(Aufrechnung von bestehenden Steuerschulden gegen neu

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(Aufrechnung von bestehenden Steuerschulden gegen neu
FG Nürnberg, Urteil v. 11.09.2012 – 2 K 1153/10
Titel:
(Aufrechnung von bestehenden Steuerschulden gegen neu erworbene
Vorsteuererstattungsansprüche ist möglich)
Normenketten:
§ 226 AO
§ 850 ZPO
§ 850ff ZPO
§ 96 Abs 1 Nr 1 InsO
Orientierungsätze:
1. Ein Pfändungsschutz oder Aufrechnungsverbot gegen die unbegrenzte Aufrechnung von
bestehenden Steuerschulden gegen neu erworbene Vorsteuererstattungsansprüche existiert in der
bestehenden Rechtsordnung nicht .
2. Vorsteuererstattungsansprüche sind weder Arbeitseinkommen im Sinne der §§ 850ff ZPO, noch
können die §§ 850 ff ZPO für Unternehmer und deren Vorsteuererstattungsansprüche analog
herangezogen werden .
3. Der Unternehmer ist nur "technisch" das Steuersubjekt; für den Unternehmer ist die
Umsatzsteuer nur ein "durchlaufender Posten". Die Umsatzsteuer, und dementsprechend ein
Vorsteuerüberhang, ist nach ihrer strukturellen Anlage nicht dazu bestimmt, beim (nicht
endverbrauchenden) Unternehmer zu verbleiben. Ein Vorsteuerüberhang kann demnach auch kein
dem Unternehmer als Minimum pfändungsfrei verbleibendes Einkommen darstellen .
Schlagworte:
Abrechnung, Abrechnungsbescheid, Arbeit, Arbeitseinkommen, Aufrechnung, Pfändung, Pfändungsschutz,
Umsatzsteuer, Verrechnung
Fundstelle:
BeckRS 2012, 96436
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
1
Der Kläger ist selbständiger Steinbildhauermeister. Über das Vermögen des Klägers ist mit Beschluss des
Amtsgerichts 1 vom 05.05.2006 das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Das Insolvenzverfahren wurde
nach Schlussverteilung am 05.05.2009 aufgehoben.
2
Der Insolvenzverwalter gab mit Schreiben vom 29.05.2006 sämtliche Gegenstände und Forderungen, die
der Kläger nach Insolvenzeröffnung erworben hatte und erwerben würde aus der Insolvenzmasse frei.
3
Aus der Umsatzsteuerjahreserklärung des Klägers für 2006 resultierte ein Auszahlungsanspruch in Höhe
von 1.145,92 €. Diesen verrechnete das Finanzamt laut Buchungsanzeige vom 07.02.2008 in Höhe von
1.145,42 € mit offener Umsatzsteuer aus dem Vorauszahlungszeitraum 4. Vj. 2002, d.h. mit seinen
insolvenzbehafteten Steuerschulden, und in Höhe von 0,50 € mit Säumniszuschlägen zur USt Mai 2006,
also Verbindlichkeiten aus seiner freigegebenen Tätigkeit.
4
Da der Kläger hiergegen Einwendungen erhob, erließ das Finanzamt am 03.03.2008 einen
Abrechnungsbescheid, in dem es die Verrechnung bestätigte. Den fristgerechten Einspruch des Klägers am
25.03.2008 wies das Finanzamt mit Einspruchsentscheidung vom 02.07.2010 als unbegründet zurück.
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Aus der mit Bescheid vom 15.02.2008 festgesetzten USt-Vz für Dezember 07 ergab sich ein Guthaben i.H.v
215,42 €. Dieses verrechnete das Finanzamt laut Buchungsanzeige vom 24.06.2008 in voller Höhe mit
offener Umsatzsteuer aus dem Vorauszahlungszeitraum 4. Vj. 2002, d.h. mit seinen insolvenzbehafteten
Steuerschulden.
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Da der Kläger hiergegen Einwendungen erhob, erließ das Finanzamt am 08.08.2008 einen
Abrechnungsbescheid, in dem es die Verrechnung bestätigte. Den fristgerechten Einspruch des Klägers am
02.09.2008 wies das Finanzamt mit Einspruchsentscheidung vom 02.07.2010 als unbegründet zurück.
7
Für das Kalenderjahr 2008 ergaben sich aus den vom Kläger eingereichten vierteljährlichen
Voranmeldungen folgende Umsatzsteuerguthaben:
8
1. Vj. 2008 i.H.v. 140,11 €, 2. Vj. 2008 i.H.v. 381,44 €, 3. Vj. 2008 i.H.v. 324,62 € und für das 4. Vj. 2008
i.H.v. 166,66 €.
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Hiervon verrechnete das Finanzamt 461,15 € mit offener Umsatzsteuer aus dem Vorauszahlungszeitraum
4. Vj. 2002, 207,07 € mit offener Umsatzsteuer 2002 und 102,95 € mit offener Umsatzsteuer aus dem
Vorauszahlungszeitraum 1. Vj. 2003, d.h. mit seinen insolvenzbehafteten Steuerschulden. Weiter
verrechnete es 166,66 € mit offener Umsatzsteuer 2007, also Verbindlichkeiten aus seiner freigegebenen
Tätigkeit. Daneben verrechnete es 75 € mit anderen Forderungen des Freistaates Bayern, die am
01.05.2008 fällig waren zuzüglich 20 € Vollstreckungskosten.
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Da der Kläger hiergegen Einwendungen erhob, erließ das Finanzamt am 20.06.2008, 08.08.2008,
12.11.2008 und 24.02.2009 Abrechnungsbescheide, in denen es die Verrechnungen bestätigte. Die
fristgerechten Einsprüche des Klägers wies das Finanzamt mit Einspruchsentscheidung vom 02.07.2010 als
unbegründet zurück.
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Für das Kalenderjahr 2009 ergaben sich aus den vom Kläger eingereichten vierteljährlichen
Voranmeldungen folgende Umsatzsteuerguthaben:
12
1. Vj. 2009 i.H.v. 338,06 €, 2. Vj. 2009 i.H.v. 647,25 €, 3. Vj. 2009 i.H.v. 565,45 € und für das 4. Vj. 2009
i.H.v. 231,53 €.
13
Hiervon verrechnete das Finanzamt 371,29 € mit offener Umsatzsteuer aus dem Vorauszahlungszeitraum
1. Vj. 2003, 115,88 € mit offener Umsatzsteuer aus dem Vorauszahlungszeitraum April 2003 und 121,09 €
mit offener Umsatzsteuer aus dem Vorauszahlungszeitraum Juni 2002, d.h. mit seinen insolvenzbehafteten
Steuerschulden. Weiter verrechnete es 626,89 € mit offener Umsatzsteuer 2007 und 497,64 € mit offener
Umsatzsteuer 2008 sowie 40,50 € mit Säumniszuschlägen zur Umsatzsteuer 2007 und 9,00 € mit
Säumniszuschlägen zur Umsatzsteuer 2008, also Verbindlichkeiten aus seiner freigegebenen Tätigkeit.
14
Da der Kläger hiergegen Einwendungen erhob, erließ das Finanzamt am 13.05.2009, 20.08.2009 und
24.02.2010 Abrechnungsbescheide, in denen es die Verrechnungen bestätigte. Die fristgerechten
Einsprüche des Klägers wies das Finanzamt mit Einspruchsentscheidung vom 02.07.2010 als unbegründet
zurück.
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Der Kläger hat fristgerecht Klage erhoben und beantragt, die angegriffenen Abrechnungsbescheide vom
03.03.2008, 20.06.2008, 08.08.2008, 12.11.2008, 24.02.2009, 13.05.2009, 20.08.2009 und 24.02.2010 in
Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 02.07.2010 aufzuheben und das Finanzamt zu verpflichten,
Abrechnungsbescheide zu erlassen, in denen eine Verrechnung nur bis zur Höhe des nach §§ 850 ff
Zivilprozessordnung (ZPO) pfändungsfreien Arbeitseinkommens vorgenommen wird.
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Er begründet dies im Wesentlichen damit, dass sein selbständiges Einkommen mit Arbeitseinkommen
gleichzustellen sei. Er ist der Auffassung, dass es ein vorrangiges Recht sei, sich von seiner eigenen
Arbeitsleistung ernähren zu können, dazu zählten auch ihm zustehende Umsatzsteuererstattungen;
Sozialleistungen, auf die er ansonsten angewiesen sei, hätten demgegenüber zurückzutreten.
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Das Finanzamt beantragt, die Klage abzuweisen und begründet dies im Wesentlichen damit, dass die
verrechneten Umsatzsteuererstattungsansprüche kein Arbeitseinkommen darstellten.
Entscheidungsgründe
18
Die Klage ist unbegründet.
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1. Die allgemeinen Voraussetzungen einer Aufrechnung nach § 226 Abgabenordnung (AO) lagen für alle in
diesem Verfahren angegriffenen Verrechnungsvorgänge unzweifelhaft vor; dies wurde vom Kläger in der
mündlichen Verhandlung auch nicht in Abrede gestellt. Der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung
erstmals erhobene Vorwurf, seine Umsatzsteuerschuld sei zu Unrecht durch Hinzurechnung der
„zurückzuerstattenden Eigenheimzulage der Ehefrau“, wegen zu hohem Verdienst des Sohnes erhöht
worden, bezieht sich offensichtlich nicht auf das vorliegende Verfahren, da sich weder in den
streitgegenständlichen Abrechnungsbescheiden noch sonst in den Akten ein Hinweis auf Eigenheimzulage
findet. Der weitere in der mündlichen Verhandlung erstmals erhobene Vorwurf, für ein Firmenfahrzeug sei
zu Unrecht ein Eigenverbrauch angesetzt worden, bezieht sich offensichtlich auf eine
Umsatzsteuerfestsetzung, welche nicht Gegenstand des jetzigen Verfahrens ist, da der Kläger mit seiner
Klage ausschließlich Abrechnungsbescheide angegriffen hat.
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2. Ein Pfändungsschutz oder Aufrechnungsverbot gegen die unbegrenzte Aufrechnung von bestehenden
Steuerschulden gegen neu erworbene Vorsteuererstattungsansprüche, wie der Kläger ihn geltend macht,
existiert in der bestehenden Rechtsordnung nicht.
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a) Ein solcher ist in der Zivilprozessordnung (ZPO) nicht vorgesehen. Gemäß §§ 850 ff ZPO wird nur das
Arbeitseinkommen in begrenztem Umfang der Pfändung entzogen. Vorsteuererstattungsansprüche sind
jedoch weder Arbeitseinkommen im Sinne dieser Vorschrift (so auch Finanzgericht des Landes SachsenAnhalt Urteil vom 16.02.2011 2 K 317/09, Juris), noch können die §§ 850 ff ZPO für Unternehmer und deren
Vorsteuererstattungsansprüche analog herangezogen werden, da der Gesetzgeber bei der Regelung des
Pfändungsschutzes für Arbeitnehmer nicht versehentlich die Unternehmer übersehen hat (s. u. b)). Auch
auf Lohnsteuererstattungsansprüche, welche einen deutlich engeren Bezug zum Arbeitseinkommen im
Sinne der §§ 850 ff ZPO haben, sind die §§ 850 ff ZPO nicht anwendbar (vgl. BFH-Beschluss vom
27.10.1998 VII B 101/98, BFH/NV 1999, 738). Der aufgrund dieses Lohnsteuererstattungsanspruchs an den
Steuerpflichtigen zu erstattende Betrag erlangt, obschon er wirtschaftlich betrachtet im Nachhinein das für
den Steuerpflichtigen im Veranlagungszeitraum verfügbare Einkommen erhöht, nicht wieder den Charakter
eines Einkommens, das aus einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis gewährt wird, und auch nicht den einer
Vergütung, die dem Berechtigten aus einer Arbeits- oder Dienstleistung zusteht (BFH, a.a.O.) Dies gilt umso
mehr für den Erstattungsanspruch aufgrund eines Vorsteuerüberhangs. Darüber hinaus spricht gegen eine
Einbeziehung des auszuzahlenden Vorsteuerüberhangs die Systematik der Umsatzsteuer, die auf eine
Besteuerung des Endverbrauchers abzielt. Der Unternehmer ist nur „technisch“ das Steuersubjekt; für den
Unternehmer ist die Umsatzsteuer nur ein „durchlaufender Posten“, da er sie auf ihm nachfolgende
Abnehmer überwälzen kann (vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, 19. Auflage, § 14 Rz. 1). Die Umsatzsteuer, und
dementsprechend ein Vorsteuerüberhang, ist nach ihrer strukturellen Anlage nicht dazu bestimmt, beim
(nicht endverbrauchenden) Unternehmer zu verbleiben. Ein Vorsteuerüberhang kann demnach auch kein
dem Unternehmer als Minimum pfändungsfrei verbleibendes Einkommen darstellen.
22
b) Zudem verbietet sich eine Anwendung der §§ 850 ff ZPO auf Unternehmer schon deshalb, weil in § 811
Nr. 5 ZPO ein Pfändungsschutz für die Arbeitsgrundlagen (auch) von Unternehmern geregelt ist.
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c) Auch aus der Tatsache, dass das Finanzamt teilweise mit Insolvenzschulden verrechnet hat, lässt sich
eine Rechtswidrigkeit nicht ableiten. In Betracht kommt hier nur § 96 Abs. 1 Nr. 1 Insolvenzordnung, der
aber nicht greift, da das den Vorsteuererstattungsanspruch auslösende Unternehmen des Klägers aus der
Insolvenzmasse freigegeben war (vgl. BFH-Beschluss vom 01.09.2010 VII R 35/08, BStBl II 2011, 336).
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Im Übrigen wird vollumfänglich auf die inhaltlich korrekten Ausführungen des Finanzamts in den
Einspruchsentscheidungen vom 02.07.2011 verwiesen, der Senat folgt diesen Ausführungen (§ 105 Abs. 5
FGO).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 135 Abs. 1, 143 Abs. 1 FGO.