Herunterladen
Transcrição
Herunterladen
WZ MONTAG, 9. JULI 2012 K Weltweit 15 HAVANNA Besuch in der Metropole von Kultur und Tourismus, wo die Bürger erstmals mit neuen Jobs in der Wirtschaft überleben wollen. Kubas Sozialismus und die Götter REPORTAGE Reise in ein Land, das Kunst und Kommunismus liebt, und Staatsdiener in die Wirtschaft entlässt. WUNSCH Bevölkerung sehnt sich nach besseren Beziehungen. Das Verhältnis zwischen Kuba und den USA ist kompliziert. Die USA gelten seit dem Wirtschaftsembargo von 1960 als Erzfeind vor der Tür, dennoch sind sie ein wichtiger Handelspartner. Offiziell sind die Grenzen dicht. Es muss schon der Papst einreisen, damit Exilkubaner ihre alte Heimat betreten können. US-Künstler Ben Jones erhält Einlass zur Biennale und schleust 75 Landsleute ein, damit sie Kubas aufblühende Kunst sehen. Seine Meinung zur Blockade: „80 Prozent der US-Bürger wünschen Beziehungen zu Kuba, die Mehrheit der kubanischen Amerikaner sowieso. Sie lieben Fidel Castro nicht, aber sie hoffen auf bessere Kontakte.“ Von Helga Meister (Texte und Fotos) Seit dem Besuch von Papst Benedikt XVI im März gerät Kuba verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Das Land braucht das Geld der Touristen und hofft, in diesem Jahr drei Millionen Gäste aus aller Welt beherbergen zu können. So wurden jetzt Journalisten aus Europa zur Kunstbiennale über den Havana Club International eingeladen. Die Autorin gehörte dazu, als einzige Vertreterin aus Nordrhein-Westfalen. Der erste Eindruck: Die Hauptstadt Havanna ist wunderschön, wenn auch nur in der Altstadt. Die Architektur aus der Kolonialzeit hat die Jahrhunderte fast unberührt überstanden und wird als Unesco-Kulturerbe herausgeputzt. Es gibt Erstaunliches in diesem sozialistischen Land, das so voller Widersprüche ist. Exilkubaner aus Florida verbessern die Außenhandelsbilanz In fließendem Deutsch schwärmt die Reisebegleiterin, die uns mit Die Kunst der alten Götter wird von dem Maler Manuel Mendivi wiederbelebt. Im Teatro Grande, dem Hauptsitz der Biennale, malt er junge Menschen an. dem Bus vom Flughafen abholt, von der kommunistischen Partei (PCC), die es ermöglicht, dass Schulen und Universitäten gratis sind. Sie spricht von Kunst und Musik in der Metropole und von den „Fortschritten in der Volkswirtschaft“. Keine Rede von der Armut des Landes. Kuba lebe zu neun Prozent des Bruttoinlandproduktes vom Tourismus. Außerdem würden alljährlich 1,2 Milliarden US-Dollar von Exilkubanern etwa aus Florida an ihre Familien überweisen. Dritte Devisenquelle sind die Kubaner selbst, Ärzte, Lehrer und Sportler, die in befreundeten Ländern arbeiten und bei denen der Staat an den Einnahmen beteiligt ist. „Es gibt eine Solidarisierung der la- Das Cocotaxi ist eine der ersten Möglichkeiten für eine Nebentätigkeit in Kuba. Ein Fingernagelstudio kann eine neue Existenzgrundlage für Kubaner sein. teinamerikanischen Welt mit Kuba“, sagt die Begleiterin. Arbeit auf eigene Rechnung für die ehemaligen Staatsdiener Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Schäden durch Hurrikans, die Krise der Weltwirtschaft und die eigene Misswirtschaft gingen an Kuba nicht spurlos vorüber. Um den defizitären Staatshaushalt zu entlasten, verordnete General Raúl Castro eine „Arbeitsmarktreform“ und entließ die Bediensteten massenweise aus dem Staatsdienst. Sie betreiben nun eine Arbeit „auf eigene Rechnung“ und zahlen dafür Steuern. Das heißt, so die Reiseleiterin: „Die Menschen gründen kleine Geschäfte, Cafés, verkaufen zu Hause Kleidung oder Schuhe. Sie dürfen in Panama oder Spanien Waren einkaufen oder sich von ihren Verwandten schicken lassen, um sie bei uns zu verkaufen.“ „Coco-Taxis“ oder Fahrräder mit Touristen an Bord sind möglich. Auf die Frage, ob mit der Ausweitung der privaten Beschäftigung weniger Kommunismus verbunden sei, kommt jedoch ein entschiedenes Nein. „Wir möchten das Land aktualisieren, aber keinen Kapitalismus haben. Wir werden immer noch ein sozialistisches Land sein“, sagt die Reiseleiterin. An einen Ausverkauf der Revolution sei nicht gedacht. USA gelten noch immer als Erzfeind ■ RELIGION: DER GLAUBE AN DIE ALTE KULTUR AFRIKAS IST TROTZ DES CHRISTENTUMS LEBENDIG GEBLIEBEN PROZESSION Im Vorraum des Gran Götter, die mit den Sklaven nach SüdTeatro de la Habana, dem Hauptge- amerika und in die Karibik kamen. „Ich bäude der Havanna-Biennale, steht möchte, dass die Kultur Afrikas auflebt. Manuel Mendive (67). Der afro-ku- Ich lasse mich von Orichas inspirieren.“ banische Künstler organisiert eine große Prozession („Las Cabezas“, VOLKSFEST Die Kubaner lieben die „Köpfe“) mit Bildern und Masken, Musik und den Tanz unter freiem Himdie über die Flaniermeile Prado zie- mel. Performances sind bei ihnen hen wird. Er schminkt Gesichter und selbstverständlich. Der Künstler MenKörper junger, schlanker Männer dive gilt als renommiertester Maler des und Frauen wie in der Yoruba-Tradi- Landes. Ohne Gage zu verlangen, tion, also im Glauben an die alten machen die Kubaner bei ihm mit. 11. Kunstbiennale in Havanna. Nelson Herrera Ysla, Spezialist lateinamerikanischer und kubanischer Kunst und Architektur, kuratiert am Alten Platz die Schau „Die Jagd nach Erfolg“. Zu sehen sind Kopien berühmter Bilder. Maler wagen sich an Botero, Frida Kahlo, sogar an Picassos Guernica-Bild und an Figuren frei nach Walt Disney. Ysla erklärt die „Imitationen“mit eben jenen eigenen, privaten, kleinen Unternehmen. Ein originaler Botero koste 500 000 Dollar und mehr. Den könne sich niemand leisten. Aber die Kopie sei für einen Bruchteil zu haben, und sie werde verkauft. Die Kopie dient also dem Lebensunterhalt. Der Havanna Club International hilft jährlich sechs jungen Die Kunstkopie als neuer Kreativen, ihre Projekte zu verErwerbszweig im Sozialismus Ein beredtes Beispiel, wie Pro- wirklichen, sie zu präsentieren duktion durch Eigeninitiative ge- und ihre Ergebnisse anzukaufen. steigert werden kann, liefert die Private Galerien jedoch sind nicht erlaubt. Die acht offiziellen Galerien suchen sich die Werke aus und verkaufen sie ins Ausland, zu Weltmarktpreisen. Wer dort Erfolg hat, bringt auch dem Staat Einnahmen. Symbolträchtige Bilder zu David und dem Politschwimmen im Pool Glenda León (36) etwa, eine vom Havana Club International geförderte Künstlerin, die auf der Karriereleiter emporgestiegen ist, in MARXISMUS Im Sozialismus ist der Atheismus vorherrschend. Man durfte praktisch nicht gläubig sein. SANTERIA Sie gilt als Hauptreligion im kommunistischen Kuba. Deren Götter werden von allen Bevölkerungsschichten kultisch verehrt, aber auch mit christlichen Heiligen gleichgesetzt. OFFIZIELLE MEINUNG Die Botschaftsrätin Deborah Azcuzy Carillo erklärt: „In den 20er und 30er Jahren war es diskri- Köln Medienwissenschaften studierte und von der Galería Habana vertreten wird, erhält sogar eine Residenzerlaubnis im Ausland. Sie organisierte zur Biennale auf eigene Kosten einen „Sommertraum“ im Swimming Pool eines Wohngebäudes und klebte die Straßenpläne von Havanna und dem 180 Kilometer entfernten Miami an die Beckenränder. Wer wollte, konnte im Badeanzug die Grenzen schwimmend 2002 kam Fidel Castro zur Vernissage des berühmten Bildhauers Kcho. minierend bei uns, mit afro-kubanischer Kultur zu arbeiten. Seit Ende der 70er Jahre, Anfang der 80er Jahre, gibt es eine Revitalisierung. Seit dem Parteitag von 1994 dürfen Mitglieder der Partei mehrere Glaubensrichtungen haben. Ende Dezember tun sich alljährlich die Hohepriester der Religionen, die Babalaos, zusammen und beschließen, welche Götter im kommenden Jahr regieren.“ überwinden und eine spielerische Annäherung beider Länder erproben. Die Künstlerin stammt aus einer griechisch-amerikanischen Familie. Ihren Vater in Miami darf sie nicht besuchen. Fast schon ein Staatskünstler ist Alexis Leiva Machado, genannt Kcho. Er sitzt im nationalen Rat für plastische Kunst und ist stolz auf Kuba. Tag für Tag sammelt er gebrauchtes Material, Fässer und Holzstücke von der Küste. Diesmal baut er aus Planken einen gigantischen David, Sieger über Goliath. 1999 hatte ihn Kurator Harald Szeemann nach Venedig eingeladen, 2002 kam Fidel Castro zur Vernissage. Kcho sagt zu seiner Kunst, die stets seine Heimat symbolisiert: „Ich nehme keine Nägel, keine Taue, keine Schrauben. Es ist eine Idee, die sich selbst trägt. Der Druck ist Teil des Lebens. Es ist eine konstruktive Energie.“ US-Künstler Ben Jones in Havanna. ■ FAKTEN ZU KUBA HISTORIE Christoph Kolumbus lan- det 1492 in der Bucht von Bariay, im Namen der spanischen Krone. Der erste Gouverneur Diego Velázquez rottet die indigene Urbevölkerung (196 000 Menschen) aus. 1607 wird Havanna Hauptstadt. Im 19. Jahrhundert ist Kuba Marktführer im Zuckerhandel und reichste Kolonie auf dem Globus. 1899 erhalten die USA die Hoheit über die Insel, behalten auch nach der Gründung der Republik (1902) das Recht auf Interventionen. 1960 verhängen sie nach Fidel Castros Revolution von 1958/59 ein Wirtschaftsembargo. Nur zu Kongressen und Ausstellungen dürfen US-Bürger einreisen. REGIERUNG 2008 wird Raúl Castro Präsident des Staatsrats und Regierungschef. 2011 streicht er rund 20 Prozent der Stellen in Ministerien und Behörden. WÄHRUNG Kuba hat eine doppelte Währung, kubanische Pesos und konvertierbare Pesos, die vergleichbar dem Dollar sind. Der durchschnittliche Verdienst eines Kubaners liegt bei 400 bis 450 Pesos. „Dafür kann man“, so die Reiseleiterin, „die Grundnahrungsmittel, Kino, Theater und Klamotten in den Supermärkten einkaufen. Ärzte und Lehrer verdienen mehr.“ ARCHITEKTUR Alt-Havanna hat einen morbiden Charme. Von den Festungsanlagen über die Pracht des Capitolio bis zu Jugendstil und Plattenbau ist alles vertreten. TOURISMUS Es gibt 45 000 Hotel- betten und 10 000 Betten in Casas Particulares. Die Touristen (siehe Foto: H.M.) bringen jährlich 2,5 Milliarden US-Dollar ins Land.