Cannabis als Medizin

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Cannabis als Medizin
CANNABIS ALS MEDIZIN –
MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN
Dr. med. Martin Schnelle
Institut für klinische Forschung Berlin
1. Einleitung
Hanf (Cannabis sativa L.) ist eine der ältesten Kulturpflanzen der Menschheit und neben seiner Jahrtausende alten Bedeutung als Rohstoff für die Faserherstellung auch ein ebenso altes Heilmittel, das
noch um die letzte Jahrhundertwende in keiner Hausapotheke fehlen durfte. Die Heilmittelfirma
WELEDA hatte Cannabis als Homöopathikum noch bis Mitte der siebziger Jahre in ihrem Repertoire.
Dann aber wurden die Pflanze und bestimmte Inhaltsstoffe in Deutschland unter das Betäubungsmittelgesetz gestellt, so dass die weitere therapeutische Verwendung bis heute auf eine radikale Weise
unmöglich gemacht wird, die rein sachlich und medizinisch nicht zu rechtfertigen ist.
Der große Reichtum der Anwendungsmöglichkeiten dieser Pflanze ist im öffentlichen Bewusstsein
heute auf den oberflächlichen Begriff ihrer Rauschwirkung zusammengeschrumpft. Mit der einseitigen
Betonung der Gefahren von Cannabis als Droge wird eine dem Wesen der gesamten Pflanze angemessene Betrachtung und der rationale Einsatz auf medizinischem Feld behindert.
Auf der anderen Seite gibt es gegenwärtig eine sich immer stärker entfaltende Gegenkultur, die dem
Unsinn der Ausgrenzung und Verteufelung von Hanf ihren oft kreativen und originellen Widerstand
entgegensetzt. Der aber läuft mitunter leider Gefahr, in das entgegengesetzte Extrem zu verfallen und
Cannabis als das Wundermittel schlechthin zu verherrlichen, mit dem die abgestumpfte, naturentfremdete Menschheit ihr verlorenes Heil wiederfinden könne.
2. Zur Botanik der Hanfpflanze
Allgemeines
Der Hanf wird gemeinsam mit seinem Verwandten, dem Hopfen, der Familie der Cannabinaceae zugerechnet. Zusammen mit den Ulmaceae (Ulmengewächse), den Moraceae (Maulbeerbaum, Brotfruchtbaum, Feigenbaum) und den Urticaceae (Brennesselgewächse) bilden sie die Ordnung der Urticales. In diesen Familien überwiegen die Bäume und Sträucher. Hanf, Hopfen und Brennessel sind als
Kräuter eher die Ausnahme.
Morphologie
Cannabis sativa L. ist ein einjähriges, sehr lichthungriges Kraut, das in seiner Heimat, den Steppengebieten Asiens und Osteuropas, bis zu vier Meter hoch wird. Seine oval geformten Keimblätter sind
unterschiedlich groß, was im Pflanzenreich eine Seltenheit darstellt. Die Laubblätter wachsen zunächst
auch gegenständig, weiter oben dann oft wechselständig. Sie sind lang gestielt und drei- bis neunfach
gefingert; jedes lanzettlich geformte Fiederblättchen ist grob gezähnt.
Hanf ist wie Brennessel und Hopfen zweihäusig. Das heißt, dass innerhalb einer Art zwei Blütentypen
auftreten: eine weibliche und eine männliche Form. Bei Cannabis ist die „Geschlechtlichkeit“ so dominant und stark ausgeprägt, dass sie sich in der Gestalt der gesamten Pflanze zeigt und eine morphologische Unterscheidung in männlichen (Pollenpflanze) und weiblichen (Samenpflanze) Habitus erlaubt.
Während sich die Pollenpflanzen durch ihr Blühen völlig verausgaben, verzichten die Samenpflanzen
auf ein auffälliges Blühen und schwitzen statt dessen auf den vegetativen Blütenhüllen ein psychotrop
wirkendes Harz in überströmender Fülle aus.
1
Substanzbildung
Wie beschrieben, sezerniert die weibliche Pflanze im Blütenstand in epidermal nach außen gestülpten
Drüsen eine gelbbraune, zähflüssige, sehr klebrige Substanz. Diese Harzbildung ist um so intensiver,
je mehr Licht und Wärme einwirken, typischerweise in südlichen subtropischen Gebieten. Man spricht
dann von Rausch- oder Drogenhanf.
Dieses in die Peripherie ausgeschwitzte Stoffgemisch enthält (neben ätherischen Ölen und Wachsen)
etwa 90 % Cannabinoide, die unter anderem psychotrop, d.h. „rauschartig“ wirksam sind. Das psychotrop wirksamste Cannabinoid, Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) ist in einer Konzentration von
2% - 5% in den Blütenständen des Drogenhanfs enthalten. Faserhanf enthält im Vergleich dazu weniger
als 0,3%. Inzwischen gibt es auch schon hochgezüchteten Drogenhanf mit einem THC-Gehalt von ca.
10%.Der Begriff Marihuana meint die getrockneten, drüsenreichen Blätter des weiblichen Drogenhanfs,
Haschisch ist die Bezeichnung für das davon abgetrennte Harz mit THC-Konzentrationen bis 20%.
3. Cannabis als Heilpflanze
3.1.
Wirksame Bestandteile
Für die meisten der im Folgenden zu nennenden medizinischen Indikationen gilt Delta-9-THC (THC)
als wirksamer Cannabisbestandteil. Das findet auch darin seinen Ausdruck, dass dieses Cannabinoid
als synthetische Substanz seit 1985 in den USA als brechreizhemmendes Medikament unter dem Namen Marinol® zugelassen ist. Doch auch die anderen Cannabinoide haben jeweils eigene differenzierte
pharmakologische Wirkungen - teils synergistisch, teils antagonistisch in Bezug auf THC. So wirkt
Cannabidiol z.B. dem THC-Rausch entgegen.
Es ist also zur Beurteilung der medizinischen Wirksamkeit von Cannabis sinnvoll, pharmazeutische
Methoden zu finden, die möglichst das ganze Cannabinoidspektrum berücksichtigen und der therapeutischen Nutzung zuführen können.
Nimmt man alle Anhaltspunkte aus präklinischen und klinischen Studien sowie von Einzelfallberichten, so ergibt sich folgender Überblick über die medizinischen Eigenschaften verschiedener Cannabinoide1:
-
-
Delta-9-THC wirkt brechreizhemmend, appetitsteigernd, antiepileptisch, augeninnendrucksenkend, bronchienerweiternd, muskelentspannend, stimmungsaufhellend, beruhigend und schmerzhemmend. Diese Effekte stellen sich auch bei Wirkstoffmengen ein, die noch keinen Rausch erzeugen.
Cannabidiol (CBD) ist nicht psychoaktiv - antagonisiert sogar den THC-Rausch2 -, wirkt besonders stark sedierend und schmerzhemmend.
-
Cannabinol (CBN) bewirkt eine mäßige Verstärkung der psychotropen Wirkung von THC, ist
zusätzlich antiepileptisch und senkt den Augeninnendruck.
-
Cannabigerol (CBG) wirkt sedierend, antibiotisch und augeninnendrucksenkend.
-
Cannabichromen (CBC) hat beruhigende Wirkung und verstärkt die schmerzhemmenden Eigenschaften von THC.
-
Auch die Vorstufen Cannabidiolsäure und Cannabigerolsäure wirken als Antibiotika; sie sind
wirksam gegen grampositive Mikroorganismen.
1
zusammengefasst z.B. in: Mechoulam R (1986): Cannabinoids as therapeutic agents, CRC Press Inc., Boca
Raton; oder in: British Medical Association (1997): Therapeutic uses of Cannabis; Harwood Academic Publ.,
London
2
Karniol IG, Shirakawa I, Kasinski N, Pfefferman A, Carlini E (1974): Cannabidiol interferes with the effects of
delta-9-THC in man; Europ. J. Pharmacol., 28, 172-77
2
3.2.
Toxizität
Cannabis hat eine geringe akute und chronische Toxizität. Ein Blick auf die Fülle der veröffentlichten
Literatur ergibt - trotz vieler widersprüchlicher Daten -, dass Cannabis ein ausgesprochen sicheres
Medikament ist. Die letale Dosis (LD 90) für eine orale Aufnahme liegt bei Mäusen um 1000 mg/kg;
für Hund und Affe konnte sie nicht ermittelt werden - bei 9000 mg/kg Körpergewicht gaben die Forscher den Versuch auf, die Tiere mit Cannabis vergiften zu wollen. Auch für Menschen ist eine tödliche Dosis nicht bekannt. Ein Jahrtausende währender Gebrauch hatte keinen einzigen Cannabis-Toten
zu verzeichnen.
Die Ansicht, Cannabis schädige das menschliche Immunsystem und verschlechtere die Abwehrlage
insbesondere bei AIDS-Patienten, entspricht nicht mehr neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Sprach man in den 80er Jahren noch von Immunsuppression, bezeichnet man das vielschichtige Phänomen inzwischen als „Immunmodulation“, da auch immunstimulierende Eigenschaften von Cannabis
entdeckt wurden. Einige Untersuchungen ermittelten eine günstige Beeinflussung des Verhältnisses
von Helfer- und Suppressor-Lymphozyten (CD4/CD8-Quotient) bei Gesunden durch Marihuanakonsum.3 Langzeitbeobachtungen bei AIDS-Patienten ergaben weder eine erhöhte Rate von opportunistischen Infektionen noch eine Beschleunigung der Erkrankung durch Cannabiskonsum.4
Cannabis hat einen - insgesamt als geringfügig zu veranschlagenden - Einfluss auf den Hormonhaushalt: Beim Mann werden eine leichte, reversible Senkung des Testosteronspiegels und Abnahme der
Spermienproduktion beobachtet; bei Frauen sind Menstruationszyklen ohne Eisprung möglich. Insgesamt bleiben diese Veränderungen ohne Einfluss auf die menschliche Fruchtbarkeit.5
3.3.
Anwendungsgebiete
Cannabis kann eine breitere Wirkung entfalten, als durch den Einsatz eines isolierten einzelnen Bestandteils zum Ausdruck kommt. Auch für die bisher einzigen anerkannten Indikationen von THC
oder synthetischen Derivaten (z.B. das aus Großbritannien stammende Nabilone®) stellt sich die Frage, ob ein Cannabis-Gesamtpflanzenextrakt nicht wirksamer und besser verträglich ist: Die Erfahrungen vieler Krebs- und AIDS-Patienten mit „illegalem“ Cannabis bei der Behandlung von starker Übelkeit und Erbrechen sowie für eine Gewichtszunahme durch Appetitstimulation bestätigen diese
Vermutung.
In der Zukunft sollten sich für Cannabis folgende weitere medizinische Anwendungsmöglichkeiten
realisieren lassen:
− Migräne: Eine Fülle von Einzelfallberichten belegen die gute Wirksamkeit bei dieser durch bisher
zugelassene Medikamente häufig nur unbefriedigend beeinflussbaren Erkrankung.
− Andere Schmerzzustände: Zur Behandlung von leichten bis mittelgradigen Schmerzen ist Cannabis
gut geeignet. Bei starken Schmerzen ist eine Kombination mit Opiaten sinnvoll, wobei dadurch eine Dosisreduktion bei den nebenwirkungsreicheren Opiaten möglich wird.
− Krämpfe und Bewegungsstörungen: Die entspannende und schmerzhemmende Wirkung ist besonders ausgeprägt bei Spastik infolge Multipler Sklerose oder Rückenmarksschädigung sowie auch
bei Menstruationsbeschwerden.
− Glaukom: Cannabis senkt den Augeninnendruck, indem es den Abfluss des Kammerwassers verbessert. In Form öliger Augentropfen ist der Effekt dem konventioneller Augentropfen wie Pilocarpin vergleichbar.
− Asthma: Cannabis erweitert die Bronchien. Um das schleimhautschädigende Rauchen zu umgehen,
sollten Aerosole entwickelt werden.
− Neurodermitis: Hier addieren sich drei Effekte: THC wirkt zentral juckreizhemmend, andere Cannabinoide haben einen antientzündlichen Effekt; Hanföl hat mit ca. 2% einen ungewöhnlich hohen
3
Wallace JM, Tashkin DP, Oishi JS, Barbers RG (1988): Peripheral blood lymphocyte subpopulations and mitogen responsiveness in tobacco and marihuana smokers. J Psychoact Drugs, 20: 9-14
4
Di Franco MJ, Shepard HW, Hunter DJ, et al. (1996): The lack of association of Marijuana an other recreational drugs with progression to AIDS in the San Francisco Men`s Health Study; Ann Epidemiol; 6: 283-89
5
Abel EL (1981): Marihuana and sex; A critical survey. Drug Alcohol Depend, 8: 1-22
3
Anteil an Gamma-Linolensäure, der eine ausgeprägte Wirksamkeit bei dieser Hauterkrankung zugeschrieben wird.
− Weitere mögliche Anwendungsgebiete: Schlafstörungen, reaktiv depressive Zustände, Epilepsie,
Juckreiz anderer Genese
3.4.
Unerwünschte Wirkungen
Bei schon therapeutisch wirksamen Dosen von 5 mg THC pro Tag, die etwa einem Drittel dessen entsprechen, was durch Rauchen einer Marihuanazigarette zur Herbeiführung eines Rauschs aufgenommen wird, kommt es nur selten zu psychotropen Effekten, die dann von einem Teil der Patienten als
unangenehm empfunden werden. Bei Überdosierung treten gelegentlich Angst- und Panikzustände auf
- häufig nur dann, wenn die Patienten nicht auf die evtl. eintretenden Bewusstseinsveränderungen vorbereitet wurden. Diese Reaktionen - sie sind durch ein einfühlendes Gespräch leicht zu beheben - entsprechen nicht den gefürchteten „horror-trips“, die sich erfahrungsgemäß nur bei Mischkonsum mit
psychedelischen Drogen, insbesondere LSD, einstellen.
Ferner kann es zu Tachykardie, Blutdruckabfall, Mundtrockenheit und Bindehautreizung kommen.
Durch die bei Überdosierung typischen Wahrnehmungsveränderungen - insbesondere in Hinsicht auf
Raum und Zeit - können Konzentrationsfähigkeit im allgemeinen und Fahrtüchtigkeit im besonderen
herabgesetzt sein. Dabei ist nicht infolge pathologischer Selbstüberschätzung wie unter Alkoholeinfluß das Unfallrisiko direkt erhöht: Im Gegenteil, die sich unter Cannabis einstellende Bilderflut
überfordert das Koordinationsvermögen so schnell, dass Berauschte - in unserem Fall Patienten, die in
seltenen Fällen psychotrope Nebenwirkungen erfahren – häufig freiwillig das Auto stehen lassen.
3.5.
Gegenanzeigen
Obwohl für Cannabis positive Wirkungen auf den Geburtsverlauf beschrieben wurden und einzelne
Studien zeigen konnten, dass leichter Konsum werdender Mütter keine Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder hat, wird von einer Anwendung während der Schwangerschaft abgeraten, da im
Tierversuch eine leichte Abnahme des Geburtsgewichts unter Cannabis demonstriert wurde. Herzkranke können durch die Herzfrequenzbeschleunigung, für die allerdings rasch Toleranz eintritt, gefährdet sein. Nicht angewendet werden soll Cannabis vor der Pubertät und bei Patienten mit manifester Psychose. Auch Patienten mit psychiatrischer Anamnese sollten möglichst auf andere Medikamente ausweichen: Einige Studien beschreiben eine Induktion latenter Psychosen durch Cannabis.
4. Chronik eines Überganges zum totalen Verbot
-
Umfang des monatlichen Imports von Cannabis im Hamburger Hafen 1885 zur Veranschaulichung der Bedeutung von Hanf als Genussmittel und Medizinalpflanze im 19. Jahrhundert6: 300
Tonnen Haschisch. (Zum Vergleich: Laut BKA werden gegenwärtig jährlich etwa 200 Tonnen
Cannabisdrogen in Deutschland konsumiert.)
-
Meyers Konversationslexikon 1908: „Es wird geschätzt, dass weltweit gegenwärtig 200 Millionen
Menschen den Hanf als Berauschungsmittel anwenden. Haschisch in Maßen und in guter Qualität
genossen, schadet kaum; übermäßiger, anhaltender Gebrauch von schlechtem Haschisch, namentlich bei dürftiger Ernährung, wirkt zerrüttend. (...) Man glaubt, dass sein Genuss zu harter, anhaltender Arbeit befähige, Schmerz tilge und den üblen Wirkungen des Klimawechsels vorbeuge.“
-
Britische Hanfdrogen-Kommission (3200 Seiten umfassender Bericht einer zweijährigen Untersuchung in Indien)7: „Es hat sich klar herausgestellt, dass der gelegentliche Gebrauch von Hanf in
moderater Dosis gesundheitsförderlich sein kann.“ Eine Schlussfolgerung dieser Studie war, dass
es keinen Anlass gebe, das traditionelle Rauschmittel in der britischen Kronkolonie zu verbieten.
Die Kommission äußerte vielmehr den bemerkenswerten Verdacht, „dass der Angriff auf die
Hanfdrogen nur gestartet wurde, um an ihrer Stelle europäischen Schnaps zu verkaufen.“
6
Herer J, Bröckers M: Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Hanf, Zweitausendeins; Frankfurt/M. 1997
Report of the Indian Hemp Drugs Commission, Simla (India), 1894; in: Leonhard RW: Der Haschisch-Report,
1972
7
4
-
Belege für auch in Deutschland verbreiteten, unauffälligen Gebrauch von Cannabis als Genussmittel: Pfeifentabak hieß deshalb „Knaster“, weil mit den Hanfblättern als billigem Tabakersatz auch
Hanfsamen in die Pfeife gelangten, die unter der Hitze „knasternd“ explodierten. Vom 18. Jahrhundert hatten sich in der vornehmen Gesellschaft „Orient-Zigaretten“ eingebürgert; bis Anfang
dieses Jahrhunderts, als der „starke Tobak“ aus der Mode geriet, gab es Sorten wie „Nil“ (8%
Cannabis) oder „Harem“ (7%).
-
Zweite Internationale Opiumkonferenz 1925: Südafrika beantragte ein weltweites Verbot von
Cannabis. Das geschah aus rassenpolitischen Gründen, in erster Linie, um durch die Einschränkung des gerade in der schwarzen Bevölkerungsmehrheit verbreiteten Hanfgenusses politische
Macht auszuüben. Dass gerade bei dem historisch ersten Verbot von Cannabis keine drogen- oder
gesundheitspolitischen8 und auch keinerlei andere humanistische Gründe (sondern eher ihr Gegenteil) Ausgangspunkt waren, zeigt deutlich den Geburtsfehler der ganzen, von da an verqueren, zum
Teil verlogenen Cannabisdiskussion. Ägypten unterstützte den Antrag Südafrikas und als sich in
einer Kampfabstimmung ein Patt abzeichnete, erreichte der Vertreter Ägyptens, dass das bis dahin
in der Cannabisfrage neutrale Deutschland für das Verbot stimmte, indem er zusicherte, für das bis
dahin noch freiverkäufliche (!), aber zunehmend in Verruf geratene „Heroin“ der Firma Bayer
keine Importbeschränkungen zuzulassen.
-
1929: Handel und Konsum von „Indischem Hanf und namentlich seinem Harz“ wurde in Deutschland strafbar. Cannabiskonsum spielte als Delikt jedoch bis in die 60er Jahre kaum eine Rolle.
-
1938-45: Kurze und letzte Blüte des Anbaus von Faserhanf in Deutschland als „kriegswichtiger
nationaler Rohstoff“.
-
Einstellung des Hanfanbaus in Deutschland Mitte der 50er Jahre.
-
1971: Übernahme der Bestimmungen der WHO zu Cannabis in das deutsche Betäubungsmittelgesetz (Verbot der Blätter und des Harzes); Einordnung in Anlage I (nicht verschreibungs- und nicht
verkehrsfähig).
-
1981: Verschärfung des BtMG: auch Wurzel, Stiele und Stengel des Hanfs fallen unter Anlage I
des BtMG. Jeder Anbau, auch von Faserhanf, wird unter Strafe gestellt.
-
1998: Es werden auch (vollständig THC-freie) Hanfsamen, „sofern für den illegalen Anbau bestimmt“, in Anlage I des BtMG gesetzt. Patienten, die sich bis dahin auf dem heimischen Balkon
ihr Kraut selbst zogen und dadurch so manche Linderung ihrer Beschwerden erfuhren, werden so
systematisch dem Dealer wieder in die Arme getrieben.
4.1.
Chronik einer Renaissance von Hanf als Heilpflanze
-
Der Arzt Dr. Lester Grinspoon beginnt 1967 seine wissenschaftlichen Arbeiten zu Marihuana.
Nach 3 Jahren intensiven Literaturstudiums schreibt er: „Ich begriff allmählich, dass ich wie so
viele Menschen in diesem Land einer Gehirnwäsche unterzogen worden war. Für meine bisherigen Ansichten über die Gefahren von Marihuana gab es kaum empirische Anhaltspunkte.“ 1971
erschien sein Buch „Marihuana Reconsidered“. In Hinsicht auf die z.T. hysterischen Reaktionen,
die sein Buch auslöste, sprach er von einem „Klima des psychopharmakologischen McCarthyismus“, das eine unvoreingenommen Diskussion um Cannabis fast unmöglich mache. (Obligatorische, oft nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Urintests auf Cannabinoide u. a. Metabolite illegaler Drogen würden an die Stelle der Treueide auf den freiheitlich-demokratischen Staat treten.)
-
Nachdem sich 1970 die NORML (National Organization for Reform of Marihuana Laws), begründet hatte, die sich gegen jede Kriminalisierung von Cannabis wandte, kam es 1980 zur Gründung der Alliance for Cannabis Therapeutics, die sich das Ziel setzte, Marihuana für den medizinischen Gebrauch zugänglich zu machen.
8
W. M. Fraeb (Die straf- und zivilrechtliche Stellungnahme gegen den Rauschgiftmissbrauch, Leipzig 1927)
sieht “vom ärztlichen Standpunkt” keinen Anlass, Cannabis überhaupt auf der Opiumkonferenz zu behandeln.
5
-
Nach einer ersten Klage der NORML gegen die 1970 erfolgte Einstufung von Cannabis in Schedule I des Controlled Substances Act (kein medizinischer Nutzen, großes Missbrauchspotential) dauerte es durch mehrfache Berufungsverfahren bis 1986, dass die DEA (Drug Enforcement Agency)
die (eigentlich gesetzlich vorgeschriebenen) Anhörungen zuließ. Dabei kam es über 2 Jahre zu einer so umfangreichen (tausende Seiten umfassenden) Dokumentation der medizinischen Eigenschaften von Cannabis, dass der zuständige Verwaltungsrichter in seinem Urteil davon sprach,
dass „Marihuana in seiner natürlichen Form eine der ungefährlichsten therapeutisch aktiven Substanzen“ ist und die DEA zur Umstufung der Pflanze in Schedule II aufforderte. In einer Folge
weiterer Prozesse wurde dies jedoch von der DEA entgegen überzeugender Belege 1992 endgültig
zurückgewiesen.
-
1976 erhielt nach monatelangen Antragsformalitäten der erste US-amerikanische Patient eine sog.
„Härtefall-IND“ für einen staatlich genehmigten medizinischen Cannabisgebrauch. Wegen des
wahnwitzigen bürokratischen Aufwands (Antrag auf IND-Genehmigung an die FDA, Antrag an
die Drogenbehörde DEA, Antrag an NIDA (National Institute of Drug Abuse) auf Anbau des
Cannabis auf der einzigen legalen Anbaufläche der USA, einer Farm der Universität von Mississippi) erhielten in den 13 Jahren bis 1989 trotz vielfacher Anwendungsmöglichkeiten nur etwa
sechs weitere Patienten eine solche Ausnahmegenehmigung. Als ab Anfang der Neunziger AIDSPatienten die Behörden mit einer Antragsflut überschwemmten, wurde dieses Programms 1992
gestoppt.
-
1986 wurde der psychotrop wirksamste Inhaltsstoff von Cannabis, Delta-9-THC, von der FDA zur
Behandlung von Übelkeit und Erbrechen infolge von Chemotherapie bei Krebspatienten zugelassen (Dronabinol/Marinol©). 1991 kam die Indikation Anorexie und Kachexie bei AIDS hinzu.
Dies ist insofern eine bemerkenswerte Tatsache, als durch sie dokumentiert wird, dass Bedenken,
THC würde immunsuppressiv wirken und damit den Verlauf der HIV-Infektion negativ beeinflussen, für die klinische Wirklichkeit jenseits von Versuchen in vitro und im Tiermodell mit unrealistisch hohen THC-Dosen keine Rolle spielen.
-
1964 begann die moderne Cannabisforschung mit der Isolierung und Teilsynthetisierung des wichtigsten Inhaltsstoffes, Delta-9-THC 9 und fand ihren bisherigen Höhepunkt in der Entdeckung spezifischer Cannabinoidrezeptoren im Gehirn (1988)10 und später auch auf Immunzellen sowie in
der Darstellung endogener Liganden, also quasi körpereigener Cannabinoide, Anandamide genannt (1992)11. Unter Wissenschaftlern verschiedener Arbeitsgebiete wird inzwischen zunehmend
diskutiert, ob dieses endogene Cannabinoid-System nicht ein Schlüssel zum Verständnis der vielfältigen therapeutischen Wirkungen sein könnte, die für Cannabis z.T. seit fast fünftausend Jahren
bekannt sind und die auch durch die Forschungsarbeiten der letzten 30 Jahre bestätigt werden.
-
Eine zunehmende Anzahl von Ärzten werden auf die therapeutischen Eigenschaften von Cannabis
aufmerksam und überwinden die gängigen Vorurteile: Bei einer Umfrage unter 2430 Onkologen
1990 in den USA gaben 44% der über 1000 anonym Antwortenden an, bereits eigenen Patienten
Cannabis als das gegenüber THC wirksamere und besser verträgliche Antiemetikum empfohlen zu
haben.12
-
Auch in Deutschland zieht die Entwicklung nach: Im Oktober 1995 veranstaltet die Deutsche AidsHilfe e.V. in Zusammenarbeit mit der Ärztekammer Berlin die Fachtagung “Medizinischer
Gebrauch von Cannabis“. Kurz darauf wird die Patientenselbsthilfegruppe „Cannabis als Medizin“
e.V. begründet. Im April 1997 entsteht die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin.
9
Gaoni Y, Mechoulam R (1964): Isolation, structure and partial synthesis of an active constituent of hashish; J
Am Chem Soc, 86: 1646-47
10
Devane WA, Cysarz FA 3d, Johnson MR et al.(1988): Determination and characterization of a cannabinoid
receptor in the rat brain; Mol Pharmacol, 34: 605-13
11
Devane WA, Hanus L, Breuer A (1992): Isolation and structure of a brain constituent that binds to the cannabinoid receptor; Science, 258: 1946-49
12
Doblin RE, Kleiman MA (1991): Marijuana as antiemetic medicine: A survey of oncologist`s experiences and
attitudes; J Clin Oncol, 9: 1314-19
6
-
Durch ein Betäubungsmitteländerungsgesetz wird THC ab 1. Februar 1998 (mit fast zwölfjähriger
Latenz gegenüber den USA) auch in Deutschland auf BtM-Rezept verschreibbar. Die Firma THCPharm bietet ein entsprechendes Rezepturarzneimittel an.
-
Dass die Hanfprohibition auch juristisch fragwürdige Konsequenzen hat, zeigt die Äußerung eines
Hamburger Rechtsprofessors in der Juristenzeitung (2/98)13:
„Eine Ausnahmegenehmigung zur Behandlung mit Cannabis wird, was ein Skandal genannt werden muß, Krebs- und Aidskranken, denen ein solcher Konsum deutliche Linderung ihrer Leiden
bringt, verweigert. Weshalb gegen solche Rechtswidrigkeit nicht schnell und nachhaltig gerichtlicher Rechtsschutz mobilisiert wird, ist unerklärlich.“
-
Im Sommer 2000 stellt der Deutsche Bundestag fest, dass Cannabis ein therapeutisches Potenzial
bei einer Anzahl von Erkrankungen hat und erklärt, die Bereitstellung eines Cannabisextrakts (d.h.
seine Umstufung in Anlage III BtMG) vorzubereiten. (Diese Zusage wird allerdings im Januar
2004 wieder zurück gezogen.)
-
Die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin (ACM) schafft sich im Jahre 2001 einen internationalen Dachverband in Form einer wissenschaftlichen Gesellschaft: International Association for
Cannabis as Medicine (IACM) in Köln.
-
Die Firma Delta-9-Pharma bringt im Juni 2002 in Deutschland ein zweites Rezepturarzneimittel
Dronabinol (THC) auf den Markt.
-
2003 gibt es vor einem deutschen Gericht erstmals einen Freispruch eines MS-Patienten, der illegales Cannabis zu medizinischen Zwecken verwendet hatte. Der Richter stellte einen rechtfertigenden Notstand fest.
-
Im Frühjahr 2003 stellt die britische Firma GW Pharmaceuticals auf der Grundlage verschiedener
klinischer Studien mit MS-Patienten einen Antrag auf Zulassung eines Cannabis-Sublingualspray.
Die deutsche Firma Bayer erwirbt die Vermarktungsrechte und stellt eine Zulassung in Deutschland für 2005 in Aussicht.
5. Zum Mythos „Cannabis“
Motto: Die Polarisierung in Wunderdroge/Allheilmittel und Teufelskraut „mythologisiert“ ein medizinisches Thema und macht es damit zum Spielball von Propaganda und Politik.
„Der Rückgang des Tabakrauchens und die Expansion des Genusses weicher Drogen sind zwei innerlich zusammenhängende Vorgänge. Es könnte sich darin eine ähnlich epochale Veränderung der Genussmittelkultur ankündigen wie diejenige, die vor 300 Jahren vom Kaffee und vom Tabak eingeleitet
wurde. So wie im 17. Jahrhundert die Kaffee- und Tabakverbote Rückzugsgefechte mittelalterlicher
Weltanschauung waren (welche zu Recht in den neuen Genussmitteln die bürgerlich-neuzeitliche Dynamik witterte), so lassen sich die heute noch geltenden Verbote der Rauschdrogen als Rückzugsgefechte bürgerlicher Rationalität und Selbstdisziplin interpretieren, die das Heraufdämmern einer „postindustriellen“ Kultur verhindern wollen.“(aus: W. Schivelbusch: Das Paradies, der Geschmack und die
Vernunft. Fischer Verlag, 1992)
-
13
1990 erschienen im American Psychologist die Ergebnisse einer streng wissenschaftlich angelegten Langzeitstudie an 101 kalifornischen Jugendlichen, die vom fünften bis zum achtzehnten Lebensjahr in Hinsicht auf den Zusammenhang von psychischen Merkmalen und Drogengebrauch
beobachtet wurden. Die Autoren kamen zu der alles Bisherige auf den Kopf stellenden Erkenntnis,
dass Jugendliche, die „weiche“ Drogen ausprobiert hatten (hauptsächlich Marihuana), am besten
in die Gesellschaft integriert waren. Demgegenüber waren die Jugendlichen, die nie ein solches
Probierverhalten entwickelt hatten, relativ ängstlich, emotional gehemmt, und ihnen fehlten wichtige soziale Fähigkeiten. Die Ergebnisse, dass diejenigen, die über ein solch „spielerisches“ Verhältnis hinaus häufig und regelmäßig Drogen gebrauchten, durch schlechte Impulskontrolle, emotionale Verstörtheit und zwischenmenschliche Entfremdung gekennzeichnet waren, bestätigte
dann wieder die bis dahin gültigen Auffassungen. Die Autoren schlussfolgerten jedoch, dass probSchwabe J: Der Schutz des Menschen vor sich selbst. Juristenzeitung 2/98, S. 66-75
7
lematischer Drogengebrauch ein Symptom und keine Ursache für schlechte persönliche und soziale Integration ist.14
-
Zwischen 1993 und 1995 führten die Freie Universität und das Sozialpädagogische Institut in Berlin eine epidemiologische Studie15 durch, in der insgesamt 1458 Cannabiskonsumenten einen mehr
als 700 Einzelinformationen erfassenden Fragebogen ausfüllten. Die sehr differenzierten Erkenntnisse stellen die Grundlagen der gegenwärtigen konservativen Drogenpolitik auch in Deutschland
in Frage:
Entgegen der Aussage des BMG, das die Studie finanziert hatte, die Ergebnisse würden zeigen,
dass „die vermeintliche Harmlosigkeit des Konsums“ „in keinem Fall gewährleistet“ ist, kommen
die Autoren zu der Schlussfolgerung, dass Cannabis „eine Droge ist, die auch weiche Konsummuster zulässt und deren Konsum weder schnell noch zwangsläufig zur Abhängigkeit führt“.
Es gibt keinen „typischen“ (d.h. typisch gefährdeten/Stichwort „Einstiegsdroge“, oder typisch
asozialen/Stichwort „Amotivationssyndrom“) Konsumenten. In den sehr differenzierten Konsummustern zeichneten sich vier Typen ab: Gelegenheitskonsum (35%), gewohnheitsmäßiger
Freizeitkonsum (25%), gewohnheitsmäßiger Individualkonsum (23%) und gewohnheitsmäßiger Dauerkonsum (17%).
Nach den DSM-IV-Kriterien für Abhängigkeit konnten nur 8% (trotz Mischkonsum) bzw. 2%
bei ausschließlichem Cannabiskonsum als „abhängig“ klassifiziert werden. Überraschenderweise wiesen Langzeitkonsumenten (> 7 Jahre) deutlich geringere Abhängigkeitsraten auf als
Befragte, die Cannabis weniger als 7 Jahre konsumiert hatten 5% vs. 10-12%). Die Autoren
merkten an, dass in der erfassten Stichprobe starke Konsumenten überrepräsentiert gewesen
seien und dass aus diesem Grund die genannten Abhängigkeitsraten eher über dem tatsächlichen Durchschnitt liegen würden.
Die von den 117 Ex-Konsumenten erhobenen Daten, ergaben deutlich, dass „ein Ausstieg sowohl jederzeit als auch jederzeit mit der gleichen Wahrscheinlichkeit“ möglich ist.
Die in früheren Jahren häufig vertretene These eines „Amotivationssyndroms“ konnte auch
durch die Ergebnisse dieser Studie nicht bestätigt werden.
Die Kleiber-Studie widerspricht auch der gängigen „Einstiegsdrogen- oder Eskalationstheorie“, wonach Cannabiskonsum mit zunehmender Dauer quasi substanzinduziert härtere Konsumformen nach sich zieht. 44% der aktuellen Cannabiskonsumenten hatten im Vorjahr wenigstens einmal eine andere illegale Substanz gebraucht gegenüber nur 15% der ehemaligen
Konsumenten.
Die z.T. entgegengesetzt ausgefallenen Ergebnisse anderer epidemiologischer Studien lassen
sich darauf zurückführen, dass meist hoch selektierte Kollektive wie z.B. Psychiatriepatienten
untersucht wurden.
6. Zusammenfassung
Die Stellung von Cannabis in der Medizin ist durch einen Umbruch geprägt. Bemühungen um
vorurteilsfreie Forschung stehen konservativen, häufig ideologisch motivierten Haltungen
gegenüber. So ist einerseits der Hauptinhaltsstoff von Cannabis, Delta-9-THC (Dronabinol),
in Deutschland seit 1998 verschreibungsfähig; andererseits verweigert die Bundesregierung
bis heute den logischen nächsten Schritt – die Umstufung einer pharmazeutischen Zubereitung aus der Gesamtpflanze Cannabis. Das von der Bundesregierung als Begründung dafür
angeführte Suchtpotenzial von Cannabis geht nahezu ausschließlich auf THC zurück. Es gibt
aber keine rationale Begründung dafür, den Hauptinhaltsstoff einer Pflanze (THC) verschreibungsfähig zu machen, die Pflanze selbst dagegen nicht.
14
Shedler J, BlockJ (1990): Adolescent drug use and psychological health. A longitudinal inquiry; American
Psychologist, 45: 612-30
15
Kleiber D, Soellner R, Tossmann P (1997): Cannabiskonsum in der Bundesrepublik Deutschland: Entwicklungstendenzen, Konsummuster und Einflussfaktoren; Bundesministerium für Gesundheit, Bonn
8

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