgen sowie öffentlichen, privaten und kirchlichen Geldern. Interteam ist ZEWO-zertifiziert. Weitere Informationen zu Interteam sind erhältlich unter www.interteam.ch. Die Adresse der Organisation lautet: Interteam Untergeissenstein 10/12 6005 Luzern Tel.: 041 360 67 22 Fax: 041 361 05 80 E-Mail: [email protected] Wer mehr über unseren Einsatz in Kolumbien erfahren will, schreibe bitte an [email protected] 6