2015-09-28, Raul vor UNO

Transcrição

2015-09-28, Raul vor UNO
Quelle:
, 30.09.2015, Seite 3 / Schwerpunkt
Raúl Castro: »Die Welt wird immer auf die Stimme
Kubas zählen können«
Rede des kubanischen Präsidenten Raúl Castro am Montag [28.09.2015] vor der
UN-Vollversammlung in New York
Von Raúl Castro Ruz
Liebe Staats- und Regierungschefinnen und -chefs,
geehrte Chefs und Chefinnen der Delegationen,
Herr Generalsekretär der Vereinten Nationen,
Herr Präsident,
vor 70 Jahren haben wir Mitglieder dieser Organisation im Namen der Völker die
Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet. Wir verpflichteten uns dazu, die
künftigen Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren und einen neuen
Rahmen für unsere Beziehungen zu schaffen. Dieser sollte durch eine Reihe von
Vorhaben und Prinzipien geprägt werden, um eine Epoche des Friedens, der
Gerechtigkeit und der Entwicklung für die gesamte Menschheit einzuleiten.
Aber seither gab es ständig Aggressionskriege, die Einmischung in die inneren
Angelegenheiten der Staaten, den gewaltsamen Sturz souveräner Regierungen, die
sogenannten weichen Staatsstreiche und die Rekolonialisierung von Gebieten. Diese
wurden perfektioniert durch unkonventionelle Handlungsformen wie den Einsatz
neuer Technologien und die Verweise auf angebliche Verletzungen der
Menschenrechte.
Die Militarisierung des Cyberspace und der verdeckte und illegale Einsatz der
Informations- und Kommunikationstechnik für Angriffe auf andere Staaten sind
ebenso inakzeptabel wie eine Verzerrung der Förderung und des Schutzes der
Menschenrechte, die selektiv und in diskriminierender Absicht benutzt werden, um
politische Entscheidungen aufzuwerten und durchzusetzen.
Obwohl uns die Charta dazu aufruft, »unseren Glauben an die Grundrechte des
Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit erneut zu
bekräftigen«, bleibt die Geltung der Menschenrechte für Millionen Menschen eine
Utopie.
Der Menschheit wird das Recht auf ein Leben in Frieden und ihr Recht auf
Entwicklung verweigert. In Armut und Ungleichheit müssen die Gründe für die
Konflikte gesucht werden, die zuerst durch den Kolonialismus und die Vertreibung
2
der autochthonen Bevölkerung und später durch den Imperialismus und die
Aufteilung der Einflusssphären geschaffen wurden.
Die 1945 eingegangene Verpflichtung, »den sozialen Fortschritt und einen besseren
Lebensstandard« der Völker und ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu
fördern, bleibt eine Illusion, solange 795 Millionen Menschen Hunger leiden, 781
Millionen Erwachsene Analphabeten sind und jeden Tag 17.000 Kinder an heilbaren
Krankheiten sterben, während die jährlichen Rüstungsausgaben weltweit auf mehr
als 1,7 Billionen Dollar gestiegen sind.
Schon mit einem Bruchteil dieser Summe könnten die drängendsten Probleme gelöst
werden, unter denen die Menschheit leidet.
Sogar in den industrialisierten Ländern sind die »Wohlfahrtsstaaten« praktisch
verschwunden, die uns als zu befolgendes Modell angepriesen wurden. Die
Wahlsysteme und die traditionellen Parteien, die von Geld und Werbung abhängen,
entfernen sich immer mehr von den Zielen ihrer Völker.
Der Klimawandel gefährdet die Existenz der menschlichen Gattung, und die Staaten
müssen angesichts der unanzweifelbaren Realität, dass nicht alle Länder gleich
verantwortlich sind oder in gleichem Maß die menschlichen und Naturressourcen in
einem irrationalen und nicht nachhaltigen Konsumismus verspielen, eine
gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung übernehmen.
Die Konsequenzen des Klimawandels sind besonders für die kleinen, auf Inseln
gelegenen Entwicklungsländer verheerend und bedeuten für ihre zerbrechliche
Ökonomie zusätzliche Spannungen. Dasselbe geschieht durch die unaufhaltsame
Ausdehnung der Wüsten in Afrika.
Wir solidarisieren uns mit unseren Geschwistern in der Karibik und fordern, dass sie
besonders und differenziert behandelt werden. Wir unterstützen die afrikanischen
Länder und verlangen für sie eine gerechte Behandlung und den Transfer von
Technologie und finanziellen Ressourcen.
Herr Präsident,
mit der Schaffung der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft
(CELAC) und besonders mit der Unterzeichnung der Proklamation Lateinamerikas
und der Karibik zu einer Zone des Friedens durch die Staats- und Regierungschefs
im Januar 2014 wurde demonstriert, dass wir unabhängig von unseren Differenzen
im Rahmen unserer Vielfalt zur Einheit und zur Umsetzung der gemeinsamen Ziele
voranschreiten können.
In der Proklamation bekräftigen wir die unerschütterliche Verpflichtung gegenüber
den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts und
gegenüber dem Prinzip, die Differenzen auf friedlichem Weg beizulegen sowie die
Überzeugung, dass der volle Respekt für das unveräußerliche Recht jedes Staates,
sein politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System zu wählen, eine
Grundbedingung dafür darstellt, das friedliche Zusammenleben der Nationen zu
sichern. Wir verlangen, dass diese Prinzipien auch als Grundlage der Beziehungen
mit anderen Staaten unserer Region dienen.
3
Die Bolivarische Republik Venezuela wird immer auf die Solidarität Kubas gegen die
Versuche zählen können, die verfassungsmäßige Ordnung zu destabilisieren und zu
untergraben sowie die vom Genossen Hugo Chávez Frías begonnene und vom
Präsidenten Nicolás Maduro Moros fortgeführte Arbeit für das venezolanische Volk
zu zerstören.
Ebenso gilt unsere feste und uneingeschränkte Solidarität der Republik Ecuador,
ihrer Bürgerrevolution und ihrem Anführer Rafael Correa Delgado, die zur
Zielscheibe desselben Destabilisierungsplans geworden sind, der auch gegen
andere fortschrittliche Regierungen der Region angewandt wird.
Wir solidarisieren uns mit den Nationen der Karibik, die gerechte Reparationen für
die Schrecken der Sklaverei und des Sklavenhandels fordern – vor allem in einer
Welt, in der die rassische Diskriminierung und die Unterdrückung der
afrikanischstämmigen Gemeinschaften zunimmt.
Wir bekräftigen unsere Überzeugung, dass es das Volk von Puerto Rico verdient,
nach mehr als einem Jahrhundert kolonialer Herrschaft frei und unabhängig zu sein.
Wir solidarisieren uns mit der Republik Argentinien in ihrer gerechtfertigten
Forderung nach Souveränität über die Malwinen (Falklandinseln, jW) sowie
Südgeorgien und die Südlichen Sandwichinseln.
Wir bekräftigen unsere solidarische Unterstützung für die Präsidentin Dilma Rousseff
und für das Volk Brasiliens bei der Verteidigung seiner wichtigen sozialen
Errungenschaften und der Stabilität des Landes.
Wir bekräftigen unsere Ablehnung der Absicht, die Präsenz der NATO bis an die
Grenzen Russlands auszudehnen sowie, des Einsatzes ungerechter einseitiger
Sanktionen gegen diese Nation.
Wir begrüßen das sogenannte Atomabkommen mit der Islamischen Republik Iran,
das zeigt, dass Dialog und Verhandlungen die einzigen wirksamen Mittel sind, um
die Differenzen zwischen den Staaten beizulegen.
Wir erneuern unser Vertrauen darauf, dass das syrische Volk in der Lage sein wird,
selbst seine Differenzen beizulegen und fordern eine Beendigung der ausländischen
Einmischung.
Für eine gerechte und dauerhafte Lösung des Konflikts im Mittleren Osten ist es
unumgänglich, das unveräußerliche Recht des palästinensischen Volkes wirklich
umzusetzen, seinen eigenen Staat in den vor 1967 geltenden Grenzen und mit
Ostjerusalem als seiner Hauptstadt aufzubauen. Das unterstützen wir energisch.
In den vergangenen Wochen haben uns die Bilder der Migrationswellen nach Europa
bewegt, die eine direkte Konsequenz der Destabilisierung sind, die die NATO in den
Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas gefördert und betrieben hat, sowie
eine Folge der in Ländern des afrikanischen Kontinents herrschenden
Unterentwicklung und Armut. Die Europäische Union muss sofort und umfassend
4
ihre Verantwortung für die humanitäre Krise wahrnehmen, zu deren Entstehung sie
beigetragen hat.
Herr Präsident,
nach 56 Jahren heldenhaften und unermüdlichen Widerstands des kubanischen
Volkes wurden die diplomatischen Beziehungen (mit den USA) wiederhergestellt und
die Botschaften in den jeweiligen Hauptstädten wiedereröffnet.
Nun beginnt ein langer und komplizierter Prozess zur Normalisierung der
Beziehungen, die erreicht werden kann, wenn die Wirtschafts-, Handels- und
Finanzblockade gegen Kuba beendet wird, wenn unserem Land das von der
Marinebasis Guantánamo illegal besetzte Gebiet zurückgegeben wird, die Radiound Fernsehsendungen sowie die Subversions- und Destabilisierungsprogramme
gegen Kuba eingestellt werden sowie unser Volk für die Schäden an Menschen und
Wirtschaft entschädigt wird, unter denen es noch heute leidet.
Solange sie existiert, werden wir weiterhin die Resolution unter der Überschrift
»Notwendigkeit der Beendigung der von den Vereinigten Staaten von Amerika gegen
Kuba verhängten Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade« einbringen.
Den 188 Regierungen und Völkern, die hier und in zahlreichen internationalen und
regionalen Foren unsere gerechte Forderung unterstützt haben, bekräftigte ich den
ewigen Dank des Volkes und der Regierung Kubas für ihre nachhaltige
Unterstützung.
Herr Präsident,
Kuba feiert mit tiefempfundener Verpflichtung den 70. Jahrestag der Organisation der
Vereinten Nationen. Wir erkennen an, dass man in diesen Jahren versucht, aber
nicht genügend dafür getan hat, die heutigen und künftigen Generationen vor der
Geißel des Krieges zu bewahren und ihr Recht auf eine nachhaltige Entwicklung
ohne Ausgrenzung zu schützen. Die UNO muss gegen den Unilateralismus verteidigt
und grundlegend reformiert werden, um sie zu demokratisieren und den Völkern
anzunähern.
Wie vor 15 Jahren hier in diesem Saal der Genosse Fidel Castro, der historische
Anführer der kubanischen Revolution, erklärte: »Jeder begreift, dass das Hauptziel
der Vereinten Nationen im beginnenden Jahrhundert ist, die Welt nicht nur vor dem
Krieg zu retten, sondern auch aus der Unterentwicklung, dem Hunger, den
Krankheiten, der Armut und der Zerstörung der für die Existenz des Menschen
unerlässlichen Natur. Dies muss schnellstens getan werden, bevor es zu spät sein
wird!«
Die internationale Gemeinschaft wird immer auf die aufrichtige Stimme Kubas gegen
Ungerechtigkeit, Unterentwicklung, Diskriminierung und Manipulation zählen können,
für die Errichtung einer gerechteren und ausgeglicheneren internationalen Ordnung,
in deren Zentrum wirklich der Mensch, seine Würde und sein Wohlergehen stehen.
Vielen Dank.
Übersetzung: André Scheer