Ain`t no Sunshine

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Ain`t no Sunshine
Ain’t no Sunshine
Catharina Geiselhart
Ain’t no
Sunshine
Eine Liebesgeschichte aus Paris
SCHWARZKOPF & SCHWARZKOPF
Prolog: The End of the World 7
1.
Erste Blicke – Schmetterlinge 9
2. Don’t Let Me Be Misunderstood 19
3. Love is the crooked Thing. 29
4. Cupidos Gedankenspiele 37
5. Kiss the Rain und liebe den Alltag 47
6. La première fois – Das erste Mal 61
7. Weil du Heimat und Zuhause bist 65
8. Die geflügelten Helfer der Liebe 71
9. Erster Streit 77
10. Gimme Shelter 87
11. Das Geheimnis der Liebe 93
12. Über den Wolken 103
13. La vie est une fleur, l’amour en est le miel.
Das Leben ist eine Blume, deren Nektar die Liebe ist. 113
14. Halt mich fest 121
15. Bis ans Ende der Welt 131
16. Glück wohnt im dritten Stock 141
17. Herzklopfen 149
17. Länger als drei Jahre 159
18. Lieben und Streiten 169
19. You Are My Rock 179
20. Suspicious Minds – Gefahrenzonen 185
21. Hochzeits­vorbereitungen – ­Hochzeitsglocken 195
22. Sternschnuppen 205
23. Der Himmel kippt 215
24. Ein letztes Mal 225
25. Das Ende der Welt 237
26. Ain’t No Sunshine When He’s Gone 251
27. Wie sieht dein Himmel aus? 261
28. Ein Sonnenstrahl im Dunkeln 273
Epilog: Ready To Rise Again – Wehmütiger Neuanfang 281
A Sébastien –
chaque battement de mon cœur.
Prolog
THE END OF THE WORLD
Es ist nicht so sehr die Furcht vor dem Tod, die uns antreibt, an Gott
zu glauben. Es ist das Bedürfnis, sich an etwas festzuhalten, damit uns
der Boden nicht unter den Füßen wegschwimmt. Es ist ein Hilferuf
nach Liebe und Freundschaft. Und so glauben wir, wenn wir schon
nicht an Gott glauben wollen, an Liebe und Freundschaft. Von ihnen
lassen wir uns über schier unüberwindliche Klippen tragen.
Mein Leben hat an einem Nachmittag im Juli seinen Sinn verloren.
Während die Stadt im Licht der Sommersonne strahlte, war in mir
alles dunkel. Drei Jahre lang wachte ich jeden Morgen neben ihm auf.
Drei Jahre lang spürte ich seine Nähe im Schlaf, im Wachen, an der
Uni, aus der Entfernung. Ich war einfach glücklich, ich lebte mit dem
Mann meiner Träume. Es war alles so leicht und bald hielt ich mein
Glück für selbstverständlich. Doch Glück ist nicht selbstverständlich.
Glück kann zerbrechen. Ganz plötzlich zerplatzen wie eine Seifenblase. Eben noch spiegelte sich in ihr ein Traum und mit einem Schlag
ist dieser Traum verschwunden. Zurück bleibt das Echo eines tosenden
Knalls, als ob die Welt unterginge. Es kommen Tränen, immer wieder
Tränen. Schmerz, Fassungslosigkeit, der Wunsch zu sterben. Und es
kommen die Erinnerungen.
7
1. Kapitel
ERSTE BLICKE –
SCHMETTERLINGE
In dem Moment, als sich Julian und Lena auf der Place Saint-Sulpice
zum ersten Mal sahen, flog Amors Pfeil. Lena ging zum dritten Mal
über den Platz und Julian starrte schon eine Weile wie gebannt auf
das Lichterspiel des Brunnens. Sie wussten überhaupt nichts voneinander, und keiner von ihnen spürte einen Stich oder irgendeinen anderen Hinweis auf Verliebtheit. Nur Amor wusste davon.
Unsichtbar für die Gleichgültigen und Gestressten, die täglich ihrem
Beruf oder einer stupiden Beschäftigung hinterherhetzten, saß er
unter der steinernen Wölbung der Fontaine Saint-Sulpice. Von den
vier Bischöfen, die als imposante Statuen in den Dachgewölben der
Fontaine thronten, zwinkerten zunächst nur die zwei arrogantesten.
Jene, die auch nach vierhundertjährigem Tod noch glaubten, sie
seien quicklebendig.
Bossuet, der unter Sonnenkönig Ludwig XIV. Bischof von Meaux
und später Mitglied der berühmten Académie française war, dozierte
hochmütig, er gäbe der Liebe zweier Studenten des 21. Jahrhunderts
höchstens ein Jahr, wenn überhaupt. Die heutige Zeit sei schnelllebig, alles vergehe in rasender Geschwindigkeit, Glühbirnen hielten
nur wenige Wochen, Stoffe zerfielen im Handumdrehen, Brot halte
sich nur einen halben Tag, ein Film verschwinde, kaum sei er in
den Kinos, und ebenso sei es mit der Liebe. Während seiner Rede
glotzte der Bischof von Clermont aus steinernen Augen in die Ferne
und murmelte dabei: »Liebe ist nur eine Formel für Begierde und
Wollust, weiter nichts.«
Cupido lachte die beiden aus: »Ihr seid neidisch, weil Ihr kalt
und auf Eure steinalten Tage ziemlich gottlos geworden seid. Ich
sage Euch, die Liebe mancher Paare reicht ein ganzes Leben und
manchmal über den Tod hinaus.«
»Das ist eine verdammt lange Zeit, denn im 21. Jahrhundert
leben die Menschen mehr als achtzig Jahre«, zischte Bossuet und
wurde dabei ganz grün. Offenkundig war es Grünspan, der ihn derart färbte, aber eigentlich war es seine verbitterte Seele, die es dem
Menschen der Cyberzeit neidete, hundert Jahre alt zu werden.
Cupido wandte sich ab. Sein Interesse galt den Lebenden. Er sah
auf den Platz. Lena kam näher. Und Cupido überlegte, ob seine Pfeile
in dieser rasenden Zeit noch das hielten, was sie einst versprachen.
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Skeptisch wiegte er den Kopf. Die Bischöfe hatten ihn auf eine Idee
gebracht. Heute mussten andere Geschütze aufgefahren werden.
*
Nun, da sie zum dritten Mal den Platz überquerte, verlangsamte
sie ihren Schritt und sah sich den seltsamen Typen, der wie eine
Statue vor dem Brunnen stand, genauer an. Mittlerweile sank die
Abenddämmerung über die Stadt. Die Lichter der Straßenlaternen
flammten auf, die Fontaine Saint-Sulpice erstrahlte im Glanz ihrer
Beleuchtung. In ihrem Schein blickten die düsteren Bischöfe freundlich und kleine Blitze zuckten über das Wasser des unteren Beckens.
Der Wind riss Blätter von den Kastanienbäumen und fegte sie über
den Platz. Sie wirbelten und tanzten. Hin und wieder blieben sie für
den Bruchteil einer Sekunde in der Luft, reglos, als hielten sie den
Atem an, als hätte ein Maler sie festgehalten, um dann in Zeitlupe
zu fallen.
Trotz des feuchten Windes, der unter ihre Felljacke kroch, spürte
Lena den Zauber des Augenblicks. Licht, Dämmerung, Wind und
der funkelnde Nieselregen schufen einen märchenhaften Moment.
Aber vielleicht war da noch etwas. Etwas, was sie mit bloßem Auge
nicht sah. Etwas hielt sie ab, rasch nach Hause zu streben, was jeder
normale Mensch an diesem regenkalten Abend zu tun schien. Die
meisten Passanten zogen die Köpfe ein, eilten vermummt durch die
Straßen, über den Platz zum Bus oder zur Metro. Nur die Hundebesitzer harrten mit verbissenen Gesichtern neben ihren Hunden
aus, als lägen nicht die Vierbeiner, sondern sie selbst an der Leine.
Was geht mich eigentlich der Typ an, der dort steht, das Gesicht im hochgeschlagenen Kragen zur Hälfte verborgen?, fragte
sich Lena, während sie bis zum Rand des unteren Beckens ging
und, genau wie der junge Mann, wie hypnotisiert auf den Brunnen
starrte. Dabei bemerkte sie etwas, was ihr noch nie aufgefallen
war, weil sie stets achtlos und vollkommen in Gedanken über den
Platz eilte: Das Wasser stürzte in breiten Bächen über die zwei
oberen Beckenränder und sah dabei so glatt und glänzend aus,
dass man sich darin hätte spiegeln können. Mit Wucht ergoss es
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sich in das untere Becken, vorbei an den steinernen Löwen, die aus
ihren riesigen Mäulern ebenfalls Wasserfluten spuckten. Die bewegte Oberfläche schimmerte im Licht der Brunnenbeleuchtung
und wurde durch den stärker einsetzenden Regen erst richtig aufgepeitscht.
Eine Weile ließ sich Lena vom Spiel des Lichtes und des Regens
in Bann ziehen, dann plötzlich spürte sie wieder die Kälte und Nässe
durch ihre Jacke dringen. Als sie sich zum Gehen wandte, blickte sie
unwillkürlich zu dem Jungen. Auch er hatte sie bemerkt. Ihre Blicke
trafen sich. Lena konnte sich nicht überwinden, weiterzugehen. Sie
blieb einfach stehen und sah ihn an. Ein wenig spöttisch, ein wenig
erstaunt. Der Junge lächelte. Ein wenig spöttisch, ein wenig erstaunt.
Dann zog er plötzlich ein Buch aus seiner Manteltasche. Trotz des
Regens schlug er es auf und trotz der Gefahr, von dem Mädchen ausgelacht zu werden, las er: »Es regnet, die Blätter sterben im Licht der
erleuchteten Nacht. Alles vergeht, auch das Licht, und so wünsche
ich mir ein Auge, die Möglichkeit zu sehen.«
»Ist das von Marcel Proust?«, fragte Lena unwillkürlich. Sie hatte
sich bis auf zwei Schritte dem Jungen genähert. Der Regen klatschte
nun stärker nieder und der Junge steckte das Buch rasch wieder in
die Tasche.
»Vielen Dank. Stell dir vor, es ist von mir, inspiriert von Kierkegaard.« Er zwinkerte, dann fragte er: »Wie heißt du?«
»Ist das deine Masche, um Mädchen anzusprechen?«, fragte sie,
statt eine Antwort zu geben.
So begann die Geschichte von Lena und Julian.
*
Cupido behielt sie im Auge. Er sah, wie sie gemeinsam über den
Platz zum Café de la Mairie gingen. Oft flog er sogleich nach Abschuss der ersten Pfeile weiter, aber diesmal entschied er anders.
»Vergeude nicht deine kostbaren Pfeile. Sie kratzen nur an der
Oberfläche«, brummte der Bischof von Meaux. »Sie treffen nicht
das Herz, weil die heutige Jugend das Herz in ihren Händen trägt.
Es sind ihre Handys, iPhones und iPads!«
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»Das ›i‹ steht ja für Ich, habe ich gehört«, meldete sich plötzlich mit interessiertem Ausdruck der Bischof von Nîmes, woraufhin
sein Kollege aus dem frühen 17. Jahrhundert eilig erwiderte: »Ja,
das Ich ist wichtiger als das Du. Das Ich muss immer alles sofort
haben, sofort erreichen, sofort genießen. So ist diese Zeit, in der
die Menschen da unten leben. Es ist die Jetzt-Zeit. Alles, was Bedeutung hat, geschieht jetzt, was vorher war, soll vergessen werden,
wird vergessen und die Zukunft ist keine Überraschung mehr, weil
sie geplant und verplant wird.«
»Ihr seid ja so gebildet. Aber eines habt Ihr nicht begriffen«,
entgegnete Cupido, ohne das Pärchen im Café de la Mairie aus den
Augen zu lassen. Ein wenig verblüfft, obwohl Gemütsregungen in
den steinernen Gesichtszügen nicht wirklich zu erkennen waren,
verstummten die drei Bischöfe. Sie warteten. Statt aber eine
Antwort zu geben, griff Cupido in seinen Köcher und holte etwas
heraus, was nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Pfeil hatte.
Den Bischöfen von Nîmes, Meaux und Clermont traten vor Schreck
die Augen aus den Höhlen, nur der Erzbischof von Cambrai, der
Schlafzimmeraugen hatte, nickte zustimmend.
»Oh ja, ich weiß, was du sagen willst. Die jungen Leute tragen ihr
Herz unter einem Panzer, den du nur mit einer Kalaschnikow durchdringst. Das Problem ist nur: Einmal getroffen sind sie tot.«
»Seid unbesorgt. Ich wollte Euch nur erschrecken. Die jungen
Leute mögen ein gepanzertes Herz haben, aber es ist empfindsamer
und zerbrechlicher als je zuvor. Ich werde es also weiterhin mit
Pfeilen versuchen.«
*
Dicht neben einem Heizstrahler, unter der schützenden Markise des
Café de la Mairie, saßen die beiden und diskutierten über Kierkegaard. Lena wusste nicht mehr über den dänischen Denker, als dass
ihn die Existenzialisten Camus, Sartre und Deleuze bewundert
hatten, aber sie verstand nicht, warum ihm aktuelle Philosophen
so viel Bedeutung beimaßen. War er nicht ein finsterer Geselle gewesen? Und überhaupt: Hatte sein Denken nicht längst Rost an13
gesetzt und war den Menschen des 21. Jahrhunderts unverständlich
geworden. Julian widersprach ihr und holte als Beweis das Buch
aus der Manteltasche: »Pass auf! Ich lese dir mal diese Stelle vor:
›Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, so wünschte ich mir weder
Reichtum noch Macht, sondern nur die Leidenschaft der Möglichkeit; ich wünschte mir ein Auge, das ewig jung, ewig von dem Verlangen brennt, die Möglichkeit zu sehen.‹1 Ist das etwa eine finstere,
antiquierte Lebenseinstellung?« Julians Augen leuchteten und
Lena hatte eine Sekunde lang das Gefühl, noch nie solche Funken
sprühende Augen gesehen zu haben. Sie wurde rot, wirkte verlegen
und erklärte Julian, sie habe zu wenig von dem Dänen gelesen, um
ihn zu verstehen, und selbst wenn sie ihn gelesen hätte, verstünde
sie ihn nicht.
»Irgendwann im Jahr 1900 schrieb die alte Frau Schlegel in einem
Brief, dass die Franzosen Kierkegaard niemals verstehen würden.
Diese Frau hieß in ihrer Jugend Regine Olsen und war Kierkegaards
Geliebte gewesen, bevor sie Frau Schlegel wurde.«
Auf der Kante des Kaffeehausstuhles balancierend, das Kinn in
die Hand gestützt, hörte Lena zu. Nun fing sie an, mit den Füßen zu
scharren und auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen. Schließlich
sah sie auf die Uhr.
»Okay, ich langweile dich. Vermutlich interessiert dich der neueste
Look von Nicole Richie mehr als mein Gequatsche.« Resigniert
klappte Julian das Buch zu. Lena zuckte mit den Schultern. Sie wollte
nicht unhöflich sein und schüttelte heftig den Kopf.
»Ach, was. Nicht du langweilst mich, nur der Typ, dieser Kierkegaard. Er interessiert mich überhaupt nicht. Tut mir leid, Julian,
ich muss jetzt gehen. Morgen erwartet mich ein Test über die
­Expressionismusdebatte.« Sie stand auf. »Es war nett mit dir. Wir
sehen uns ja wieder. Die Welt ist klein. Und Paris ist klitzeklein.«
Sie lachte, warf den Kopf zurück.
Trotz des ungemütlichen Herbstwetters hatte sie dieses sonnige,
frische Strahlen im Gesicht, das Julian ermunterte, nach ihrer
Handynummer zu fragen. Sie rief ihm die Zahlen über zwei Tische
hinweg zu. In dem Moment kam der Bus die Rue Saint-Sulpice
heraufgerauscht, fuhr knapp an der Bordsteinkante vor dem Café
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vorbei und bespritzte einige Passanten mit dem schlammigen
Wasser einer Pfütze.
*
Cupido berührte seinen Köcher. Er überlegte, während seine Augen
eine einzige Person im Visier hatten. »Ich muss sehr übel gezielt
haben«, sagte er halblaut. »Das ist mir in den letzten Jahren häufiger
passiert. Und das, obwohl ich mich täglich im Schießen übe und zudem im siebten Himmel Seminare zu den neuesten Erkenntnissen
über Liebe besuche. Aber Mark Zuckerberg hat mir diesbezüglich
einen hässlichen Strich durch die Rechnung gemacht. Liebespaare
wenden sich von mir ab und Facebook zu. Pech!«
»Armer Cupido. Du bestehst trotz Facebook darauf, noch einen
Pfeil abzuschießen? Ich sage dir, es ist Verschwendung. Außerdem
ist der Regen kalt und lästig. Ich wette, das Mädchen hat den Jungen
vergessen, sobald es um die Ecke ist. Daran ändert dein Pfeil nichts.
Spare ihn dir für bessere Zeiten!« Bischof Bossuets Augen starrten
stur geradeaus. Mittlerweile waren nicht nur seine Wangen, sondern
auch seine Stirn grün. Er platzt ja fast vor Neid, der einst so stolze
Kirchenvater, dachte Cupido und lachte in sich hinein. Dann
meldete sich Bischof Nummer vier zu Wort.
»Sind nicht wir es, die aus der Zeit gute oder schlechte Zeiten
machen? Lass ihn fliegen, Monseigneur! Er trägt dazu bei, dass
auch im Morast Blumen blühen. Facebook kann das nicht und wir
können es ohnehin nicht. Wir sind viel zu verdorben.«
*
Lena hatte sich auf die Innenseite des Trottoirs gerettet. Sie verschloss ihre Tasche, strich sie glatt und platzierte sie als Regenhutersatz auf ihrem Kopf. Dicht an den Schaufenstern entlang ging
sie, im Schutz der Häuservorsprünge, eilig voran und dachte an
das Gespräch. Warum so viel über Kierkegaard? Warum mit einem
wildfremden Jungen beim ersten Treffen über philosophische Weisheiten diskutieren? Habe ich einen Denkerschädel? Sehe ich so
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vergeistigt aus, dass einem jungen Mann bei meinem Anblick nur
philosophische Traktate einfallen?
Er hat mich ein wenig nach meinen Studien und Hobbys gefragt,
ein paar Worte zu meinem Leben habe ich bei der Gelegenheit auch
gesagt, aber er hat fast nichts über sich erzählt. Nur angesehen hat
er mich so sonderbar. Immer wieder angesehen und so traurig geschaut, als ich sagte, ich müsse gehen.
Abrupt blieb Lena stehen. Sie hatte den Zebrastreifen überquert,
war achtlos am Brunnen vorbeigegangen und stand nun in Höhe
des beleuchteten Rathauses. Unwillkürlich drehte sich das Mädchen
um. Hier hat er gestanden, dachte es. Ein hübscher Mensch. Schöne
Augen. Kluges Gesicht. Und er hat Stil: Ich mag es, wenn ein Mann
hin und wieder andere Schuhe trägt als die ewigen Turnschuhe und
wenn er statt dem dicken, unförmigen Anorak, der selbst die beste
Figur ruiniert, einen Wollmantel anhat und dazu den passenden
Schal. Ich mag … Während Lena ihre Liste der Pluspunkte aufstellte,
fiel ihr nur ein einziger Minuspunkt auf: Julians Pariser Einführung
in Kierkegaard.
»Ich bin blöd!«, rief sie laut und machte auf dem Absatz kehrt.
»Jetzt muss ich doch mal nachfragen, ob er bei dem Lärm meine
Handynummer richtig verstanden hat.« In eiligen Schritten, die
Tasche auf dem Kopf, ging sie bis zum nördlichen Ende des Platzes.
Der Regen klatschte gegen ihre Beine und drang durch die Ärmelöffnung des Armes, mit dem sie ihre Tasche über dem Kopf hielt, bis
zum Ellbogen. Am Fußgängereingang zur Tiefgarage Saint-Sulpice
hielt sie erneut an. Sie spürte den Regen im Nacken, im Gesicht
und sehr unangenehm auf der Hand, die sich ins Leder der Tasche
krallte.
Wenn er mich so durchnässt sieht, denkt er bestimmt: Die dumme
Kuh ist meinetwegen durch den strömenden Regen zurückgelaufen.
Was muss ich für ein toller Typ sein. – Nein, sie würde nicht wie ein
Schaf zu ihm trotten und schüchtern fragen, ob er ihre Nummer
auch richtig notiert hätte. Von der Bordsteinkante aus konnte sie die
überdachte Terrasse des Cafés der gegenüberliegenden Seite überblicken. Julian war nicht mehr da. Es versetzte Lena einen kleinen
Stich, an dem Tisch, an dem sie mit ihm gesessen hatte, ein anderes
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Paar zu sehen. Enttäuscht wandte sie sich ab. Wieder überquerte
sie den Platz. Das war wohl das sechste Mal an diesem Tag. Erneut
hielt sie am Brunnen an. Mittlerweile hatte der Regen nachgelassen.
Typisch für Paris. Es schüttete minutenlang aus Kübeln, um dann
schlagartig wieder aufzuhören.
Die Tasche um ihre Schulter gehängt, das Haar von Regen und
Wind zerzaust, blickte sie an der Fontaine hinauf, dorthin, wo die
Bischöfe im Schutz ihrer steinernen Kuppel saßen, und sagte laut:
»Ich bin nicht abergläubisch, aber vielleicht hilft es, wenn ich mir
genau an der Stelle, an der Julian vor zwei Stunden gestanden hat,
wünsche, er möge mich anrufen.«
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