Tarifgeltung bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel - Bund

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Tarifgeltung bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel - Bund
Tarifgeltung bei Verbandsaustritt, Verbandswechsel, Betriebsübergang,
Auflösung oder Insolvenz des Verbandes
• Der Arbeitgeber tritt aus dem Arbeitgeberverband aus, ohne einem anderen Verband beizutreten; oder:
Wechsel in eine Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) bzw. in einen Verband
ohne Tarifbindung (OT-Verband):
Tarifgebundenheit bleibt gemäß § 3 Abs. 3 TVG trotz Verbandsaustritts bestehen (vgl. BAG v. 13. 12. 1995, AiB
1997, 63). Daraus folgt, dass alle Verbandstarifregelungen, die sich zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des
Verbandsaustritts in ungekündigtem Zustand befinden, kraft Nachbindung auch für solche Arbeitnehmer gelten,
die erst nach dem Verbandsaustritt des Arbeitgebers Mitglied der für den Betrieb zuständigen Gewerkschaft
werden (BAG v. 4. 8. 1993 – 4 AZR 499/92, AiB 1994, 128). Sie erwerben durch den Gewerkschaftsbeitritt einen
tariflich abgesicherten Anspruch auf die Tarifleistungen. Dieser Anspruch kann auch durch einen neuen (ggf.
verschlechternden) Arbeitsvertrag nicht beseitigt oder auf eine »freiwillige Leistung« reduziert werden!
Entsprechendes gilt für Arbeitnehmer, die nach dem Verbandsaustritt eingestellt und Mitglied der
tarifvertragschließenden Gewerkschaft sind oder werden.
Die Nachbindung endet, wenn ein Verbandstarifvertrag oder einzelne Tarifbestimmungen z. B. auf Grund einer
Kündigung ablaufen oder durch einen neuen Tarifabschluss verändert werden (vgl. BAG v. 7. 11. 2001, NZA
2002, 748).
Nach dem Ende ihrer Nachbindung gelten die »alten« Verbandstarifbestimmungen kraft »Nachwirkung« gemäß
§ 4 Abs. 5 TVG weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.
Aus Vorstehendem folgt: Eine Verschlechterung des Verbandstarifvertrages zu Lasten der gewerkschaftlich
organisierten Arbeitnehmer durch arbeitsvertragliche Vereinbarungen ist frühestens ab Beginn der Nachwirkung
nach § 4 Abs. 5 TVG und auch nur dann möglich, wenn es dem Arbeitgeber gelingt, die Beschäftigten dazu zu
veranlassen, einer Verschlechterung der bisher geltenden Regelungen (z. B. Verlängerung der Arbeitszeit,
Absenkung des Arbeitsentgelts) zuzustimmen.
Tarifregelungen, die erst nach dem Wirksamwerden des Verbandsaustritts zwischen Gewerkschaft und dem
Verband vereinbart werden, gelten für die Arbeitsverhältnisse zwischen den tarifgebundenen Beschäftigten und
dem ausgetretenen Arbeitgeber nicht (z. B. Tariferhöhungen oder neue Tarifverträge zu bisher verbandstariflich
nicht geregelten Fragen; vgl. BAG v. 13. 12. 1995, NZA 1996, 769). Etwas anderes gilt, wenn einzelvertraglich
eine »dynamische« Bezugnahme auf einen bestimmten Tarifvertrag vereinbart ist. Nach zutreffender Ansicht des
BAG ist die Vereinbarung einer solchen Klausel jedenfalls dann, wenn eine Tarifgebundenheit des Arbeitgebers
an den im Arbeitsvertrag genannten Tarifvertrag nicht in einer für den Arbeitnehmer erkennbaren Weise zur
auflösenden Bedingung der Vereinbarung gemacht worden ist, eine konstitutive Verweisungsklausel, die durch
einen Verbandsaustritt des Arbeitgebers oder einen sonstigen Wegfall seiner Tarifgebundenheit nicht berührt wird
(»unbedingte zeitdynamische Verweisung«). Das bedeutet: tritt der Arbeitgeber aus dem tarifschließenden
Verband aus, ist er dennoch an danach vereinbarte Veränderungen im Tarifvertrag gebunden (vgl. BAG v.
18. 4. 2007 – 4 AZR 253/06). Ist die Bezugnahmeklausel jedoch vor dem 1. Januar 2002 vereinbart worden, ist sie
aus Gründen des Vertrauensschutzes wie eine sog. »Gleichstellungsabrede« (Gleichstellung von
nichtorganisierten Arbeitnehmern mit gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten) im Sinne der früheren BAGRechtsprechung auszulegen. Das heißt: eine Bindung des »verbandsflüchtigen« Arbeitgebers an zukünftige
Tarifverträge findet nicht statt (vgl. BAG v. 18. 4. 2007 – 4 AZR 652/05).
Die Friedenspflicht endet nach h. M. (vgl. LAG Hamm v. 31. 1. 1991, DB 1991, 1196; LAG Rheinland-Pfalz v.
20. 12. 1996, AuR 1998, 425; ArbG Berlin v. 22. 12. 2003, AuR 2004, 165) nicht erst mit Ablauf der
»Nachbindung« des Verbandstarifvertrages gemäß § 3 Abs. 3 TVG, sondern bereits vorher mit Wirksamwerden
des Austritts (oder des Wechsels in eine OT-Mitgliedschaft bzw. Übertritts in einen OT-Verband). Ab diesem
Zeitpunkt kann der Abschluss eines Haus- bzw. Anerkennungstarifvertrages (Firmentarifvertrag) gefordert und
ggf. erstreikt werden. Die Friedenspflicht aus dem Verbandstarifvertrag steht einem Arbeitskampf (nicht mehr)
entgegen. Ein Streik, der darauf gerichtet ist, den Arbeitgeber zum (Wieder-)Eintritt in den Arbeitgeberverband zu
verpflichten, ist unzulässig (vgl. BAG v. 10. 12. 2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734).
• Der Arbeitgeber tritt aus dem bisherigen Verband aus und in einen anderen Verband ein, für den die
gleiche Gewerkschaft zuständig ist (z. B. Übergang von Metall-Industrietarif zu Metall-Handwerkstarif):
Tarifgebundenheit an die bisherigen Verbandstarifverträge bleibt bis zum Ablauf der jeweiligen Tarifverträge
bestehen (§ 3 Abs. 3 TVG). Zu beachten sind die unterschiedlichen Laufzeiten der Tarifverträge.
Nach Ablauf des bisherigen Verbandstarifvertrages gilt automatisch der entsprechende Tarifvertrag mit dem
anderen Verband.
• Der Arbeitgeber tritt aus dem bisherigen Verband aus und in einen anderen Verband ein, für den eine
andere Gewerkschaft zuständig ist:
Nach Ablauf der bisherigen Verbandstarifverträge (z. B. nach einer Kündigung) gelten die zwischen dem
anderen Verband und der anderen Gewerkschaft abgeschlossenen Tarifverträge, sofern die Arbeitnehmer in die
andere Gewerkschaft übertreten oder die Anwendung des Tarifvertrages arbeitsvertraglich vereinbart wird.
Geschieht dies nicht, gelten die »alten« Tarifverträge kraft Nachwirkung (§ 4 Abs. 5 TVG) weiter.
• Der bisher verbandsangehörige Arbeitgeber überträgt den Betrieb ganz oder teilweise auf ein (ggf. neu
gegründetes) – nicht oder anderweitig tarifgebundenes – Unternehmen:
Fall 1 (der neue Betriebsinhaber ist nicht tarifgebunden): Es gilt § 613 a BGB (siehe → Betriebsübergang).
Das heißt, die Tarifnormen aus den jeweiligen Verbandstarifverträgen gelten nach § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB im
übernommenen Betriebsteil (also bei dem neuen nicht tarifgebundenen Arbeitgeber) »nur« noch als
arbeitsvertragliche Bestimmungen weiter und dürfen vor Ablauf eines Jahres nicht zum Nachteil der
Beschäftigten verändert werden (weder durch Änderungskündigung noch Änderungsvereinbarung; sog.
Veränderungssperre).
Oft werden die Arbeitnehmer nach Ablauf der einjährigen Veränderungssperre mit allerlei Drohungen zum
Abschluss verschlechternder vertraglicher Vereinbarungen »bewegt«. Dieser Variante der »Tarifflucht« können
die Arbeitnehmer dadurch begegnen, dass sie zusammen mit ihrer Gewerkschaft einen Firmentarifvertrag fordern
(und ggf. erstreiken). Siehe hierzu Checkliste Firmentarifvertrag im Anhang zum Stichwort → Arbeitgeber). Auf
diese Weise kann die Tarifbindung wieder hergestellt werden.
Fall 2 (der neue Betriebsinhaber ist an andere Tarifverträge mit der gleichen Gewerkschaft – z. B.
Firmentarifvertrag – gebunden): Es gelten diese Tarifverträge gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB sofort ab dem
Zeitpunkt des Übergangs (nicht erst nach Ablauf eines Jahres). Das gilt aber nur dann, wenn der andere
Tarifvertrag von der gleichen Gewerkschaft abgeschlossen wurde. Denn § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB kommt nur
dann zum Zuge, wenn beiderseitige Tarifbindung besteht (vgl. BAG v. 30. 8. 2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001,
510; BAG v. 21. 2. 2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318; ArbG Lübeck v. 15. 12. 1996, AiB 1997, 418). Die
»Verdrängung« der bisherigen Rechte und Pflichten gemäß § 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB tritt natürlich nur insoweit
ein, als die normativ geltenden neuen Tarifnormen denselben Regelungsgegenstand betreffen (vgl. BAG v.
11. 5. 2005 – 4 AZR 315/04).
Fall 3 (der neue Betriebsinhaber ist an andere Tarifverträge mit einer anderen Gewerkschaft gebunden):
Tritt das (neue) Unternehmen mit dem übernommenen Betriebsteil in einen Verband ein, für den eine andere
Gewerkschaft zuständig ist, so gelten – sofern es sich um dieselben Regelungsgegenstände handelt (vgl. BAG v.
11. 5. 2005 – 4 AZR 315/04) – die mit der anderen Gewerkschaft abgeschlossenen (ggf. schlechteren)
Tarifverträge wegen des Erfordernisses der beiderseitigen Tarifbindung dann, wenn die Arbeitnehmer in die
andere Gewerkschaft übertreten (§ 613 a Abs. 1 Satz 3 BGB; vgl. BAG v. 30. 8. 2000 – 4 AZR 581/99, NZA 2001,
510; BAG v. 21. 2. 2001 – 4 AZR 18/00, NZA 2001, 1318; ArbG Lübeck v. 15. 12. 1996, AiB 1997, 418) oder wenn
die Anwendung der Tarifverträge arbeitsvertraglich vereinbart wird (§ 613 a Abs. 1 Satz 4 BGB). Geschieht dies
nicht, gelten die »alten« Tarifnormen als arbeitsvertragliche Bestimmungen weiter; allerdings nur in der zum
Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden Fassung (vgl. BAG v. 4. 8. 1999, NZA 2000, 154 ff.). Das heißt:
Spätere Tarifänderungen (z. B. Tariferhöhungen) wirken sich nicht mehr auf das Arbeitsverhältnis aus (es sei
denn, sie werden arbeitsvertraglich »übernommen«).
• Der Arbeitgeber, mit dem ein Firmentarifvertrag (Haus- bzw. Anerkennungstarifvertrag) abgeschlossen
worden ist, tritt einem Arbeitgeberverband bei, für den die gleiche Gewerkschaft zuständig ist:
Tarifgebundenheit an den bisherigen Firmentarifvertrag bleibt bis zu seinem Ablauf bestehen (§ 3 Abs. 3 TVG).
Nach Ablauf des Firmentarifvertrages (z. B. aufgrund einer Kündigung) gelten automatisch die entsprechenden
Verbandstarifverträge.
• Der Arbeitgeberverband, dem der Arbeitgeber angehört, löst sich auf:
Die Mitteilung über die Auflösung eines Arbeitgeberverbandes wurde von der früheren Rechtsprechung wie
eine Kündigung der geltenden Verbandstarifverträge behandelt. Deshalb wurde angenommen, dass die Normen
der von dem Verband abgeschlossenen Tarifverträge gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirken, bis sie durch eine
andere Abmachung ersetzt werden (siehe → Nachwirkung). Demgegenüber geht die neuere Rechtsprechung des
BAG von der Fortgeltung der Tarifverträge nach § 3 Abs. 3 TVG aus (sog. Nachbindung; vgl. BAG v. 23. 1. 2008 –
4 AZR 312/01). Mit der Auflösung eines Arbeitgeberverbandes ende nicht ohne weiteres die unmittelbare und
zwingende Wirkung der von ihm abgeschlossenen Tarifverträge. Die beschlossene Auflösung eines
Arbeitgeberverbandes stelle allein auch keinen wichtigen Grund für die fristlose Kündigung der von ihm
abgeschlossenen Tarifverträge dar.
• Insolvenz des Arbeitgeberverbandes
Wird über das Vermögen eines Arbeitgeberverbandes das Insolvenzverfahren eröffnet, so endet damit nicht ohne
weiteres die normative Wirkung eines von dem Verband abgeschlossenen Tarifvertrags. Hierzu bedarf es –
mangels sonstiger Beendigungstatbestände – vielmehr einer Kündigung, die vom Insolvenzverwalter
ausgesprochen werden kann (vgl. BAG v. 27. 6. 2000 – 1 ABR 31/99, NZA 2001, 334).
Quelle:
Christian Schoof
Betriebsratspraxis von A bis Z
Titelinformation:
Christian Schoof
Betriebsratspraxis von A bis Z
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