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Tageslesungen für die Fastenzeit 2016
Dienstag der zweiten Fastenwoche
Nichts ist so einschüchternd und zugleich so hoffnungsvoll wie ein leeres Blatt.
Vielleicht kommt es daher, dass wir uns vor der Meditation fürchten, obwohl wir zugleich von ihr angezogen sind. Die Worte 'blank', 'leer' oder 'arm' sind irreführend negativ, weil sie nicht die überaus wichtige Qualität von Potential erfassen können. Ist Leere ein Mangel, ein Fehlen – oder der Raum, in dem neue Fülle entstehen kann, wenn wir ihn betreten und uns darauf einlassen? Steht 'blank' für 'nichts', für den verblassten Rest am Bildschirm, der zurückbleibt, nachdem Sie alles gelöscht haben? Oder steht es für die Chance, dass ein neuer und reichhaltigerer Inhalt entsteht? Weil wir in einer Kultur des übertriebenen Konsums leben und gewohnt sind, mehr zu verbrauchen als wir brauchen, gelingt es diesen anscheinend zu subtilen Vorstellungen von Potential und Chance nicht, unsere Vorstellungskraft zu fesseln. Wir kommen besser
zurecht mit der vollen Seite oder, noch lieber, mit einem Dokument aus vielen Seiten, gefüllt mit Spiegelstrichen, anspruchsvoll klingendem Jargon, Illustrationen, mit Worten wie 'zwingend', 'nachhaltig', 'spannend' und 'innovativ'. Wir wissen, dass da nicht viel dahinter steckt, aber sie machen uns zuversichtlich, dass wir wenigstens die Leere gefüllt und den Neuschnee mit vielen Fußspuren bedeckt haben. Meditation fasziniert Berufstätige, die sich in Arbeitssystemen finden, die immer mehr durch exzessive Kommunikationsmuster charakterisiert sind. Ihr Stress-Niveau führt sie oft dazu, sich in einem Irrgarten von Aktivität gefangen zu fühlen – in sich kreuzenden
Flugbahnen von Besprechnungen, Reviews, Berichten, Reisen - mit sehr wenig Zeit für echtes Nachdenken oder um das wirklich umzusetzen, was 'entschieden worden' ist. Zuerst fällt es ihnen schwer, Zeit für die Meditation zu finden, doch manche finden das Quäntchen Wahrheit heraus, dass die Zeit, die wir der Meditation widmen, das Maß an verfügbarer Zeit im Alltag erhöht. Das klingt absurd für den stressgeplagten Verstand, aber wie eine köstliche und befreiende Wahrheit für die, die es gekostet haben.
Unsere zwei Arten von Übungen in der Fastenzeit: was wir aufgeben und was wir zusätzlich tun, können uns den bitter nötigen Ausweg aus Zwangshandlungen hin zur Freiheit zeigen. Aber das fordert ein wenig Willenskraft. Sowie Ausgleichssport ein wenig Schweiß mit sich bringt und am Anfang einen ordentlichen Muskelkater.
Vor kurzem habe ich mit einem Jungen, Sohn einer nicht-religiösen Familie, gesprochen.
Er geht in eine Glaubensschule und findet Gefallen an den Ritualen und sogar an den Fastenübungen. So wie seine Schulkameraden verzichtete er auf Schokolade. Als ich am
Nachmittag zu Besuch kam, bot ihm seine Mutter ein Schoko-Creme-Sandwich an, das er verständlicherweise nicht ablehnen konnte. Ich wollte nicht, dass er sich schuldig fühlt, aber aus meiner Sicht wurde eine Gelegenheit versäumt, ihm bei der Entwicklung einer wesentlichen Fähigkeit und Lebenskust zu helfen– Selbstbeherrschung und Enthaltung.
Wir alle finden Ausreden. Nicht zu meditieren. Einen zu langen Text zu schreiben, um zu verbergen, wie wenig uns klar ist, was wir tun sollen. Damit aufzuhören, mit etwas aufzuhören. Das zu verschieben, was wir noch zusätzlich tun wollten. Der einzige Weg, das–zu unserem Vorteil–wieder umzukehren, ist zu 'bereuen': das heißt, Schuld zu vermeiden und von neuem anzufangen.
Laurence Freeman OSB
Übersetzung: Christiane Floyd