Materialmappe zur Vor- und Nachbereitung
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Materialmappe zur Vor- und Nachbereitung
Junges Staatstheater Braunschweig Spielzeit 2014/2015 www.staatstheater-braunschweig.de [email protected] Tel. (0531) 1234 542 Leonce und Lena │13+ von Georg Büchner Materialmappe Wie muss es sein, als Prinz oder Prinzessin auf einem Schloss aufzuwachsen? Was muss passieren, dass man von Zuhause abhaut? Gibt es heute auch noch »goldene Käfige«? Was erwarten unsere Eltern von uns? Was schränkt uns ein? Was möchten wir mit unserer Zukunft anfangen? Wie soll man sich entscheiden, bei den unzähligen Möglichkeiten, die einem geboten werden? »Es krassiert ein entsetzlicher Müßiggang ... Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben!« Im Januar 1836 schrieb der Verleger Cotta aus Stuttgart einen Wettbewerb für die beste Ein- oder Zwei-Akt-Komödie aus. Büchner erhoffte sich durch das Preisgeld von 300 Gulden die Verbesserung seiner finanziellen Lage in Straßburg. Er reichte dann aber seinen Beitrag »Leonce und Lena« zu spät ein, so dass der Brief ungeöffnet wieder zurückgeschickt wurde und keine Beachtung fand. Büchner überarbeitete das Manuskript daraufhin und baute die Komödie zu einem Drei-Akter um, dessen Veröffentlichung er aber nicht mehr erlebte. Heute gehört das Stück zu den wichtigsten klassischen Komödien deutscher Sprache. Leonce hat eigentlich alles, was er braucht. Als Prinz muss er sich um nichts kümmern, sein Leben ist seit seiner Geburt vorherbestimmt – eigentlich doch wunderbar, oder? Trotzdem ist er nicht zufrieden, möchte sein Leben selber in die Hand nehmen, selber bestimmen, was er werden und machen möchte. Doch das ist gar nicht so einfach. Auch heute geht es den Jugendlichen so. Wir leben in einem Zeitalter des Überflusses, wir können alles immer haben. Ein Meer aus Möglichkeiten und Wegen – doch welchen soll man gehen? »Leonce und Lena« erzählt poetisch und direkt vom Erwachsenwerden zweier Jugendlicher, die aus den gesellschaftlichen Strukturen und Zwängen auszubrechen versuchen um ihren Weg ins Leben zu finden. In dieser Materialmappe befinden sich inhaltliche Anregungen und Aufgaben zur Vor- und Nachbereitung Ihres Theaterbesuchs. Wir wünschen viel Spaß bei dem Theaterbesuch und hoffen, dass dieser neue Eindrücke liefert. Anregungen zur Gestaltung und zum Inhalt der Materialmappe nehmen wir gerne dankend entgegen. Kathrin Simshäuser & Anne Hartmann für das Junge Staatstheater Braunschweig Leonce und Lena – Materialmappe 2 Anja Signitzer (als Lena) & Ralph Kinkel (als Leonce) Leonce und Lena – Materialmappe 3 Kontakte Junges(AT)staatstheater-braunschweig.de Tel. (0531) 1234 542 Leiter Junges Staatstheater AndreasSteudtner(AT)staatstheater-braunschweig.de Tel. (0531) 1234 521 Dramaturgie & Organisation KathrinSimshaeuser(AT)staatstheater-braunschweig.de Tel. (0531) 1234 542 Dramaturgie CarstenWeber(AT)staatstheater-braunschweig.de Tel. (0531) 1234 524 Theaterpädagogik ThiemoHackel(AT)staatstheater-braunschweig.de Tel. (0531) 1234 541 Theaterpädagogik AnneHartmann(AT)staatstheater-braunschweig.de Tel. (0531) 1234 504 Herausgeber Staatstheater Braunschweig, Am Theater, 38100 Braunschweig Generalintendant Joachim Klement Verwaltungsdirektorin Claudia Schmitz Leiter Junges Staatstheater Andreas Steudtner Redaktion & Gestaltung Kathrin Simshäuser (verantw.), Anne Hartmann Fotos Volker Beinhorn Redaktionsschluss 6.3.2015 Änderungen vorbehalten Leonce und Lena – Materialmappe 4 Nikolaij Janocha (als König Peter) Nina El Karsheh, Ralph Kinkel, Nikolaij Janocha, Anja Signitzer, Ravi Marcel Büttke (als Chor) Leonce und Lena – Materialmappe 5 Besetzung Inszenierung Mareike Mikat Bühne & Kostüme Marie Roth Musik Moritz Krämer, Francesco Wilking Dramaturgie Kathrin Simshäuser, Andreas Steudtner Theaterpädagogik Thiemo Hackel, Anne Hartmann König Peter vom Reiche Popo Nikolaij Janocha Prinz Leonce, sein Sohn Ralph Kinkel Prinzessin Lena vom Reiche Pipi Anja Signitzer Valerio Ravi Marcel Büttke Die Gouvernante Nina El Karsheh Musiker Moritz Krämer / Francesco Wilking Statisterie Stefan Krense, Pauline Schostok, Johannes Stöhr Regieassistenz & Spielleitung Esther Jurkiewicz Ausstattungsassistenz Henriette Hübschmann Inspizienz Heiko Angerstein / Simone Großmann Soufflage Magdalena Dorothea Suss Hospitanz Johannes Stöhr (Regie), Ashkan Baladi (Dramaturgie) Ausstattungsleitung / Technische Direktion Ralf Wrobel Technische Inspektion / Bühneneinrichtung Alexander Wladarsch Leitung Beleuchtungsabteilung Frank Kaster Beleuchtungseinrichtung Harry Heutink Leitung Tontechnik Burkhard Brunner Toneinrichtung Katharina Heine, Rainer Leue Leitung Requisite Sascha Kaminski Requisite Daniela Klosa, Renate Lange Leitung Kostümabteilung Ernst Herlitzius Leitung Maskenabteilung Nicolas Guth Maske Bernadette Bertkau, Katharina Kühnel Leitung Ausstattungswerkstätten Petra Röder Produktionsingenieur Stephan Busemann Leitung Malsaal Sonja Bähr Leitung Tischlerei Peter Kranzmann Leitung Schlosserei Armin Zühlke Leitung Deko- & Möbelabteilung Axel Schneider Premiere 6. März 2015 im Kleinen Haus Aufführungsdauer ca. 100 Minuten, keine Pause Leonce und Lena – Materialmappe 6 Schlaglichter Die folgenden Schlagworte sind Themen der Inszenierung. Langeweile »Die Bienen sitzen so träg an den Blumen, und der Sonnenschein liegt so faul auf dem Boden. Es krassirt ein entsetzlicher Müßiggang. – Müßiggang ist aller Laster Anfang. – Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile […] Oh, wer einmal jemand anderes sein könnte! Nur ne Minute lang.« (Leonce) »Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und morgens wieder herauszukriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und daß Millionen es schon so gemacht haben, und daß Millionen es wieder so machen werden. […] Dass die Wolken schon seit drei Wochen von Westen nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch.« (Leonce) Erwartungen der Eltern »Meine Lieben und Getreuen, ich wollte euch hiermit kund und zu wissen thun, kund und zu wissen thun – denn entweder verheirathet sich mein Sohn, oder nicht, (legt den Finger an die Nase.) entweder, oder – ihr versteht mich doch? Ein Drittes gibt es nicht. Der Mensch muß denken.« (König Peter) »(liest den Brief) Daß man der zu erwartenden Ankunft von Eurer Hoheit verlobter Braut, der durchlauchtigsten Prinzessin Lena von Pipi, auf morgen sich zu gewärtigen habe, davon läßt Ihro königliche Majestät … Wenn meine Braut mich erwartet, so werde ich ihr den Willen thun und sie auf mich warten lassen. […]« (Leonce) »Versteht sich (liest im Brief) An dem Tage der Vermählung ist ein höchster Wille gesonnen, seine allerhöchsten Willensäußerungen in die Hände Eurer Hoheit niederzulegen.« (Valerio) »Beim höchsten Willen, ich werde Alles thun, das ausgenommen, was ich werde bleiben lassen, was aber jedenfalls nicht so viel sein wird, als wenn es noch einmal so viel wäre. Heirathen! Das heißt einen Ziehbrunnen leer trinken.« (Leonce) »Aber warum schlägt man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht suchten? Was hat meine arme Hand gethan? Dieser Ring sticht mich wie eine Natter.« (Lena) Aufbruch – von Zuhause abhauen »Valerio! Valerio! Wir müssen was Anderes treiben. Rathe! […] jetzt hab' ich's! Fühlst du nicht das Wehen aus Süden? Valerio! Wir gehen nach Italien.« (Leonce) »O sie ist schön und so weit, so unendlich weit. Ich möchte immer sofort gehen Tag und Nacht. Ja, die Pflanzen legen ihre Fiederblättchen zum Schlaf zusammen und die Sonnenstrahlen wiegen sich an den Grashalmen wie müde Libellen.« (Lena) Leonce und Lena – Materialmappe 7 Ralph Kinkel (als Leonce), Ravi Marcel Büttke (als Valerio) Leonce und Lena – Materialmappe 8 Inhalt des Stücks Dieses Kapitel dient vor allem zum Wissen für die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler müssen diese sehr detaillierte Inhaltsangabe vor dem Inszenierungsbesuch nicht unbedingt kennen. Jemand läuft über die Bühne und setzt sich auf die Seite, es ist ein Musiker – und die Musik beginnt. Aus der Unterbühne taucht ein Chor auf, aus dem sich Leonce herausschält. Der melancholische und träumerische Prinz vom Reiche Popo langweilt sich, weiß nichts mit sich, seinem Leben und seiner Zukunft anzufangen, obwohl er alles hat und haben kann. Da begegnet ihm Valerio und mit seinem Ausspruch: »Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtsthun, ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit« ist es für Leonce klar: Valerio ist ein Gleichgesinnter, ein Bruder im Geiste. Dann taucht König Peter auf, der Vater von Leonce. Er betont, dass er hier der König ist und das Sagen hat, aber am nächsten Tag abdanken und seinen Sohn Leonce zu seinem Nachfolger machen will. Dazu muss sein Sohn heiraten. Da er sich nicht traut, es Leonce persönlich zu sagen, schreibt er ihm einen Brief, in dem er kundtut, dass die holde Prinzessin Lena vom Reiche Pipi schon morgen seine Braut werden soll. Leonce und Valerio – in der Rolle der Rosetta – philosophieren derweil über die Liebe und machen sich über sie lustig. Es ist »schon ein sonderbares Ding um die Liebe«! Da kommt ein Bote, der verkleidete König, und überbringt den Brief. Leonce kann es nicht fassen! Heiraten!? Das will er auf keinen Fall. Valerio, der bis eben nicht gewusst hat, dass er es mit dem Prinzen vom Reiche Popo zu tun hat, versteht den Prinzen nicht und versucht ihn zu beruhigen: »Nun, Sie sollen König werden, das ist eine lustige Sache«. Doch Leonce will weder heiraten noch König werden und überzeugt Valerio, dass sie was anderes treiben und fliehen müssen: »Fühlst du nicht das Wehen aus Süden? Valerio! Wir gehen nach Italien.« Ein anderer Ort. Wir befinden uns im Reiche Pipi. Die Gouvernante hat eben die Prinzessin Lena ins Zimmer gebracht. Sie trägt bereits ihr Hochzeitskleid, doch freuen kann sie sich nicht. Warum nur soll sie einen Mann heiraten, den sie nicht liebt? Die Gouvernante kann und will Lena nicht leiden sehen und beruhigt sie, denn sie hat einen Plan, mit dem Lena ihrem Schicksal vielleicht entkommen kann. Leonce und Valerio schauen noch einmal dem König hinterher und hauen ab, laufen den ganzen Tag durch die Fürsten- und Herzogtümer, bis sie hungrig zusammenbrechen. Auch Lena und die Gouvernante sind auf der Flucht und auf der Suche nach einem Obdach für die Nacht. Irgendwo – vielleicht auf einem Festivalgelände – begegnen sich die Paare. Valerio ist ganz hingerissen von der Gouvernante und auch Lenas und Leonce` Ohren und Augen treffen sich. Im Durcheinander des Festivals verlieren und treffen sich die vier in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder. Leonce und Lena nähern sich an und stoßen sich wieder weg, nähern sich an und stoßen sich wieder weg. Leonce ist von der plötzlichen Liebe zu Lena vollkommen überwältigt und überfordert zugleich und Leonce und Lena – Materialmappe 9 sieht nur eine Möglichkeit: »Zu viel. Zu viel. Mein ganzes Sein ist in dem einen Augenblick. Jetzt stirb. Mehr ist unmöglich.« Er will sich ertränken, aber Valerio rettet ihn und bringt ihn wieder zur Vernunft. Sie gehen zusammen auf eine Party. In dem Chaos aus verkleideten Menschen, lauter Musik und schrillem Licht finden sich Leonce und Lena endlich wieder. Sie sind sich einig: Sie wollen heiraten, auch wenn sie gar nichts voneinander wissen. Die Gouvernante zieht Valerio ins Wissen, dass es sich bei der jungen Dame um Prinzessin Lena handelt und zusammen schmieden sie den Plan, die beiden von König Peter verheiraten zu lassen. Wieder im Reiche Popo. Der König ist verzweifelt, sein Sohn ist verschwunden und die Prinzessin auch. Was soll er nur tun? Sein Volk weiß auch keinen Rat. Da kommen die Gouvernante und Valerio und führen zwei Automaten vor, ein Männlein und ein Weiblein. Der König, der sich fest vorgenommen hat, sich zu freuen und eine Hochzeit zu feiern, verheiratet die beiden nicht ahnend, wer sich hinter der Verkleidung verbirgt. Als diese sich demaskieren, ist das Erstaunen bei allen groß. Die füreinander Bestimmten haben sich gefunden und verbunden. Die Flucht vor den von den Eltern verfügten Zielen endet in der Erfüllung derselben. Ist das ein Happy End oder tiefe Depression? Leonce und Lena – Materialmappe 10 Nina El Karsheh (als Gouvernante), Anja Signitzer (als Lena) Leonce und Lena – Materialmappe 11 »Ich bin so jung, und die Welt ist so alt.« Über den Autor Georg Büchner Georg Büchner wurde am 17. Oktober 1813 als ältestes Kind des Chirurgen Ernst Karl Büchner (1786 – 1861) und dessen Ehefrau Caroline (1791 – 1858) in Goddelau bei Darmstadt geboren. Nach dem Besuch des Ludwig-Georg-Gymnasiums in Darmstadt immatrikulierte sich Georg Büchner am 9. November 1831 an der medizinischen Fakultät in Straßburg und wurde dort von dem Pfarrer Johann Jakob Jaeglé aufgenommen, mit dessen Tochter Luise ("Minna") Wilhelmine (1810 – 1880) Georg Büchner sich im Juli 1833 heimlich verlobte. Am 31. Oktober 1835 wechselte er zur Universität Gießen. Im Kampf gegen die reaktionären Zustände im Großherzogtum Hessen gründete Georg Büchner im Frühjahr 1834 in Gießen und Darmstadt im Untergrund Sektionen der »Gesellschaft der Menschenrechte« und verfasste zusammen mit Friedrich Ludwig Weidig aus Butzbach die sozialrevolutionäre Flugschrift »Der Hessische Landbote«, in der es hieß: »Friede den Hütten, Krieg den Palästen«. Weil Georg Büchner wegen des Aufrufs zur Revolution steckbrieflich gesucht wurde, floh er im März 1835 für einige Zeit nach Straßburg. Im Jahr darauf promovierte er in Zürich mit einer Dissertation über das Nervensystem der Barben und wurde nach einer Probevorlesung mit dem Titel »Über Schädelnerven« als Privatdozent für vergleichende Anatomie von der Philosophischen Fakultät beschäftigt. 1835 hatte Georg Büchner sein erstes Drama veröffentlicht: »Dantons Tod«. Es folgten die Erzählung »Lenz« (postum veröffentlicht 1839) und das Lustspiel »Leonce und Lena« (1836). Das Drama »Woyzeck« blieb ein Fragment. Am 19. Februar 1837 starb der 23jährige Büchner in Zürich. Trotz seines schmalen Werkes gilt er als einer der bedeutendsten deutschen Autoren. Carl Vogts Eindruck von dem Giessener Studenten Büchner, Genf um 1891 (›Aus meinem Leben‹. Stuttgart 1896) Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sympathisch. Er trug einen hohen Zylinderhut, der ihm immer tief unten im Nacken saß, machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenn’s donnert, hielt sich gänzlich abseits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und verlumpten Genie, August Becker, gewöhnlich nur der ›rote August‹ genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen Umtrieben zu tun hatte, ein- oder zweimal auch revolutionäre Äußerungen hatte fallen lassen, so geschah es nicht selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat brachte: ›Der Erhalter des europäischen Gleichgewichtes, der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er lebe hoch!‹ – Er tat, als höre er Leonce und Lena – Materialmappe 12 das Gejohle nicht, obgleich seine Lampe brannte und zeigte, daß er zu Hause sei. In Wernekincks Privatissimum war er sehr eifrig und seine Diskussionen mit dem Professor zeigten uns beiden andern bald, daß er gründliche Kenntnisse besitze, welche uns Respekt einflößten. Zu einer Annäherung kam es aber nicht; sein schroffes, in sich abgeschlossenes Wesen stieß uns immer wieder ab. Mündliche Aussagen »Im Sommer 1831 begegnete ich Georg Büchner einmal in der Dämmerung am Jägertor. Er sah sehr ermüdet aus, aber deine Augen glänzten. Auf meine Frage, wo er gewesen, flüsterte er mir ins Ohr: ›Ich wills dir verraten: den ganzen Tag am Herzen der Geliebten!‹ ›Unmöglich!‹ rief ich. ›Doch‹, lachte er, ›vom morgen bis zum Abend in Einsiedel und dann in der Fasanerie!‹« Erinnerung eines Jugendfreundes Züricher Universitätsprotokolle Personalbeschreibung Georg Büchners Alter: 21 Jahre Größe: 6 Schuh, 9 Zoll neuen Hessischen Maßes Haare: blond Stirne: sehr gewölbt Augenbrauen: blond Augen: grau Nase: stark Mund: klein Bart: blond Kinn: rund Angesicht: oval Gesichtsfarbe: frisch Statur: kräftig, schlank Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit Quelle: Georg Büchner »Werke und Briefe, Münchener Ausgabe«, 1997. Leonce und Lena – Materialmappe 13 Vom Wandel der Jugend Junge Menschen haben heute Entfaltungsmöglichkeiten wie noch nie. Das ist eine große Chance, für viele aber auch ein großes Risiko von Martina Gille [in Auszügen] Der Lebensabschnitt Jugend hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Jugendliche werden als mögliche zukünftige Facharbeiterinnen und Facharbeiter, als freiwillige Engagierte oder auch als potenzielle Familiengründerinnen und -gründer hofiert. Zugleich sehen sie sich mit wachsenden Anforderungen an ihre berufliche Qualifikation konfrontiert, zudem mit Zeitstress, Mobilitätsdruck, mit ungewissen Zukunftsperspektiven. Welche Herausforderungen stellen sich jungen Menschen heute angesichts gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse und des Strukturwandels der Erwerbsarbeit? Und wie geht es den Jugendlichen dabei? […] In Anlehnung an den amerikanischen Forscher Robert J. Havighurst (1953) gilt der Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter als geglückt, wenn die folgenden Schritte gemeistert wurden: Die jungen Menschen haben ausreichend intellektuelle und soziale Kompetenzen sowie Bildungsqualifikationen erworben, um sich beruflich etablieren zu können und ökonomisch unabhängig zu werden. Die Ablösung von den Eltern ist erfolgt, die veränderte körperliche Erscheinung wurde akzeptiert, und es ist eine feste Bindung zu einem Partner oder einer Partnerin aufgebaut sowie eine Familie gegründet worden (beziehungsweise es besteht die Möglichkeit dazu). Es wurden enge Freundschaften und Kontakte zu Gleichaltrigen geknüpft und die Fertigkeiten entwickelt, bedürfnisorientiert und produktiv Freizeitangebote und Medien zu nutzen und einen eigenen Lebensstil zu praktizieren. Schließlich haben die Jugendlichen ein individuelles Werte- und Normensystem, sozial verantwortliches Handeln und die Fähigkeit zur politischen Partizipation entwickelt. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben steht jedoch in der Kritik, weil die Erwartungen, die den Aufgaben, die Jugendliche bewältigen sollen, zugrunde liegen, normativ sind und letztlich bürgerliche Normalitätsvorstellungen widerspiegeln. Durch Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse sind Normalbiografien seltener geworden. Dies bedeutet insbesondere für die Jugendphase, dass eine feste zeitliche Abfolge der verschiedenen Statusetappen wie Ausbildungsabschluss, Berufseintritt und Familiengründung nicht mehr in einer festen zeitlichen Reihenfolge und auch nicht mehr innerhalb eines engen Zeitfensters erfolgen. Zudem berücksichtigt das Konzept zu wenig, dass junge Menschen in der Familie und der Gesellschaft auch mit Rahmenbedingungen konfrontiert sein können, die es für sie schwierig oder unmöglich machen, sich in diesem Sinne zu entwickeln. Dazu zählen zum Beispiel das Aufwachsen in bildungsfernen Elternhäusern oder in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. […] Voraussetzungen für eine gelungene Lebensführung Aus diesem Grund sieht die Forschung jugendliche Entwicklung heute als einen aktiven Konstruktionsprozess: Jugendliche beschäftigen sich nicht nur mit den an sie herangetragenen Erwartungen, sondern sie setzen sich auch eigene Ziele. Diese Leonce und Lena – Materialmappe 14 versuchen sie unter den jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen zu realisieren. Junge Menschen sind also Produzenten ihrer eigenen Entwicklung. Diese konstruktivistische Sichtweise hat den Vorteil, dass nicht nur der Abschluss bestimmter Aufgaben als Ziel angesehen wird. Auch die Entwicklung von Kompetenzen und bestimmter Persönlichkeitseigenschaften garantiert unter schwierigen und veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eine positive psychosoziale Integration in die Erwachsenenwelt. Solche grundlegenden Kompetenzen werden beispielsweise mit den Konzepten der Selbstwirksamkeit« und »Lebenskohärenz« beschrieben, die als Voraussetzung für eine gelungene Lebensführung gelten: Jugendliche können ihr eigenes Handeln als erfolgreich erleben und erfahren. Voraussetzung für eine positive Entwicklung im Jugendalter ist vor allem die Gelegenheit, an den Lebenswelten der Gesellschaft und der anderen Jugendlichen teilzuhaben. Die jungen Menschen müssen die Möglichkeit haben, sinnvolle Tätigkeiten auszuüben und dafür Anerkennung zu ernten. Ebenso wichtig ist ein gewisses Maß an sozialer und materieller Sicherheit. Mehr Chancen – aber auch viele Modernisierungsverlierer […] Der Strukturwandel der Jugendphase wurde seit den 1980er-Jahren vor allem unter dem Blickwinkel des Individualisierungstheorems diskutiert. Diesem Erklärungsansatz zufolge wird der Einzelne zunehmend aus traditionellen Lebenswelten und Lebenszusammenhängen herausgelöst. Dies bedeutet besonders für junge Menschen, dass sie zum »Planungsbüro« ihrer eigenen Biografie und Lebensführung werden. Für diesen Zuwachs an Gestaltungsmöglichkeiten zahlen sie allerdings auch einen hohen Preis: Falls sie scheitern, sind sie selbst dafür verantwortlich. Das erhöht den Druck auf Jugendliche. Dies ist vor allem aus einem Grund problematisch: Trotz der zunehmenden Individualisierung von Lebenschancen und der größeren Vielfalt von Lebensstilen gibt es nach wie vor Auswahlprozesse nach sozialer Schicht, Geschlecht und Migrationshintergrund. In den vergangenen 20 Jahren scheint es eine Verfestigung von solchen Ausgrenzungsprozessen gegeben zu haben. Insbesondere bei jungen Menschen aus den neuen Bundesländern und aus Zuwandererfamilien besteht die Gefahr, dass sie sich nicht erfolgreich in das Bildungs- und Erwerbssystem integrieren können. Die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern wird größer. […] Die Jugendphase in Gefahr Keine Jugendgeneration zuvor hatte solche Chancen, sich privat und beruflich weltweit zu verwirklichen wie junge Menschen heute. Andererseits haben die Ungewissheiten in der Zukunftsplanung sowie der Leistungs- und Konkurrenzdruck zugenommen. Die Jugendphase kann heute immer weniger als ein »Bildungsmoratorium« begriffen werden, in dem die jungen Menschen relativ geschützt vor den Anforderungen der Erwachsenengesellschaft ihre schulischen und beruflichen Qualifikationen erwerben können. Es besteht die Gefahr, dass die Jugendphase immer mehr an den Bedingungen von Markt und Wettbewerb gemessen wird: Jugendliche sollen in möglichst kurzen Bildungsgängen ihre Qualifikationen erwerben. Der Pädagoge Wilhelm Heitmeyer spricht von einer »Vernichtung der Jugendphase«. Jugendlichen fehlen zunehmend Gelegenheiten, ihre Identitätsentwürfe auszuLeonce und Lena – Materialmappe 15 probieren, ohne dass ökonomische Nutzenkalküle dabei eine Rolle spielen. Die straffe und zunehmend ganztägige Bildung führt zu einer Verringerung ihrer Experimentierräume. Führt dies dazu, dass junge Menschen vor allem nach Anpassung streben? Die Bedeutung von Pflicht und Leistung hat zugenommen. Aber ihr Streben nach Selbstverwirklichung ist unverändert hoch, ebenso wie ihre Bereitschaft, sich politisch und sozial zu engagieren. Das zeigt, dass junge Menschen auch heute ein großes Interesse daran haben, an gesellschaftspolitischen Entscheidungen mitzuwirken. Den ungekürzten Text finden Sie in DJI Impulse 3.2012 oder unter: http://www.allianz-fuer-jugend.de/downloads/DJI_IMPULSE_99.pdf Vorbereitung Nicht alle hier angegeben Aufgaben sind notwendig, um die Klasse auf den Aufführungsbesuch vorzubereiten. 1 / Die Sprache Georg Büchners Georg Büchner war Anfang zwanzig, als er »Leonce und Lena« geschrieben hat. Das war im Jahr 1836. Damals hat man sich noch anders ausgedrückt. Als Vorbereitung auf die Sprache Büchners können verschiedene Texte der Protagonisten umgeschrieben werden. Wie würde man das heute sagen? Welche Redenwendungen verwendet man heute? Zum besseren Verständnis der einzelnen Textpassagen ist es sinnvoll, diese im Zusammenhang der ganzen Szene zu lesen. Drei Geeignete Textstellen von LEONCE, LENA und VALERIO zum Umschreiben: Valerio, Erste Szene »Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtsthun, ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit. Keine Schwiele schändet meine Hände, der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stirne getrunken, ich bin noch Jungfrau in der Arbeit, und wenn es mir nicht der Mühe zu viel wäre, würde ich mir die Mühe nehmen, Ihnen diese Verdienste weitläufiger auseinanderzusetzen.« Leonce und Lena – Materialmappe 16 Leonce, Dritte Szene »Ein sonderbares Ding um die Liebe. Man liegt ein Jahr lang schlafwachend zu Bette, und an einem schönen Morgen wacht man auf, trinkt ein Glas Wasser, zieht seine Kleider an und fährt sich mit der Hand über die Stirn und besinnt sich und besinnt sich. – Mein Gott, wieviel Weiber hat man nöthig, um die Scala der Liebe auf und ab zu singen? Kaum das einer einen Ton ausfüllt. Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander an. Ich stülpe mich jeden Tag 24 mal herum wie einen Handschuh. O ich kenne mich, ich weiß was ich in einer Viertelstunde, was ich in acht Tagen, was ich in einem Jahre denken und träumen werde.« Lena & Gouvernante, Dritte Szene Gouvernante »Denken Sie nicht an den Menschen.« Lena »Er war so alt unter seinen blonden Locken. Den Frühling auf den Wangen, und den Winter im Herzen. Das ist traurig. Der müde Leib findet ein Schlafkissen überall, doch wenn der Geist müd' ist, wo soll er ruhen? Es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke, ich glaube es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, blos weil sie sind.« Gouvernante »Wohin mein Kind?« Lena »Ich will hinunter in den Garten.« Gouvernante »Aber ...« Lena »Aber, liebe Mutter, du weißt man hätte mich eigentlich in eine Scherbe setzen sollen. Ich brauche Thau und Nachtluft wie die Blumen. Hörst du die Harmonieen des Abends? Wie die Grillen den Tag eingingen und die Nachtviolen ihn mit ihrem Duft einschläfern! Ich kann nicht im Zimmer bleiben. Die Wände fallen auf mich.« Den ungekürzten Originaltext des Stückes »Leonce und Lena« finden Sie kostenlos in der Gutenberg Bibliothek unter folgendem Link: http://gutenberg.spiegel.de/buch/georg-b-420/1 Leonce und Lena – Materialmappe 17 Anja Signitzer (als Lena) Anja Signitzer (als Lena), Ralph Kinkel (als Leonce) Leonce und Lena – Materialmappe 18 2 / Mir ist langweilig! Eigentlich hat man heute gar keine Zeit mehr, sich zu langweilen. Neben dem materiellen Überfluss, der stetig Ablenkung liefert, und der Schule – die die meisten Schüler/innen teilweise sicherlich als langweilig beschreiben würden – vertreibt man sich die Freizeit mit Hobbies, in Sportvereinen, geht ins Kino, spielt Videospiele, trifft sich mit Freunden, wischt in Apps auf dem Handy rum oder surft im Internet. Trotzdem langweilen wir uns immer wieder. Wie macht sich die Langeweile bemerkbar? Was macht man, wenn einem langweilig ist? Um Antworten wie »Ich spiele mit meinem Handy« zu vermeiden, kann man ein Experiment machen: 15 Minuten langweilen! Dazu muss alles von den Tischen geräumt werden, womit man sich beschäftigen kann, also Stifte, Blätter, Hefte, Mappen etc. Die Hosentaschen sollten leer sein, Handys sind natürlich ebenfalls verboten. Die Schwierigkeit dabei: Man darf auch nicht miteinander kommunizieren, kein Sprechen oder Flüstern und keine Zeichensprache. Nach 15 Minuten wertet man das Erlebte mit folgenden Fragen an die Gruppe aus: 1. Wie habt ihr euch gefühlt? (gelangweilt, entspannt, müde, …) 2. Was habt ihr gemacht? (In die Luft geschaut, nachgedacht, an den Nägeln gekaut, …) 3. Haben sich Emotionen entwickelt? Warum? (Wut / Aggression, Belanglosigkeit, …) 4. An was habt ihr gedacht? (Ideen gesponnen, Pläne gemacht,…) 5. Glaubt ihr, dass Menschen nur aus Langeweile extreme Dinge tun können? (z.B. Abhauen, Menschen Gewalt antun, …) Leonce und Lena – Materialmappe 19 3 / Der Druck von allen Seiten Jeder kennt es – keiner mag es: Die eigenen Eltern wissen immer am besten, was für einen gut ist, denken sie jedenfalls. So dürfen manche nicht mit dem Nachbarskind befreundet sein und für den Sohn eines Arztes ist die Laufbahn vielleicht auch schon von den Eltern vorgeplant. Doch was wollen die Jugendlichen? Finden sie es vielleicht sogar gut, dass die Eltern ihnen den Weg weisen, in dem großen Dschungel der vielen Möglichkeiten und Einflüsse? Und wie war das eigentlich früher? Um herauszufinden, was Jugendliche heute an ihren Eltern nervt, kann man ihnen folgende Aufgabe stellen: – Schreibe 10 Dinge auf, die dich an deinen Eltern nerven! oder – Schreibe 10 Dinge auf, von denen deine Eltern sagen, dass du sie tun oder nicht mehr tun sollst! (inkl. Ausbildung / Studium / Beruf / Freundschaften o.ä.) Die Zettel können nun in der Klasse verteilt und von jeweils einem anderen Schüler / einer anderen Schülerin vorgetragen werden. An der Tafel kann man die Antworten sammeln und mit Strichen die »Top Antworten« küren. Was fällt auf? Was überrascht? Wie zufrieden ist die Klasse mit ihren Eltern? RECHERCHEAUFGABE Und wie war das eigentlich früher? Als Hausaufgabe können die Schülerinnen und Schüler ihre Eltern und evtl. ihre Großeltern befragen und etwas recherchieren. Nach folgendem Muster lässt sich so eine Zeitleiste erstellen, die sich vielleicht sogar bis zu Büchners Zeit zurückfantasieren lässt (die Antworten in Klammern sind ausgedachte Beispiele): Ich bin jetzt 13/14/15/16 Jahre alt und… … (mich nervt am meisten, dass ich immer um 20 Uhr Zuhause sein muss, obwohl meine Freunde länger draußen bleiben dürfen.) Als meine Mutter / mein Vater 13/14/15/16 war … … (gab es die DDR noch und es gab viele Verbote, nicht nur für Jugendliche.) Leonce und Lena – Materialmappe 20 Als meine Großmutter / mein -vater 13/14/15/16 war … … (ist der 1. FC Köln deutscher Meister geworden und mein Opa durfte nicht zum Endspiel fahren.) Als meine Urgroßmutter / mein -vater 13/14/15/16 war … … (herrschte der 2. Weltkrieg und sie durfte als Jüdin kein Fahrrad haben.) Als meine UrUrgroßmutter / mein -vater 13/14/15/16 war … … (war der 1. Weltkrieg zwei Jahre her und trotzdem hat ihre Mutter ihr verboten alleine auf die Straße zu gehen.) Als meine UrUrUrgroßmutter / mein -vater 13/14/15/16 war … … (war es ungefähr das Jahr 1903 und mein UrUrUrgroßvater musste bereits im Geschäft seines Vaters mitarbeiten. Zur Schule ist er nicht mehr gegangen.) Als meine UrUrUrUrgroßmutter / mein -vater 13/14/15/16 war … … (wurde die Krankenversicherung als Pflichtversicherung eingeführt und endlich durfte meine UrUrUrUrgroßmutter ungehemmt auf Bäume klettern. Vorher hatte ihre Mutter immer Angst gehabt, dass sie sich verletzen könnte.) Als meine UrUrUrUrUrgroßmutter / mein -vater 13/14/15/16 war … … (wurde ihr gesagt, dass sie ihren Cousin dritten Grades väterlicherseits heiraten muss.) Als meine UrUrUrUrUrUrgroßmutter / mein -vater 13/14/15/16 war … … (war Georg Büchner bereits 8 Jahre tot und … ) Als meine UrUrUrUrUrUrUrgroßmutter / mein -vater 13/14/15/16 war … … (war es ungefähr das Jahr 1826 und man musste seinen Körper in Korsagen schnüren, für die bessere Haltung, obwohl es ganz unbequem war.) Vorschläge für Themen, an denen man sich bei der Zeitleiste orientieren kann: Zwangsheirat Erwartungsdruck Berufsausbildung Allgemeine Verbote / persönliche Verbote Gesellschaftliche Einschränkungen Dabei ist es spannend, historische und auch politische Ereignisse – wie FußballWeltmeister, Kriege, etc. – und auch neue Erfindungen und ›Meilensteine der Technik / Raumfahrt‹ in Verbindung zu setzen und aufzugreifen. Leonce und Lena – Materialmappe 21 Anja Signitzer (als Lena), Ralph Kinkel (als Leonce) Leonce und Lena – Materialmappe 22 Nachbereitung Eindrücke nach dem Theaterbesuch Hier finden Sie eine Sammlung von Anregungen und Aufgaben, bei denen sich die Schüler mit der Ästhetik der Inszenierung und den Themen »von Zuhause abhauen« und »Langeweile« auseinandersetzen können. Die Reihenfolge der Sammlung hat keine Bedeutung. 1 / Ästhetik des Stückes Die Bühnen- und Kostümbildnerin Marie Roth hat eine Bühne geschaffen, die zunächst schlicht scheint, aber sehr variabel ist und viele Orte entstehen lässt. Mögliche Fragen an die Schülerinnen und Schüler (im Klassenzusammenhang oder in einzelnen Gruppen): Bühne – Was habt ihr für Räume gesehen? (Enge, Weite, …) – Was für Orte haben sich euch erzählt? (Palast Popo & Pipi, draussen auf dem Weg, Festivalgelände, Partyraum,…) Kostüme – Wie würdet ihr die Kostüme beschreiben und wie haben sie sich im Laufe des Stückes verändert? (historische Kostüme, dann wurden sie moderner, flippig …) – Warum haben sich die Kostüme verändert? Was hat euch das erzählt? (der Aufbruch ist in den Kostümen sichtbar, man schält sich aus der Enge heraus, Schrei nach Freiheit und Eigenbestimmtheit) Figuren – Wie würdet ihr die einzelnen Figuren beschreiben? (Kostüm, Haltung,…) – Beschreibt die Emotionen der einzelnen Figuren, gab es Extreme? (z.B. König Peter, Stolzer Monarch – Unzufriedenheit & Unsicherheit, hasst sein Amt | Leonce, Melancholie, Langeweile – große Liebe – Todessehnsucht Lena, Moment im Hochzeitskleid: Muss die Fassung wahren und dann bricht es aus ihr heraus, …) Leonce und Lena – Materialmappe 23 2 / Kreatives Schreiben Wie schon in der Vorbereitung kann man den Schülerinnen und Schülern die Aufgabe stellen, 10 Gründe zu notieren, weshalb man von Zuhause abhaut. Seinen eigenen Zettel tauscht man mit einer Mitschülerin / einem Mitschüler. Nun soll sich die Klasse in 4er oder 5er Gruppen einteilen (dabei bestenfalls darauf achten, dass möglichst keine oder wenige eigene Zettel in der Gruppe sind). Da die Inszenierung viel mit Musik und poetischen Songtexten arbeitet, sollen die einzelnen Gruppen nun aus den Gründen / Stichworten einen Songtext schreiben – dieser kann schon mit einer (bekannten) Melodie versehen werden, das ist aber nicht zwingend nötig. Die Gruppen können ihre Songtexte dann der gesamten Klasse vorstellen und über die Gründe sprechen, die am häufigsten genannt wurden. Man kann auch aus den gesammelten Stichworten aus der Vorbereitung – 10 Dinge, die ich tue, wenn ich mich langweile / 10 Dinge, von denen deine Eltern sagen, dass du sie tun oder nicht mehr tun sollst! – Songtexte o.ä. entwickeln. Im Anhang finden Sie als Beispiele – nur für den internen Gebrauch! – zwei Liedtexte aus den Proben, die von den Musikern Moritz Krämer und Francesco Wilking geschrieben wurden. Zudem einen Text einer Schülerin, der die Gefühle beim Abhauen in den Fokus rückt. 3 / Tagesprotokoll Wann habe ich mich gelangweilt? Bin ich ›Herr‹ meiner Entscheidungen? In einem Tagesprotokoll sollen die Schülerinnen und Schüler einen ganzen Tag notieren, was sie getan haben. In graphischen Darstellungen lassen sich die Ergebnisse der Klasse gut zusammenfassen und prozentual abbilden. So werden die Anteile – z.B. der Langeweile an einem Tag – anschaulich aufbereitet. Folgende Fragen könnte man vorgeben, das macht die Auswertung einfacher: (Antworten: von XX:XX Uhr bis XX:XX Uhr) – Wann habe ich BEWUSST Zeit verschwendet / mich entspannt? – Wann habe ich mich gelangweilt? – Wann habe ich mich mit einem Hobby beschäftigt? – Wann habe ich etwas gemacht, was ich machen MUSSTE? (Pflichten z.B. Schule, Nachhilfe, Hausaufgaben, Spülmaschine ausräumen oder andere Hausarbeiten, zum Geburtstag der Tante fahren, …) Leonce und Lena – Materialmappe 24 Eine graphische Darstellung könnte – ganz einfach gehalten – wie folgt aussehen: Das war mein Tag / 6.3.2015 PFLICHTEN SCHLAF ZEIT VERSCHWENDET HOBBY LANGEWEILE Ergänzend könnte man noch notieren: – Wie viele Entscheidungen habe ich getroffen, weil ich es so wollte? – Wie viele Entscheidungen waren fremdbestimmt? (von der Lehrkraft, von den Eltern, von anderen Umständen, …) – Wie oft habe ich mich lieber gar nicht entschieden? 100% 80% 60% 40% gar nicht entschieden fremdbestimmt eigene 20% 0% meine Entscheidungen Es ist sicher interessant, wenn man ein Protokoll eines Wochentags und eines von einem Samstag oder Sonntag vergleicht. Spannend ist auch: Wie ist die eigene Wahrnehmung des Tages bzgl. Pflichten und Freizeit? Und wie groß ist der Anteil der Pflichten wirklich? Leonce und Lena – Materialmappe 25 Theaterknigge Ein Theater ohne Publikum ist wie … … ein König ohne Krone. … eine Party ohne Musik. … Leonce ohne Lena. Daher freuen wir uns darüber, dass ihr da seid! Da es im Theater ein paar Regeln zu beachten gibt, haben wir dieses kleine Lexikon als Hilfe für euch zusammengestellt: Abendkleid, das: Viele Menschen ziehen sich gerne schön an, wenn sie ins Theater gehen. Sie wollen den Schauspielerinnen und Schauspielern ihren Respekt erweisen, oder selber auch ein bisschen glitzern, falls jemand zu ihnen in die Loge schaut. Heute ist schicke Kleidung aber keine feste Regel mehr im Theater. Essen, das: Ihr könnt euch vorstellen wie sehr es stören würde, wenn bei ganz leisen oder traurigen Szenen plötzlich jemand im Publikum in einen knackigen Apfel beißen würde. Und dann stellt euch vor, dass jemand neben euch eine Knistertüte auspackt ... Also, das Essen im Theater ist grundsätzlich nicht erlaubt. Fotografieren, das: Auch das Fotografieren ist leider nicht erlaubt. Wenn ihr schöne Bilder von dem Stück haben wollt, fragt doch im Theater nach. Meistens gibt es Erinnerungsbilder zum mit nach Hause nehmen auf Plakaten und Postkarten. Handy, das: Natürlich ist wichtig, dass eure Freunde erfahren, dass ihr grade im Theater seid, aber bitte nicht während der Vorstellung. Wie sollen sich denn die Schauspielerinnen und Schauspieler an ihren Text erinnern, wenn ständig jemand dazwischen quatscht? Ihr könnt euch vorstellen, wie allein das Klingeln eines Handys alle Menschen auf der Bühne und im Publikum stört. Klatschen, das: Nachdem ein Stück vorbei ist, kommen die Schauspielerinnen und Schauspieler auf die Bühne und alle können heftig applaudieren. Je besser einem das Stück gefallen hat, desto lauter kann der Applaus sein. Unterhalten, das: Vermeidet es bitte, euch während der Vorstellung zu unterhalten. Die Schauspieler können euch, anders als im Kino, hören! Merkt euch eure Anmerkungen und Gedanken einfach, bis das Stück zu Ende ist, dann habt ihr noch genug Zeit über das Gesehene zu diskutieren. Turnschuhe, die: Turnschuhe sind im Theater erlaubt. Vielleicht solltest du sie nicht grade ausziehen, wenn du deine Füße vorher nicht gewaschen hast und deine Socken stinken könnten. Leonce und Lena – Materialmappe 26 Ensemble, Anja Signitzer (als Lena), Ralph Kinkel (als Leonce) Ravi Marcel Büttke (als Valerio), Anja Signitzer (als Lena) Leonce und Lena – Materialmappe 27 Ensemble, Ralph Kinkel (als Leonce), Anja Signitzer (als Lena) Leonce und Lena – Materialmappe 28 Anhang 1 \ Songtexte IM GELBEN LICHT // © Moritz Krämer, Francesco Wilking Dreh die Fenster rauf die Musik noch lauter Ich will da sein wo du bist Bring die Meute auf Bring die Meute um Ich war noch nie so jung Ich hab ihn nie danach gefragt Und er hat nie etwas gesagt Wer mich in diese Welt warf War sie schön, komm ich nach ihr War da auch Liebe zwischen dir Und dieser Frau Seit ich aufrecht stehen kann hab ich geübt und bin gerannt Ein guter Junge, bei dir kam ich nie an Ich war mit 14 schon mit einem Zug zugeraucht Hab's immer wieder versucht Und ging jedes Mal aus Bin aufgewacht mit kaltem Schweiß und Sprudel im Gesicht Draußen im Park neben Punks Im gelben licht Dass wir uns trafen war Bestimmung Du hast es bestimmt und ich bin dir hinterher Wie ein dreijähriges Kind Das einem Luftballon folgt und die Straße vergisst die Geschwister, die Eltern und dass es die Welt überhaupt gibt Wir haben uns zusammen geschlagen Uns zusammen versteckt Mussten um 11 zu Hause sein Kamen morgens um 6 Seit ich aufrecht stehen kann Hab ich geübt und bin gerannt Ein guter Junge, und du hast mich erkannt Ich war mit 14 schon mit einem Zug zugeraucht Hab's immer wieder versucht Und ging jedes Mal aus Bin aufgewacht mit kaltem schweiß und Sprudel im Gesicht Draußen im Park neben Punks Im gelben licht Leonce und Lena – Materialmappe 29 Wir dachten das Leben ist ein umgedrehtes Frühstückstablett Wir dachten www steht für weit weit weg Du kanntest Schlafplätze in Berlin Alle fanden dich nett Du warst mit jeder meiner Freundinnen vor mir im Bett Dreh die Fenster rauf die Musik noch lauter Ich will da sein wo du bist Bring die Meute auf Bring die Meute um Ich war noch nie so jung Wirf die Pläne hin Heb die Karten auf Spiel das Ass und renn Nimm die Kohle mit So wie ich Geh in Flammen auf Ich brenn für dich Brich die Schlüssel ab Ich will nie wieder zurück LANGWEILIG // © Moritz Krämer, Francesco Wilking Auf einem Stuhl Zwischen vielen Leuten Es ist gut besucht Aber das hat noch lange nichts Gutes zu bedeuten Stell dir vor du wärst heute gar nicht hier Denk dich mal raus zurück da drüben durch diese Tür Du liegst noch im Bett hast heute Morgen verschlafen den Wecker nicht gehört und dann lange gebadet Keine Schule keine Arbeit bist zu Hause geblieben Und hast dir mit rumhängen und Kaffee trinken die Zeit vertrieben Tage Wochen Monate Aber irgendwann bist du unruhig geworden Und wolltest wieder raus raus unter Menschen Zurück in die Horde Aber auf der Straße nur Gesichter mit ihrem eigenen Leben Keiner kennt dich mehr, Und keiner will mit dir reden Und an diesem Tag kannst du nur hochnäsig werden Und du beschließt dass du niemanden brauchst Die sollen doch tun was sie tun Weil du so viel wie all diese Deppen alle zusammen wissen weißt Und du beschließt alles anders zu machen als alle andern Keine Arbeit keine liebe keine Familie keine Ehe keine Wehen keine Zukunft keine Herkunft kein Zorn keine Versöhnung Jetzt bist du alleine Jetzt kannst du dir selbst schon ein wenig leidtun Du kannst dir schon selbst ein wenig leidtun Er kann dir schon ein bisschen leidtun Er ist einer wie du Leonce und Lena – Materialmappe 30 Ich hoffe du magst ihn Er ist nicht gerade sympathisch Eher unsympathisch Aber er ist einer wie du er ist einer wie du und ich hoffe du magst ihn viele mögen ihn ja nicht Er kann dir schon ein bisschen leidtun Langweilig Langweilig Langweilig leer wie die Krater auf dem Mond da wo ihr hin wollt war ich schon ich suche dich und dich und dich und finde mich und mich und mich Anhang 2 \ Abhauen Keine Zweifel von Denise Knour Mein Wecker klingelt. Halb sechs. In einer Stunde stehen meine Eltern auf. Gestern lag ich lange wach. Müdigkeit kriecht durch meine Knochen. Mein Gewissen schläft noch. Das Wichtigste habe ich gepackt, der Rest bleibt hier. Ich ziehe mich an, mein Schlafsack steht an der Wand. Das Zimmer meiner Eltern ist nebenan. Keine Zweifel. Das warme Licht der Sparlampe auf meinem Schreibtisch erfüllt den Raum. Ich kann das Rollo nicht hochziehen, doch durch die Lücken sehe ich, dass es schon dämmert. Die Heizung in meinem Zimmer funktioniert nicht, deshalb ist es so kalt hier. Obwohl ich mir einen warmen Pullover angezogen habe, habe ich das Gefühl, dass sich diese Kälte unter meine Haut gräbt. Die Luft riecht wie an dem Sommerabend, an dem wir mit unserer Klasse nach Frankreich gefahren sind. Ich ziehe meine Jacke an. Es wird Zeit. Warme Kleidung, Schlafsack, Stift, Block, Geld. Ich ziehe mein Portemonnaie aus der Tasche. Der Brief... ohne den fahre ich nicht. Ich knipse die Schreibtischlampe aus. Keine Zweifel. Ich blicke noch einmal in mein Zimmer. Es schweigt. Es ist, als wollten die Wände lange, dünne Fangarme nach mir ausstrecken, doch sie werden mich gehen lassen. Der Sonnenaufgang schleicht in Streifen über die weiße Tapete. Ungemachtes Bett. Hefte auf dem Boden. In den Ferien wollte ich für Mathe lernen. Leonce und Lena – Materialmappe 31 Ich reiße mich aus meinen Gedanken und zwinge das Zittern meiner Hände hierzubleiben. Ich hole tief Luft. Meine Tür quietscht. Gestern habe ich geübt, sie lautlos zu öffnen. Ich habe nur einen Versuch. Ich drücke die Klinke herunter. Bitte... lass den Hund nicht bellen... Kein Geräusch. Ich atme nicht. Meine Eltern schlafen. Es gibt nur Jetzt. Keine Zweifel. Die Haustür habe ich gestern Nacht schon aufgeschlossen. Ich schleiche den dunklen Flur entlang. Dann bleibe ich ruckartig stehen. Klack. Die Lampe mit dem Bewegungsmelder ist angegangen. Gedankenfetzen springen gegen die Decke. Stille. Orangene Sonnenstrahlen glitzern in der Glastür. Ich gehe in die Küche und schreibe einen Zettel. Nur einen Satz. Kein Abschiedsschmerz, kein „Bitte macht euch keine Sorgen“. Im Haus ist es ruhig, ich gehe wieder in den Flur. Es ist nur ein Schritt. Wie der Sprung von der Klippe bei einer Mutprobe. In 15 Minuten kommt mein Zug. Bis bald. Keine Zweifel. Ich trete hinaus. Wind streift mein Gesicht und hinterlässt kalte Spuren. Der träge Schlaf in meinen Augen versteckt sich in meinem Kragen. Das Haus hält mich fest. Vernunft beißt in meinen Brustkorb. Noch kann ich zurück. Ich atme ein, ein Brennen durchfährt meine Luftröhre. Staub kriecht in meine Nase. Es riecht nach Baustelle. Die flachen Sohlen meiner Schuhe klopfen auf den Asphalt. Ich hebe einen Stein auf. Ein Stück Heimat. Die Sonne streichelt mein Haar. Sie gibt mir Sicherheit. Ich beginne, zu rennen. Viertel vor sieben. Mein Zug ist schon da. Irgendetwas drückt auf meine Lungen. Das Ticket habe ich bereits gezogen. Ich blicke es fragend an. Abenteuer, Sicherheit. Keine Zweifel. Die Zugtür öffnet sich, eine Menschenwelle schwappt heraus. Der Griff meines Rucksacks gräbt sich in meine Finger. Mein Mund ist trocken, trotzdem versuche ich das, was mir gerade die Luft abschnürt, hinunterzuschlucken. Ich presse die Lippen aufeinander und denke an meinen Plan. Keine Gedanken, kein Zögern, keine Zweifel. Ich steige in den Zug ein. Der Boden scheint sich an meinen Füßen festzuhalten. „Die Türen schließen selbsttätig“, grinst mir ein Schild entgegen. Wir fahren ab. Die Städte um mich herum werden jetzt mit jedem Meter größer. Ich schlucke noch einmal. Ein heißes Gefühl breitet sich in meinem Körper aus. Mein Gewissen ist aufgewacht. Text von Denise Knour / Klasse 10c Erftgymnasium zum Thema »Von zu Hause abhauen« http://www.erftgymnasium.de/1182.html Leonce und Lena – Materialmappe 32 Ralph Kinkel (als Leonce), Nikolaij Janocha (als König), Anja Signitzer (als Lena), Nina El Karsheh (als Gouvernante), Ravi Marcel Büttke (als Valerio) Leonce und Lena – Materialmappe 33