Volleyballdreieck

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Volleyballdreieck
FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG
Feuilleton
F R E I TAG , 1 2 . AU G U S T 2 0 1 6 · N R . 1 8 7 · S E I T E 9
Nessies Fluch
Lanzmanns
Beschwerde
edien wenden ihre Aufmerksamkeit von Zeit zu Zeit auch unweM
sentlichen Dingen zu. Im Fachjargon
Das Kempinski setzt Israel
auf seine Telefonliste
„Bei uns übernachten bedeutet, nach Hause zu kommen“, heißt es in der Begrüßung
des Kempinski Hotels Bristol in Berlin.
Claude Lanzmann, der Regisseur von
„Shoah“, fühlte sich bei seinem Besuch im
Kempinski nicht zu Hause. Im Telefonverzeichnis der Herberge, das er abends auf
seinem Zimmer aufschlug, fehlte die Vorwahl für Israel. Und das, so wurde ihm
von einem Mitarbeiter des Hotels gesagt,
habe seinen Grund: Es entspreche dem
Wunsch arabischer Gäste und sei von der
Direktion so angewiesen worden. Israel?
Kein Anschluss unter dieser Nummer.
Fünfunddreißig Länderdurchwahlen
finden sich auf der Liste im Kempinski
Bristol am Kurfürstendamm. Die meisten
gehören zu europäischen Staaten, doch es
geht auch nach Australien, Brasilien, Kanada, Hongkong, Japan, Russland, SaudiArabien, Singapur, Südafrika, Thailand
und in die Ukraine. Das lässt vielleicht
Rückschlüsse auf die Herkunftsländer der
Gäste zu, eine Verbindung liegt nahe:
Größter Anteilseigner der Kempinski-Hotels, deren Geschichte auf den deutsch-jüdischen Unternehmer Berthold Kempinski zurückgeht, der sich 1872 in Berlin niederließ und eine Weinhandlung betrieb,
ist heute das thailändische Crown Property Bureau, welches das Vermögen der thailändischen Krone verwaltet. Doch welchen Schluss lässt das Fehlen der Nummer von Israel zu? Für Claude Lanzmann
ist der Fall, wie er in dieser Zeitung
(F.A.Z. vom 11. August) geschrieben hat,
klar: Israel soll nicht sichtbar sein, es soll
verschwinden und mit ihm die Juden.
Nach Darstellung des Hotels soll an diesem Rückschluss jedoch nichts dran sein.
Man könne, heißt es auf Anfrage, die von
Lanzmann „beschriebenen Aussagen des
Mitarbeiters so nicht bestätigen“. Weiter
heißt es: „Es gab und gibt keine Anweisung seitens der Hoteldirektion und auch
nicht von der Kempinski AG, die israelische Vorwahl nicht in die LändervorwahlListe aufzunehmen. Dies würde auch unseren Grundsätzen von Gastfreundschaft
und Offenheit gegenüber allen Menschen
widersprechen.“ Die genannte Liste stelle
keine vollständige Auflistung aller Ländervorwahlen dar, sondern nur eine Auswahl. Es habe „keinen dezidierten Grund“
für die Nichtnennung Israels gegeben,
man habe aber „die Vorwahl selbstverständlich ergänzt“.
Ein „unglücklicher Zufall“ sei es, dass
die Nummer für Israel nicht dabei gewesen
sei, sagte die Hoteldirektorin Birgitt Ullerich im „Tagesspiegel“, sie wolle noch recherchieren, wie es zu dieser Geschichte
gekommen sei und wer diese Aussage getroffen habe. Von der Muttergesellschaft,
der Kempinski AG, kommt auf Anfrage
die gleichlautende Antwort. Es gebe „keinerlei Vorgaben in Bezug auf Telefonlisten“, man bedauere „aufrichtig, wenn
die Gefühle von Herrn Lanzmann verletzt
worden sind“. Unbeantwortet bleiben die
Fragen, wie andere Kempinski-Hotels es
in Sachen Israel halten, nicht nur mit Blick
auf die Durchwahl, sondern auch auf die
Verwendung von Produkten des Landes.
Sollen wir die Geschichte mit diesen
Hinweisen ad acta legen? Versehen,
Falschaussage, nach dem Mitarbeiter wird
gesucht? Macht es nicht stutzig, dass die
internationale Auswahl im Berliner Bristol Kempinski Brasilien, die Ukraine und
Saudi-Arabien kennt, das naheliegende Israel aber nicht? Für nicht der Rede wert
oder einen Witz kann das nur halten, wer
neben dem offen zur Schau gestellten, aggressiven Judenhass der Neonazis und der
Islamisten die vielen kleinen Anzeichen
virulenten Antisemitismus missachtet,
die in den Alltag eingezogen sind.
Ein prägnantes Beispiel dafür lieferten
vor einiger Zeit zwei Reporter des „Tagesspiegels“, die während der Fußball-Europameisterschaft mit einer Israel-Fahne
über der Schulter auf die Berliner Fanmeile zogen. Sie bekamen schnell zu spüren,
dass auf dem vermeintlich völkerverbindenden Fußballfest Israelis, Juden nicht
erwünscht waren. Es begann mit Anfeindungen und endete mit einer Bedrohung
durch eine Gruppe arabisch sprechender
junger Männer, vor denen die beiden Reporter sich in Sicherheit bringen mussten.
Scheinbar zivilisierter kommt Antisemitismus derweil in Form des in linken Kreisen beliebten Boykotts israelischer Waren daher, an dessen Spitze die Bewegung
„Boycott, Divestment and Sanctions“,
kurz BDS, steht, deren Kampagnen in der
„Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ zutreffend charakterisiert worden
sind – als „Einladung zum Hass“.
Und da sitzt nun also der neunzig Jahre
alte Claude Lanzmann, der zur Beerdigung der Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff, mit der er zehn Jahre lang verheiratet war, nach Berlin gekommen ist, in dem
Hotel, in dem er in der deutschen Hauptstadt immer logiert, seit er hier 1986 seinen Film „Shoah“ vorstellte, und sieht,
dass die Nummer von Israel fehlt, und
hört, dass es dafür einen bestimmten
Grund gibt. Ist das eine Petitesse? Selbst
wenn Lanzmann komplett falschläge und
die Dementis der Hotelleitung stimmten,
woran man seine Zweifel haben darf – „so
nicht bestätigen“ –, gilt: Die Nummer von
Israel hätte auf der Liste des Kempinski
Bristol am Kurfürstendamm nicht fehlen
dürfen. Aber es musste erst Claude Lanzmann nach Berlin reisen, bevor das jemandem auffiel.
MICHAEL HANFELD
Genuss unter freiem Himmel fördert die Geselligkeit, manchmal sogar das Maßhalten: Spanische Trinkszene, wohltemperiert in Madrid
MADRID, im August
or mehr als dreißig Jahren bestellte sich ein Student in einer
Bar in Salamanca einen Milchkaffee und ließ sich auf eine
Plauderei mit dem Mann hinter dem Tresen ein. Salamanca, kastilisches Herzland, Sitz von Spaniens ältester Universität und Zentrum der katholischen Orthodoxie, ist für internationale Sprachstudenten bis heute ein ebenso charmanter wie
historisch überwältigender Ort. Damals
lag das Ende der Diktatur noch keine
zehn Jahre zurück; der Bischofssitz der
Stadt war 1936 Francos Basislager beim
Beginn des Bürgerkriegs gewesen, und
die bürgerlichen Schichten Salamancas
hatten den „Kreuzzug“ gegen die „Roten“
enthusiastisch unterstützt. Wenige Jahre
später trugen zahllose Straßen die Namen rechter Militärs. Und wer im Salamanca der achtziger Jahre nach dem Porträt des verstorbenen Diktators suchte,
wurde (und wird bis heute) auf der Plaza
Mayor fündig, wo die Köpfe berühmter
Männer der Geschichte in den Sandstein
gemeißelt sind, aus dem die wichtigsten
Monumente der Stadt gebaut sind. Da
stand ich also im Jahr 1985 und trank meinen Kaffee, als der Mann hinter dem Tresen fragte, woher ich sei. „Deutschland“,
sagte ich. „Ah“, kam die Antwort, begleitet von begeistertem Nicken. „Alemania!
Volkswagen! Hitler!“
Es ist eines der witzigsten kulturellen
Missverständnisse geblieben, die ich je erlebt habe. Denn natürlich versuchte ich
dem Barmann zu erklären, das Deutschland der achtziger Jahre betrachte Hitler
nicht als Helden, sondern als kapitalen
Verbrecher, im Übrigen hätten wir jetzt
eine Demokratie – „genau wie ihr“, sagte
ich, weil ich annahm, der Mann müsse
auf die spanische transición genauso stolz
sein wie deutsche Professoren, die den
Wandel des modernen Spanien in Büchern beschrieben hatten. Doch der Barmann hatte mit alldem nichts zu tun. Er
demonstrierte gegenüber dem Sprachstudenten lediglich seinen Kommunikationswillen: Sieh, ich weiß etwas von deinem
Land, ich habe ein Bild vor Augen. Dein
Land hat eine hochsolide Automarke hervorgebracht, außerdem diesen Führer mit
dem Schnurrbart. Kann man ihn „groß“
nennen? Jedenfalls kennt ihn jedes Kind,
und das ist doch schon mal was.
Es war derselbe Barmann, der mir ein
paar Tage später nachts um zwei Uhr einen Rotwein spendierte, weil ich kein
Geld mehr in der Tasche hatte, und mir
die erste Erfahrung spanischer Großzügigkeit verschaffte. Wenn es um Essen
und Trinken geht, so die Idee, soll jeder
teilhaben. Zusammenzukommen und
die wichtigsten Dinge des Lebens in Gemeinschaft zu tun, das hat in Spanien
noch immer einen hohen Stellenwert,
ein fernes Echo der Zeit, in der die Mehrheit der Menschen zu wenig zu essen hatte. Nicht ganz zufällig ist der größte Roman der Weltliteratur, „Don Quijote“,
auch der oberste Gasthaus- und Kneipenroman geblieben. Einen Eichstrich
auf dem Glas gibt es in spanischen Bars
bis heute nicht. Beim klassischen Cocktail wird eine handballgroße copa mit
sechs bis neun Eiswürfeln gefüllt, und
dann gießt der Barmann so lange Whisky oder Wodka drauf, bis man stopp
sagt. Wie sich auf diese Weise ein Geschäft machen lässt, weiß ich nicht.
Aber vermutlich kommt es den Leuten
darauf nicht an.
V
Die Großzügigkeit
geht heute unrasiert
Laut, gesellig und ohne Eichstrich am Glas: Trotz
der anhaltenden Krise ist die spanische Fröhlichkeit
ein verlässlicher europäischer Wert geblieben.
Gelegentlich ist die Meinung zu hören, nationale Mentalitätsklischees würden im vereinten Europa schwächer,
doch jeder, der sich länger im Ausland
aufgehalten hat, weiß es besser. Eingeübte Reaktionsmuster sind ein starker Kitt,
sie bieten Halt und verleihen Identität.
Die lautstarke Geselligkeit der Spanier,
die verhangene Scheu der Portugiesen,
die ironische Distanziertheit der Briten,
all diese sprichwörtlichen Wesensmerkmale stimmen ja nur im großen Durchschnitt und sind dennoch jeden Tag erfahrbar. Dass nicht jedes Land im Frieden mit den eigenen Stereotypen lebt,
lässt sich gut an uns Deutschen studieren. Während Spanier im Ausland vor allem ihresgleichen suchen und fröhlich
das Kennenlernen zelebrieren, als hätten sich Schiffbrüchige gefunden, ist
Deutschen die Begegnung mit Deutschen außerhalb der eigenen Landesgrenzen eher peinlich. Wir wollen nicht
den Eindruck erwecken, wir bedürften
der Stallwärme; wir treten nicht gern in
Massen auf – Ausnahme: Ballermann –,
weil uns das eigene Selbstbild schon genug zu denken gibt.
Umso schöner ist es, aus dem Mund
von Spaniern zu erfahren, wie ernsthaft
und zuverlässig wir seien, wie unverbrüchlich die Freundschaft mit Deutschen, wenn sie denn einmal geschlossen ist, wie gut unser Land funktioniere
und so weiter. Ich habe längst aufgehört
zu widersprechen, sondern stimme zu:
Wenn wir wirklich so sind, wie die Spanier uns sehen, muss etwas dran sein.
Dass unser Spitzname im europäischen
Südwesten „cabeza cuadrada“ lautet,
Quadratschädel, lässt sich da leicht verschmerzen. Offenbar vermischen sich
Dirk von Petersdorff
Volleyballdreieck
Wir spielen Pässe im Sand,
so lange die Sonne
noch über den Dächern schwebt,
Max, Luise und ich,
Luftschwall vom Meer, nimm du,
im Dreieck, aus dem keiner fällt,
so lange wir baggern, den Ball
in der Luft halten, Sonnenball, wir
Eckpunkte in Bewegung, gleichseitig,
spitzwinklig, gegen die Dämmerung,
halten, gehalten, nicht schmettern,
Möwenruf pritschen, über Kopf, schön,
so lange wir Pässe im Sand
spielen, schwebt
der Sonnenball.
bei den Spaniern die Bewunderung für
deutsche Prinzipienfestigkeit, Staunen
angesichts deutscher Sturheit und Kopfschütteln über mangelnde Improvisationskunst zu einem festen Charakterbild.
Wolfgang Schäubles Verweis auf seine
schwäbische Großmutter im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise dürfte
es noch verfestigt haben. Für uns selbst
heißt das: Wir werden von der iberischen Welt als Mischwesen betrachtet –
einerseits solide und effizient, andererseits humorlos und ohne Anmut. Es
wäre sinnlos, sich gegen die uns zugeschriebene strukturelle Schäublehaftigkeit zu wehren. „Ihr seid großartig“, sagte mir einmal eine Spanierin, „wenn
man euch näher kennenlernt. Bei uns dagegen herrscht die reine Oberflächlichkeit.“ Und oberflächlich – das wagen wir
zu sagen, ohne sie kennengelernt zu haben – ist Schäubles Großmutter gewiss
nicht gewesen.
in tröstlicher Zug des angewandten Kulturvergleichs ist, dass jedes Land ein anderes nach jeweils eigenen Kriterien beurteilt. Dieser bilaterale Relativismus verläuft unbemerkt, gleichsam osmotisch.
Nicht nur jahrhundertealte Geschichte,
Rivalität, Annexion und Vertreibung
können dieses Urteil färben, sondern
auch Kulturikonen, Popstars oder Rennfahrer. Günter Grass mag nicht der bedeutendste Literat des Jahrhunderts
sein und seine Repräsentanz sogar fragwürdig – für das deutsch-polnische Verhältnis war er ein Segen. Vergessen wir
nicht, dass es noch immer eine Stufenleiter der Arroganz gibt, die besonders den
nächsten Nachbarn betrifft und vom europäischen Zentrum aus jeweils nach Os-
E
Foto YourPhotoToday
ten beziehungsweise Südwesten hinunterführt: So fühlen sich Deutsche den Polen überlegen, ohne dafür einer Begründung zu bedürfen, die Polen den Ukrainern und die Westukrainer den Ostukrainern, während die Franzosen schon immer auf die ungehobelten Spanier hinuntergeblickt haben und diese auf die stillen Portugiesen, welche ihrerseits niemanden mehr haben, auf den sie hinunterblicken könnten. Deshalb ist es gut,
dass sie Europameister geworden sind.
Eine andere Seefahrernation, Island,
brauchte zur Selbstbestätigung keinen
Titel, sondern nur ein prächtiges Stammesritual.
Vergangenes Wochenende in Madrid.
Fest des Ortsheiligen San Lorenzo im
Stadtteil Lavapiés. Auch am späten
Abend sind es noch jenseits der dreißig
Grad. Es ist brechend voll, die Luft voller
Frittierfett, die Grundlautstärke der Stimmen beeindruckend. Dass viele dieser
Menschen arbeitslos sind, minimale Gehälter nach Hause bringen oder sich mit
Ramschverträgen von einem Job zum
nächsten hangeln, sieht man ihnen an diesem Abend nicht an. Etwas Fröhliches
geht von ihnen aus, eine in der Gemeinschaft gelebte alegría de la vida, die begreiflich macht, warum es selbst schwerreiche spanische Fußballer irgendwann
wieder in den Süden zieht. Als ich dem
spanischen Freund, mit dem ich durch die
Straßen spaziere, von der Leichtigkeit dieser Menschen vorschwärme, sagt er trocken: „Ja, ja. Klar. Aber hast du schon mal
darüber nachgedacht, wann sie das letzte
Buch gelesen haben?“
Nein, das habe ich nicht. Bücher lese
ich notfalls selbst. Und Selbstkritik aus
dem Mund eines Spaniers ist so sinnvoll
wie Selbstkritik aus dem Mund eines
Deutschen. Aber was mir die Menschen
vor meiner Nase in diesem Augenblick
geben, ist die richtige Außentemperatur,
eine wunderbare Diesseitszugewandtheit und einen Lärm, der nie prollig
wird. Auch beim Alkohol unterscheiden
sie sich angenehm von Briten, Deutschen oder Schweden. Spanier trinken
nämlich weniger vulgär und werden
nicht ausfallend. Sogenanntes „KomaSaufen“ existiert hier nicht einmal als
Begriff. Das mag damit zusammenhängen, dass die Idee der Gemeinschaft immer noch wichtiger ist als das Trinken.
Vielleicht liegt es aber auch wirklich nur
am Segen des Sonnenlichts, das nordische Depressionen so leicht verscheucht.
„Generosity of spirit“, so lautete das
Wort des amerikanischen Schriftstellers
William Gaddis, als er in den frühen
fünfziger Jahren ein paar Monate durch
Spanien reiste und sich von den Menschen beeindrucken ließ. Ihre Großzügigkeit kann brüsk und unrasiert daherkommen, doch es bleibt Großzügigkeit –
der Wille, den anderen sein zu lassen,
wie er ist, eine prinzipielle Abwesenheit
von Gängelei. Nach acht Jahren Krise
müssten die Spuren des harten Lebens
deutlicher zu sehen sein, doch sie sind es
nicht. Nicht einmal die Tatsache, dass
Spanien seit dem vergangenen Dezember und nach zwei Parlamentswahlen immer noch keine arbeitsfähige Regierung
auf die Beine gestellt hat, bringt das
Land an den Rand. Keine Ausschreitungen und Massendemonstrationen, kein
Rechtspopulismus. Man müsse der Zeit
Zeit geben, sagt ein altes spanisches
Sprichwort. Das kann nur heißen: Ausharren wie die Flechte. Und die Feste feiern, wie sie fallen. PAUL INGENDAAY
heißt das Sommerloch. Jedes Jahr fällt
das Sommerloch in den August, und
immer trifft es einen unvorbereitet,
niemand hat es je kommen sehen. Dieses Sommerloch ist größer, heißt es
jährlich von neuem, es reicht fast bis
zum Erdmittelpunkt und spuckt zähflüssiges Magma in unser Gehirn. Der
Geist wabert wie eine Lavalampe mit
gedrosselter Stromzufuhr, bärtige Fragen werden zurechtfrisiert: Warum
werden in Hotels trotz steigender Nettoeinkommen immer noch so viele
Kleiderbügel gestohlen? Gerade von
Wohlsituierten, die es gar nicht nötig
haben. Da läuft doch was schief in diesem Land! Warum trägt Mario Gomez
beim Hochzeitskuss Sonnenbrille?
Will er seine Braut nicht so genau sehen? Sommer, Sonne, Kaktus. Man ist
nicht wählerisch. Wir müssen diese
Glosse unterbrechen. Wir hören gerade, dass in China zwei Säcke Reis umgefallen sind. Sapperlot! Wenn das keine Eilmeldung ist. Gibt es Bilder? Leider nein. Kann man das hintergrundmäßig irgendwie aufpolieren? Augenzeugenberichte, das Leid der Opfer,
Chinas marode Reisbauernindustrie.
Apropos Reis: Wo ist eigentlich Ai Weiwei, wenn man ihn mal braucht? Hat
der nicht eine Reis-Ausstellung in der
Tate Modern gemacht, ein Reiskorn
für jeden chinesischen Staatsbürger,
Korn für Korn abgezählt? Von seinen
Mitarbeitern selbstverständlich. Reiskörner zählen: Dafür ist Ai einfach too
big. Ach so, er dokumentiert jetzt das
Flüchtlingselend mit schwimmenden
Schwimmwesten und gepresstem PuErh-Tee im Belvedere? Auch keine
schlechte Sommerloch-Idee. War
schon mal nützlicher, der Ai Weiwei.
Außerdem hören wir gerade: Es waren
keine Reiskörner, sondern Sonnenblumenkerne. Mal sehen, was der „Spiegel“ aus der neuen Weltlage macht:
„Wankende Weltmacht Reis“. Wow,
einfach nur wow! Sicher von Diez,
dem „Spiegel“-Experten für gefährliches Denken. Der haut solche Dinger
in Serie raus. Respekt nach Hamburg!
Machen wir gleich eine schöne Meldung. Ewiges Sommerloch.
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Viertausend Freunde
Beethovens Neunte in Tokushima
Die japanische Erstaufführung der
Symphonie d-moll von Ludwig van
Beethoven fand 1918 im Kriegsgefangenenlager Bandō statt. Das Ereignis
wurde zum Initialfunken für den japanischen Brauch, jeden Jahreswechsel
mit Beethovens Neunter zu feiern, wobei die Ode an die Freude im letzten
Satz auch von Laienchören mitgetragen wird, die sich zu Tausenden in Stadien und auf öffentlichen Plätzen versammeln. Zur Erinnerung an die Erstaufführung in Bandō, wo zwischen
1917 und 1919 knapp tausend deutsche und österreichische Soldaten interniert waren, aber auch zur Vorbereitung des Beethoven-Jubiläums 2020
und zur Feier der deutsch-japanischen
Freundschaft soll jetzt eine weitere Tradition begründet werden. Die Präfektur Tokushima plant die alljährlich wiederkehrende Aufführung der Neunten
mit möglichst vielen Menschen aus verschiedenen Ländern. Das erste Konzert dieser Art wird am 12. Februar
2017 stattfinden. Für den Chor werden
dreitausend bis viertausend Sängerinnen und Sänger gesucht. Deutsche
Chorsängerinnen und -sänger, die
nach Tokushima reisen und live mitsingen wollen, können sich direkt an die
deutsche Niederlassung des Japan Travel Bureau in Frankfurt am Main, Rossmarkt 15, wenden oder aber eine Mal
schicken
an
[email protected].
eeb
Nicht hinnehmbar
Rockfestival in der Türkei abgesagt
Nach dem Putschversuch in der Türkei
wollen die Behörden eines der größten
Rockfestivals des Landes für Ende August absagen. Das viertägige Zeytinli
Rockfestival werde im Rahmen des
Ausnahmezustands aus Sicherheitsgründen verschoben, teilte das Bezirksamt im westtürkischen Edremit mit. Erfahrungsgemäß werden Großveranstaltungen, auch wenn sie offiziell verschoben werden, nicht nachgeholt. Die Ankündigung löste in den sozialen Medien Entrüstung aus. Ein Sprecher der
Veranstalter „Milyon Yapim“ sagte der
Deutschen Presse-Agentur, eine Verschiebung oder Absage sei nicht hinnehmbar. Man stehe in Verhandlungen
mit den Behörden. Tausende Rockfans
aus dem ganzen Land besuchen jährlich das Festival. Einheimische Bands
wie die Punkband Athena oder die
Rocklegenden Duman sollen in diesem Jahr dort auftreten. Nach zahlreichen Terroranschlägen in diesem Jahr
ist die türkische Musikbranche ohnehin schon angeschlagen. Im Rahmen
des im Juli verhängten Ausnahmezustands hatten die Behörden schon andere Kulturveranstaltungen abgesagt,
etwa ein Open-Air-Theaterstück über
Bertolt Brecht in Istanbul.
dpa

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