Vollständige Studie

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Vollständige Studie
Jan Böcken, Bernard Braun, Juliane Landmann (Hrsg.)
Gesundheitsmonitor 2009
Gesundheitsversorgung und Gestaltungsoptionen
aus der Perspektive der Bevölkerung
Das Einhalten von Leitlinien und
die Qualität der ambulanten Versorgung
von Rückenschmerzpatienten
Jean-François Chenot, Michael M. Kochen,
Carsten Oliver Schmidt
Einführung
Rückenschmerzen sind eine universelle Erfahrung. Fast jeder und
jede erfährt dieses Symptom mindestens einmal im Leben. Zu jedem
Zeitpunkt (der sogenannten »Punktprävalenz«) geben etwa 30 bis
40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung an, Rückenschmerzen zu
haben, innerhalb eines Jahres (Einjahresprävalenz) bis über 70 Prozent (Schmidt et al. 2007). Während sich die Krankheitshäufigkeit
(Prävalenz) von Rückenschmerzen in den alten Bundesländern seit
den frühen 90er Jahren auf einem etwa konstant hohen Niveau befindet (Hüppe, Müller und Raspe 2007), konnte in den Jahren nach der
Wende in den neuen Bundesländern eine Zunahme dieses Gesundheitsproblems beobachtet werden (Raspe, Hüppe und Neuhauser
2008).
In diesem Beitrag wird die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen bei Rückenschmerzen mithilfe der Daten des Gesundheitsmonitors näher analysiert. Im Fokus stehen zunächst die
Befragten, die angaben, keine ärztliche Hilfe zu beanspruchen. Weiterhin werden bei Befragungsteilnehmern, die ärztliche Hilfe in Anspruch nahmen, Faktoren der Arztwahl untersucht. Im Detail wird
die Inanspruchnahme von Selbstzahlerleistungen parallel zu oder anstatt ärztlicher Leistungen analysiert. Abschlieûend soll die Qualität
der ambulanten Versorgung anhand der Angaben der Befragten bewertet werden.
135
Zwischen Befindlichkeitsstörung und chronischer Krankheit:
Rückenschmerzen
Dass der Anteil der Menschen mit Rückenschmerzen in der Frühjahrsbefragung 2009 (16. Welle des Gesundheitsmonitors) im Vergleich zu anderen Surveys aus Deutschland nur bei 53 Prozent liegt
(Schmidt et al. 2007; Raspe, Hüppe und Neuhauser 2008), kann darin
begründet sein, dass nur nach Schmerzen in der Gegend der Lende
und des Gesäûes gefragt wurde, während sonst auch die Hals- und
Brustwirbelsäule eingeschlossen werden (siehe Tabelle 1). Allerdings
treten Schmerzen allein in den beiden letztgenannten Regionen vergleichsweise selten auf (Breivik et al. 2006; Deyo und Tsui-Wu 1987).
Beim hier gewählten statistischen Analyseansatz ± Vergleich der
Befragten mit Rückenschmerzen mit denen ohne Rückenschmerzen ±
zeigte sich, dass Frauen etwas häufiger als Männer betroffen waren
(odds ratio 1,4; Konfidenzintervall 1,2 bis 1,8). Dieser eher schwache
Geschlechtereffekt stimmt mit internationalen und anderen nationalen Daten überein (Schmidt und Kohlmann 2005; Schneider, Randoll
und Buchner 2006; Chenot et al. 2008a). Soziodemographische Daten
wie etwa Bildung und Schichtzugehörigkeit sind nicht von Bedeutung hinsichtlich der Häufigkeit von Rückenschmerzen innerhalb eines Jahres. Allerdings kommen starke Rückenschmerzen in unteren
Bildungsschichten öfter vor. Ein ähnliches Resultat ergab sich auch
in einer deutschen Studie (Schmidt et al. 2007). Im hohen Alter
nimmt die Häufigkeit ab. Während noch gut 51 Prozent der Siebzigjährigen Rückenschmerzen haben, sind es bei den Achtzigjährigen
nur noch etwa 38 Prozent. Auch dies fügt sich gut in die bestehende
epidemiologische Befundlage ein (Raspe 2001).
Befragte mit Rückenschmerzen in den letzten zwölf Monaten beurteilen ihren Gesundheitszustand öfter als weniger gut oder als
schlecht (28 gegenüber 12 %). Sie geben häufiger an, bei Alltagsaktivitäten eingeschränkt zu sein und selten oder nie ausreichend Schlaf
zu bekommen. Der Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Krebserkrankungen ist statistisch nicht signifikant. Lediglich Arthrosen und entzündliche Erkrankungen der Gelenke werden häufiger angegeben. Körperliche Aktivität erweist sich
als kein schützender Faktor. Am häufigsten (62 %) geben Befragte
mit täglicher körperlicher Belastung (definiert als Tätigkeit, die zu
Schwitzen oder leichter Luftnot führt) Rückenschmerzen an. Beson136
ders der letzte Befund sollte auf Basis der vorliegenden Daten nicht
so gewertet werden, dass sich körperliche Aktivität nachteilig auswirkt. Eine tägliche Belastung (im Sinne von Schwitzen) tritt sowohl
bei sportlich Aktiven auf als auch bei Menschen, die wegen einer
schwachen körperlichen Belastbarkeit in ihren Alltagsaktivitäten eingeschränkt sind.
Tabelle 1: Rückenschmerzsymptomatik und Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe
und Selbstzahlerdienstleistungen
Anzahl Befragte mit
gültigen Angaben
Hatten Sie in den letzten zwölf
Monaten Rückenschmerzen?
absolut
1.438
ja: 682
nein: 756
Sind Sie wegen Rückenschmerzen
in den letzten drei Monaten beim
Arzt gewesen?
741
ja: 199
nein: 542
Haben Sie in den letzten drei
Monaten wegen Rückenschmerzen
einen Arzt oder die Ambulanz im
Krankenhaus aufgesucht?
(Mehrfachnennungen möglich)
181
davon:
Hausarzt: 107
(davon nur Hausarzt: 65)
Orthopäde: 107
(davon nur Orthopäde: 69)
Neurologe: 16
andere ¾rzte: 16
Krankenhaus: 15
(davon Notdienst: 6)
Haben Sie in den letzten drei
Monaten wegen Rückenschmerzen
eine Selbstzahler-Behandlung in
Anspruch genommen?
129
ja, mit Arztbesuch: 53
ja, ohne Arztbesuch: 76
Viele Menschen mit Rückenschmerzen geben an, keine ärztliche
Hilfe in Anspruch zu nehmen. 17 Prozent der Befragten äuûern,
noch nie wegen Rückenschmerzen beim Arzt gewesen zu sein. Diese
Gruppe ist im Durchschnitt jünger (unter 40 Jahre alt) und seltener
chronisch krank. Diese Befragten geben auch seltener an, sich aktiv
um Informationen zu eigenen Gesundheitsproblemen zu bemühen.
Knapp ein Drittel (27 %) der Personen mit Rückenschmerzen im
letzten Jahr nahm in den drei Monaten vor der Befragung eine Behandlung in Anspruch. Dabei ist die Intensität ein wichtiger Vorher137
sageparameter für die beobachtete Wahrscheinlichkeit: Während nur
etwa acht Prozent derjenigen mit leichten Rückenschmerzen (1 bis 3
auf der zehnstufigen numerischen Ratingskala) zum Arzt gehen,
sind es 40 Prozent der Personen mit starken Rückenschmerzen (Skalenwerte von 7 bis 10). Eine mögliche Erklärung für diese Verteilung
ist, dass Betroffene mit leichteren Beschwerden sich selbst besser helfen können (Selbstwirksamkeit).
Dass selbst Menschen mit starken Beschwerden nur zum Teil Hilfe
in Anspruch nehmen, könnte auch damit zusammenhängen, dass
sie hinsichtlich der Therapeuten und/oder der Wirkungslosigkeit von
Therapien bei chronischen Beschwerden frustriert sind. Dies wird
auch durch die Verteilung der Dauer von Beeinträchtigungen nahegelegt (Abbildung 1). Die Daten zeigen im Übrigen, dass 53 Prozent
der betroffenen Befragten unter täglichen Rückenschmerzen leiden,
43 Prozent äuûerten, dass es sich um mehrere Episoden von Rückenschmerz handelt, und lediglich vier Prozent gaben an, der Rückenschmerz sei nur eine einzige Episode.
Etwa die Hälfte der Personen mit Rückenschmerzen im Beobachtungszeitraum berichtete, dass sie vor mehr als fünf Jahren zum ersten
Mal durch dieses Gesundheitsproblem beeinträchtigt waren. Dieser
Befund steht in Einklang mit einem Review von Hestbaek, LeboeufYde und Manniche (2003), wonach die Beschwerden bei den meisten
Abbildung 1: »Wann haben Rückenschmerzen Sie das erste Mal beeinträchtigt?«
noch nie
vor bis zu drei Monaten
vor drei bis zu fünf Monaten
vor sechs bis zu zwölf Monaten
vor mehr als einem Jahr
vor mehr als fünf Jahren
0
n = 1.438
Alle Angaben in Prozent der Befragten
138
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
Patientinnen und Patienten innerhalb eines Jahres erneut auftreten.
Obwohl die Prognose für die Mehrheit der Betroffenen im kurzfristigen Verlauf durchaus positiv sein kann ± innerhalb von vier Wochen
sind über 80 Prozent wieder arbeitsfähig (Pengel et al. 2003) ±, gilt
die Annahme eines gutartigen Verlaufs über einen längeren Zeitverlauf nicht uneingeschränkt. Im ambulanten Bereich liegen Rückenschmerzen nur selten pathologisch bedeutsame schwere Erkrankungen zugrunde. Amerikanische Schätzungen gehen von weniger als
einem Prozent aus (Deyo und Weinstein 2001). Eine deutsche Untersuchung kam 2006 zu ähnlichen Ergebnissen (Donner-Banzhoff et al.
2006).
Wer geht mit Rückenschmerzen zu welchem Arzt?
Die Hauptansprechpartner bei Rückenschmerzen sind Hausärzte und
Orthopäden. Von den 199 Befragten, die wegen Rückenschmerzen
ärztliche Hilfe suchen, werden 65 (33 %) nur von Hausärzten, 69
(35 %) nur von Orthopäden und 38 (19 %) von ¾rztinnen und ¾rzten
beider Richtungen behandelt. Andere ¾rzte oder Notdienste spielen
eine untergeordnete Rolle (Abbildung 2). Diese Befunde sind vor
dem Hintergrund zu bewerten, dass Deutschland, abweichend von
vielen westeuropäischen Ländern, ein unstrukturiertes Gesundheitssystem ohne verbindliche primärärztliche Steuerung hat.
Patientinnen und Patienten können unabhängig von der Schwere
der Erkrankung zwischen hausärztlicher Primärversorgung und der
Abbildung 2: Mit wie starken Schmerzen wird welcher Arzt aufgesucht?
stark
mittel
leicht
0
10
Hausarzt1
1
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Orthopäde2
n = 65; 2 n = 69
Alle Angaben in Prozent der Befragten
139
Tabelle 2: Vergleich der Befragten nach in Anspruch genommener Facharztgruppe
Merkmal/Item
nur
Hausarzt
(n = 65)
absolut
(in Prozent)
nur
Orthopäde
(n = 69)
absolut
(in Prozent)
Orthopäde
und Hausarzt
(n = 38)
absolut
(in Prozent)
p
Alter (in Jahren)
53  13,9
[20±78]c
51,8  14,8
[18±79]c
56,7  13,6
[23±75]c
n. s.
Geschlecht (weiblich)
34 (52)
45 (65)
18 (47)
n. s.
allgemeiner Gesundheitszustand (weniger gut/schlecht)
25 (38)
29 (42)
16 (42)
n. s.
andauernde Krankheit,
Behinderung oder
Gebrechlichkeit
22 (34)
23 (33)
12 (32)
n. s.
Beeinträchtigung
(Skala 1±10)a
5  2,5
[0±10]c
4,6  2
[0±8]c
5,2  2,1
[1±9]c
n. s.
6,7  2,0
[2±10]c
6,9  1,7
[3±10]c
6,9  1,8
[2±10]c
n. s.
länger als drei Monate
Schmerzen
41 (65)
31 (50)
23 (62)
n. s.
Schmerzausstrahlung ins Bein
14 (22)
14 (20)
7 (18)
n. s
wenig zufrieden oder unzufrieden mit der hausärztlichen
Versorgung
2 (3)
5 (7)
2 (5)
n. s.
Schmerzstärke
(Skala 1±10)b
a Die Skala der Beeinträchtigung verläuft von 1 (»keine Beeinträchtigung«) bis 10
(»keine Aktivität mehr möglich«).
b Die Skala der Schmerzstärke verläuft von 1 (»schwacher Schmerz«) bis 10
(»stärkster vorstellbarer Schmerz«).
c Angaben mit  beziehen sich auf die Standardabweichung,
in eckigen Klammern [. . .] wird Minimum und Maximum angegeben.
Sekundärversorgung durch Spezialisten wählen. Dies führt potenziell
zu Ineffizienzen im System aufgrund des mangelnden zeitlichen
und sachlichen Ineinandergreifens der Behandlungen bei verschiedenen ¾rzten, Krankenhäusern und anderen Akteuren. Die Annahme,
dass Orthopäden als Spezialisten für das muskuloskelettale System
bevorzugt oder von schwer beeinträchtigten Patienten besonders häufig aufgesucht würden und dadurch eine andere Patientenstruktur
versorgen, bestätigt sich nicht.
140
Auch bezüglich Einkommen, Versicherungsstatus, Bildung und
Interesse an Gesundheitsinformation zeigen sich keine statistisch bedeutsamen (signifikanten) Unterschiede von Patienten bei ¾rzten
verschiedener Fachrichtung. Denkbar wäre ebenfalls ein Stadt-LandGefälle bei der primären Inanspruchnahme von Spezialisten; dies
wird allerdings in den Daten und hier vorliegenden Analysen nicht
erfasst. Einschränkend muss auf die Stichprobengröûe hingewiesen
werden, die eventuell nicht ausreicht, um kleinere Unterschiede feststellen zu können.
Die Ergebnisse verweisen auf Probleme der Patientensteuerung
im Gesundheitssystem (Tabelle 2). Da gefährliche Verläufe selten
sind und von Leitlinien ein gestuftes diagnostisches und therapeutisches Vorgehen empfohlen wird, sollten Schnittstellen so definiert
werden, dass Spezialisten primär für Patienten mit hoher Beeinträchtigung oder hohem Versorgungsbedarf zuständig sind.
Inanspruchnahme von Selbstzahlerleistungen
Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) decken
im Sinne des Fünften Sozialgesetzbuchs (SGB V) im Prinzip alle essenziellen Gesundheitsbedürfnisse ab. Trotzdem nehmen 129 Befragte (17 %) mit Rückenschmerzen eine sogenannte Selbstzahlerleistung in Anspruch, darunter auch 53 Befragte (7 %) neben der
ärztlichen Behandlung. Bei den Selbstzahlerleistungen handelt es
sich um Gesundheitsdienstleistungen auûerhalb der Leistungspflicht
der GKV. Der Hauptgrund für die mangelnde Erstattungsfähigkeit
ist zumeist, dass die Wirkung nur unzureichend wissenschaftlich
nachgewiesen ist. Zunehmend werden Selbstzahlerleistungen als individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) von Kassenärzten angeboten. Selbstzahlerleistungen sind nicht unumstritten, weil sie einen
Interessenkonflikt für die ¾rzte bedeuten und den Eindruck erwecken, die kassenärztliche Versorgung sei nicht ausreichend (Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung 2009).
Die groûe Mehrheit der Befragten, die eine Selbstzahlerleistung in
Anspruch nahmen, ist gesetzlich versichert (88 %). Hinsichtlich der
Selbstzahlerleistungen ist die Schmerzintensität weniger wichtig als
bei den Arztbesuchen: Immerhin elf Prozent der Personen mit geringen Rückenschmerzen nahmen Selbstzahlerleistungen in Anspruch
141
und 24 Prozent derjenigen mit starken Rückenschmerzen. Die Selbstzahlerleistungen werden vor allem in Anspruch genommen von
Frauen (odds ratio 2,2; Konfidenzintervall 1,4 bis 3,4) sowie von Menschen mit schlechterem Gesundheitszustand. Diese beiden Gruppen
geben auch häufiger an, sich Informationen über Gesundheitsthemen zu suchen.
Tabelle 3: Welche Selbstzahlerdienstleistungen für Rückenschmerzen wurden in
den letzten drei Monaten in Anspruch genommen?1
Selbstzahlerdienstleistung
1
gesamt
(n = 129)
kein Arztkontakt
(n = 76)
Arztkontakt
(n = 53)
Massage
72
47
25
Heilpraktiker
24
13
11
Osteopathie
14
7
8
Akupunktur
14
4
10
Injektionen
15
5
10
andere
39
19
20
Mehrfachnennungen möglich
Die am häufigsten genutzte Selbstzahlerleistung ist die Massage (Tabelle 3). Dies ist aus mehreren Gründen interessant. Die Massage ist
eine traditionelle Behandlungsmethode bei Rückenschmerzen, die
prinzipiell zu den GKV-verordnungsfähigen Leistungen gehört. Aus
Sicht der evidenzbasierten Medizin fehlt allerdings ein Nutzennachweis bei akuten Rückenschmerzen, der Nutzen bei chronischen Rückenschmerzen ist umstritten, beziehungsweise wird nur in Kombination mit aktivierenden Maûnahmen gesehen (Furlan et al. 2008).
Die Verordnung von Massagen richtet sich bei gesetzlich Versicherten nach dem Heilmittelkatalog. Um die ständig steigenden Heilmittelausgaben der GKV zu kontrollieren, müssen ¾rzte ein sogenanntes Heilmittelbudget einhalten (Bode, Schröder und Waltersbacher
2008). Massagen gehören zum Teil sicher auch in den Wellness-Bereich und der Wunsch nach Massageverordnungen in den Praxen ist
hoch. Dass er wegen der Budgetierungen oft nicht gewährt werden
kann, erleben Patientinnen und Patienten eventuell als ungerecht.
Akupunktur gehört trotz umstrittener Wirksamkeit (Yuan et al.
2008) zum Leistungskatalog der GKV bei chronischen Rückenschmer142
zen. Vertragsärzte dürfen GKV-Versicherten diese Leistung nicht als
Selbstzahlerleistung anbieten. Es wäre möglich, dass Teilnehmer der
Befragung die Zuzahlung mit Selbstzahlerleistungen verwechselt haben. Selbstzahlerleistungen für GKV-Versicherte sind Konsultationen
von Osteopathen und Heilpraktikern, die eine gröûere Rolle bei der
Versorgung spielen als bisher angenommen. Wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit der heterogenen osteopathischen Therapien
fehlen bisher. Bei Heilpraktikern ist die sogenannte Dorn-Methode
verbreitet, eine Variante der Manualtherapie zur Behandlung von Rückenschmerzen, für die ebenfalls wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege fehlen.
Qualität der ambulanten Versorgung von Rückenschmerzpatienten
Rückenschmerzen sind vom Sachverständigenrat 2001 explizit als ein
Bereich benannt worden, in dem es ein Nebeneinander von Über-,
Unter- und Fehlversorgung gibt. Die fehlende Versorgung ist darüber
hinaus in mehreren internationalen und nationalen Studien dokumentiert (Chenot et al. 2008b). Die meisten Studien zur Qualität ambulanter Versorgung von Rückenschmerzen beobachteten, dass hier
nur selten Leitlinien eingehalten und befolgt werden (Adhärenz). Zudem fallen positive Effekte für die Patienten durch Leitlinienadhärenz eher gering aus: In einer australischen Studie konnte gezeigt
werden, dass eine leitliniengerechte Versorgung von Rückenschmerzpatienten zu geringfügig besseren klinischen Ergebnissen führt und
etwas kostengünstiger ist (McGuirk et al. 2001). Eine Studie zur Implementierung der Leitlinie Kreuzschmerzen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin in Hausarztpraxen zeigte ebenfalls nur geringe klinische Effekte (Becker et al. 2008).
Allerdings können auch kleine Verbesserungen bei einer hochprävalenten Beschwerde wie Rückenschmerzen volkswirtschaftlich relevant sein.
Bisher gibt es in Deutschland keine etablierten und evaluierten Indikatoren zur Beurteilung der Versorgungsqualität bei Rückenschmerzen. Im Folgenden wird unter Qualität der Versorgung Leitlinienadhärenz verstanden. Zwar lassen sich aus den Leitlinien Anhaltspunkte
für ein optimales Management ableiten, doch in der Praxis ist die Bewertung sehr komplex. Viele Empfehlungen sind negativ (z. B. keine
143
Bildgebung in den ersten sechs Wochen ohne Warnhinweise, keine
Physiotherapie in den ersten vier Wochen, keine Injektionstherapie,
Massage wird als unwirksam bewertet) oder die Evidenz ist unklar.
Dem stehen nur wenige positive Handlungsanleitungen (Beratung,
Schmerzmittel, Motivation zur körperlichen Aktivität, multimodale
Rehabilitation mit Berücksichtigung psychosozialer Faktoren) gegenüber. Zudem entsprechen die Empfehlungen zum Teil nicht den Patientenwünschen. ¾rzte nehmen an, dass Patientinnen und Patienten bestimmte diagnostische und therapeutische Maûnahmen erwarten, und stehen unter Handlungsdruck (Chenot et al. 2008c).
Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass Leitlinien keine
Richtlinien sind. ¾rzte müssen, wenn dies sinnvoll ist, von den Vorgaben abweichen können. Studien, die umfangreiche klinische Daten
sammelten, stellten den ¾rzten ein gutes Zeugnis aus, da sie Abweichungen von den Leitlinienempfehlungen in den meisten Fällen als
begründet nachvollziehen konnten (Chenot und Schmidt 2009; Schers
et al. 2000). Leider stehen die notwendigen klinischen Daten zur Beurteilung der Versorgungsqualität routinemäûig nicht zur Verfügung
und können zum Teil ± dies betrifft z. B. Untersuchungsbefunde ±
nicht zuverlässig vom Patienten erhoben werden. Deshalb ist es sinnvoll und pragmatisch, einen definierten Anteil der Patienten festzulegen, bei denen eine bestimmte Maûnahme durchgeführt oder unterlassen werden sollte (Zielerreichungsgrad). Einen Konsens darüber,
welcher Anteil an Patienten eine bestimmte Maûnahme erhalten beziehungsweise nicht erhalten sollte, gibt es bisher nicht. Es stehen
nur wenige Vergleichsdaten zur Verfügung, die meist aus anderen
Gesundheitssystemen stammen und sich nur eingeschränkt zum
Vergleich eignen. Die Bewertung basiert daher im Folgenden auf der
klinischen und epidemiologischen Erfahrung der Autoren.
In Tabelle 4 sind die Angaben zur Behandlung der 199 Befragten,
die wegen Rückenschmerzen in Behandlung waren, zusammengefasst. Um Verzerrungen zu reduzieren, werden nur die Antworten
berücksichtigt, die sich auf Arztbesuche in den letzten drei Monaten
beziehen.
144
145
112 (56)
86 (78)
63 (56)
12 (11)
Bildgebung
a
CT/MRTa
anderesa
147 (74)
93 (47)
körperliche Aktivität
empfohlen
schriftliche
Information
73 (37)
130 (65)
Vorgehen bei
anhaltenden Schmerzen
erläutert
»Rücken ist kaputt«
106 (63)
Prognose erläutert
Information
Röntgen
167 (84)
gesamt (n = 199)
absolut (in Prozent)
körperliche
Untersuchung
Merkmal
23 (35)
30 (46)
49 (75)
42 (64)
31 (48)
0
12 (18)C
22 (34)
28 (40)
34 (49)
54 (78)
52 (75)
42 (61)
6 (12)
31 (63)C
37 (75)
C
49 (71)C
27 (42)C
C
65 (94)
nur Orthopäde (n = 69)
absolut (in Prozent)
56 (86)
nur Hausarzt (n = 65)
absolut (in Prozent)
17 (45)
22 (58)
34 (89)
26 (68)
25 (66)
4 (14)
15 (52)
24 (82)
29 (76)
38 (100)
Orthopäde und
Hausarzt (n = 38)
absolut (in Prozent)
Tabelle 4: Behandlung von Befragten, die in den letzten drei Monaten wegen Rückenschmerzen beim Arzt waren
5 (19)
7 (26)
10 (37)
10 (37)
8 (30)
0
0
0
7 (26)
8 (30)
andereb (n = 27)
absolut (in Prozent)
146
69 (35)
27 (14)
88 (44)
58 (29)
14 (7)
22 (11)
Massage
Akupunktur
Spritzen (Injektionen)
manuelle Therapie
Überweisung zu spezieller Schmerztherapie
Rehabilitation beantragt
5 (8)
3 (5)
21 (32)
29 (45)
7 (11)
26 (40)
32 (49)
36 (80)
44 (92)
48 (74)
nur Hausarzt (n = 65)
absolut (in Prozent)
9 (13)
6 (9)
24 (35)
32 (46)
10 (14)
22 (31)
42 (61)
31 (70)
38 (84)
47 (68)
nur Orthopäde (n = 69)
absolut (in Prozent)
c signifikante Unterschiede zwischen Orthopäden und Hausärzten
b Neurologie, Neurochirurgie, Notdienst, Krankenhausambulanzen
a Die Prozentangabe bezieht sich auf den Anteil der Patienten, die diese medizinische Leistung erhalten haben.
103 (52)
95 (82)
115 (91)
130 (65)
gesamt (n = 199)
absolut (in Prozent)
Physiotherapie
Einnahmedauer
erläuterta
Dosierung erläutert
a
Schmerzmittel verordnet
Therapie
Merkmal
(8)
6 (16)
3
8 (21)
23 (61)
7 (18)
17 (45)
21 (55)
22 (96)
25 (100)
35 (91)
Orthopäde und
Hausarzt (n = 38)
absolut (in Prozent)
2 (7)
2 (7)
5 (19)
4 (15)
3 (11)
4 (15)
8 (30)
0
0
9 (33)
andereb (n = 27)
absolut (in Prozent)
Körperliche Untersuchung und Bildgebung
Einigkeit besteht darüber, dass Patienten, die wegen Rückenschmerzen eine ärztliche Praxis aufsuchen, körperlich untersucht werden
müssen, um abwendbare gefährliche Verläufe zu erkennen. Bei unveränderten chronischen Beschwerden, die bereits ausreichend untersucht worden sind, kann eventuell von einer erneuten klinischen
Untersuchung abgesehen werden. Vor diesem Hintergrund ist der
Anteil von über 80 Prozent der Befragten, die angaben, körperlich
untersucht worden zu sein, als gut zu bewerten. Die Qualität der Untersuchung lieûe sich letztlich aber nur durch direkte Beobachtung
von Fachleuten beurteilen und kann aus den hier vorliegenden Daten
nicht erschlossen werden.
Eine über Anamnese und körperliche Untersuchung hinausgehende
Diagnostik, beispielsweise Bildgebung, ist ohne Warnhinweise nach
Leitlinie nicht notwendig (Arzneimittelkommission 2007; Becker et
al. 2003; Airaksinen et al. 2006). Der Nutzen der Bildgebung zur Therapiesteuerung ist bei akuten wie auch bei chronischen Rückenschmerzen gering (Chou, Carrino und Deyo 2009; Kendrick et al. 2001). Der
Anteil der Befragten, die eine Bildgebung erhalten haben, ist mit
56 Prozent daher extrem hoch. In einer spanischen Beobachtungsstudie erhielten zum Beispiel nur 15 Prozent ein Röntgenbild und zwei
Prozent eine Computertomografie beziehungsweise Magnetresonanztomografie (Kovacs et al. 2006).
Die primäre Inanspruchnahme eines Orthopäden war als einziger
Vorhersageparameter mit einem odds ratio von 5,7 (Konfidenzintervall 2 bis 16) mit einer Bildgebung assoziiert. Klinisch relevante Parameter wie Schmerzstärke, Beeinträchtigung, Schmerzausstrahlung
in die Beine und chronische Krankheiten waren nach Kontrolle der
ärztlichen Fachrichtung nicht mit der Bildgebung assoziiert. Dies
stimmt mit einer anderen deutschen Untersuchung überein (Chenot
et al. 2008b). Hier spielen sicherlich Erwartungen von Patienten und
berufsgruppenspezifische Einstellungen zur Bildgebung eine Rolle.
Bei den Befragten, die sowohl beim Hausarzt als auch beim Orthopäden waren, bekamen sogar zwei Drittel der Befragten eine Bildgebung, obwohl diese nicht kränker waren (Tabelle 4).
147
Beratung und Information
Der Anteil der Befragten, die zu der Prognose und dem Vorgehen bei
anhaltenden Schmerzen beraten wurden, ist mit 63 Prozent zufriedenstellend. In diesem Bereich könnten sich Orthopäden und besonders Hausärzte noch etwas verbessern. Der Anteil der Befragten, die
schriftliche Informationen erhielten, ist mit 47 Prozent gut. Die
Informationen bezogen sich auf Rückenschmerzen und auf lokale
Sport- und Bewegungsangebote. Zur weiteren Bewertung der vorliegenden Zahlen fehlen Vergleichsdaten aus anderen Studien.
Motivation und Beratung zur körperlichen Aktivität werden von allen Leitlinien als wichtige Beratungselemente bei akuten und chronischen Rückenschmerzen empfohlen. Sehr hoch ist der Anteil der
Befragten mit 74 Prozent, denen körperliche Aktivität empfohlen
wurde. Bei der Bewertung dieses Anteils muss berücksichtigt werden, dass die Empfehlung zu körperlicher Aktivität bei schwerkranken oder stark behinderten Patienten nur eingeschränkt Sinn ergibt.
Die Mitteilung an 37 Prozent der Befragten, dass »der Rücken kaputt« sei, ist unqualifiziert und prinzipiell abzulehnen: Zum einen
besteht kein regelhafter Zusammenhang zwischen dem Alter und degenerativen Wirbel- und Bandscheibenveränderungen; zum anderen
können solche ¾uûerungen Patienten demotivieren sowie »AngstVermeidungsüberzeugungen« und »Katastrophisierung« fördern,
die die Behandlung behindern. Hier besteht weiterer Aufklärungsund Schulungsbedarf bei den ¾rzten (Tabelle 4).
Therapeutische Maûnahmen
Der Anteil der Befragten, die ein Schmerzmittel verordnet bekommen haben, entspricht den Beobachtungen anderer Studien (65 %).
Manche Befragte möchten keine Schmerzmittel einnehmen oder
profitieren nicht ausreichend davon. Die Beratung zu den Schmerzmitteln ist als sehr gut einzustufen.
Der Anteil derjenigen unter den Befragten, die eine Physiotherapie oder eine Massage bekommen haben, erscheint zunächst eher
hoch (Tabelle 4), entspricht aber den Ergebnissen anderer deutscher
Studien, wie bereits weiter oben besprochen wurde. In einer vergleichenden europäischen Studie wurde in Deutschland die höchste Ver148
ordnungsrate von Massage beobachtet, was auf eine nationale Gewohnheit hinweist (Breivik et al. 2006). Zu berücksichtigen ist auch,
dass in der Praxis Rezepte für Physiotherapie in Massage umgewidmet werden, sodass die Befragtenangaben nicht den tatsächlichen
Verordnungen entsprechen müssen.
Von den Personen mit Physiotherapie gaben 46 Prozent wiederholte und 51 Prozent chronische Rückenschmerzen an. Physiotherapie gilt bei Rückenschmerzen, die über vier Wochen andauern, als effektiv (Hayden et al. 2005). Eine ambulante Dauertherapie bei chronischen Rückenschmerzen ist aber nicht das Ziel und kann von der
Regelversorgung nicht geleistet werden. Physiotherapie soll zum Erlernen von Eigenübungen dienen und zu selbstständiger körperlicher
Aktivität motivieren (Bekkering et al. 2003). Berücksichtigt man dies
und vergleicht die Verordnungen mit internationalen Zahlen (z. B.
Kovacs et al. 2006), erscheint der Anteil der Befragten, die Physiotherapie bekommen haben, als hoch.
Für Rückenschmerzen gibt es eine Vielzahl von mehr oder weniger invasiven Injektionstherapien. Genauere Angaben zur Art der
verabreichten Spritzentherapien können in der Befragung auf Basis
von Selbstauskünften nicht zuverlässig erhoben werden. Der Anteil
von 44 Prozent der Befragten, die angeben, eine Injektion bekommen
zu haben, ist wahrscheinlich zu hoch. Vermutlich wurde den meisten
Befragten, die diese Frage mit »Ja« beantwortet haben, ein Schmerzmittel gespritzt oder sie wurden mit lokalen Betäubungsmitteln (Quaddelung) behandelt. Injektionstherapien sind bei akuten Rückenschmerzen wegen der inhärenten Risiken prinzipiell nicht angezeigt (Chenot
et al. 2007). Auch bei chronischen Rückenschmerzen sind Therapien
mit Spritzen wegen ihrer hohen Risiken und des geringen langfristigen Nutzens nur als letzte Option nach Ausschöpfen anderer Maûnahmen anzusehen (van Tulder et al. 2006).
Rehabilitation und spezielle Schmerztherapie
Von den 199 Befragten, die ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, geben wie oben beschrieben etwas mehr als die Hälfte (53 %) an, täglich Schmerzen zu haben. Davon haben weniger als ein Drittel (30 %)
eine spezielle Schmerztherapie oder Rehabilitation in Anspruch genommen, einige beides. Es liegen nicht genug Informationen über
149
diese Patientinnen und Patienten vor, um sie im Sinne einer Unteroder Überversorgung sicher einzuordnen. Dazu würden noch Informationen zur bisherigen Therapie und dem Therapiewunsch benötigt,
die im Rahmen dieser Befragung nicht erhoben werden konnten.
Hinsichtlich Schmerzstärke und Beeinträchtigung unterscheiden
sich diese Befragten nicht von denen, die derartige Leistungen nicht
in Anspruch genommen haben; sie geben aber signifikant häufiger
an, chronisch krank zu sein. Unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Informationen erscheint diese Inanspruchnahme
zumindest zufriedenstellend.
Ausblick
Trotz der hohen Bedeutung von Rückenschmerzen für das Gesundheitssystem gibt es bislang keine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen
hausärztlicher Primärversorgung und spezialisierter Sekundärversorgung durch Gebietsärzte in der regelärztlichen Versorgung. Dies ist
zumindest ein Faktor für die beobachtete Überversorgung bei einem
Teil der Patienten. Hier wird dringend eine Schnittstellendefinition
und bessere Strukturierung der Versorgung benötigt. Eine solche ist
bislang allenfalls im Rahmen von Modellprojekten und einigen Verträgen zur integrierten Versorgung erfolgt. Dabei zeigt sich auch in
dieser Analyse, dass akute Rückenschmerzen in der Praxis vergleichsweise selten sind. Häufiger treten wiederkehrende (rezidivierende) Schmerzen auf. Die damit zusammenhängenden klinischen
Probleme müssen von zukünftigen Leitlinien besser berücksichtigt
werden, da sie sich in die gängige Unterscheidung von akuten und
chronischen Beschwerden schlecht einfügen.
Zusammenfassend kann in den Teilbereichen körperliche Untersuchung, Information und Schmerzmittelverordnung die Qualität
der Versorgung als befriedigend bis gut bewertet werden. Dies geschieht mit der Einschränkung, dass unklar ist, wie diese therapeutischen Aktivitäten tatsächlich durchgeführt wurden. Der Anteil der
Befragten, die Bildgebung, Massage und Injektionen erhalten, ist im
Vergleich mit Versorgungsstudien aus anderen westlichen Ländern
zu hoch. Zwischen der Versorgung durch Orthopäden und Hausärzte besteht in vielen Bereichen kein Unterschied: Die Angaben der
Befragten unterscheiden sich nur geringfügig. Statistisch signifikante
150
Unterschiede bestehen bei der Veranlassung von bildgebenden Maûnahmen und in geringerem Maûe bei der Verordnung von Physiotherapie. Dies erklärt sich durch das höhere Heilmittelbudget der Orthopäden und die von ihnen oft selbst betriebenen Anlagen zur Bildgebung.
Eine Strategie zur Reduzierung des Anteils nichtevidenzbasierter
Maûnahmen neben strukturellen Reformen könnte die verstärkte
Aufklärung der Bevölkerung sein. Informationskampagnen können
erwiesenermaûen zumindest geringfügig das Inanspruchnahmeverhalten beeinflussen (Buchbinder, Jolley und Wyatt 2001). Angesichts
des hohen Anteils von Menschen mit chronischen und rezidivierenden Rückenschmerzen erscheint das Patientenmanagement vor allem bei denjenigen mit chronischen Rückenschmerzen insgesamt
verbesserungsbedürftig, und es läge auf der Hand, noch mehr Interventionen zu fordern. Jedoch ist der Nutzennachweis für viele Maûnahmen zur Prävention und Therapie bisher unzureichend.
Die Vielzahl der ärztlichen und nichtärztlichen Therapieangebote
für Rückenschmerzen, wie sie auch in dieser Analyse zu beobachten
ist, zeigt, dass eine optimale Behandlungsstrategie bisher fehlt. Chronische Schmerzen sind schwer zu behandeln, und der ungezielte
Einsatz vieler Maûnahmen führt nicht zum erhofften Ziel einer dauerhaften Schmerzfreiheit (Haldeman und Dagenais 2008). Hierin ist
sicherlich ein Grund zu sehen, weshalb so häufig Selbstzahlerleistungen in Anspruch genommen werden.
Der verstärkte Einsatz neuer diagnostischer und therapeutischer
Methoden (Zunahme der Bildgebung um 307 Prozent, Chirurgie 220
Prozent, Steroidinjektionen 423 Prozent in den letzten zehn Jahren
in den USA) führte bisher zu keiner nachweisbaren Verbesserung
der Versorgungssituation bei Patientinnen und Patienten mit Rückenschmerzen (Deyo et al. 2009). Deutsche Zahlen zur Zunahme
der Ausgaben für Rückenschmerzen liegen derzeit nicht vor, dürften
aber tendenziell ähnlich aussehen. Deshalb sollte eine weitere Medikalisierung von Rückenschmerzen vermieden werden und Ressourcen auf nachweislich nützliche Behandlungsmethoden unter Berücksichtigung biopsychosozialer Aspekte konzentriert werden. Es wird
mehr Forschung benötigt, besonders zur Evaluation niedrigschwelliger Therapieangebote für Personen mit chronischen und wiederkehrenden Rückenschmerzen, die nicht der Versorgung in Rehabilitationseinrichtungen oder Schmerzkliniken bedürfen.
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