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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
3. Juni 2006
Betr.: Titel, Irak, Schülerzeitungen
D
ie Geschichte, die im Alten Testament über den Garten
Eden festgehalten wurde, ist so schön und schaurig, dass
sie wahr sein könnte: Ein Mann und eine Frau sitzen in einem
wundervollen Park. Sie dürfen tun, wonach ihnen ist, nur
Früchte vom Baum der Erkenntnis sollen sie nicht naschen.
Sündhaft, wie Menschen bis heute sind, ignorieren Adam
und Eva das Verbot und verhelfen so dem Bösen zum Einzug
in die Welt. Seit langem prüfen Wissenschaftler verschiedener
Disziplinen, ob die Geschichte aus der Bibel einen historischen
Kern hat – jetzt scheinen Archäologen fündig geworden zu
sein. SPIEGEL-Redakteur Matthias Schulz, 48, beschreibt,
was ein Team um den Berliner Klaus Schmidt, 52, in der Osttürkei entdeckt hat: Spuren einer etwa 11 000 Jahre alten Epoche der Steinzeit, in der
Jäger auf einer Bergkuppe die gewaltigen Tempelanlagen von Göbekli Tepe schufen.
Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass die Jäger zu Bauern wurden, als sich ihre
Wildbestände erschöpften, und sie haben herausgefunden, dass die Steinzeitmenschen sich anfangs schwertaten mit Feldbau und Viehzucht. Das Land und seine
Entwicklung, so Schulz, ähnelten „verblüffend der Heimat von Adam und Eva“. Die
Illustration für den SPIEGEL-Titel stammt von dem in den USA lebenden Künstler
Robert Giusti, der schon mehrfach exklusiv für das SPIEGEL-Titelbildressort gearbeitet
hat. Sie ist als Kunstdruck unter www.spiegel.de/shop erhältlich (Seite 158).
A
ls die SPIEGEL-Redakteure Hans Hoyng, 57, und Bernhard Zand, 38, in Bagdad
gelandet waren, eskalierte die Lage: Mehr als drei Dutzend Menschen, darunter zwei Kameramänner des US-Fernsehsenders CBS, kamen bald darauf in
der irakischen Hauptstadt bei Anschlägen ums Leben. Als besonders gefährdet
gilt der etwa zehn Kilometer lange Weg vom Flughafen in das schwer gesicherte
Regierungsviertel, die Grüne Zone, und so ließen sich die SPIEGEL-Leute in einer
gepanzerten Limousine, die von zwei weiteren gepanzerten Fahrzeugen eskortiert
wurde, dorthin bringen. Es ging gut: In einem Palast des früheren Diktators Saddam
Hussein sprachen sie mit US-Botschafter Zalmay Khalilzad über das Land, das gut
drei Jahre nach der Invasion einen desolaten Eindruck macht. Der Diplomat gilt als
einer der geistigen Väter der US-Außenpolitik, er war 1992 Mitverfasser der sogenannten Defense Planning Guidance. Sie wurde eine Grundlage der Doktrin, die
Demokratie auch mit kriegerischen Mitteln in der Welt zu verbreiten – und diente
so als spätere Rechtfertigung des Irak-Kriegs. „Khalilzad ist durch seine Erfahrungen
in Bagdad realistischer geworden“, sagt Hoyng, „er gibt sich längst nicht mehr so
missionarisch, wie er früher schien“ (Seite 111).
um zehnten Mal hat der SPIEGEL die beste
deutschsprachige Schülerzeitung ausgezeichnet – und wie schon in den Vorjahren kommen die
Sieger aus Süddeutschland: „Schülerzeitung des
Jahres“ ist „Spongo“ vom Hölderlin-Gymnasium
im baden-württembergischen Nürtingen. SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust, 59, gratulierte
Gabriel Rausch, 20, Sören Binder, 16, und Matthias Eberspächer, 19, zum Erfolg; der SPIEGEL Aust, „Spongo“-Redakteure
lädt fünf Redaktionsmitglieder zu einer einwöchigen Reise nach Moskau ein. „Spongo“-Mann Felix Dachsel, 19, wurde zudem
für die beste Reportage ausgezeichnet, er zeichnete den Weg eines jungen Neonazis
nach. Insgesamt beteiligten sich dieses Jahr 809 Schülerzeitungen an dem Wettbewerb.
Im Internet: www.spiegel.de
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DER SPIEGEL
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In diesem Heft
Titel
Wirtschaft
Trends: Sechs Prozent Falschmeldungen bei
Hartz IV / Teltschik plant Abflug bei Boeing ... 83
Geld: Grandhotel mit Renditeproblemen /
Kurseinbruch in Generika-Branche ................... 85
Bodenschätze: Wie eine Handvoll
Konzerne das weltweite Rohstoffgeschäft
unter sich aufteilt ............................................. 86
Fonds und Kleinanleger setzen auf Silber,
Gold und Platin ................................................ 88
Karrieren: Die großen Aufgaben des künftigen
US-Finanzministers Henry Paulson .................. 90
Geldanlage: Stadtkämmerer versuchen
sich in riskanten Wettgeschäften ...................... 92
Telekommunikation: Versteckte Gebühren
lassen die Profite der
Handy-Branche anschwellen ............................ 96
6
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS
Seite 46
Eine deutsche Muslimin soll geplant haben, sich und ihren kleinen Sohn bei einem
Selbstmordattentat im Ausland umzubringen. Mitteilungen in einem Internet-Forum
für Gotteskrieger brachten Fahnder auf die Spur der Berlinerin.
Comeback der Minengiganten
Seiten 86, 88
Nach Jahren der Stagnation erlebt die Bergbauindustrie eine
fulminante Renaissance: Die
Unternehmen verdienen blendend am Rohstoffboom, ein
kleiner Zirkel von Konzernen
regiert das globale Geschäft.
Sie können kaum so viel Eisenerz, Kupfer oder Nickel
liefern, wie gebraucht wird.
Fonds und Kleinanleger pumpen Unsummen in die vermeintlichen Goldgruben.
Goldmine (in Australien)
Die Talkshow-Demokratie ist müde
Maischberger
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Christiansen
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Illner
DAVID GRAY / REUTERS
Szene: Studie über die Sprachentwicklung
von Kleinkindern / Buch über
den Fotografen Juergen Teller .......................... 61
Eine Meldung und ihre Geschichte ................... 62
Weltmeisterschaft: Warum das größte
Sportspektakel der Nachkriegszeit
auch ein politisches Großereignis wird ............. 64
Fußballkultur: WM-Gespräch mit dem
Philosophen Peter Sloterdijk über nationale
Erregungsgemeinschaften und männliche Jäger ... 70
WM-Stars: Lionel Messi – Argentinien setzt
auf einen 18-Jährigen ....................................... 74
Deutsche Nationalelf: Interne Scharmützel um
Manager Bierhoff und Sportdirektor Sammer ... 76
Ortstermin: In Düsseldorf bittet Berti Vogts
zum Blutspenden für die WM .......................... 80
Seiten 28, 32
Die EU buttert viele Milliarden
Euro in die Landwirtschaft. Doch
Mitgliedstaaten wie Deutschland
weigern sich, genau aufzulisten,
wer wie viel Geld erhält. Kein
Wunder: Große Fleischfabriken,
Grundbesitzer und Industriekonzerne profitieren von den
Subventionen am meisten. EUVerwaltungskommissar Siim Kallas fordert nun mehr Transparenz. Die Öffentlichkeit habe
das Recht, zu erfahren, wo ihre
Steuergelder bleiben. Landwirtschaftsminister Horst Seehofer
schwenkt langsam ein.
Eine Mutter im Dschihad
INA PEEK / IMAGO
Gesellschaft · Sport
Getreideernte (auf Rügen), Seehofer
JIM RAKETE / ARD
Panorama: Regierung will Zuwanderung von
Fachkräften vereinfachen / Bundesrat
gegen Antidiskriminierungsgesetz / Soldaten
sollten WM-Stadien füllen ................................ 17
Außenpolitik: Im Atomstreit mit Iran
schwenkt Washington auf Europas Kurs ein ..... 22
Regierung: Ob Arbeitsmarkt oder
Gesundheitssystem – Schwarz-Rot ist
in zentralen Fragen gelähmt ............................. 24
Subventionen: Die EU-Milliarden für die
Landwirtschaft helfen nur den Großen ............ 28
Interview mit EU-Verwaltungskommissar
Siim Kallas über seinen Plan, die Brüsseler
Beihilfepraxis transparent zu machen .............. 32
Reformer: SPIEGEL-Gespräch mit dem
Steuerexperten Paul Kirchhof über die
Finanzpolitik der Großen Koalition und
seine Erfahrungen in der Politik ....................... 34
Kabinett: Außenminister Frank-Walter
Steinmeier profiliert sich im Konflikt mit
Freunden und Gegnern .................................... 42
Integration: Umstrittener Dialog mit
Muslim-Extremisten ......................................... 44
Islamisten: Deutsche Konvertitin soll
Selbstmordanschlag geplant haben ................... 46
Parlamentarier: Verfassungsschutz überwacht
Top-Leute der Linkspartei ................................ 47
Kriminalität: Yachten schmuggeln Drogen
nach Europa ..................................................... 48
Fahnder: Größter DNA-Massentest soll
Kinderschänder überführen ............................. 50
Christen: Erstmals könnte ein Priester eine
deutsche Großstadt regieren ............................ 54
Lebensmittel: Gift in Importfischen ............... 58
Brüssel, Bauern und Milliarden
JENS KOEHLER / BILDERMEER
Deutschland
M. NEUGEBAUER/S. BRAUER PHOTOS
Die wahre Geschichte des Garten Eden .......... 158
Seite 100
Die Politiker der Großen Koalition taugen nicht mehr als
Zugpferde fürs Fernsehen. Sie
streiten zu wenig, haben sich zu
lieb und verbreiten Langeweile.
Darunter leiden vor allem die
Polit-Talkshows. Beim ARDFlaggschiff „Sabine Christiansen“ rutschen bereits die Quoten ab. Darum laden Illner,
Maischberger und Co. immer
seltener Mandatsträger ein.
Medien
Trends: Kirch-Gläubiger sollen erstmals Geld
sehen / Interview mit Peter Skulimma,
Geschäftsführer des Berliner Verlags, über die
Machtprobe in seinem Haus ............................. 98
Fernsehen: Vorschau ...................................... 99
Talkshows: Die politischen
TV-Plauderrunden leiden unter der
großkoalitionären Harmoniesoße ................... 100
Ausland
WPN / AG. FOCUS
Leichen in Haditha, Botschafter Khalilzad
Irak: Die Toten von Haditha
Seiten 108, 111
Ein Trupp Marines brachte Kinder um, Frauen, unbewaffnete Männer – so das Resümee eines vorläufigen Untersuchungsberichts der
US-Streitkräfte. Das Massaker in Haditha übertrifft sogar Abu Ghureib. „Solche Zwischenfälle wirken verheerend“, sagt Zalmay Khalilzad, US-Botschafter in Bagdad, im SPIEGEL-Gespräch.
Kultur
Bollywood schlägt Hollywood
Seite 130
CINETEXT
Das indische Kommerzkino feiert weltweit Triumphe – auch
in Deutschland sind die grellbunten Herz-Schmerz-Streifen
inzwischen Kult. Jetzt setzen
Filmemacher in Bombay einen
politischen Schwerpunkt: Sie
wollen mit ihren Drehbüchern
zum Friedensschluss mit dem
Erzfeind Pakistan beitragen.
Bollywood-Filmszene
Gipfeltreffen der Ball-Artisten
Seiten 64 bis 76
Merkel, Klinsmann, Beckenbauer
Szene: Das literarische Doppelleben der irischamerikanischen Autorin Maeve Brennan /
US-Künstler Matthew Barney über
seinen neuen Experimentalfilm an Bord
eines Walfangschiffs ........................................ 127
Filmindustrie: Indiens Kinostars erobern
die Welt .......................................................... 130
Literatur: Die Polemik um Peter Handke und
den entgangenen Heine-Preis ......................... 140
Die Belgrader Dramatikerin Biljana Srbljanoviƒ
über Handke, MiloΔeviƒ und die Serben ......... 142
Satire: Bestsellerautor Daniel Kehlmann über
die Fernseh-Kultserie „Die Simpsons“ ........... 144
Bestseller ..................................................... 146
Fußball: SPIEGEL-Gespräch mit den
Schriftstellern Tim Parks (England), Henning
Mankell (Schweden) und Thomas Brussig
(Deutschland) über die Magie der WM und
Nationalismus im Stadion ............................... 148
Nahaufnahme: Wie der türkische Sänger
Muhabbet bei jungen Landsleuten in Deutschland
zum heimlichen Superstar wurde .................... 152
Wissenschaft · Technik
K.-B. KARWASZ (L.); PECORARO / AP (R.)
DER SPIEGEL / AGENTUR FOCUS
Panorama: Erdbeben auf Java fordert
Ordnungsmacht Australien heraus /
Palästinenserpräsident Abbas droht mit
Rücktritt / Kein Platz für Liberias
Ex-Diktator Charles Taylor ............................. 105
USA: Das verschleierte Massaker ................... 108
Irak: SPIEGEL-Gespräch mit Amerikas
Botschafter in Bagdad, Zalmay Khalilzad,
über Washingtons revidierte Kriegsziele
und die Fehler beim Wiederaufbau ................. 111
Minderheiten: Osteuropas schwieriger
Umgang mit den Homosexuellen .................... 116
Sudan: Bruderkrieg der Schwarzen? .............. 118
Interview mit Ex-Premier Sadik al-Mahdi
über die Stationierung von Uno-Truppen
und die drohende Spaltung des Landes .......... 123
Global Village: Die schönen Stewardessen
der Fluglinie Emirates ..................................... 124
Prisma: Frauen lässt Erotik kalt /
Spritgewinnung aus Altautos .......................... 155
Medizin: Fett durch Darmbakterien –
eine neue Theorie zum Übergewicht .............. 172
Weinbau: Wie entstehen erlesene Aromen? ... 174
Mathematik: Ein britischer
Katastrophenforscher auf der Suche
nach der Terrorformel ..................................... 176
Raumfahrt: Schwebende Staatssekretäre,
taumelnde Professoren –
Promis proben die Schwerelosigkeit ............... 178
Messi (M.)
Die größte internationale Veranstaltung, „die je in Deutschland stattgefunden haben
wird“ (Altkanzler Schröder), beginnt am nächsten Freitag, und deshalb sind nicht nur
Fußballer aus 32 Nationen im Einsatz, sondern auch Politiker und Staatsoberhäupter
aus aller Welt. Die Polit-Prominenz und viele Sponsoren werden das Treiben rund um
die Ball-Artisten Ronaldinho, Beckham und Messi zu einem Großereignis irgendwo
zwischen Turnier, Messe und Gipfeltreffen machen.
Briefe ................................................................ 8
Impressum, Leserservice ........................... 180
Chronik .......................................................... 181
Register ......................................................... 182
Personalien ................................................... 184
Hohlspiegel /Rückspiegel ........................... 186
Titelbild: Illustration Robert Giusti für den SPIEGEL
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Briefe
sein, dass die Bundesregierung iranische Historiker einlädt, damit diese sich ein Bild über
die Quellenlage und Faktizität des Holocaust
machen können. Nichts spricht dafür, dass
Iran ein Interesse daran hat, einen atomaren
Weltkrieg auszulösen. Da haben mich doch
ein besoffener Boris Jelzin, der mit dem roten
Knopf spielt, oder schlecht bewachte Sprengköpfe in Russland weit mehr beunruhigt und
stellen auch heute eine ungleich größere Gefahr dar (das einzige Land, das je die Schwelle des Einsatzes dieser Waffen überschritten
hat, sind die USA!). Wir sollten nicht so aufgeregt sein, wenn ein Land mehr Selbstbewusstsein zeigt, als wir es gern hätten.
„Ein unglaublich aufschlussreiches Interview,
das einmal mehr zeigt,
wie aus Unkenntnis
Missverständnisse entstehen.“
Michael Fischer aus Annweiler (Rhld.-Pf.) zum Titel
„SPIEGEL-Gespräch mit Irans Präsident Ahmadinedschad –
Der Mann, vor dem die Welt sich fürchtet“
SPIEGEL-Titel 22/2006
Berlin
Wir sollten nicht so aufgeregt sein
Nr. 22/2006, Titel: SPIEGEL-Gespräch
mit Irans Präsident Ahmadinedschad – Der Mann,
vor dem die Welt sich fürchtet
Nach dem Lesen des in mehrfacher Hinsicht
bemerkenswerten Interviews mit Ahmadinedschad stellt sich die Frage, wer denn
nun die Bösen und die Gefährlichen sind.
Dieser Mann ist offenbar alles andere als
ein ignoranter Dummkopf. Er hat es lediglich gewagt, seinen Finger in chronisch eiternde Wunden zu legen.
thorsten Niethardt
Unfassbar, wie ein Mann mit diesem
Geschichts- und Weltbild Präsident eines
so großen Landes werden kann.
Rheine (Nrdrh.-Westf.) Karl-Heinz Melching
Mir wird jetzt erst die Tragweite und Gefahr bewusst, die von diesem Mann ausgeht. Die gefährlichsten Menschen dieser
Welt waren immer jene, die eine explosive
Mischung aus Minderwertigkeits- und
Überlegenheitsgefühlen in sich tragen.
Wien
Katharina Nepf
Warum lassen sich erfahrene Journalisten
so die Gesprächsführung aus der Hand
nehmen und geben gleichwohl einem Geschichtsverleugner wie Präsident Ahmadinedschad ein Forum mit dem gleichzeitigen Bemühen, ihn von einer millionenfach
belegten Wahrheit zu überzeugen, obwohl
gerade dies bei Geschichtsverleugnern
8
Sie hätten als Titelzeile auch wählen können: „Selbstenttarnung eines Verrückten“.
Filderstadt (Bad.-Württ.)
Kerken (Nrdrh.-Westf.)
Peter Oechsle
Das SPIEGEL-Team versteigt sich zu der
Behauptung: „Amerika hat den Irak-Krieg
de facto verloren.“ Das sieht Ahmadinedschad sicher völlig anders. Amerikanische
Kampfjets können jedes Ziel in Iran, speziell Irans Atomzentren, mit einer Vorwarnzeit von wenigen Minuten angreifen
Berlin
Präsident Ahmadinedschad, Milizen in Teheran
Finger in chronische Wunden gelegt
und zerstören. Die Alliierten hätten binnen
Minuten die Lufthoheit über Iran.
Berlin
Heinz-Conrad Walter
Vielen Dank für dieses Gespräch, das das
vorherrschende Bild eines zornigen, unberechenbaren Bombenbastlers deutlich revidiert.
Es ist sein gutes Recht (und europäische Tradition), nicht alles zu glauben, was als Tatsache behauptet wird. Die historische Tatsache
des Holocaust kann nicht per Gesetz zementiert werden. Die Konsequenz kann doch nur
Michael Heinricks
Warum sollte ich mich vor Ahmadinedschad fürchten? Hüten sollte man sich vor
einer internationalen Heuchlerclique, angeführt von einem fundamentalchristlichen
Haufen von Waffen- und Öl-Lobbyisten,
deren Ziel die Kontrolle der Straße von
Hormus ist und die bereit sind, 500 Milliarden in sinnlosen Kriegen zu verpulvern,
und die den Kampf gegen den Terror gewinnen wollen, den sie selbst fördern. Ich
bin kein Freund von Ahmadinedschad und
iranischen Atomwaffen, aber wer Indien,
Nordkorea oder Pakistan mit Schmusekurs
begegnet oder Israel Atomwaffen zugesteht, wird einen Verzicht anderer Staaten
nicht einfordern und erklären können.
Carsten Pötter
Das Interview mit Ahmadinedschad zeigt,
dass dieser Mann durch seine einseitige
Sicht der Welt und seine fanatische Einstellung hochgefährlich ist. Aber dieses Interview zeigt auch, wie schwierig es ist,
aus der Sicht der aufgeklärten und demokratischen Welt dagegen zu argumentieren
und vielmehr noch dagegen zu handeln,
wenn man zugleich die seit Jahrzehnten
katastrophale Außen-/Nahostpolitik der
USA verteidigen muss, weil man noch immer die Hegemonie der USA anerkennt
und gutheißt.
Kiel
sinnlos ist. Der zweite Teil des Interviews
war gut und informativ.
REUTERS
Twistringen (Nieders.)
Hartwig Schulte-Loh
Gunther Egermann
Als Iranerin und eine von Zehntausenden
Dissidenten verfolge ich die westlichen Berichte über mein Land und schäme mich für
diesen „Präsidenten“! Er ist ein gefährlicher
Clown mit einem Napoleon-Komplex. Die
westliche Presse macht aber leider immer
denselben Fehler: Sie beobachtet und beurteilt die Regierung in Iran mit westlichen
Maßstäben. Niemand kennt dieses Regime
und seine Ideologie besser als das iranische
Volk. Der islamische Staat träumt davon,
die Welt zu erobern. Wenn nicht in 10 oder
50 Jahren, dann in 500 oder 1000 Jahren.
Wenn nicht durch Fortschritt und Sympathie, dann durch Terror und steigende Geburtenraten in der islamischen Welt!
Berlin
Elahe Boghrat
Vor 50 Jahren der spiegel vom 6. Juni 1956
„Zonendebatte“ im Bundestag „Wovor haben wir Angst?“ „Die Situation
ist da“ Kernsätze aus der Gürzenich-Rede Konrad Adenauers vor der
Industrie. Visionäre Rede von Präsident Eisenhower Aufgabe des Primats
der militärpolitischen Strategie. „Die schreckliche Landplage“ Analphabetentum in Italien erhöht sich. Architektur in Köln Heftige Kritik an
stilbrüchiger Bauweise. Neues System in Hamburg Fernseh-ferngelenkter
Verkehr. Kampf um den Luftraum Startplätze für den Transatlantikflug.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
Titel: Wilhelm Vocke, Präsident der Bank Deutscher Länder
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Briefe
Kein exzessives Trinken
Nr. 21/2006, Prisma: Riskante Verbindung
Jugendliche beim Chatten
Früh an die harte Realität?
Eine der sichersten Communities
Nr. 21/2006, Internet:
Kinderschützer fordern stärkere Kontrollen im Netz
Sie stellen den Chat www.knuddels.de nur
sehr einseitig dar. Als gewählter Administrator möchte ich darauf hinweisen, dass
Knuddels eine der sichersten Communities im deutschen Netz ist, es hat ein eigenes Jugendschutzteam mit Hunderten ehrenamtlichen Mitarbeitern, die bereits sehr
viele Pädosexuelle aufgespürt und gesperrt
haben (auch undercover). Es hat ein Fototeam, das die Fotos von unter 15-Jährigen,
abgesehen von der normalen Fotokontrolle, noch ein zweites Mal prüft. Es hat ein
System, das, wenn ein jüngeres und ein älteres Mitglied reden und es dann zu anstößigen Wörtern kommt, automatisch die
Verbindung abbricht und keinen Kontakt
der beiden mehr zulässt. Zudem haben wir
einen Jugendschutztest, den jedes Mitglied
unter 16 Jahren bestehen muss, ansonsten
erhält es keinen neuen Rang. Es gibt Channel-Moderatoren mit besonderem Augenmerk auf die „under 18 channels“. Diese
CM werden von dem Jugendschutzteam
aufgeklärt, wie sie bei welchen Fällen zu
handeln haben.
Lauenau (Nieders.)
Carolin Kirchhoff
Ehrenamtliche Mitarbeiterin
Ich bin selbst Burschenschafter und kann
Ihnen versichern, dass es in den USA keine „Burschenschaften“ gibt. US-Studentenverbindungen, die Gegenstand der Studie waren, haben mit diesen Idealen der
Revolution von 1848 nichts zu tun und bezeichnen sich auch nicht als Burschenschafter. Die einzigen Burschenschaften
auf dem amerikanischen Kontinent findet
man in Chile. Bei dem im Bild gezeigten
„Saufgelage in Wien“ handelt es sich um
den „Schillerkommers“, eine 2005 in der
Hofburg abgehaltene feierliche Veranstaltung zu Ehren dieses großen Dichters.
Wenn dabei auch gern Bier genossen wird,
achten die Teilnehmer – insbesondere
die abgebildeten Chargierten – die Würde
der Veranstaltung und trinken nicht exzessiv.
Wien
Ralf Blaha
In den USA gibt es keine Burschenschaften. Bei der erwähnten Studie handelt es
sich um eine lokale Studie, bezogen auf
einen einzelnen Bundesstaat der USA.
Dass in Deutschland Verbindungsstudenten mehr Alkohol konsumieren als ihre
Kommilitonen, ist nicht belegt und eher
unwahrscheinlich, da unter Verbindungsstudenten Hochprozentiges meist verpönt
ist. Das Wort „Burschenschaftler“ existiert
nicht. Die Mitglieder nennt man Burschenschafter. Außerdem ist es kein Sammelbegriff für Verbindungsstudenten. Burschenschaften sind nur eine Form der studentischen Verbindungen. Nur circa ein
Viertel der farbentragenden Verbindungen
in Deutschland sind Burschenschaften, der
Rest besteht aus Corps, Landsmannschaften, Turnerschaften, Sängerschaften und
religiösen Korporationen.
Hannover
Es gibt Millionen von Chatrooms im Internet; die auch nur stichprobenartig zu
moderieren, unsere Arbeitslosen würden
wohl noch nicht einmal reichen. In welchem Verhältnis stehen die drei erwähnten
Fälle von Straftaten, die über Chats angebahnt wurden, zu den Fällen, in denen Täter und Opfer anders in Kontakt kamen?
Ist die Aufregung wirklich gerechtfertigt?
Und: Deutschland hat bereits strenge Gesetze, die den Jugendschutz – auch im Internet – regeln und damit ganze Branchen
zur Aufgabe oder Auswanderung ins liberalere Ausland gezwungen haben. Im Übrigen scheinen mir die im Artikel erwähnten
Mädchen Monika und Alex keine guten
Beispiele für angeblich gefährdete Kinder:
Im Gegenteil gehen sie sehr souverän mit
den Belästigungen um und werden so
schon früh an die harte Realität gewöhnt,
besser als erst mit 16 in einer Disco.
Hamburg
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Thomas Promny
Internet-Unternehmer
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Lars Klausnitzer
Turnerschafter
Mit Skepsis
Nr. 21/2006, Ausstellungen: SPIEGEL-Gespräch mit
Museumschef Hans Ottomeyer über die kulturelle
Identität der Deutschen und ihre 2000-jährige Geschichte
Keine Frage gab es nach den entsetzlichen
Morden der christlichen Kirchen, keine
nach den Leiden des einfachen Volkes unter dem Imponiergehabe der Feudalherren, keine Frage nach der schwierigen Entwicklung zu einer Nation angesichts unserer Mittellage in Europa mit ihren vielen
Einflüssen und so weiter, dafür aber die
Frage nach „den Knochen der Kaiser“, als
ob die uns geschichtliche Erkenntnisse
brächten. Mit meinen 83 Jahren darf man
wohl mit Skepsis auf dieses „Schaufenster
der Republik“ (warum nicht der Nation?)
blicken.
Braunschweig (Nieders.)
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Irmingard Krause
Nomen est omen
Nr. 21/2006, Kirche: Der Trierer Bischof
Reinhard Marx über den bevorstehenden Katholikentag
und die Kritik am Turbo-Kapitalismus
Der Trierer Bischof Reinhard Marx hat Karl
Marx gelesen und zeitgemäß interpretiert.
Vielleicht sollten die großkoalitionären Totengräber des Sozialstaates zu Pfingsten in
Trier am Fest des Heiligen Geistes den
Worten des Oberhirten lauschen und das
Karl-Marx-Haus besuchen. Danach dürfen
die Hartz-Reformer, Lebensarbeitszeitverlängerer, Verwalter der Massenarbeitslosigkeit, Mehrwertsteuererhöher, Pendlerpauschalenstreicher et cetera unter Führung von Vizekanzler Münte Heuschrecken
jagen gehen und ihren schönen Wahlkampfsprüchen Taten folgen lassen.
Regensburg
Ulrich Beer
REUTERS
Bekanntermaßen ist der Katholikentag eine
von der Amtskirche unabhängige Laienbewegung. Insofern können dort beispielsweise die „Vereinigung katholischer Priester und
ihrer Frauen“ oder die katholischen Homosexuellen frei und ungehindert auftreten.
Pilger in Köln (2005)
Nur betont fortschrittliches Gehabe?
Im eigentlich amtskirchlichen Raum wäre
dies schlechterdings unmöglich. Hier gilt
prinzipiell weiterhin das mittelalterliche
„Roma locuta, causa finita“. Alles betont
fortschrittliche Gehabe des neuen Papstes
und seines kreuzbraven Bischofs Marx wird
eines der steten Hauptanliegen des deutschen Katholikentages insofern mitnichten
voranbringen: die umfassende geistliche Freiheit der römisch-katholischen Christenheit.
Würzburg
Rüdiger Freiherr von Neubeck
Nomen est omen. Bischof Marx als Repräsentant der katholischen Kirche nimmt
seinen alten Namensvetter sehr ernst. Es ist
äußerst bemerkenswert, dass in Zeiten des
ausufernden Kapitalismus aus der katholische Kirche eine solche Meinungsäußerung
zu vernehmen ist. Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil sie mir
nichts mehr zu bewirken schien. Hätte ich
dieses Interview damals gelesen, wäre meine Entscheidung vermutlich anders ausgefallen.
Regenstauf (Bayern)
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Dr. Dietmar Schmitt
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der Intellektuellen haben mit der größten
Selbstverständlichkeit
ihre Zeiten mit Drogenproblemen. Treffen tut es meist nur
den kleinen Süchtigen
auf der Straße und
nicht den Promi, der
sich sauberen Stoff
und gute Entzugskliniken leisten kann.
Rousseausche Märchenwälder
Nr. 21/2006, Kino: Dokumentarfilmer
Michael Glawogger zeigt den Zauber der Arbeit
Als sehnsuchtsvolles Zerrbild westeuropäischer Intellektualität kommt der Artikel über
den Dokumentarfilm „Workingman’s Death“
daher. Er liefert genau jene Deutung, gegen
die Regisseur Glawogger sich bereits mit
Nachdruck gewehrt hat: Sein Film über
körperliche Schwerstarbeit wird zum ästhetizistischen Anschauungsmaterial zivilisationsmüder Schreibtischarbeiter, die vom
„Zauber der Schwerstarbeit“ träumen. Die
„Anschaulichkeit“ der Anstrengungen ukrainischer Grubenmalocher und indonesischer
Schwefelträger hält für sie eine untergründige Poesie bereit. Die Anrufung des Herrn
im nigerianischen Schlachthof wird zum europäischen Hohelied auf Einfachheit und Zufriedenheit intoniert vom Kinosessel aus. Bei
all dem Staunen über die „herbere Form von
Liebe“ zur Schwerstarbeit kein Wort von
dem, was Glawogger immer wieder betont:
dass die globale Arbeitsteilung diese Menschen und ihre Arbeit braucht, dass die westlichen Volkswirtschaften zutiefst darauf
angewiesen sind, dass irgendjemand diese
Arbeit tut. Der Artikel beruhigt das aufgestörte Gewissen, indem er zeigt, wie gern
und bereitwillig sie doch getan wird: Die Anschaulichkeit als Schwelgen in Bildern er-
Würzburg
Klaus Meixner
Dem Artikel fehlt das
Augenmerk auf die Stars Moss, Doherty
Authentizität der Mu- Spießermärchen von
sik und ihrer Protago- „Sex, Drugs & ...“?
nisten. Drogenkonsumenten wie Billie Holiday, Janis Joplin und
Kurt Cobain schienen dem Publikum immer noch glaubwürdiger als die cleane
Klientel. Ihr Artikel stellt die Umstände völlig auf den Kopf. Aufmerksamkeit erregen
gehörte schon immer zum Geschäft, und so
liegt es auf der Hand, dass die gebrocheneren Charaktere eher an ihren übrigen Defiziten zugrunde gegangen sind als an der
Überkompensation dieses einen.
Wetzlar (Hessen)
Die Rock-Kultur ist sicherlich ohne Drogen
kaum vorstellbar. Allerdings war dies
früher auch schon so: Wenn wir Crack und
Heroin schlicht durch Absinth ersetzen,
dann haben wir einen großen Teil der
Kunst des späteren 19. Jahrhunderts treffend charakterisiert (von van Gogh in Europa bis Jack London in den USA)!
M. IQBAL
Paradise Valley (USA)
Indonesische Arbeiter in „Workingman’s Death“
Beruhigung des aufgestörten Gewissens?
setzt die kritische Frage nach der bitteren
Notwendigkeit dieser Arbeitsformen. Gratulation zu dieser Flucht in die rousseauschen Märchenwälder.
Gütersloh (Nrdrh.-Westf.)
Jonas Hübner
Auf den Kopf gestellt
Nr. 21/2006, Pop: Amok-Rocker Pete Doherty zelebriert
seinen eigenen Untergang
Gerade diese Mythologisierung und die
Spießermärchen über „Sex, Drugs &
Rock’n’Roll“ sind es doch, die die Jugendlichen dazu verführen, es auch mal zu versuchen. Außerdem werden wieder einmal
alle Drogen – und wenn sie noch so unterschiedlich sind – über einen Kamm geschoren. Die Stones, Townshend, Clapton,
Boy George, Elton John und Robbie Williams sind alles andere als Drogenwracks.
Ein großer Teil der Prominenz, aber auch
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Arnd Hoffmann
Gerald Farin
Ein interessanter Bericht, aber warum fallen
auch Sie der Versuchung anheim, „gesellschaftsunkonformes Verhalten“ mit dem
Hinweis auf ein hohes Maß an formeller Bildung zu adeln? Ein Pete Doherty mag wohl
ein hohes Maß an geistigem Potential auf
seinen Lebensweg mitbekommen haben,
aber er bleibt das, was er geworden ist: ein
hochgradig drogenabhängiger junger Mann,
ein Junkie. Und das hat nun nichts mehr
mit Klugheit zu tun – das ist dumm. Auch
wenn Musik und Drogen seit Generationen
schon eine nicht zu erschütternde und sicher auch produktive Allianz bilden – wer
Drogen nimmt, kann so helle in der Birne
nicht sein. Zumindest, wenn er nicht erkennt,
dass ihm die Abhängigkeit früher oder später sein intellektuelles Potential raubt.
München
Tanja Buttberg
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ANNA BARCLAY / SWNS / BULLS PRESS
Briefe
Deutschland
Panorama
Z U WA N D E R U N G
Ausländer rein
GOETZ SCHLESER
nion und SPD stehen vor einem Durchbruch in ihren Gesprächen über vereinfachte Zuwanderungsregelungen für
Fachkräfte aus dem Ausland. Die zuständigen Experten aus den
Koalitionsfraktionen wollen noch vor der Sommerpause entsprechende Eckpunkte verabschieden. Geplant ist, dass angestellte Hochqualifizierte etwa aus Indien oder China künftig ein
Jahresgehalt von gut 50 000 Euro in Deutschland erzielen müssen, um einen dauerhaften Aufenthaltsstatus zu erlangen. Bislang liegt die Gehaltsschwelle bei circa 84 000 Euro.
Auch für Selbständige, die in Deutschland ein Unternehmen
gründen oder führen wollen, sollen die Aufenthaltsregelungen
liberalisiert werden. Angedacht ist, dass sie künftig nicht mehr
zehn, sondern nur noch fünf sogenannte Vollzeitarbeitsplätze
stellen müssen, um in den Genuss einer unbegrenzten Aufenthaltsgenehmigung zu kommen. Zudem soll die Kapitalsumme,
die Gewerbetätige mindestens vorweisen müssen, deutlich abgesenkt werden. Im Gespräch ist eine
Halbierung von einer Million Euro auf
500 000 Euro.
Mit den neuen Regelungen kommen
Union und SPD vor allem dem Drängen
der führenden Wirtschaftsverbände
nach. Sie beklagen bereits seit Monaten, dass die zuletzt von Rot-Grün mit
dem Zuwanderungsgesetz eingeführten
Bestimmungen nicht zu einer signifikanten Zunahme des Zuzugs gutausgeSchäuble
E U R O PA
bayerische Junge Union (JU) verlangt
von der Bundesregierung, sich für eine
Ablehnung der Beitrittsverträge im Bundestag zu engagieren. „Kanzlerin Angela
Merkel muss ein Ja zur Erweiterung im
Parlament verhindern“, sagt Bayerns JUChef Manfred Weber. „Es ist völlig offensichtlich, dass Rumänien und vor allem Bulgarien wegen der dort grassierenden Korruption noch nicht reif sind
für einen EU-Beitritt.“ Es sei ein Fehler
gewesen, dass die EU-Mitglieder Verträge mit dem Beitrittsdatum 2007 oder
2008 unterzeichnet hätten. „Das Parlament hat jetzt die einmalige Chance, diese Fehlentscheidung zu revidieren“, sagt
das CSU-Präsidiumsmitglied. Sowohl
Merkel als auch CSU-Chef Edmund Stoiber hatten erklärt, dass die Entscheidung
für den Beitritt der beiden Länder nicht
rückgängig gemacht werden könne.
Software-Spezialistinnen (im indischen Bangalore)
bildeter Arbeitnehmer geführt hätten. Tatsächlich war es offenbar gerade für junge Fachkräfte schwierig, die angegebenen
Einkommenshürden zu erreichen. Im vergangenen Jahr holten
deutsche Unternehmen gerade einmal rund 900 Hochqualifizierte ins Land.
Endgültig entschieden wird über die neuen Regelungen voraussichtlich in einem Spitzengespräch Ende Juni. Daran sollen
Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) sowie die Verhandlungsführer von Union und SPD, Hans-Peter Uhl und Dieter
Wiefelspütz, teilnehmen. Entsprechende Gesetzesänderungen
sind für den Herbst geplant.
AU S B I L D U NG
Lehrstellen-Abgabe light
n der SPD bahnt sich ein neuer Konflikt um die Zukunft der LehrlingsIausbildung
an. Um die Misere am
Lehrstellenmarkt zu beheben, wollen
Teile der Parteilinken und der Jusos
SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering
und Parteichef Kurt Beck in den kommenden Wochen dazu drängen, eine
Komplettreform des Ausbildungssystems anzugehen. Ihre Idee: Künftig
sollen neben dem bestehenden dualen
System bundesweit staatliche Ausbildungszentren gegründet werden, in denen jedem Jugendlichen nach der Schule garantiert ein Platz zur Verfügung
steht. „In den Ausbildungszentren
könnten die Lehrlinge
durch theoretischen Unterricht und Praktika
auf das Berufsleben vorbereitet werden“, sagt
Juso-Chef Björn Böhning, einer der Initiatoren des Projekts. Finanziert werden sollten sie
nach Ansicht Böhnings
durch eine Art „Lehrstellen-Abgabe light“:
Alle Unternehmen, die
keine Lehrlinge ausbilden, müssten in einen
Ausbildungsfonds einzahlen. Zusätzlich sollten Mittel aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung stehen.
RIEDMILLER / CARO
Junge Union gegen
EU-Erweiterung
egen der anstehenden Aufnahme
von Rumänien und Bulgarien in
W
die EU gibt es in der Union Streit. Die
KLOSTERMEIER / VISION PHOTOS
U
Kunsthandwerkslehrlinge
d e r
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Panorama
ZIVILDIENST
Schlechtes
Training
Z
PATRICK PLEUL / PICTURE-ALLIANCE / DPA
ivildienstleistende werden oft ohne
ausreichende Schulung in der Altenund Krankenpflege eingesetzt. Nur etwa
die Hälfte der für Pflegehilfe oder Betreuungsdienste eingeteilten Zivis habe
im vergangenen Jahr die gesetzlich vorgeschriebenen Vorbereitungslehrgänge
absolviert, rügt die Zentralstelle für Recht
und Schutz der Kriegsdienstverweigerer.
Während Arbeiter-Samariter-Bund und
Diakonisches Werk gut zwei Drittel ihrer
Zivis für den Umgang mit Alten, Kranken
oder Behinderten trainierten, sei bei Ca- Altenheimbewohnerinnen, Zivildienstleistender in Frankfurt (Oder)
ritas und Arbeiterwohlfahrt nicht einmal
die Hälfte geschult worden. Das Bundesamt für den Zivildienst, Zentralstelle kritisiert dies als „unverantwortlich“ und forderte
das die jungen Männer für Einrichtungen ausbildet, die keinem die Bundesregierung auf, Zivis nur noch dann einzuberufen,
der großen Wohlfahrtsverbände angehören, habe gar zwei Drit- wenn die vorgeschriebene Ausbildung für die jeweilige Tätigkeit
tel ohne ausreichende Kenntnisse in den Einsatz geschickt. Die auch gewährleistet sei.
Proteste zur WM
ährend der Fußballweltmeisterschaft wollen die protestierenW
den Studenten ihre Aktionen gegen
JUSTIZ
Druck aus den Ländern
er Bundesrat könnte das in der Union
D
umstrittene Antidiskriminierungsgesetz
empfindlich zurückstutzen. Der Rechtsaus-
RAINER WALDINGER / DDP
Studiengebühren verstärken. Die Anwesenheit internationaler Journalisten solle genutzt werden, den öffentlichen Druck auf Landesregierungen
zu erhöhen, sagten Studierendenvertreter Mitte dieser Woche in Frankfurt am Main. Amin Benaissa vom
bundesweiten „Aktionsbündnis gegen Studiengebühren“ kündigte
„kreative Aktionen“ in mehreren
WM-Austragungsstädten an. Ein
Schwerpunkt soll in Hessen liegen,
wo in den vergangenen Wochen bereits Straßen, Bahngleise und eine
Autobahn blockiert worden waren.
Wenig Gefahr besteht dagegen für
die WM-Stadt Kaiserslautern – der
rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) hat sich vehement gegen Studiengebühren ausgesprochen und einen bundesweiten
„Aufschrei“ gegen die „soziale Selektion von Bildung“ gefordert. Seien
sie erst mal eingeführt, könnten die
Studiengebühren schon bald auf
mehrere tausend Euro steigen, warnt
Beck. Die von einigen Ländern angekündigten 500 Euro pro Semester
seien „nur die Einstiegsdroge“.
Studentenprotest auf der Marburger Stadtautobahn
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d e r
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schuss der Länderkammer hat am
vergangenen Mittwoch sechs der
elf Änderungsanträge Baden-Württembergs angenommen, damit das
sogenannte Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) weniger
stark über die EU-Richtlinien hinausgeht. So hat sich eine Mehrheit
der Ministerialen etwa gegen ein
eigenes Klagerecht des Betriebsrats im Fall von Diskriminierungen am Arbeitsplatz ausgesproGoll
chen. Viele Länder wollen überdies die im Zivilrecht über die EU-Vorgaben
hinausgehenden Schutzmerkmale Religion,
Weltanschauung, Alter, Behinderung und
sexuelle Identität streichen. „Ich kann mir
nicht mehr vorstellen, dass dieses Machwerk
in unveränderter Form über die Ziellinie
geht“, sagt der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP). Der Bundesrat
müsse jetzt die Zeit bis zur nächsten Sitzung
in zwei Wochen nutzen, um sich auf weitere
Veränderungen zu einigen, „bislang haben
wir bestenfalls die Hälfte des Wegs geschafft“.
Das AGG ist zwar nicht zustimmungspflichtig,
der Bundesrat kann jedoch den Vermittlungsausschuss anrufen und das Gesetzesvorhaben
damit erheblich verzögern.
MARKUS BENK / ACTION PRESS
STUDIENGEBÜHREN
Deutschland
W
egen massiven, rassistischen Mobbings sind zwei Angestellte der
mehrheitlich landeseigenen Berliner
Wasserbetriebe (BWB) fristlos entlassen
worden. Nach Angaben eines BWBSprechers hätten die 39 und 47 Jahre alten Mitarbeiter der Kanalbetriebsstelle
Wedding einen aus Polen stammenden
Kollegen „über Jahre hinweg drangsaliert“, wobei die Attacken von „verbalen Entgleisungen“ bis hin zu „gezielten
Erniedrigungen und Bedrohungen“ gereicht hätten. Rassistische Beschimpfun-
K ATA S T R O P H E N S C H U T Z
Gekürzter Etat
D
er Haushaltsausschuss des Bundestags will die Mittel für den
Katastrophenschutz empfindlich zusammenstreichen und hat damit für
Unmut im Bundesinnenministerium
gesorgt. Das erst vor zwei Jahren gegründete Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat
eine wichtige Funktion bei der Einschätzung der Sicherheitslage im
Land, besonders im Hinblick auf Großereignisse. Im Informationssystem
Denis werden Vorsorgemaßnahmen für
Katastrophenfälle wie Massenpaniken oder Anschläge gesammelt und
ausgewertet. Doch genau bei diesem
B U N D E S TA G
Boykott gegen „Bild“
ollektiv fernbleiben wollen die MitK
glieder des Bundestagspräsidiums
dem diesjährigen Sommerfest der
„Bild“-Zeitung. Ein Besuch der vom
Axel-Springer-Verlag bereits avisierten
Party am Abend des 6. Juli auf
der Dachterrasse des Berliner
Axel-Springer-Hauses soll abgesagt werden – etwa mit dem
Hinweis auf andere terminliche
Verpflichtungen. Auf diesen
Feierboykott verständigte sich
das siebenköpfige Gremium informell während der Sitzung am
vorigen Dienstag. Den Vorschlag zu der ungewöhnlichen
Aktion hatten Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) Lammert
d e r
System wollen die Haushälter 2,5 Millionen Euro einsparen. Insgesamt
muss das Bundesamt nach den Plänen der Parlamentarier mit 19 Millionen Euro weniger auskommen als
im Vorjahr.
JULIA HEINRICH / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Rassistisches
Mobbing
gen wie „Polensau“ oder „Unter Adolf
Hitler würdest du hier nicht arbeiten“
seien seit fast sechs Jahren an der Tagesordnung gewesen. Die Entlassenen
bestreiten die Vorwürfe und haben
eine Kündigungsschutzklage vor dem
Arbeitsgericht eingereicht, die Verhandlung ist für den 6. Juni angesetzt.
Derweil bereitet der Rechtsanwalt des
Opfers, Tomasz Kochanowski, eine
Strafanzeige gegen die Männer und
zwei weitere BWB-Mitarbeiter vor. Aus
Sicht des Juristen erfüllen Sätze wie
„Ihr seid kein Volk, man muss euch
treiben oder vertreiben“, „Du hast deinen Namen von einem Grabstein“ oder
„Polacke, von eurer Sippe werden sie
auch wieder brennen“ den Straftatbestand der Volksverhetzung.
Katastrophenschutzübung
und dessen Stellvertreter Wolfgang
Thierse (SPD) gemacht. Hintergrund
der Partyverweigerung ist die Verärgerung der Politiker über die Berichterstattung des Boulevardblatts zu
Diäten und Altersversorgung der Abgeordneten sowie zu Pannen bei einer
Abstimmung im Parlament. Zur Begründung zitiert ein Präsidiumsmitglied
den Schriftsteller Erich Kästner: „Nie dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao, durch
den man euch zieht, auch noch
zu trinken.“ An der Sitzung
nahmen neben Lammert und
Thierse die weiteren Vizepräsidenten des Bundestags teil:
Katrin Göring-Eckardt (Grüne), Gerda Hasselfeldt (CSU),
Susanne Kastner (SPD), Petra
Pau (Linke) und Hermann
Otto Solms (FDP).
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THOMAS IMO
ÖFFENTLICHER DIENST
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Panorama
MICHAEL URBAN / DDP
Deutschland
Verweigerter Schutz
D
ie deutschen Spielbanken haben im Streit um den Schutz
Spielsüchtiger einen fragwürdigen Schachzug unternommen: Die meisten Casinos nehmen bis auf weiteres keine Anträge
von Süchtigen auf Selbstsperrung mehr an. Eine Entscheidung
des Bundesgerichtshofs (BGH) mache eine „Überarbeitung unserer Spielsperrpraxis“ nötig, so die durchgehende Begründung
in den Ablehnungsschreiben. Ende 2005 hatte der BGH geurteilt,
Truppen als Lückenfüller
us Angst vor leeren Stadionrängen
haben die vom Ticket-Chaos verA
folgten Organisatoren der Fußballweltmeisterschaft versucht, Bundeswehrsoldaten als Lückenfüller anzufordern.
Die Idee, Soldaten in Zivil
zu Tausenden auf freie Sitze zu verteilen, wurde
Verteidigungsminister
Franz Josef Jung (CDU)
erstmals Mitte April
während eines Besuchs
beim Deutschen FußballBund in Frankfurt am
Main vorgetragen. Jung
war offenbar aufgeschlossen, denn er ließ den fragwürdigen Vorschlag ernsthaft prüfen. Um Randale
am Spielfeldrand vorzubeugen, wollten die Organisatoren zudem die untersten Sitzreihen mit Sol- Militärkapelle
20
daten füllen. Die Militärführung
beharrte aber darauf, dienstlich ins Stadion befohlene Truppen müssten Uniform tragen. Das wiederum wollte die
Fifa nicht. Die Vorderreihen sollen nun
andere „vertrauenswürdige Personen“
wie Hilfskräfte und Funktionäre besetzen. Die Fifa lehnte sogar ab, Bundeswehrmusiker die Nationalhymnen
spielen zu lassen. Die
Lückenfüller-Idee wurde
indes erst kurzfristig verworfen: Das Organisationskomitee teilte dem
Wehrressort vor wenigen
Tagen per E-Mail mit, es
bestehe nun doch kein
Bedarf mehr für Truppen
in Zivil. Die gewünschten
„zusätzlichen Unterstützungsleistungen“ der
Bundeswehr, besagt ein
interner Vermerk des
Ministeriums vom vergangenen Mittwoch, seien
mithin „nicht mehr erforderlich“.
BONN-SEQUENZ / IMAGO
W E LT M E I S T E R S C H A F T
dass Casinos auch in Automatenspielsälen zumindest an ihren
Scheckkartenschaltern die Personalien kontrollieren müssen,
um gesperrte Süchtige zu schützen; unterbleibt die Kontrolle,
könnten die Gesperrten verlorene Einsätze zurückverlangen.
Kontrollen an den Eingängen, wie beim „Großen Spiel“ an Roulette-Tischen, werden für die Automatensäle in den meisten
Bundesländern immer noch abgelehnt. Ein Sprecher der Spielbanken-Interessengemeinschaft sagte, man arbeite an einer
„Lösung, die den Schutz der Spieler gewährleistet“; danach
würden Casinos aber nicht für verspielte Einsätze aufkommen,
wenn Süchtige trotz Sperre spielten. Der Fachverband Glücksspielsucht sieht darin eine „grobe Missachtung“ des BGH.
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Nachgefragt
Gemischte Gefühle
In Deutschland beginnt
nächste Woche die Fußballweltmeisterschaft. Freuen
Sie sich auf dieses Ereignis?
CH R I STO F KO EPS EL / GE T TY I MAG ES
GLÜCKSSPIEL
FRAUEN MÄNNER
JA
48
63
NEIN
41
25
55 %
34 %
TNS Infratest für den SPIEGEL vom 29. und 30. Mai;
rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß
nicht“/ keine Angabe
EVAN VUCCI / AP
Deutschland
Gesprächspartner Steinmeier, Rice in Washington, Militärparade in Teheran: Letzte Ausrede beseitigt
AU S S E N P OL I T I K
Offerte aus dem Weißen Haus
Monatelang drängten die Kanzlerin und ihr Außenminister, nun erklärte sich US-Präsident Bush bereit,
den Verhandlungen mit Teheran über den Atomkonflikt beizutreten. Washingtons
Angebot markiert die Endrunde der Gespräche: Bleibt Teheran stur, wird es Sanktionen geben.
V
on weitem sah es aus wie der Paarungstanz von Igeln: Sie wollten
wohl, aber trauten sich nicht.
Monatelang hatten behutsamste diplomatische Schritte erste direkte Gespräche
zwischen zwei Gegnern ermöglichen sollen, die sich 27 Jahre nichts zu sagen gehabt hatten: Die USA wollten von Angesicht zu Angesicht mit einem Vertreter der
Islamischen Republik Iran über den Irak
verhandeln, eine Weltregion beiderseitigen Interesses bei durchaus konträrer Interessenlage.
Teheran schien auch gesprächsbereit,
doch dann reiste Außenminister Manutscher Mottaki nach Bagdad – und sagte die
Kontakte zu den Amerikanern ab. Ende
der vorsichtigen Annäherung?
Keineswegs. Nur wenige Tage später,
Mottaki war inzwischen über Indonesien
nach Malaysia weitergereist, eine neue
Wende: Teheran wäre bereit, so der
Außenminister, mit den Amerikanern über
alles zu sprechen, auch über die iranische
Urananreicherung, allerdings nur, wenn
Washington keine Vorbedingungen stelle.
22
Er hatte noch nicht ganz ausgeredet, als
US-Außenamtssprecher Sean McCormack
den Vorschlag schon abschmetterte: „Das
haben wir schon oft gehört, ein alter Hut.“
Die Ablehnung hatte nicht einmal für
24 Stunden Bestand. Vorigen Mittwoch waren es die Amerikaner, die ihrerseits eine
unerwartete Gesprächsofferte machten. Im
prunkvollen Benjamin-Franklin-Saal des
Washingtoner Außenministeriums quälte
sich Condoleezza Rice durch einen Text,
der ihr noch nicht so recht von den Lippen
wollte. Die USA würden sich den Verhandlungen der europäischen Mächte mit
Teheran anschließen, erklärte die Außenministerin, falls der Gottesstaat seine Urananreicherung einstelle. Auch umfassende
Gespräche über Handels-, Reise-, Kulturund Finanzbeziehungen seien dann nicht
mehr ausgeschlossen. Und damit das
Ganze einen förmlichen Anstrich erhielt,
bestellte Ministerin Rice den Schweizer
Botschafter ein, den traditionellen Mittler
zwischen den sprachlosen Antagonisten.
Sie bat ihn, das Angebot nach Teheran zu
übermitteln.
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Genau darauf hatte die Welt gehofft
und gewartet. „Die direkte Teilnahme der
Amerikaner wäre das stärkste und positivste Signal für unseren gemeinsamen
Wunsch, eine Einigung mit Iran zu finden“, sagte der EU-Außenbeauftragte Javier Solana. Drei Jahre lang hatten Diplomaten aus Berlin, London und Paris mit
ihren Kollegen aus Teheran verhandelt, um
eine schwelende Weltkrise beizulegen. Um
fast jeden Preis wollte die internationale
Gemeinschaft verhindern, dass Iran zur
Atommacht wird. Doch die Gespräche
blieben ergebnislos.
Zwar bestritten Teherans Politiker – zuletzt Präsident Mahmud Ahmadinedschad
im SPIEGEL-Gespräch –, dass Iran an eine
militärische Nutzung der Urananreicherung denke, aber ebenso häufig wurden
die persischen Nukleartechniker beim
Schwindeln ertappt. So schien der Konflikt zwischen einem halsstarrigen Iran und
machtlosen Europäern Schritt für Schritt
auf eine neue militärische Auseinandersetzung im Nahen Osten zuzusteuern.
Denn im Hintergrund hatten die USA –
JAVAD MONTAZERI
sucht hatte. Auch Merkel
hatte immer wieder insistiert, dass eine direkte amerikanische Beteiligung am
Ende notwendig sei. Anders
lasse sich der Konflikt vermutlich nicht lösen. Zuletzt
hatte sie ihr Ceterum censeo beim Washington-Besuch am 4. Mai vorgetragen.
Anschließend sprachen
Merkel und Steinmeier ab,
mit welchen Ländern sie zur
Werbung für eine diplomatische Lösung sonst noch
sprechen müssten. Steinmeier drängte die arabischen Golfanrainer, selbst in
Teheran vorstellig zu werden. Bei den Europäern
fragten Kanzlerin und Außenminister ab, wer welche
Sanktionen gegen Iran zu
tragen bereit wäre, die Russen und Chinesen mahnten
sie, mehr Verantwortung für
einen diplomatischen Erfolg
zu übernehmen.
In den letzten Tagen registrierten die
und Israel – stets betont, dass es für die
Lösung dieses Konflikts auch eine mili- Deutschen dann Bewegung auf amerikanischer Seite. Auf seiner Reise an den
tärische Option gebe.
Nun endlich verleihe die Botschaft aus Persischen Golf wollte Steinmeier vorverWashington, freute sich der Berliner gangenen Sonntag in der omanischen HaAußenminister Frank-Walter Steinmeier, fenstadt Salala nach einem Gespräch mit
den diplomatischen Bemühungen „wirk- dem Sultan ins Flugzeug steigen, als Rice
lich Substanz und Glaubwürdigkeit“. Jetzt ihn anrief. Steinmeier blieb im Auto und
sehe er „ein Fenster geöffnet, in dem eine erläuterte der Amerikanerin zehn Minuten lang die deutschen Ideen für die nächsLösung gefunden werden“ könne.
Im Berliner Auswärtigen Amt war die ten Schritte in der Iran-Frage.
Vier Tage später, der Deutsche war geStimmung am Mittwochabend so gelöst wie
lange nicht. An den Verhandlungen mit rade von seiner Reise heimgekehrt, war
Iran beteiligte Diplomaten gratulierten sich wieder Rice in der Leitung. Sie treffe sich
gegenseitig zu dem Erfolg, die Amerikaner am Wochenende mit Präsident Bush in
endlich in die Verantwortung gezogen zu dessen Residenz in Camp David und
haben. In den vergangenen Wochen war wollte noch mal den neuesten Stand erim Auswärtigen Amt die Sorge gewachsen, fahren.
Am Dienstag dann meldete Rice den Erdass die Initiative der drei Europäer zwischen den auf Härte drängenden Amerika- folg des Wochenend-Konklaves. Bush rief
nern und den widerstrebenden Chinesen beinahe zeitgleich bei Merkel an und inund Russen zerrieben werden könnte. Da- formierte sie, dass gleich eine Erklärung
mit wären diplomatische Lösungen bis auf der US-Regierung fertiggestellt werde.
Nach dem ersten Triumph sehen manweiteres diskreditiert gewesen. „Wenn die
Europäer allein geblieben wären“, so ein che in der Bundesregierung die Kehrtwende Washingtons jedoch
AA-Mann, „hätte das auch
auch mit gemischten Geeine Katastrophe werden
fühlen. Denn das Angebot
können.“
stellt die letzte realistische
Jetzt schaltete Berlin von
Option auf eine diplomaDepression auf Optimismus
tische Lösung dar. „Wenn
um. In der Regierung werIran das blockiert“, so ein
teten die ersten Beamten
Berliner Insider, „kann die
das amerikanische EinlenStimmung ganz schnell
ken sogar als Erfolg der
kippen.“
Großen Koalition. Denn die
Das könnte den DeutChristdemokratin Angela
schen schwierige Debatten
Merkel und der Sozialdebescheren. In den Beratunmokrat Steinmeier hätten
gen mit den Amerikanern
nicht lockergelassen, seit
haben sich Merkel und
der Außenminister am 3.
Steinmeier intern wiederApril das Weiße Haus be- SPIEGEL-Titel 22/2006
d e r
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holt bereiterklärt, notfalls auch härtere
Maßnahmen der Weltgemeinschaft mitzutragen – bis hin zu Sanktionen. Falls Iran
das Angebot der Amerikaner nicht annimmt, schlüge für Berlin die Stunde der
Wahrheit.
Erste Reaktionen aus Teheran ließen
nichts Gutes befürchten. Nicht jeder Politiker hatte die neuen Töne aus Washington
als Kurswende begriffen. Erdölminister Kasem Wasiri Hamaneh beteuerte, Iran werde mit den USA „niemals verhandeln“.
Allen westlichen Allianzpartnern ist klar,
dass Bush weniger aus Überzeugung, sondern vielmehr aus Not den Kurs geändert
hat. Die Einigkeit der Veto-Mächte im Sicherheitsrat war mit den ersten matten
Aufforderungen an Iran bereits erschöpft,
eine Mehrheit für harte Sanktionen nicht
in Sicht. Spätestens als Bush mit 85 Millionen Dollar für die iranische Opposition
auch noch ganz offen auf einen Sturz des
Regimes in Teheran setzte, ließ sich der
Schein einer weltweiten gemeinsamen Haltung gegenüber Iran nicht mehr glaubwürdig fortsetzen.
Nun machten die Europäer Druck. Die
Fraktion, die nach Amerikas ausgestreckter Hand, nicht nach der geballten Faust
verlangte, wurde jeden Tag größer. „Unser
Unwillen, sich an den Gesprächen mit Teheran zu beteiligen, wird andere Staaten
zögern lassen, harte Maßnahmen zu unterstützen“, mahnte bereits der republikanische Senator Chuck Hagel. Selbst Henry
Kissinger plädierte für Gespräche.
Bushs Kehrtwende, so hoffen die USDiplomaten, macht den Weg frei für das diplomatische Endspiel. Lenkt Teheran ein,
öffnet sich die Tür für eine Normalisierung
der Beziehungen. Der Deal mit Libyens
Diktator Muammar al-Gaddafi gilt als Vorbild. Taktieren die Mullahs aber weiter,
beginnt das Sanktionsregime. Weitere Diskussionen, machte Rice vergangenen Mittwoch klar, werde es nun nicht mehr geben – auch „die letzte Ausrede“ Irans sei
jetzt beseitigt.
Nicht nur auf eingefrorene Konten und
Reisesperren für Funktionäre will das
Weiße Haus dann drängen, sondern vor
allem auf eine mächtige Allianz des Westens gegen die iranische Wirtschaft. Schon
tauchen in Washington Listen auf, welche
die Namen regimenaher iranischer Firmen
und Personen verzeichnen. In aller Welt
sollen Konzerne gedrängt werden, mit den
Geächteten lieber keine Geschäfte mehr
zu machen.
Wo Einsicht nicht hilft, will die US-Regierung mit einem deutlichen Wink auf
schlechte PR und mögliche Konsequenzen
für das Geschäft in den USA nachhelfen.
Vier große europäische Banken, darunter
UBS und Credit Suisse in der Schweiz, sollen ihre Geschäftsbeziehungen mit Teheran
schon eingeschränkt haben.
Ralf Beste, Hans Hoyng,
Georg Mascolo, Ralf Neukirch
23
Deutschland
REGIERUNG
Die Profilneurotiker
MIGUEL VILLAGRAN / DPA
In der Großen Koalition wird mehr vertagt als
gehandelt. Wieder taucht ein Wort auf, das die Deutschen schon
seit zehn Jahren begleitet und bedrückt: Blockade.
Kanzlerin Merkel, Berater*: Die Politik richtet sich wieder ein in den alten Ritualen
A
ls Gerhard Schröder Anfang der
Woche in Berlin weilte, konnte er
sich sofort heimisch fühlen. SPD
und CDU gifteten einander an, die Ministerpräsidenten der Union knabberten an
der Macht von Angela Merkel, und einige
Zeitungen beklagten mangelnden Reformwillen. Es war alles so wie in Schröders
letzten Amtsjahren. Womöglich ist die Zeit
stehengeblieben, und ich bin immer noch
Kanzler, mag er gedacht haben. Womit erklärt wäre, warum er gleich so forsche Vorschläge zur Außenpolitik gemacht hat.
Damit sah die deutsche Politik endgültig
aus wie in der Ära Schröder. Verflogen ist
jeder Gedanke daran, dass mit der Großen
Koalition ein neues Zeitalter beginnt. Nach
einem kurzen Frühling mit Angela Merkel
hat nach nur einem halben Jahr die Restauration eingesetzt. Die Politik richtet
sich wieder ein in den alten Ritualen. Die
offizielle Große Koalition dieser Tage ist
* Mitglieder des Rats für Innovation und Wachstum am 24.
Mai im Kanzleramt.
24
nur ein Abbild der informellen Großen Koalition der vergangenen Jahre.
Auch die Überschrift ist die gleiche:
Blockade. Es ist die deutsche Überschrift
seit mindestens zehn Jahren. Denn auch der
späte Kohl war eine Große Koalition mit
sich selbst. Er hat das Sozialdemokratische
immer mitgedacht und sich im Selbstdialog
das entschiedene Regieren wegverhandelt.
Dafür gibt es heute den Koalitionsausschuss. Am Sonntag hat er getagt, und vereint waren die Spitzen von Union und SPD
nur in der Sorge, Deutschland könne schon
im Achtelfinale auf England treffen. Ansonsten herrschte das Gleichgewicht des
Schreckens. Man stichelte, vermied aber
die große Konfrontation. Doch ohne Konfrontation ist keine Entscheidung möglich.
Alle Antworten auf die drängenden Fragen
des Landes wurden vertagt.
Deutschland muss warten. Bis zur Sommerpause soll es einen Entwurf zur Gesundheitsreform geben. Für den Herbst
wird eine Reform von Hartz IV angekündigt. Es kann auch jeweils später werden.
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In der Ära der knappen Kassen ist Zeit
das letzte Gut, von dem die Politiker glauben, dass sie verschwenderisch damit umgehen können. Mit Zeit wird der Schein von
Harmonie erkauft. Wer erst morgen entscheidet, kann sich heute noch unangefochten als Kanzlerin oder Minister genießen.
So wird mit dem Versprechen von künftigem
Regieren Zeit fürs Nicht-Regieren gesichert.
Aber manchmal gelten auch die banalsten Sätze: Zeit ist Geld. Jeder regierungsfreie Tag ist ein Tag der wachsenden Ausgaben für Gesundheit und Arbeitslosengeld II. Das jedoch spielt momentan keine
große Rolle. In der Großen Koaliton
herrscht eine merkwürdige Zeitumkehrung: Wir regieren morgen, denn heute
machen wir Wahlkampf. Das gilt sonst gegen Ende einer Legislaturperiode.
Die Große Koalition fängt damit an, aus
zwei Gründen: Da klar ist, dass man höchstens eine Legislaturperiode zusammenbleiben will, sieht man im anderen eher
den Gegner als den Partner und versucht,
sich jetzt schon abzugrenzen. Da nicht klar
Euro eingespart“, so der SPD-Unterhändler
Karl Lauterbach zu Vertrauten. Die Pläne
könnten „eher Geld kosten als Geld sparen“, heißt es bei den Krankenkassen.
Nun bleibt der Großen Koalition nur ein
Ausweg. Um das Kassensystem zu sanieren, muss zusätzliches Geld bei Bürgern
und Betrieben eingesammelt werden. Man
streitet noch, wer wie viel zahlen soll.
Man streitet noch heftiger über das
Harzt-IV-Gesetz. Weil die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II seit Jahres-
jetzt. Es ist ein merkwürdiger Wahlkampf,
der gerade abläuft. Es ist nicht die offene
Schlacht wie sonst. Es gilt, den Schein weitgehender Harmonie zu wahren. Deshalb
hat man Politik selten so verdruckst, so
scheinheilig und hinterhältig erlebt.
Das merkt man besonders am Umgang
mit der Vergangenheit. Neue Politik entsteht aus der Kritik des Alten. Das Alte,
also die Politik von Rot-Grün, darf aber
nicht offen kritisiert werden, weil die SPD
an der Macht ist und damit Macht über Ge-
TIM BRAKEMEIER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA
ist, wie lange das äußerst heikle Bündnis
hält, muss man für einen vorzeitigen Wahltermin gerüstet sein.
Das ist nichts anderes als permanenter
Wahlkampf, also permanente Verantwortungslosigkeit. Jeder kümmert sich um
sich, nicht um das große Ganze.
Wahlkampf ist Profilierung. Im Wahlkampf krümmen sich die Parteien zurück
auf sich selbst. Sie wollen sich abgrenzen.
Deshalb ist der verfrühte Wahlkampfmodus Naturgesetz dieser Großen Koalition
und zugleich Begründung eines möglichen
Scheiterns. Zwei Profilneurotiker können
kaum zu großen gemeinsamen Entscheidungen kommen. Jeder kann nur akzeptieren, was mit dem eigenen überscharfen
Profil vereinbar ist. Da bleibt nicht viel.
So schafft die Große Koalition eine eigene Kategorie von Politik: Wundertütenpolitik. Familienministerin Ursula von der
Leyen wollte ein einjähriges Elterngeld einführen, damit berufstätige Frauen mehr
Kinder kriegen. Aus diesem klaren Konzept wurde im Profilierungsverfahren zwischen CDU, CSU und SPD ein kleines
Monster, das familien- und sozialpolitische
Aspekte vermischt. Es wurde ein Gesetz,
das niemand gewollt und alle überrascht
hat. Wie in einer Wundertüte ist viel drin,
aber nix, was man wirklich brauchen kann.
Wahrscheinlich wird das Gesetz keine der
erhofften Wirkungen erzielen.
Ein Wundertüten-Ende droht auch der
Gesundheitsreform. Das „Bohren dicker
Bretter“ stellte Merkel in Aussicht. Eine
„Reform, die eineinhalb Jahrzehnte trägt“,
versprach SPD-Chef Kurt Beck. Wenn das
Vorhaben nicht gelinge, kündigte SPDFraktionschef Peter Struck an, „haben wir
es nicht verdient, weiter zu regieren“.
Vergangene Woche legte eine KoalitionsAG erste Ergebnisse ihrer wochenlangen
Geheimgespräche vor – und bestätigte die
schlimmsten Befürchtungen. Von den verheißenen Strukturreformen ist kaum etwas
zu sehen, stattdessen wird nach dem Profilneurosenprinzip an Symptomen kuriert.
Die Union wehrte sich gegen Einschnitte bei Ärzten, Pharmaherstellern, Privatversicherten, die SPD gegen mehr Selbstbeteiligung für die Patienten. Jeder schützte die eigene Wählerschaft. Ein schlüssiges
Sparkonzept wurde gar nicht erst entwickelt, umso liebevoller widmeten sich die
Parteivertreter der Aufgabe, die Vorhaben
des Koalitionspartners zu torpedieren.
Nun soll der Anstieg der Arzneipreise
ein wenig gedrosselt und die Zahl der Krankenkassenverbände reduziert werden. Weiter will die Koalition die Honorarbudgets
der Ärzte aufheben, mit denen heute ein
allzu starker Kostenanstieg verhindert wird.
Wie dieses widersprüchliche Klein-Klein
zweistellige Milliardenbeträge einsammeln
soll, die der gesetzlichen Krankenversicherung in dieser Legislaturperiode fehlen, ist
selbst koalitionsfreundlichen Experten unerfindlich. „Wir haben bisher nicht einen
Sozialdemokraten Müntefering, Beck: Rüsten für einen vorzeitigen Wahlkampf
anfang stark gestiegen ist, sehen einige Finanzpolitiker die Bundesetats für dieses
und das kommende Jahr in Gefahr.
Sofort beharkten sich Politiker von Union und SPD tagelang, als gehörten sie unterschiedlichen Regierungen an. Während
Ministerpräsidenten wie Edmund Stoiber
(CSU) und Jürgen Rüttgers (CDU) eine
„Generalrevision“ von Hartz IV forderten,
wollten die zuständigen SPD-Parlamentarier allenfalls „Feinjustierungen“ zugestehen. Die Vorschläge der Union seien nichts
anderes als „ein Tarnmantel für Sozialabbau“, sagte der SPD-Fraktionsvize Ludwig
Stiegler. „Und dafür stehen wir nicht zur
Verfügung.“
Das war der Klang einer alten Zeit, der
Klang von Grabenkriegen zwischen zwei
Lagern. Dieser Klang ist wieder aktuell.
Am Ende einigten sich die Koalitionäre
darauf, dass man sich nicht einigen kann.
Alle prinzipiellen Fragen wurden auf den
Herbst vertagt. Doch dieser Wahlkampf
endet so bald nicht. Im Herbst wird es genauso schwierig sein, sich zu einigen, wie
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schichtsdeutung reklamiert. Also ist Hartz
IV kein Desaster. Also werden die seltsamen Aktionen des Bundesnachrichtendienstes keine scharfe Untersuchung erfahren, zumal sie bis in die Ära Kohl
zurückreichen. Es ist alles in Watte gepackt.
Selten wurde im Bundestag über so viele Stunden so viel süßliches Zeug geredet.
Da lobt einer den anderen, man liegt einander selig in den Armen, als wäre dies
ein immerwährender Vatertagsausflug. Die
Opposition ist auf mickrige Redezeit beschränkt und wirkt angesichts der großen
Verbrüderung wie ein Störenfried.
Aber die Abwesenheit des großen Streits
stärkt nicht die Würde des Hohen Hauses.
Im Gegenteil, der Bundestag wirkt in diesen Tagen wie ein Volkstheater, das beharrlich und wider die Realität Geschichten vom Glück aufführt.
In Wahrheit haben beide Lager längst
Strategien entwickelt, wie man den anderen
unterhalb der Atomschwelle bekriegen
kann. Dies ist, wie schon beim Gleichgewicht des Schreckens zwischen den USA
25
Deutschland
RAINER WEISFLOG
FALK ORTH / EPD
OLIVER KILLIG / DPA
und der Sowjetunion, die Stunde
Ihm gefiel das auch, weil Schröder
der Stellvertreter, der Kleinen. Die
eher schludrig war bei den Akten.
schlagen aufeinander ein, die jungen
In der zurückliegenden Woche hat
Generalsekretäre Hubertus Heil
ein anderer Sozialdemokrat aus ihrer
(SPD) oder Markus Söder (CSU), die
Umgebung die Aktengeschichte ganz
beide dem Leichtmatrosenanzug
anders erzählt. Merkel lese jede
noch nicht entwachsen sind. Sie könAkte, sie lese viel zu viele Akten,
nen zündeln, aber nicht sprengen.
sei viel zu detailverliebt, und wenn
Deshalb auch wirkt die Politik so
sie mit Ulla Schmidt anfange, über
mittelmäßig. Die großen Spieler sind
Gesundheitspolitik zu diskutieren,
in wichtigen Fragen aus dem Spiel
gingen bei allen anderen nach einer
genommen. Kanzlerin Angela MerViertelstunde die Schotten runter.
kel und Vizekanzler Franz MünteDer Sozialdemokrat, den ihr Wisfering können sich zu heiklen Punksen nervt, will Führung sehen. Daten allenfalls verschlungen äußern,
mit meint er, dass sich Merkel geweil ihre Worte jederzeit das Zeug Streitthema Arbeitsmarkt*: Klang von Grabenkriegen
genüber den Ministerpräsidenten
zum Sprengstoff haben. Das führt
der Union durchsetze und nicht aldazu, dass sich die Parteien über
les mit denen abstimme. Für ChristHintermänner profilieren, während
demokraten heißt Führung, dass
die Spitzenleute an Profil einbüßen.
Merkel die SPD kleinhalten soll.
Damit stellt sich sofort die MachtSie müsste Ministerpräsidenten
frage. Die Ministerpräsidenten der
und Sozialdemokraten kleinhalten,
CDU sehen jetzt die Chance für ihr
damit sie nicht als führungsschwach
Comeback als Stänkerer. „In einer
gilt. Sie müsste eine Riesin sein, um
Großen Koalition stehen auch geradas zu schaffen. Deutschland wird
de die Ministerpräsidenten für das
sich auf eine Diskussion um die
Profil der Union“, freut sich ChrisFührungskraft der Kanzlerin eintian Wulff aus Niedersachsen. Er
stellen müssen.
und seine Kollegen sagen das, was
Bislang lässt sie es mit der
Merkel nicht sagen kann, und werFührung und versucht sich mit Moden damit zu den Hütern der christderation. Moderation ist die Verdemokratischen Werte.
mittlung zwischen Parteien unter
Günther Oettinger aus Baden- Streitthema Familie: Profil per Wundertütenpolitik
Verzicht auf eine eigene starke PosiWürttemberg verlangt von Merkel,
tion. Wenn sie dabei bleibt, wird sie
beim Umbau des Arbeitsmarkts und
zur Enttäuschung für alle, die sie
der Gesundheitsreform nicht vor der
gewählt haben, damit sie struktuSPD einzuknicken. „Die ordnungsrelle Reformen anpackt.
politischen Grundüberzeugungen
Eine Große Koalition ist demoder Union müssen erkennbar bleikratietheoretisch ein Problem, weil
ben.“ So heizt er vor für die komdie Machtfülle ein Problem werden
menden Machtkämpfe in der Union.
könnte. In der Praxis droht nun das
Für Angela Merkel setzt der VerGegenteil. Die Macht der Volkspardruss über die Große Koalition zu
teien addiert sich nicht, sie hebt sich
früh ein. Ihr Schicksal ist mit dem
auf. Damit wäre die Große Koalides Bündnisses verknüpft, zumindest
tion überflüssig.
in dieser frühen Phase. Scheitert die
Angela Merkel hat nur eine
Koalition mit der SPD schon nach
Chance. Sie muss es hinbekommen,
ein paar Monaten, scheitert sie als
dass sich ihre Regierung ein Stück
Kanzlerin und damit als Politikerin
weit von den Parteien löst. Sie muss
insgesamt. Die CDU wird ihr keinen Streitthema Gesundheit*: Vorheizen für die Machtkämpfe einen Korpsgeist schaffen, der Gezweiten Versuch einräumen.
meinsamkeiten unter den RegieSie hat im Ausland eine gute Figur ge- die Deutschen zusammen. Wer diese Reisen renden sucht und nicht zur jeweils eigenen
macht. Sie hat dieses Land daran erinnert, mitgemacht hat, kennt die Entspanntheit Partei. Die Regierung muss sich gegen die
dass zur deutschen Staatsräson gehört, für der Politiker dort. Alle sind erhöht, weil sie Parteien profilieren, jeder muss bereit sein,
Menschenrechte einzutreten. Es ging ihr die Bundesrepublik vertreten. Das Verknif- der eigenen Klientel etwas zuzumuten,
nicht nur darum, deutsche Waren an den fene, Kleinliche des Parteienhaders ist weit, und man darf nicht im einzelnen Gesetz
Mann zu bringen. In China und Russland hat weit weg. Merkel ging nicht durch Peking, aufrechnen, wer was durchgesetzt hat, sonsie Leute getroffen, die nicht Freunde des je- Moskau, Washington, sie schwebte.
dern höchstens im Großen und Ganzen.
Deshalb sagen diese Auftritte wenig über Nur so kann man regieren.
weiligen Regimes sind, und eine Beeinträchtigung der Auftragslage in Kauf ge- ihre Fähigkeiten, dieses Land zu regieren.
Das ist weder originell noch leicht zu
nommen. Das war von einer Souveränität, Bislang gab es eine Stimmung für Merkel. haben, es ist einfach nötig. Sie muss es hinSie dreht sich gerade.
die Schröder hat vermissen lassen.
kriegen, sonst ist sie keine gute Kanzlerin.
Vor zwei Monaten hat ein SozialdemoAber Außenpolitik ist ein anderes Spiel.
Bislang sieht es so aus, als hätte Joschka
Der Auftritt im Ausland hat Reste einer krat aus ihrer Umgebung erzählt, wie Fischer recht mit seiner Beobachtung:
monarchischen Herrlichkeit. Auf Reisen hat gründlich Merkel Akten liest. Es war eine Für ihn sehe die Große Koalition so aus,
jeder Kanzler die unbestrittene Richtlinien- positive Geschichte. Er war beeindruckt. als wollten Elefant und Nilpferd Nachkompetenz. Er ist begleitet von einer gutwuchs zeugen, und das sei eben unmögwilligen Entourage, der es vor allem darum * Oben: Gebäudereiniger in Dresden; unten: Herzopera- lich.
Dirk Kurbjuweit; Roland Nelles,
René Pfister, Michael Sauga
geht, Einigkeit zu zeigen. Im Ausland halten tion in Cottbus.
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Deutschland
LANDWIRTSCHAFT
Geld für die Großen
Europas Agrarpolitik hält nicht, was sie verspricht: Die Milliardenhilfen aus Brüssel kommen vor
allem Gutsherren, Fleischfabriken und Lebensmittel-Multis zugute. Für Kleinbauern oder gar
Naturschutz bleibt wenig übrig. Jetzt soll immerhin Licht ins Subventionsdickicht gebracht werden.
28
JENS KOEHLER / IMAGO
D
as Paradies liegt im Schwarzwald.
Nicht weit von Triberg, wo
„Deutschlands höchste Wasserfälle“ sowie bunte Kuckucksuhren die Touristen locken, endet ein schmales Sträßchen
in einem stillen Hochtal. Die Sonne strahlt
auf ein großes, dunkles Holzhaus. „Im
Paradies 1“ steht auf einem Emailleschild
an der Hauswand.
Hier wohnt das Ehepaar Ruf. Und mittendrin in seinem Paradies steht der Stall –
wie es sich im Schwarzwald seit Jahrhunderten gehört. Hier teilt Sabina Ruf, 44,
zehn Kühen, zwei Kälbern und dem Bullen
mit kräftigen Gabelschwüngen Heu zu:
„Handgemäht und handgerecht“, so wollen
es die Vorschriften zur „Erhaltung und
Pflege der Kulturlandschaft“, die auch festlegen, wann die Rufs mähen und wie viele
Tiere sie auf ihren 30 Hektar halten dürfen.
Allerdings heißen ihre Kühe im Amtsblatt „raufutterfressende Großvieheinheiten“. Die Idylle ist genauestens kartografiert. Fürs Mähen und fürs Streuobst, fürs
sparsame Düngen und den Nachweis von
mindestens vier Wildblumenarten auf den
Wiesen bekommen die Rufs Punkte. Für
jeden Punkt zahlt der Staat zehn Euro,
weil kleinbäuerliche Betriebe schließlich
„einen segensreichen Dienst zum Erhalt
unserer Kulturlandschaft“ leisten, wie
CSU-Landwirtschaftsminister Horst Seehofer bei jeder Gelegenheit sagt.
Am Ende der Formularprozedur erhalten die Rufs 11 100 Euro – fürs komplette
Jahr. Das sei im Vergleich zu anderen Höfen sogar viel, aber zum Leben noch immer zu wenig. Mitsamt zweier gutgebuchter Ferienwohnungen bringt der Betrieb
keine 20 000 Euro im Jahr – Umsatz, nicht
Gewinn. Leben müssen sie deshalb von
Erhard Rufs Hauptjob: Jeden Tag geht er
als Mechaniker acht Stunden in die Fabrik.
Wie die Rufs kriegt fast jeder in Europa,
der mit Kühen oder Rüben, Weizen oder
Wein zu tun hat, Zuschüsse aus öffentlichen Kassen. Mit diesem Geld werde
„eine ständige Versorgung mit hochwertigen und sicheren Lebensmitteln garantiert“, formuliert EU-Landwirtschaftskommissarin Mariann Fischer Boel das
Credo der Agrarpolitikerzunft. Außerdem
werde damit der „Umwelt- und Tierschutz
gewährleistet“ und eine Landschaft erhalten, „die den Europäern so ans Herz gewachsen ist“.
Getreidefelder bei Samtens (auf Rügen)
So verkünden es die Politiker, Bauernfunktionäre und EU-Kommissare. So begründen sie allesamt, dass Milliarden aus
der Brüsseler EU-Kasse und viele weitere
Milliarden Euro aus den nationalen Steuersäckeln nahezu alles subventionieren, was
das Etikett „Landwirtschaft“ trägt.
Doch die grüne Logik stimmte nie.
Gammelfleisch-, Hormon- und Pestizidskandale widerlegen die Qualitätsgarantie
in alarmierender Regelmäßigkeit. In vielen
Gebieten ist die Landwirtschaft mit Massenviehhaltung, Düngemittel- und Pestizid-Exzessen heute einer der Hauptumweltsünder, der mit der Heidi-Romantik
irgendwelcher Verbraucher- oder Tourismusmessen nie zusammenpasst.
Jedes Jahr geben trotz Agrarmilliarden
Zigtausende kleiner Bauern auf. Die Landschaften verkommen nicht trotz, sondern
wegen der Beihilfen zu Monokulturen. Das
Gros der Subventionen fließt auch gar
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nicht in bäuerliche Familienbetriebe, sondern an Großgrundbesitzer, Agrarfabriken
und Lebensmittel-Multis.
Nun heißt groß nicht immer schlecht,
und Kleinbetriebe stehen nicht unbedingt
für biologisch-dynamische Idylle. Aber die
Realität der EU-Agrarpolitik hat mit den
hehren Worten, die ihre Akteure ständig
im Munde führen, kaum etwas zu tun.
Auch deshalb hüten vor allem die
großen Agrarstaaten wie Frankreich oder
Deutschland bislang kaum etwas so eifersüchtig wie die genauen Zahlen, wer wie
viel aus den Brüsseler Trögen bekommt.
Großbritannien machte jüngst den Anfang in puncto neuer Offenheit. Dort kann
man nun nachlesen, dass selbst die Queen
dank riesiger Ländereien zu den großen
Profiteuren des EU-Geldsegens zählt – wie
auch der Rest des britischen Adels. Oder
dass allein die Zuckerfirma Tate & Lyle
rund 300 Millionen Euro bekommt.
Löwenanteil Landwirtschaft
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HENNING SCHACHT / ACTION PRESS
Wenn es nach dem EU-Verwaltungs- 23 000 Rinder, 2,3 Millionen Euro Subvenkommissar Siim Kallas geht, dann wird die- tionen. Für jeden der 142 Jobs dort gibt es
se neue Transparenz bald auf ganz Europa umgerechnet 30 000 Euro EU-Zuschuss.
Oder das gigantische Agrarunternehmen
ausgedehnt (siehe Interview Seite 32).
Lautstark fordert der Este, die Empfänger Barnstädt eG: 6400 Hektar ehemaliges
der Agrarbeihilfen in allen Ländern öf- LPG-Land, 23 000 Schweine, 3200 Rinder,
fentlich zu benennen. „Wer die Verwen- 1100 Milchkühe – 2,4 Millionen Euro Beidung der EU-Gelder geheim hält, fördert hilfen. Das macht 13 300 Euro Zuschuss für
doch nur Spekulationen“, argumentiert er. jeden der 180 Angestellten.
Genossenschaftsboss Ralf Hägele ist soDie Konter aus Deutschland ließen nicht
lange auf sich warten: Solche Veröffent- gar für eine Veröffentlichung der Zahlenlichungen führten nur zu neuen Neid-De- Liste, „weil sie Transparenz schafft, wo
batten, brummte die Bauern-Posaune See- Einkommenssicherung in ländlichen Gehofer. Mal wurde der Datenschutz ins Feld bieten stattfindet und wo Subvention von
geführt, mal der Föderalismus; schließlich Flächen“.
Es sind Mosaiksteinchen eines großen
wisse man gar nicht, was die Bundesländer
da verteilten, bei denen das Geld ja direkt Tableaus, das am Ende zeigen würde: Je
größer das Unternehmen, umso mehr beankomme.
Doch selbst Peter Schaar, Deutschlands kommt es. Über 80 Prozent der deutschen
oberster Datenschutzbeauftragter, hält die Bauern, die Masse der Kleinen, müssen
Publikation der Informationen „auf jeden sich ein Drittel der EU-Beihilfen teilen. Im
Fall für wünschenswert. Die Öffentlichkeit Durchschnitt macht das etwa 5300 Euro im
muss erfahren, welche Unternehmen staat- Jahr für jeden Hof. 30 Prozent aller EUliche Zuschüsse erhalten“. Die gesetzlichen Prämien für Scholle, Stall und Wiese gehen
Voraussetzungen „müssten geschaffen wer- dagegen an jene nur 1,4 Prozent der Großden“. Ganz einfach. Und Marita Wiggert- bauern und ehemaligen Landwirtschaftlihale von der Organisation Oxfam, die das chen Produktionsgenossenschaften. In der
Transparenzprojekt mitinitiiert hat, sagt: „Es Kaste der Großen erhält im Schnitt jeder
geht uns nicht um eine Neid-Debatte.“ Aber über 284 000 Euro – pro Jahr.
Allein Deutschlands Steuerzahler und
man müsse sehen, „ob die Agrargelder nach
Konsumenten kostet diese Förderpolitik
sinnvollen Kriterien verteilt werden“.
Die neuen Appelle von Organisationen knapp 50 Milliarden Euro im Jahr. Für die
wie Oxfam bis zu EU-Kommissar Kallas
zeigen nun auch in Berlin Wirkung. Bärbel
Höhn, grüne Vorsitzende des Agrarausschusses im Bundestag, wird bei dem The- Verteilung des EU-Haushalts 2007
ma „richtig wütend, weil schließlich auch in Milliarden Euro
jeder ALG-II-Bezieher seine Konten offenlegen muss“. Und Ulrich Kelber, VizeAgrarausgaben
Ländliche
Fraktionschef der SPD, verlangt eine
Entwicklung
Offenlegung aller öffentlichen Geld43,7
12,4
ströme. Seit dieser Woche ist sogar
Minister Seehofer prinzipiell für
Wettbewerbsmehr Offenheit, selbst wenn noch
politik
8,3
immer Bundesländer und LobbyVerbände massiv gegenhalten.
7,0 Verwaltung
Sie wissen um das Risiko: Wer deStrukturfonds
taillierte Statistiken publiziert, macht
6,7
Außenpolitik
im großen Beihilfen-Monopoly sich
45,5
selbst und die Nutznießer angreifbar.
1,2 Innen-,
Das aber sind vor allem Großgrundbesitzer
Justizpolitik
und Mast-Imperien, LebensmittelkonzerQuelle: EU
ne und Monokulturfabriken. Eine Debatte
käme in Gang, die am Ende das ganze EU-Agrarzahlungen
System des verschwiegenen Gebens und
in Milliarden Euro, 2004
Nehmens in Frage stellen könnte.
Noch sind für Deutschland nur SchätFrankreich
9,4
zungen bekannt oder einzelne Zahlen: So
6,3
Spanien
bestätigte etwa die deutsche Südzucker
AG, dass sie rund 2,2 Millionen Euro
Deutschland
6,1
EU-Subventionen für ihre Landwirtschaft
Italien
5,0
erhält. Die JLW Holding in Winsen an
4,1
der Aller hat für 21 000 Hektar Anspruch Großbritannien
auf rund 6 Millionen Euro Beihilfen für
Niederlande
1,3
Land und Vieh.
Österreich
1,1
Oder das Gut Klein Wanzleben bei
Magdeburg: 2,3 Millionen Euro für 2400
Tschechien
0,9
Hektar Fläche und bei 85 FestangestellPolen
0,3
ten. Der Ferdinandshof in Vorpommern:
Landwirtschaftsminister Seehofer
Angst vor neuer Neid-Debatte
Hälfte des Geldes könnten sie die gesamte
deutsche Agrarproduktion – von der Kartoffel bis zum Kotelett – auf dem Weltmarkt kaufen.
Kaum ein anderer Politikbereich ist so
widersprüchlich und desorientiert wie die
Agrarförderung der EU. Sie gibt zur gleichen Zeit Anreize zu mehr Produktion wie
zur Betriebsaufgabe, prämiert die Anlage
neuer Weinberge oder Olivenhaine ebenso wie die Zerstörung vorhandener und
subventioniert den Tabakanbau wie die
Antiraucherkampagnen.
Dabei fehlt es nicht an Analysen und
der Erkenntnis, dass die Gelder innerhalb
der EU deutlich besser eingesetzt werden könnten – für Forschung und Bildung
etwa und die Schaffung neuer Arbeitsplätze in zukunftsträchtigen Wirtschaftsbereichen.
Noch vor wenigen Monaten hatte der
britische Premier Tony Blair die Verabschiedung eines neuen EU-Budgets monatelang blockiert, indem er seinen Brüsseler
Kollegen immer wieder die Absurdität des
Systems vorhielt und eine radikale Abkehr
von den überkommenen Strukturen forderte. Es sei mit den wichtigen Zukunftsaufgaben Europas nicht zu vereinbaren,
dass fast 50 Prozent des rund 105 Milliarden schweren EU-Haushalts für die Landwirtschaft ausgegeben würden.
Und obwohl der Brite von fast allen Seiten Unterstützung erhielt, blieb am Ende
beinahe alles beim Alten. Unter dem
Druck großer Bauern-Republiken wie
Frankreich knickte Blair letztlich ein.
Die EU-Bürokraten verweisen dabei
gern auf die „in der EU-Geschichte am
weitesten reichende“ Agrarreform des Jahres 2003. Tatsächlich jedoch, so das Fazit
einer Untersuchung des Agrarökonomen
Hartmut Brandt, blieben die EU-Bauernhilfen auch nach dieser Reform „eine gigantische Fehlallokation von Ressourcen“.
Noch deutlicher formuliert es Charles
Crawford, britischer Botschafter in Polen:
Wie Europa seine Landwirtschaft alimentiere, sei „die dümmste und unmoralischs29
Für viele nur wenig. . .
...für wenige sehr viel
BETRIEBE
DIREKTZAHLUNGSSUMMEN
in Deutschland nach Höhe der EU-Direktzahlungen,
2004
bis 1250¤
in Millionen Euro, 2004
75262
99073
1250 bis 5000¤
44,3
86,4 %
282,9
117625
5000 bis 20000¤
20000 bis 100000¤
1218,8
41048
1453,0
13,6 %
über 100000¤
30
4887
1388,9
Quelle: EU
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verspritet, wer irgendwie EUFlora oder -Fauna verarbeitet,
obwohl es billigere Alternativen auf den Weltmärkten
gäbe, wird belohnt. Wie bei
den Bauern gilt auch hier: je
größer, desto mehr.
Die globalen Lebensmittelkonzerne greifen über ihre
Niederlassungen und Tochterfirmen in fast jedem EU-Land
Zuschüsse ab. Der Schweizer
Lebensmittelkonzern Nestlé
erhielt nach eigenen Angaben
rund 48 Millionen Euro Subventionen in
der EU. Verwerflich findet der Lebensmittelriese, der im vergangenen Jahr einen
Nettogewinn von fast fünf Milliarden Euro
einfuhr, daran nichts.
Das Geld, heißt es bei dem Schweizer
Unternehmen, das Marken wie Maggi, Alete, Smarties oder Schöller regiert, werde
von der EU bereitgestellt, damit Nestlé für
seine Massenproduktion überhaupt Agrargüter von EU-Bauern kaufe. In aller Regel
seien europäische Landwirtschaftsprodukte nämlich deutlich teurer als vergleichbare Waren auf dem Weltmarkt.
Gliche die EU diesen Preisunterschied
nicht aus, würde man sich eben auf dem
Weltmarkt bedienen. Profitieren würden
demnach die EU-Bauern, nicht der Konzern. Doch das ist offenbar nur ein Teil
der Geschichte. In dem undurchsichtigen
Geflecht von Zuschüssen, Verordnungen
und Beihilfen gibt es noch zahlreiche andere Möglichkeiten, Staatsgelder abzugreifen. Geld fließt zum Beispiel, wenn
Magermilch und Milchpulver ins Viehfutter
gemischt werden oder wenn EU-Butter in
Backwaren oder Speiseeis verarbeitet wird.
Vermarktungsbeihilfen heißen diese Instrumente, sie bringen 49 bis 59 Euro pro
100 Kilo eingesetzte Molkereiprodukte –
bei Giganten wie Nestlé, dem weltgrößten
Milchverarbeiter und Hersteller etlicher
Backwaren, summieren sich auch Kleinbeträge zu stattlichen Summen.
Und nicht nur dort. Mit Hilfe hochkomplexer Rezeptursoftware, wissen Insider,
werden in der gesamten Nahrungsmittelbranche inzwischen nicht nur Geschmack
und Aussehen der Produkte ausgetüftelt.
Die komplexen Rechenprogramme optimieren die Rezepturen auch in Bezug auf
den Einsatz subventionierter Inhaltsstoffe.
Wo sonst Margarine, Pflanzenfette oder
Öle eingesetzt würden, landet so – dank
EU-Förderung – beste Butter in der Rezeptur. Allein bei europäischen Backwaren, Cremetor35,2 % ten und Fertigteigmischungen
wurden im Jahr 2002 knapp
400 000 Tonnen Butter verarbeitet, gut 20 Prozent der gesamten Butterproduktion in
EU. Auch in Speiseeis
64,8 % der
mischt die Industrie die mit
Steuergeldern subventionierFRANZISKA KRUG / ACTION PRESS
te Subventionspolitik in der
Geschichte“.
Ein ganz besonders absurdes Beispiel für seine These
fände Crawford sogar bei sich
zu Hause, auf „Gut Sandringham“ in der englischen Grafschaft Norfolk. Scheinbar endlos ziehen sich dort Weizenfelder bis zum Horizont. In
der anderen Blickrichtung
wechseln die Bilder: Wiesen,
Gemüse- und Obstplantagen. Fürstin von Thurn und Taxis: Gewaltige Ansprüche
Über 8000 Hektar umfasst der
Besitz, Sägewerk, Apfelsaftproduktion, besitzer üppige Ansprüche: Fürst Albert II.
von Monaco fast 290000 Euro, Gloria FürsFleischverarbeitung inklusive.
Das Bauernhaus sieht aus wie ein Mär- tin von Thurn und Taxis jährlich geschätzchenschloss. Kostbare Teppiche und alte te 400 000 Euro.
Eine ökonomische Begründung für die
Waffen hängen an den Wänden, die Vitrinen sind vollgestopft mit Schmuck und Sil- Prämierung der vermutlich ohnehin rentaber. In den Stallgebäuden stehen keine blen Betriebe gibt es nicht. Ein 1000-Hek„Großvieheinheiten“, sondern kostbare tar-Betrieb mit Vieh- und GetreidewirtOldtimer. Selbst der Esstisch ist gedeckt, schaft beispielsweise kommt auf bis zu
die Servietten sind gefaltet, doch die Haus- 60 000 Euro Staatszuschuss – umgerechnet
herrin hat gerade im fernen London zu auf jeden dort Beschäftigten. Das ist mehr
tun. Nur auf einem Bild an der Wand ist sie als das Doppelte von dessen Verdienst. In
zu sehen: Elizabeth II., 80, Königin des vielen Fällen, schimpft Martin Hofstetter,
Agrarökonom und Greenpeace-CamVereinigten Königreichs – und Bäuerin.
Rund 580 000 Euro bekam Ihre Majestät paigner, seien die Beihilfen „einfach rausim letzten Abrechnungsjahr für ihr Gut aus geschmissenes Geld“.
Die üppigen Hilfen für Maxi-Höfe haben
den Brüsseler Agrarkassen. „Sie ist Landbesitzerin und Bäuerin“, sagt ein Sprecher. ein ganz neues, eigenes Landvolk wach„Sie bekommt Subventionen wie jeder an- sen und gedeihen lassen: studierte Kapidere Bauer.“ Weil sie nebenbei auch noch talanleger mit besten Kenntnissen oder Beauf Schloss Windsor die Scholle bearbeiten ziehungen. Manche von ihnen sind in der
lässt, standen ihr weitere 200 000 Euro zu. Bauernlobby aktiv, andere gestalten die
Auch Sohn Charles steuert gut 300 000 absurden Regeln der LandwirtschaftspoliEuro Agrarhilfen zum Familienbudget bei. tik in Regierung und Kommission mit.
So ist der holländische LandwirtschaftsDem königlichen Vorbild folgen viele in
Elizabeths Kreisen. So kritisch der briti- minister Cees Veerman ebenso Subvensche Adel dem Treiben in Brüssel auch ge- tionsempfänger wie die Familie seiner dägenüberstehen mag, für den Griff in die nische Ex-Kollegin, die heutige EU-KomFördertöpfe der Union ist er sich nicht zu missarin Mariann Fischer Boel. Ihr Gatte
fein. Der Duke of Westminister und der besitzt einen Bauernhof und Anteile an eiEarl of Plymouth kassieren jeweils etwa ner Zuckerfarm.
An einen erheblichen Teil der Agrarhil650 000 Euro im Jahr, der Duke von Marlborough rund 740 000. Sir Richard Sutton, fen kommen freilich auch die cleversten
einer der reichsten Männer Englands, er- Wald-und-Wiesen-Profis nicht. In Deutschland geht knapp die Hälfte der Gesamthält sogar 1,6 Millionen Euro.
Auch jenseits des Ärmelkanals, auf dem ausgaben für die Agrarpolitik an den Baueuropäischen Festland, haben Großgrund- ern vorbei. Wer Raps verdieselt und Wein
„Offenheit ist etwas Gutes“
EU-Kommissar Siim Kallas, 57, über seinen Vorstoß zu mehr
Transparenz im Brüsseler Subventionsdschungel
THIERRY MONASSE / GETTY IMAGES
SPIEGEL: Europas SteuerzahSPIEGEL: Wie waren die Reler pumpen Milliarden in die
aktionen?
Landwirtschaft. Warum haKallas: Viele, auch hier in
ben sie bislang kein Recht zu
Brüssel, haben gesagt:
wissen, an wen ihr Geld geht?
„Macht das bloß nicht! Ihr
kriegt eine Unmenge unerKallas: Das verhindern Befreulicher Geschichten über
schlüsse aus den sechziger
die Verschwendung von EUund siebziger Jahren. Man
Geldern. Das wird den Ruf
überließ es jedem Land, den
Europas noch weiter beBürgern zu sagen, wer öf- EU-Politiker Kallas
schädigen!“ Das überzeugt
fentliche Gelder bekommt – „Leben ist Hoffnung“
mich aber nicht. Bislang haoder es eben zu verschweigen. Die meisten Regierungen schwiegen ben wir ja mit der permanenten NegativBerichterstattung zu leben, dass 90 Prolieber.
SPIEGEL: Sie wollen das wirklich ändern? zent aus dem EU-Topf an unbekannt
Kallas: Ja. Wir leben doch inzwischen in gehen und niemand genau weiß, ob die
ganz anderen Zeiten. Kein Mensch hat Mittel sinnvoll eingesetzt werden.
heute noch Verständnis dafür, dass die SPIEGEL: Vielleicht ist das ja besser so?
Öffentlichkeit nicht wissen darf, was mit Kallas: Ich denke, dass wir von TranspaSteuergeldern geschieht. Deswegen möch- renz nichts zu befürchten haben. Offente auf meine Initiative hin die EU-Kom- heit ist etwas Gutes. Entweder ist unsere
mission künftig überall in Europa – und in Politik richtig, bei den Regionalhilfen, bei
allen Bereichen, nicht nur im Agrarsektor der Landwirtschaft oder der Forschungs– der Öffentlichkeit klar sagen, wer Sub- förderung, dann müssen auch die Mittelventionen aus dem EU-Haushalt erhält.
Empfänger nicht verschämt verschwie-
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Seit Jahren zieht der Gigant
(Jahresumsatz: elf Milliarden
Dollar) durch Europa, kauft,
baut, wächst – und ruiniert
dabei Tausende kleine und
mittelständische Betriebe. Die
Europäische Union hilft ihm
nach Kräften.
„EU-Programme sind sehr,
sehr wichtig auf unserem Weg
zum Global Player“, sagt Andrzej Pawelczak, dessen Büro
im 31. Stock eines gesichtslosen Büroturms mitten in Warschau liegt. Import-Export-Firmen residieren hier, Bankfilialen – und eben die
Smithfield-Tochter Animex.
Pawelczak ist Animex-Sprecher, ein netter Kerl mit kräftigem Händedruck, seit
15 Jahren im Fleischgeschäft.
Er schwärmt von „vertikaler Integration“, das heißt: Von Smithfield-Säuen
geworfene Ferkel kommen in Smithfield-Mastfirmen, fressen fünfeinhalb Monate Smithfield-Futtermix aus Weizen
und genmanipulierten Sojabohnen, werden in Smithfield-Schlachthäusern zerlegt und als Smithfield-Produkt – „KrakusSchinken“ beispielsweise oder „Jano“Fleisch in Dosen – in alle Welt verkauft.
700 Millionen Dollar setzte Animex im
Vorjahr um, eine Milliarde soll es im
nächsten werden. „Wir haben die modernsF. SCHULTZE / ZEITENSPIEGEL
te Butter, rund 71 500 Tonnen
pro Jahr.
Nestlé weist diese Darstellung entrüstet zurück. „Am
liebsten wäre uns, wenn dieses ganze widersinnige Subventionierungssystem für
landwirtschaftliche Produkte
schnellstens
abgeschafft“
würde, heißt es in der
Schweizer Zentrale. Dann
könnten EU-Bauern endlich
beweisen, dass auch sie kon- Öko-Landwirt Ruf: „Raufutterfressende Großvieheinheiten“
kurrenzfähige Produkte produzieren könnten. Entgegen der landläufi- und die Marktwirtschaft den Warschauer
gen Meinung seien viele Betriebe dazu in Pakt überrollte, ging Animex als Aktiender Lage, wenn sie nur von den Fesseln der gesellschaft an die Börse. Dort schnappte
verfehlten EU-Landwirtschaftspolitik be- sich der Amerikaner Joe Luter den Laden
„zu einem Zehntel seines wahren Wertes“,
freit würden.
Was man bei Nestlé offensichtlich meint, wie er später stolz erzählt haben soll.
sind große Agrarfabriken, wie sie derzeit in Dazu erwarb er – „sehr, sehr billig“ (LuPolen entstehen. Dort ist fast ein Drittel ter) – gleich noch ein paar Großfarmen
aller europäischen Landwirte zu Hause, und verleibte die Relikte aus Stalins ZeiKleinbauern fast alle. Viele Tausende wer- ten seinem US-Imperium ein: Smithfield
den jedes Jahr weggefegt von neuen Agrar- Foods.
Multis, die sich aus den EU-Töpfen bedieDer Fleisch-Multi verarbeitet weltweit
nen. Fast 90 Prozent der verfügbaren Sub- Millionen Rinder und Schweine, Hühner,
ventionen gingen 2004 an nichtbäuerliche Puten, Gänse und Enten – samt deren FeEmpfänger. Ein potenter polnischer Be- dern. Smithfield macht alles, den teuerstrieb ist fast immer dabei: Animex.
ten Schinken der USA und Billigstfleisch
Was nach sozialistischer Spedition für die Wal-Mart-Kette. Der Konzern ist
klingt, war einst die staatliche Zentrale für in Spanien, Frankreich und vielen anderen
Polens Fleischein- und -ausfuhren. Als das Ländern groß im Geschäft – überall exkommunistische Imperium implodierte trem profitabel.
gen werden. Oder es zeigt sich, dass wir
das Geld teilweise an die Falschen verteilen. Dann muss das geändert werden.
SPIEGEL: Wie reagieren die Regierungen
der Mitgliedstaaten auf Ihren Vorstoß?
Kallas: Wir haben bisher nur zwei Stellungnahmen von offizieller Seite bekommen, vom französischen Landwirtschaftsminister und von der bayerischen Landesregierung: beide negativ.
SPIEGEL: Ohne das Okay der 25 EU-Regierungen können Sie Ihre TransparenzInitiative vergessen.
Kallas: Stimmt. Die EU-Minister müssen
das entscheiden.
SPIEGEL: Da stehen die Chancen nicht
allzu gut, oder?
Kallas: Leben ist Hoffnung. Vor gut einem
Jahr veröffentlichten nur zwei Staaten
die Fakten, jetzt sind es schon elf, und
weitere Regierungen denken sehr konkret darüber nach.
SPIEGEL: Frankreichs Agrarminister hat
Ihnen vorgeworfen, Ihre Initiative sei
„ein Angriff auf die Landwirtschaftspolitik“. Hat er Angst, dass Europas Bürger
merken, dass mit ihrem Geld den
Falschen geholfen wird, und sie eine
solche Politik abwählen?
Kallas: Na und? Wenn die Mehrheit der
Wähler in der EU diese Politik nicht
mehr will, müssen wir sie ändern.
Deutschland
Hans-Michael Kloth, Hans-Jürgen Schlamp
34
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Unfriede im System“
Der parteilose Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof über die
reformunwilligen Deutschen, Merkels Politik der kleinen
Schritte und seine Kritik an der Finanzpolitik der Großen Koalition
tion zusammengewählt worden. Dann darf man nicht
enttäuscht sein über den
kleinsten gemeinsamen Nenner. Jedem Kundigen musste
klar sein: Die Gemeinsamkeiten können nicht sehr viele sein.
SPIEGEL: Wenn Sie in diesen
Tagen die „Tagesschau“ einschalten, dann begegnet Ihnen eine Kanzlerin, die
leichtfüßig über die roten
Teppiche in Peking, Washington und Moskau geht.
Was empfinden Sie?
Kirchhof: Ich mache mir immer klar, dass ich die Politik
aus der Distanz des Professors aus Heidelberg betrachte.
Aus dieser Entfernung sieht
man manches schärfer als der
Akteur in Berlin. Außenpolitisch, europapolitisch entwickelt sich diese Regierung
vorzüglich. Innenpolitisch,
damit meine ich das Arbeitsrecht, das Sozialrecht mit der
Komponente Gesundheitsfinanzierung und das Steuerrecht, hat sie die großen Aufgaben noch vor sich.
SPIEGEL: Gibt es eine Reformanstrengung der Großen KoJurist Kirchhof: „Politik aus der Distanz des Professors“
alition, die Ihnen imponiert?
SPIEGEL: Herr Kirchhof, welche Assozia- Kirchhof: Ich glaube, dass es in der
tion weckt in Ihnen das folgende Wort: Gesundheitspolitik intensive ÜberleKompetenzteam?
gungen gibt. Ich hoffe auch, dass im
Kirchhof: In mir steigt eine sehr intensive Steuerrecht Reformpläne reifen. Aber
Erinnerung an jene vier Wahlkampfwo- diese Überlegungen, so es sie gibt,
chen auf, die für mich ungewollt zum sind bisher relativ sorgfältig verborgen
Crashkurs wurden. Zum Zweiten kommt worden.
mir ins Bewusstsein, dass dieses Kompe- SPIEGEL: Bedauern Sie, dass Sie nicht in
tenzteam, das ja ein Regierungsteam sein der Regierung mitwirken können?
sollte, nie zum Einsatz kam. Die heutige Kirchhof: Ich hätte, wenn das Berliner Amt
Regierung sieht anders aus, personell und mich getroffen hätte, die Ärmel aufgeinhaltlich.
krempelt und mich bemüht, das Beste
SPIEGEL: Sie haben das Wort Kompetenz als draus zu machen. Dass es nun anders geein Qualitätssiegel verstanden, als Verspre- kommen ist, ist für mein persönliches Leben und auch für mein Umfeld sicherlich
chen für eine Politik der großen Schritte?
Kirchhof: Die Aussage war, dass wir diese die bessere Lösung. Was den Inhalt der
Res publica strukturell erneuern werden. Regierungstätigkeit angeht, denkt man
Deswegen sind wir angetreten, deswegen natürlich darüber nach, wie es wohl auswaren wir auch mutig und selbstbewusst. sähe, wenn ein anderer mitentscheiden
Jetzt sind die beiden großen Parteien in könnte.
Deutschland, die sich im Wahlkampf kräf- SPIEGEL: Auf Deutsch: Sie leiden unter
tig befehdet haben, in eine Großen Koali- Phantomschmerz?
URBAN ZINTEL
te Fleischindustrie Europas“, schwärmt der
Unternehmenssprecher.
Witold Choinski, der Präsident des
polnischen Fleischverbands, hat seinen
Schreibtisch praktischerweise im Stockwerk unter der Zentrale seines wichtigsten
Verbandsmitglieds. Er erzählt, wer das
Fleisch-Wunder bezahlt. In den Strukturfonds-Töpfen der EU, sagt er, sei so viel
Geld für Polen vorgesehen, „dass wir nur
die Hälfte davon nutzen können“.
Die bürokratischen Hürden sind hoch,
und der Zuschuss erfordert zunächst eine
üppige Eigenbeteiligung. So fallen kleine
und mittlere Betriebe meist durch den
Rost, die großen machen sich über die Geschenke der europäischen Steuerzahler her
– und werden so noch größer.
Gerade zieht Smithfield in Rumänien
neue Schweinefarmen und entsprechende
Schlachthäuser hoch. Dort werde man „billiger produzieren als überall sonst in Europa“, jubelt US-Boss Luter.
Die Folge ist absehbar: „Ein Drittel aller
Arbeitsplätze in der europäischen Fleischindustrie“ werde „in Kürze verschwinden“,
prophezeit Verbandspräsident Choinski,
weil überall Rationalisierung, Automatisierung und Konzentration angesagt ist. „Der
Trend geht dramatisch weiter in Richtung
industrielle Tiermast“, sagt Lutz Ribbe, Direktor bei der Stiftung Euronatur. „Es entstehen Großbetriebe in gewaltigem Maßstab
– mit den entsprechenden Konsequenzen für
die Umwelt.“ Ob in den Niederlanden, Ostdeutschland oder Norditalien: Hochgiftige
Schweinegülle aus Großmastanlagen verpestet Bäche, Flüsse, Grundwasser. „Wenn
der Steuerzahler erfahren würde, dass mit
seinem Geld industrielle Schweinefleischerzeugung organisiert wird, dann gäbe es sicherlich einen großen Aufschrei“, sagt der
Agrarökonom Martin Hofstetter.
Politik und Industrie hegen wohl ähnliche Befürchtungen. Jedenfalls wird der
Blick auf die Wirklichkeit der Lebensmittelerzeugung bewusst verschleiert.
Bei der Grünen Woche, der weltgrößten
Landwirtschaftsmesse, die erst kürzlich wieder in Berlin stattfand, erlebten Tausende
Besucher und Millionen Fernsehzuschauer
eine „Heidi-Welt“ mit Schäfchen, Kälbchen
und Hühnchen im Stroh, wie es sie real
kaum noch gibt – für Ribbe „das größte Potemkinsche Dorf Europas“.
Es sind allerdings nicht nur die Verbraucher, die von der Agrarpolitik und
ihren unsinnigen Folgen wenig Ahnung
haben. Auch die Masse der Bauern selbst
weiß offenbar nicht, dass die Subventionen, für deren Erhalt sie regelmäßig zu
Tausenden auf die Straße gehen, vor allem
den Großgrundbesitzern und der Industrie
zugute kommen. Agrarwissenschaftler Ribbe spottet: Ihm komme eine Bauern-Demo
immer vor, „als ob Tausende Besitzer von
Tante-Emma-Läden für Aldi auf die Straße
gingen“.
Annette Bruhns, Frank Dohmen,
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Kirchhof: Dieses Argument überzeugt tischen Verschuldung jenseits der 1,5 BilVerpflichtung. Ich bin zwar nicht im Wort nicht, und zwar aus zwei Gründen. Ers- lionen, mit den sozialen Sicherungssystefür diese Regierung, das ist nicht die mei- tens: Die Stärke Deutschlands sind immer men und vielem mehr. In seiner Position
ne. Ich bin aber im Wort gegenüber un- unsere Köpfe gewesen und sind es auch musste er also zunächst eine Grundserer Demokratie. Es war damals meine heute noch. Wenn wir die Köpfe haben, satzentscheidung fällen: Worauf konzenAbsicht, dem Wähler vor allem eine pro- einen Siemens, einen Benz, einen Daimler, triere ich mich?
grammatische, dann aber auch eine perso- einen Bosch, einen Freudenberg, dann SPIEGEL: Hat er sich richtig entschieden?
nelle Alternative vorzustellen und dafür kommt auch das Kapital. Zweitens: Un- Kirchhof: Ich meine, es ist ein falscher Anzu werben, dass diese Alternative im Steu- terstellt, wir müssten das Kapital halten satz, zunächst den Haushalt auffüllen zu
errecht Wirklichkeit wird. Für diese Sach- und zurücklocken, dann muss man einen wollen. Erstens: Ein Finanzminister wird
frage werde ich weiter streiten.
Tatbestand schaffen, der auf dieses Ver- nicht die Bürger begeistern, wenn er einen Haushalt ohne überzeugenSPIEGEL: Sie schreiben Aufdes Steuerrecht finanzieren will.
sätze und Kolumnen, Sie treten
Er wird die Bürger eher beeinbei Wohltätigkeitsveranstaltundrucken, wenn er in dieses Vergen auf. Wie ist die Resonanz?
wirrsystem des Steuerrechts
Kirchhof: Lebhaft. Die Menschen
eine Perspektive für mehr Gesind hungrig nach einem fairen,
rechtigkeit hineinträgt. Zweikonzeptionellen, grundlegend
tens: Für diesen Rechtsstaat mit
erneuerten Steuerrecht. Die
seinen hohen Ansprüchen, seiFrage ist gar nicht mehr so wie
nem immensen Finanzbedarf ist
früher: Ist das Konzept von
es dringend notwendig, dass
Kirchhof richtig? Sondern: Haman zuerst definiert: Da ist die
ben wir eine Chance, es durchGrenze der Belastbarkeit des
zusetzen?
Bürgers, so viel Geld kann ich
SPIEGEL: Sie fühlen sich ermutigt?
einnehmen – und dann erst
Kirchhof: Es besteht unzweifelfragt, was kann ich mit dem
haft Aktionswillen in DeutschGeld machen. Und nicht umgeland. Es ist kein revolutionärer
kehrt. Es ist im Moment mit
Wille, die Leute leben in guten
Händen zu greifen, dass die
Existenzbedingungen, sie sind
Steuerpolitik nicht konzeptionicht in ihrer Freiheit elementar
nell gedacht ist.
bedroht. Doch diese VerkrustunSPIEGEL: Die Finanzpolitik schafft
gen, diese Umklammerung des
Fakten, auch über den Tag hinBürokratischen lähmt sie. Das ist
aus. Im Moment werden steuergerade im Steuerrecht unerträgliche Ausnahmen, also Steuerlich. Die Menschen sind empört.
subventionen, gestrichen, und
SPIEGEL: Und die Koalition regidas so gewonnene Geld verstriert diese Empörung nicht?
schwindet im Staatssäckel – und
Kirchhof: Dafür ist sie wohl noch
fließt nicht in Form einer Sennicht lange genug im Amt.
kung der Steuersätze zurück
SPIEGEL: Die Regierung plant gezum Bürger.
rade eine Unternehmensteuerreform, die das glatte Gegenteil
Kirchhof: Was da passiert, bevon dem anstrebt, was Sie wollkümmert mich sehr. Wir haben
ten. Die Unterschiede zwischen
diese Fülle von Ausnahmen, die
der Steuerbelastung des Faktors Protest gegen Hartz IV (2005 in Berlin): „Jeder hofft ganz intensiv“ ich als ein Potential sehe, um
Arbeit und des Faktors Kapital
formal dem Staatshaushalt Geld
werden wachsen, nicht verschwinden. bleiben des Kapitals abstellt, zum Bei- zuzuführen – und gleichzeitig die Steuerspiel die Unternehmen nach ihrer Lohn- sätze zu senken. Je mehr wir aber diese
Empört Sie das?
Kirchhof: Wenn die Körperschaftsteuer summe zu begünstigen, die sie in Deutsch- Ausnahmen ohne Senkung des Steuertatsächlich von 25 Prozent auf 12,5 Prozent land auszahlen. Aber genau das wird nicht satzes zur Stärkung des Staatshaushaltes
halbiert werden sollte, während bei der Per- gemacht, sondern die Höhe der Besteue- verwenden, desto mehr geht uns Reformsonengesellschaft, der OHG, der KG, 42 rung hängt von der Rechtsform ab. Ob die potential verloren. Wenn man das vier JahProzent Einkommensteuer anfallen, dann Firmen einen Teil ihrer Produktionsstätte re lang so weitermacht, wird man die rechnerischen Grundlagen einer großen Steuhaben wir ein irrwitziges Gefälle: hier die
erreform gefährden.
Erträge aus Kapital, dort die Erträge aus
„Es ist ein falscher Ansatz,
Arbeit, 12,5 zu 42 Prozent. Kommt die GeSPIEGEL: Erwarten Sie eine politische Wenzunächst den Haushalt auffüllen de? Oder haben Sie, der Sie ein notoriwerbesteuer hinzu oder wird Gewinn auszu wollen.“
geschüttet, ist das System noch weniger
scher Optimist waren, alle Hoffnung fahren
stimmig. Das ist verfassungsrechtlich eine
lassen?
Konzeption mit Sollbruchstelle. Im Steuer- ins Ausland verlegen, spielt dabei keine Kirchhof: Der Druck der Probleme ist
recht ist die Gleichheit ein wichtiges Ele- Rolle.
zu groß, als dass die Politik so weiterment. Da ist Unfriede im System.
SPIEGEL: Finanzminister Peer Steinbrück machen könnte wie bisher. Die Menschen fordern die grundlegende ErneuSPIEGEL: Die Regierung glaubt, dass Kapi- steuert auf anderem Kurs.
tal das flüchtigere Element im internatio- Kirchhof: Er hat sich im Moment der Sa- erung. Die Politiker werden darauf renalen Wettbewerb sei, während die Ware nierung des Haushalts verschrieben. Dort agieren.
Arbeitskraft, auch die des Spitzenmana- liegt unverkennbar eine große Aufgabe. SPIEGEL: Aber die Menschen akzeptieren
gers, sich nicht beliebig transferieren lasse. Daneben hat er ein Problem mit den un- doch relativ klaglos die größte SteuerWas ist falsch an dem Gedanken?
geheueren Nebenhaushalten, mit der fak- erhöhung der Nachkriegszeit.
SEAN GALLUP / GETTY IMAGES
Kirchhof: Nein, aber ich empfinde eine
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ULRICH BAUMGARTEN / VARIO-IMAGES
Deutschland
Wahlkämpfer Kirchhof (2005 in Berlin): „Im Wort gegenüber unserer Demokratie“
Kirchhof: Wir haben diese Steuererhöhung
SPIEGEL: Der Staat, der pausenlos die Vernoch nicht. Wir sprechen darüber, aber es brauchsteuern erhöht, setzt sich also ins
hat sie noch niemand erlebt. Hinzu Unrecht?
kommt: Die Mehrwertsteuer ist eine un- Kirchhof: Meine Auffassung ist eindeutig:
merkliche Steuer, die erst allmählich merk- Ja. Der alte Grundsatz von Friedrich dem
lich wird. Der Bürger muss kein Geld an Großen in seinem zweiten politischen Tesdas Finanzamt zahlen, sondern er erlebt tament von 1768 lautet: Ein guter Hirte
die drei Prozent plus im Preis. Er kauft schert seine Schafe, aber er zieht ihnen das
sein Auto, er kauft seine Krawatte, er kauft Fell nicht ab. So einfach war das damals
formuliert, so richtig ist es noch heute.
den Alltagsbedarf für drei Punkte mehr.
SPIEGEL: Sie glauben: Durch die Portionie- SPIEGEL: Glauben Sie, dass ein Verbraurung verschwindet das Gefühl für die cher eines Tages klagen wird?
großen Summen, um die es geht? Immer- Kirchhof: Das hoffe ich.
hin wird diese Mehrwertsteuererhöhung die Bürger rund 23 Milliarden Euro kosten.
Kirchhof: Der Bürger merkt erst allJährliche Mehrbelastung der Bürger durch die
mählich, dass hier eine Weichengeplanten steuerlichen Maßnahmen der Bundesstellung stattfindet, die mit dem,
regierung ab 2007 (volle Wirkung zum Teil erst ab 2009)
was er unter gerecht und sozialverMehrwertsteuer
träglich versteht, nur schwer verErhöhung von 16 auf 19 Prozent
23 Mrd. ¤
einbar ist. Denn diese hohe Mehrwertsteuer müssen insbesondere
Pendlerpauschale
diejenigen zahlen, die ein kleines
Einschränkung der Absetzbarkeit
Einkommen und einen hohen Konvon Fahrtkosten zwischen
sumbedarf haben.
Wohnung und Arbeitsstätte
2,5 Mrd. ¤
SPIEGEL: Sie haben bei der VermöSparerfreibetrag
gensteuer gesagt: Der Staat darf
Halbierung des Freibetrags für
nicht mehr als die Hälfte dessen abZins- und Kapitalerträge
0,8 Mrd. ¤
kassieren, was der Bürger besitzt
Arbeitszimmer
und verdient. Denn auch EinkomEinschränkung der Absetzbarkeit
men ist für ihn Eigentum. Nun kann
des häuslichen Arbeitszimmers
0,3 Mrd. ¤
doch die Addition von MehrwertReichensteuer
steuer, Verbrauchsteuern und EinFür Topverdiener soll der
kommensteuer bei etlichen zum
Spitzensteuersatz von
Überschreiten dieser 50-Prozent42 auf 45 Prozent steigen.
1,3 Mrd. ¤
Grenze führen. Würde sich der
Kindergeld
Steuerstaat dann Ihrer Meinung
Die Altersgrenze für die Zahlung
nach illegal verhalten, weil er den
von Kindergeld wird von 27 auf
vom Verfassungsgericht vorgegebe25 Jahre gesenkt.
0,5 Mrd. ¤
nen Halbteilungsgrundsatz verletzt?
Kirchhof: Ja. Das Bundesverfassungsgericht hat die BesteuerungsGESAMT
rund 28 Mrd. ¤
grenzen in diesem Grundsatz verdeutlicht, allerdings jüngst wieder
zum Vergleich
gelockert. Jedenfalls müssen die inEntlastung durch die
direkten Steuern berücksichtigt
Steuerreform 2004/2005
rund 23 Mrd. ¤
werden.
Berliner Schröpfkur
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SPIEGEL: Sie setzen also darauf, dass der
Staat auch bei den indirekten Steuern limitiert wird und zu einer Gesamtbetrachtung gezwungen wird, so, wie Sie ihn auch
beim Vermögen zu einer Gesamtbetrachtung gezwungen haben?
Kirchhof: Ich meine, das Thema der indirekten Steuern ist sogar das brennendere.
Bei der Einkommensteuer kennt der Fiskus
die Leistungsfähigkeit des Steuerbürgers.
Bei der Nachfrage am Markt nicht, der Staat
sieht nicht, ob der Mehrwertsteuerzahler
im Lotto gewonnen hat oder auf Kredit konsumiert. Er weiß nicht, ob der Kunde vorher
gebettelt oder geklaut hat. Es ist überhaupt
nicht erkennbar, ob der Verbraucher leistungsfähig ist. Aber trotzdem werden ihm 19
Prozent Aufschlag abverlangt.
SPIEGEL: Sie haben nach dem Wahlkampf
gesagt, Politik sei auch ein Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Wie empfinden
Sie heute den Beruf des Politikers, erstrebens- oder bemitleidenswert oder beides?
Kirchhof: Der Politiker ist unter Unrechtsverdacht geraten, weil man ihm nicht viel
zutraut. Wenn ich als Wissenschaftler ge-
„Ein guter Hirte schert seine
Schafe, aber er zieht ihnen das
Fell nicht ab.“
sagt habe „Das ist so und nicht anders, wir
haben das gerechnet, und wir haben es mit
der OECD abgesprochen“, sagten alle:
Okay, abgehakt, erledigt. Im Wahlkampf
war das so selbstverständlich nicht. Man
musste mehr begründen und mehr an Vertrauenswerbung leisten. Ich glaube, das ist
langfristig keine gute Situation für diejenigen, die Grundsatzentscheidungen treffen,
überall auf Argwohn zu stoßen, dieses dauernde Unbehagen zu spüren.
SPIEGEL: Das Ergebnis des Merkel-Wahlkampfs war aus Sicht der Union desaströs.
Lohnt sich Ehrlichkeit im Wahlkampf überhaupt?
Kirchhof: Ich meine schon. Die politische
Klasse sollte dem Wähler mehr zutrauen.
Man kann ihm auch mehr zumuten. Er ist
nicht so unmündig, wie das vielfach gesagt
wird.
SPIEGEL: Zeigt nicht der Erfolg von Gerhard
Schröder, der Sie bezichtigte, mit Ihrer „Flat
Tax“ ein Volk zu „Versuchskaninchen“ machen zu wollen, das Gegenteil?
Kirchhof: Ich war völlig überrascht. Ich war
auch ein bisschen enttäuscht über die Art,
wie der Wahlkampf geführt wurde, aber ich
war der sicheren Überzeugung, das fällt auf
denjenigen zurück, der es formuliert, und
nicht auf denjenigen, über den gesprochen
wird. Insoweit habe ich mich geirrt.
SPIEGEL: Sie haben dann schnell festgestellt:
Ich dringe nicht mehr durch. Woran lag’s?
An Schröder oder auch an Ihnen?
Kirchhof: Ich hatte immer das kleine Mikrofon und der andere das große. Das war
das Problem.
Deutschland
JÖRN POLLEX / ACTION PRESS
SPIEGEL: Ihr Mikrofon war so klein nicht.
Sie haben für mächtig Wirbel gesorgt, jeden Tag und zum Teil jede Stunde.
Kirchhof: Aber mit meinen Aussagen bin
ich nicht mehr durchgedrungen. Ich habe
gesagt: Der Krankenschwester geht es besser. Aber die Menschen haben geglaubt,
wenn dieses System kommt, wird es der
Krankenschwester schlechter gehen. Ich
bleibe dabei: Die anderen hatten das große
Mikrofon, ich das kleine.
SPIEGEL: Das Misstrauen gegenüber Ihrem
Steuermodell – Streichung aller Ausnahmen, dafür ein Steuersatz von 25 Prozent
– wuchs auf allen Seiten. War das Werben
für die Flat Tax Ihre Einstiegsbedingung
in das Wahlkampfteam?
Kirchhof: Es war klar, dass ich für dieses
Steuermodell eintrete und auch deswegen
gewonnen war.
SPIEGEL: War Frau Merkel der Inhalt Ihres
Buches bekannt? Hatte sie es gelesen?
Kirchhof: Selbstverständlich kennt Frau
Merkel mein Buch. Meine Berufung in das
Kompetenzteam war weniger eine Entscheidung für eine Person, sondern es war
die personifizierte Erneuerungskonzeption
mit einem konkreten Inhalt.
SPIEGEL: Sie sind sehr früh unter „friendly
fire“ geraten. Ihr Modell entspreche nicht
dem deutschen Gerechtigkeitssinn, sagte
Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff von der CDU.
Kirchhof: Eine Partei mit so viel Anliegen
und Wählerschichten lebt von der offenen
und unbefangenen Diskussion auch in Zeiten von Wahlen.
SPIEGEL: Haben Sie damals nicht gedacht,
das Konzept spricht für sich? Sie sprachen
vom „Garten der Freiheit“, der nun geöffnet würde.
Kirchhof: Ja. Ich hatte gemeint: Ich begründe, und weil ich gute Gründe habe, überzeuge ich. Und weil die Wähler überzeugt
sind, sagen alle: Jawohl, so ist das. Schröder
hat klug erkannt, dass das Konzept ein Juwel ist. Also musste es zugeschüttet werden.
SPIEGEL: Wenn Sie die heutige Kanzlerin
sehen, die kleinen Schritte, die Veränderung ihres Stils und ihrer Sprache, würden
Sie so weit gehen und sagen: Da hat sich
jemand verraten?
Kirchhof: Nein. Ich bin eher in Erwartungshaltung. Da wird sich noch viel entwickeln,
glaube ich. Diese Koalition hat gesagt, sie
macht eine große Unternehmensteuerre-
Steuerexperte Kirchhof*
URBAN ZINTEL
„Wir leben in einer Scheinwelt“
Kirchhof, SPIEGEL-Redakteure*
„Ich hatte immer das kleine Mikrofon“
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form zum 1. Januar 2008. Da ist sie im Wort.
Diese Regierung hat versprochen, eine tragfähige Gesundheitsreform vorzulegen. Das
wird allgemein erwartet. Diese Regierung
erkennt, dass der Arbeitsmarkt reformiert
werden muss.
SPIEGEL: Beschleicht Sie zuweilen das Gefühl, dass Deutschland zwar reformbedürftig, aber nicht in gleichem Maße reformwillig ist?
Kirchhof: Ich habe diese Frage kürzlich mit
einem Kollegen, einem Historiker, besprochen. Er hat die napoleonische Zeit
mit der heutigen verglichen. Die Zünfte
und die Stände hatten ihre Berechtigungen
erkämpft und wachten darüber. Wenn
dann einer in einer Stadt auf einem
Grundstück eine Mühle betreiben wollte,
musste er erst von seinen Zünften als Müller anerkannt werden, dann musste er von
der Stadt eine Genehmigung bekommen,
und dann musste ihm der Graf sagen, dass
er das Grundstück nutzen darf, und er
musste vom Kloster das Wasserrecht erwerben. Dann kam Napoleon, natürlich
mit den Mitteln des Krieges, und hat die
Stände abgeschafft und die Gewerbefreiheit gewährt. Wir brauchten sozusagen einen gewaltigen Feldherrn mit einem gewaltigen Krieg, um diese Verkrustungen
wegzukriegen.
SPIEGEL: Was folgt daraus?
Kirchhof: Seine Folgerung als Historiker
war die: Ohne Krieg geht nichts. Das ist
natürlich völlig verkehrt. Das Instrumentarium der Erneuerung durch Krieg steht
nicht zur Verfügung – darüber brauchen
wir nicht zu reden. Wir haben aber die
wunderbare demokratische Idee, dass wir
* Oben: am 5. Mai als „Spargel-König“ auf einem niedersächsischen Hof; unten: Marc Hujer und Gabor Steingart in Kirchhofs bayerischem Ferienhaus.
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jedes Parlament neu wählen, damit es bessere Gesetze mache als das vorherige. Und
jeder Politiker, der noch einige Jahre Verantwortung in diesem Staat tragen möchte, weiß, dass er dieses Steuersystem, dieses Verschuldungssystem und auch das
heutige Renten- und Gesundheitssystem
nicht verantworten kann.
SPIEGEL: Das Wissen um die Dringlichkeit
der Probleme reicht offenbar nicht aus, die
Missstände abzustellen.
Kirchhof: Wir leben in einer Scheinwelt. Jeder hofft ganz intensiv auf die große Reform, wacht aber sorgfältig darüber, dass
diese Hoffnung nicht durch Erfüllung verlorengeht. Er verhält sich wie vor dem Fernseher: Er begibt sich allabendlich in diese
Werbewelt, wo schöne Menschen zu sehen
sind und Zukunft, Landschaft, Glück und
gute Musik. Er ist geistig den Verlockungen
der Werbewelt völlig auf den Leim gegangen, denkt aber gar nicht daran, die fünf
Autos, die ihm in fünf Minuten empfohlen
werden, je zu kaufen. Er will sich sozusagen
verlocken lassen von dem schönen Gedanken, aber das ist ihm schon genug. Ich glaube, ein Stück unserer gesellschaftlichen Realität ist die, dass der Mensch sich intellektuell, auch mit seinen Emotionen und seiner
inneren Befindlichkeit, in die neue Welt des
besseren Staates, der offeneren Gesellschaft,
der zuwendungsbereiteren Familie begibt,
aber halb bewusst immer den Vorbehalt
mitträgt: Das kommt ja sowieso nicht. Doch
„Der Bürger wird
real erleben, dass manches bald
zusammenbricht.“
die Zahl derer, die energisch handeln wollen, steigt ständig.
SPIEGEL: Und der mündige Bürger, sagen
Sie, fühlt sich ganz wohl in dieser Zwischenwelt?
Kirchhof: Er fühlt sich ganz wohl in seinem
Wohlstand, in seiner Behaglichkeit, in seinem Frieden, seiner Sicherheit. Aber der
Bürger wird real erleben, dass manches
bald zusammenbricht. Die weitere Verschuldung geht nicht mehr. Aus europarechtlichen, verfassungsrechtlichen Gründen entwickeln sich die Haushalte ja heute schon jenseits der Legalität.
SPIEGEL: Ihre Leidenschaft scheint ungebrochen. Werden Sie in die politische
Arena zurückkehren?
Kirchhof: Die Akte „Paul Kirchhof strebt in
ein Amt“ ist geschlossen. Als Wissenschaftler, der ja auch einen Gestaltungsauftrag hat,
natürlich eher empfehlend, beratend, vielleicht auch kritisierend und mahnend, werde ich mich weiter beteiligen. Das schulde
ich mir, das schulde ich vielleicht auch den
Wählern, die ich angesprochen habe. Denn
nach meinen Erfahrungen bin ich von einem zutiefst überzeugt: Politik braucht Rat.
SPIEGEL: Herr Kirchhof, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
Deutschland
Ohne Schnörkel und Pathos, dabei allzeit konfliktbereit, so brachte Frank-Walter
KABINETT
Steinmeier, 50, ein halbes Jahr im Amt des
Außenministers hinter sich. Mit den klaren
Worten im Angesicht des alten Chefs hat er
die Probezeit für die Festanstellung als
deutscher Spitzenpolitiker bestanden.
Im Alltag ist er ein eher stiller Diener
Distanz zu seinen Vorgängern, Attacken auf Kabinettskollegen:
seines Staates. Sein Ego mag nicht kleiner
Außenminister Frank-Walter Steinmeier sucht den
sein als das mancher Kabinettskollegen,
doch er zeigt es nicht öffentlich vor. Er
Konflikt mit Freund und Feind – und gewinnt so an Kontur.
will nicht unnötig provozieren,
sucht den Ausgleich, vor allem
auch den mit der Kanzlerin und
CDU-Chefin.
Als der damalige SPD-Chef
Matthias Platzeck im Februar
versuchte, die Iran-Debatte mit
einer pazifistischen Einlassung
für den Landtagswahlkampf zu
nutzen, hielt Steinmeier blitzschnell dagegen. Er ließ nicht
zu, dass andere einen Keil
zwischen ihn und Merkel treiben konnten. „Steinmeier wird
besser, wenn er unter Druck
kommt“, sagt ein Weggefährte.
Er sucht die Nähe der Kanzlerin, auch um seine Position zu
festigen. Per SMS und Telefon
stimmt er jedes heikle Manöver
im Umgang mit Russland, USA
und Iran mit ihr ab.
Um den Verdacht zu zerstreuen, er sei Merkels Mann
und nicht Abgesandter der Sozialdemokraten, besucht Steinmeier, sofern seine Reiseplanung
es erlaubt, das SPD-Präsidium
und die Fraktion. Die Genossen
sollen spüren, dass sich hier
einer vom Verwaltungs- zum
Außenminister Steinmeier, Ex-Kanzler Schröder*: Präventivschlag gegen den ehemaligen Chef
Parteimann gemausert hat.
Gern grenzt er sich neuerdings von
ür eine der heikelsten Entscheidun- der loyal im Kanzleramt gedient und ihn
gen seiner Amtszeit blieben Frank- nie öffentlich kritisiert. Auch als Außen- seinem schillernden Vorgänger Joschka
Walter Steinmeier nur wenige Minu- minister achtete er seither darauf, zu sei- Fischer ab, der sich als Visionär empfahl.
nem Freund und ehemaligen Vorgesetzten Konzepte für die Zukunft Europas oder
ten des Nachdenkens.
die Befriedung des Nahen Ostens, mit deDer Außenminister war gerade ans Red- keinen Dissens erkennen zu lassen.
„Alle müssen alle diplomatischen Mittel nen Fischer seinen Ruf begründete, liegen
nerpult im Weltsaal des Auswärtigen Amts
getreten. Vor ihm lag das Manuskript, hin- nutzen“, beschied der SPD-Mann nun sei- Steinmeier fern. Die internationale Lage
ter ihm leuchtete die Anzeigetafel für die nem ehemaligen Chef. Es gelte, eine nu- sei zu ernst, sagt er, um „luftige Entwürfe
„Appointment Ceremony“ des Nah- und kleare Rüstung Irans zu verhindern, „und über die Neuordnung der Welt an den
Mittelost-Vereins. Aus der ersten Reihe ich will, vermutlich im Unterschied zum Mann“ zu bringen.
Er teilt Fischers Sorgen, aber ihm wischaute ihn sein ehemaliger Chef erwar- heute Geehrten, wirtschaftlichen Druck
derstrebt dessen Theatralik. Er will nicht
tungsvoll an, Gerhard Schröder, der desi- nicht von vornherein ausschließen“.
Der gewundene Satz des deutschen alles anders, aber vieles lautloser machen
gnierte Ehrenvorsitzende des Vereins.
Steinmeier sollte die Verdienste des Chefdiplomaten war nichts weniger als als der Grüne. Das Großsprecherische seiAltkanzlers lobpreisen, doch der mach- eine Unabhängigkeitserklärung in eigener nes Vorgängers versucht Steinmeier gar
te es ihm nicht leicht an diesem Tag. Auf Sache. Zum ersten Mal widersprach der nicht erst zu imitieren.
Statt wie Fischer beim Joggen Sechsdem Weg in den Versammlungssaal teil- ehemalige Kanzleramtsminister dem ehete Schröder seinem ehemaligen Kanzler- maligen Kanzler auf offener Bühne. Schrö- Punkte-Pläne zu entwerfen, studiert der
amtschef en passant mit, dass er in einer der stand plötzlich wie ein außenpoliti- Minister lieber Akten. Er will als sachkunzentralen Frage anderer Meinung sei. Die scher Naivling da. Sanktionen gegen Iran dig, nicht als originell gelten. Er ist bewusst
Drohung mit wirtschaftlichen Sanktio- seien „nicht der richtige Weg“, beharrte grau, wo der andere bunt war. Steinmeier
sei „nicht so überbauscht, eher sachlich
nen im Streit um Irans Atomprogramm er später trotzig.
nüchtern“, sagt ein Diplomat, der den Alhalte er für falsch und werde das auch
ten und den Neuen aus der Nähe kennt.
gleich sagen.
* Mit dem Außenminister der Vereinigten Arabischen
Innerhalb des Kabinetts allerdings ringt
Steinmeier entschied sich zum Prä- Emirate Abdullah Ibn Sajid al-Nahajan am 29. Mai beim
Steinmeier um jeden Meter Landgewinn.
ventivschlag. Sieben Jahre hatte er Schrö- Treffen des Nah- und Mittelost-Vereins in Berlin.
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS
In der Kampfzone
F
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ULLSTEIN BILDERDIENST
Weit komplizierter als das Verhältnis zur teuerte, ihr Vorstoß sei keinesfalls gegen
Kanzlerin ist Steinmeiers Stellung in der ihn gerichtet. Der Außenminister aber
eigenen Partei: Durch Schröders spekta- machte klar, dass er nicht amüsiert war.
kuläres Nein zum Irak-Krieg wurde die pa- „Die kann an keiner Scheune vorbei“,
zifistische Tradition der SPD einerseits wie- schimpfte ein Genosse über die Attacke
derbelebt; andererseits will sich Steinmeier der Ministerin, „ohne eine Brandfackel in
dadurch nicht seinen Handlungsspielraum die Hand zu nehmen.“
einschränken lassen – ein Balanceakt.
So würde Steinmeier natürlich nicht
Erst kürzlich versuchte SPD-Kabinetts- reden, schon gar nicht über eine Parteikollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul dies freundin, und falls doch, dann jedenfalls
für sich zu nutzen. Anfang Mai kreuzte die nicht öffentlich.
Entwicklungshilfeministerin
im Parteipräsidium auf. Viele
Jahre war sie in der SPD-Spitze für die Außenpolitik zuständig. Seit ihrem Rückzug
aus dem Präsidium vorigen
November hatte sie das Gremium eher gemieden.
Doch an diesem Morgen
schien die Gelegenheit günstig, denn Steinmeier war verhindert. Als das Thema Iran
an der Reihe war, zog die
Ministerin den vertraulichen
Entwurf von Deutschland,
Frankreich und Großbritannien für eine Uno-Sicherheitsratsresolution hervor. Sie verlas Passagen, die sich auf
Kapitel sieben („Maßnahmen Vertraute Schröder, Steinmeier*: Offener Widerspruch
bei Bedrohung oder Bruch
des Friedens“) der Uno-Charta bezogen,
Lieber diskutiert er in ernüchterndas in sich die Option eines militärischen der Sachlichkeit über die Potentiale der
Einschreitens trägt. Wenn man keine Mi- Erdgasausbeutung im Nordmeer, die Zulitärschläge wolle, dürfe man auch nicht da- kunft des Wirtschaftsbündnisses „Mercomit drohen, kritisierte die Ministerin. Die sur“ in Südamerika oder die Nöte der
SPD müsse den Bezug auf Kapitel sieben südkoreanischen Gesellschaft mit der Fraklar ablehnen. Die Kontinuität der Schrö- ge einer Wiedervereinigung. Selbst Streitderschen Friedenspolitik stehe auf dem gespräche absolviert er vorzugsweise mit
Spiel, so die unausgesprochene Botschaft. unbewegtem Gesicht und gleichbleibenEin solcher Beschluss hätte Steinmeiers der Tonlage, Polemik hält er nicht für
Aktionsradius auf internationalem Par- anregend, sondern für überflüssig. Jede
kett verkleinert. Auch wenn er schon Zuspitzung macht für ihn die Sache nicht
früh für direkte Gespräche zwischen den einfacher, sondern schwerer, weshalb er
USA und Iran eintrat, wie sie jetzt auch sie meidet.
Bush anstrebt, will er keine Karte aus der
Erfahrungen mit dem in der Politik beHand legen.
liebten Fach „Kabale und Intrige“ bleiben
Der designierte Partei- Steinmeier dennoch nicht erspart. Ausgechef Kurt Beck und Frak- rechnet sein Rivale Michael Glos zwang
tionschef Peter Struck ihn kürzlich in die Knie. Es ging um die
wimmelten Wieczorek- protokollarisch höchst bedeutsame Frage,
Zeuls Vorstoß geistes- wer von beiden das schönere Flugzeug,
gegenwärtig ab – mit den Airbus A 310 „Konrad Adenauer“, für
formalen Gründen. Den seine Auslandsreise nutzen darf.
Resolutionstext habe nieGlos setzte sich schließlich durch. Für
mand außer ihr vorliegen, seinen China-Trip bekam er den VIP-Airaußerdem sei der zustän- bus mit eigener Schlafkabine. Steinmeier
dige Minister nicht anwe- musste sich auf seiner sechstägigen Golfsend. Die „liebe Heidi“ Reise mit dem grauen Truppentransportmöge sich gedulden.
flieger „Kurt Schumacher“ begnügen.
Bei nächster GelegenEinen dauerhaften Anspruch auf protoheit stellte Steinmeier sei- kollarische Besserstellung will Steinmeier
ne Kabinettskollegin zur dem Wirtschaftsminister freilich nicht gönRede. Wieczorek-Zeul be- nen. Wegen der längeren Flugstrecke des
Kollegen Glos, heißt es im Auswärtigen
* Oben: 1999 im Kanzleramt;
Amt, habe man diesmal nur eine Ausnahunten: während seiner Arabienme gemacht.
Ralf Beste,
Reise im Juni 2004 in der omaniJULIA FASSBENDER / BUNDESBILDSTELLE
Um seine Kampfzone auszuweiten, scheut
er selbst Grenzüberschreitungen nicht.
Erstes Opfer der anschwellenden Expansionslust wurde Wirtschaftsminister
Michael Glos (CSU). Zu dessen Entsetzen
reklamierte Steinmeier Zuständigkeit für
die „Energie-Außenpolitik“ – ein Thema
von immenser Bedeutung „für unsere exportorientierte Wirtschaft“, so Steinmeier.
Er stapfte durch Erdgasanlagen im eisigen
norwegischen Hammerfest und in der Gluthitze der arabischen Wüste. Als Begründung für sein Engagement hat sich Steinmeier den Slogan „Energiesicherheitspolitik ist Friedenspolitik“ ausgedacht. Er sehe
da eine „strategische Herausforderung“,
die offenbar viel zu wichtig ist, als dass er
sie allein dem Wirtschaftsminister überlassen kann. Im Auswärtigen Amt gründete er eine „Task Force Energiepolitik“.
Auch als Unternehmenslobbyist ist
Steinmeier unterwegs. Bei einer Reise an
den Persischen Golf setzte er sich vorige
Woche für die Belange der mitreisenden
Manager ein. Die Wirtschaftsbosse, darunter Vorstände von BASF, Siemens und
EADS, konnten ihr Glück kaum fassen.
Steinmeiers Amtsvorgänger Fischer hatte
sie stets wie lästige Fliegen verscheucht.
Im Ausland erklingen nun neue, zuweilen
werbende Töne, die Fischer nicht über die
Lippen gingen. „Ich möchte Sie einladen“,
umschmeichelte Steinmeier jüngst die
Scheichs, „sich persönlich von unseren einzigartigen Bedingungen zu überzeugen.“
Gleich zweimal beschwerte Glos sich bei
Steinmeier über die Wilderei in Wirtschaftsfragen, erst bei einer Tagung der
Außenhandelskammern in Berlin und
dann nochmals am Rande des Kabinetts.
Auch um das Rederecht bei einer Europadebatte des Bundestags vor drei Wochen
stritten die beiden, nachdem Glos seine
Zuständigkeit für die EU geltend gemacht
hatte. Merkel musste schließlich den Konflikt schlichten. Ans Pult trat sie selbst – die
Streithansel wurden zur Schweigsamkeit
verdonnert.
Steinmeier-Vorgänger Fischer*: Theatralik im Amt
d e r
schen Hauptstadt Maskat.
Alexander Neubacher
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Freitagsgebet (in Mannheim)*
„Mäßigende Wirkung auf Muslime“
BERTHOLD STEINHILBER / BILDERBERG
Dienste vorging. Inzwischen darf etwa das
bayerische Landesamt nicht mehr verbreiten, ein Imam der IGMG habe seine Predigt mit den Worten „Tod allen Juden“ beendet. Die Landesregierung geht allerdings
in die nächste Instanz.
Aber selbst diese juristischen Scharmützel, die der Verband landauf, landab anzettelt, stoppen die Annäherung nicht.
Nach und nach werden die vermeintlichen
Staatsfeinde salonfähig. Über den Dachverband Islamrat, der stark von der IGMG
beeinflusst ist, bestimmt die Gruppe ohnehin schon seit Jahren die Debatte um islamischen Religionsunterricht oder Integrationsprojekte mit. In Hamburg leitet seit
1999 ein Milli-Görü≈-Mann die Schura, den
Rat der islamischen Gemeinden. Und in
reden wollte“, erklärt Beckstein den Berlin organisiert die Islamische Föderation, auf die Milli Görü≈ zumindest einen
Schritt, „blieben zu wenige übrig.“
Stattdessen setzen Innenpolitiker auch gewissen Einfluss haben soll, bereits an
auf den Verein Milli Görü≈, der mit seinen über 30 Schulen die religiöse Erziehung
26 500 Mitgliedern und einer weit höhe- muslimischer Kinder.
Beim Weg durch die Institutionen hat
ren Zahl von Anhängern erheblichen Einfluss unter türkischstämmigen Muslimen sich offenbar auch Milli Görü≈ verändert.
hat. Auch Bundesinnenminister Wolfgang Erfreut registrieren Sicherheitsexperten die
Schäuble (CDU) ist von der Wendestim- verbale Mäßigung vor allem der jungen
mung erfasst: „Wir werden Milli Görü≈ Funktionsträger. Der Hamburger Verfasnicht ausgrenzen.“ Bei der von ihm für sungsschutz will bemerkt haben, dass in
Herbst einberufenen Islamkonferenz wird Milli-Görü≈-Moscheen zum Teil auch Prediger aktiv seien, „die auf die Muslime
der Verband dabei sein.
Noch vor fünf Jahren schien solch Wan- mäßigend einwirken“. Die Verurteilung isdel durch Annäherung undenkbar. Nach lamistischer Terrorakte sei daher „als
den Anschlägen des 11. September 2001 glaubwürdig zu bewerten“. Hasspredigten
sammelte der Verfassungsschutz Material, wurden aus dem Umfeld von Milli Görü≈ in
um ein Verbot der IGMG zu prüfen. jüngster Zeit nicht registriert.
Sorgen bereiten den SicherheitsbehörBayerische Ermittler fanden nach eigenem
Bekunden sogar noch im Herbst 2004 bei den allerdings die Versuche, vor allem
der Durchsuchung einer IGMG-Moschee Jugendliche durch Freizeitangebote zu
Bücher mit „eindeutig antisemitischen und locken. „Legalistisch“ getarnt verbreite
teilweise volksverhetzenden Inhalten“, Milli Görü≈ eine ultrakonservative Ausdarunter die türkische Ausgabe von Hen- legung des Koran und helfe dabei, Kinry Fords „Der internationale Jude“. Doch der etwa durch die Befreiung vom
für einen Verbotsantrag reichte das Mate- Schwimmunterricht zu desintegrieren.
rial gegen Milli Görü≈ nicht. Verwicklun- Langfristig, argwöhnte jüngst der niedergen in Gewalttaten wurden dem Verband sächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU), strebe der Verband die
ohnehin nie vorgeworfen.
Nach wie vor liegen Verfassungsschützer Einführung der Scharia an – obwohl er
aber im Streit mit der IGMG, die gericht- sich regelmäßig zur deutschen Rechtsordlich gegen manche Behauptungen der nung bekennt.
Auch Schäuble hält
sich eine Hintertür offen:
Beim medienwirksamen
Treffen mit den Muslimen
und ihre Anhänger in Deutschland 2005
im September sollen die
Islamische Gemeinschaft Milli Görü≈ IGMG
26 500 Leute von Milli Görü≈
möglichst nicht im ScheinMuslimbruderschaft MB
1300 werferlicht stehen. Und
auch zum engeren Kreis
Hisbollah Partei Gottes
900 der Schäuble-Gesprächspartner werden sie vorerst
VERBOTEN
Kalifatsstaat Hilafet Devleti
750 nicht zählen, sie müssen sich mit der TeilVERBOTEN
Islamische Befreiungspartei HuT
300 nahme an Arbeitsgruppen
begnügen.
Quelle: Bundesamt für Verfassungsschutz
I N T E G R AT I O N
Rasante
Wende
Vor Jahren sollte Milli Görü≈,
der größte Islamistenverband in
Deutschland, verboten
werden. Jetzt sucht die Politik
den Dialog mit ihm.
D
ie erste Begegnung wird er nicht
vergessen. Plötzlich saß Oguz
Üçüncü, Generalsekretär der „Islamischen Gemeinschaft Milli Görü≈“
(IGMG), im Bayerischen Staatsministerium
des Innern und tauschte Höflichkeiten mit
jenem Mann aus, der doch eigentlich als
Hardliner gilt und Islamisten regelmäßig
den Kampf ansagt.
Auch Günther Beckstein (CSU) erinnert
sich an jene Begegnung bei Tee und Kaffee
gut. Etwa eine Stunde diskutierte er mit
Üçüncü – und nicht alle in seinem Haus
fanden diesen Schritt im März vorigen Jahres richtig. „Meine Verfassungsschützer“,
sagt Beckstein, „sahen dieses Gespräch
nicht so gern.“ Schließlich hatten sie sogar
V-Leute auf die als islamistisch eingestufte
Organisation angesetzt.
Selbst im jüngsten Verfassungsschutzbericht des Bundes findet sich Milli
Görü≈ unter der Rubrik „Islamistischterroristische Bestrebungen und Verdachtsfälle“ – doch die Politik scheint
das kaum mehr zu stören. Bei dem Versuch, die Integration von Ausländern voranzubringen, vollziehen die Innenpolitiker eine rasante Wende und gehen sogar auf einst geächtete Gruppierungen zu. „Wenn ich über Integration
nur mit lupenreinen deutschen Patrioten
Islamistische Vereinigungen
* Am 12. November 2004 in der Fatih-Moschee.
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Dominik Cziesche
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Deutschland
ISLAMISTEN
Mutter Abdullahs
Eine deutsche Muslimin aus Berlin
soll einen Selbstmordanschlag
im Ausland geplant haben. Ermittler
warnen vor der Gefahr, die
von Konvertiten ausgehen kann.
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Muslimin Sonja B.*: „Für mich und mein Baby beten“
unter nur ein paar Schritte sind, zeigt der
Fall von Muriel Degauque, 38: Die Belgierin starb Anfang November in der irakischen Stadt Baakuba, als sie in der Nähe
einer US-Patrouille einen Sprengsatz zündete, den sie unter ihrem Tschador versteckt hatte.
Ähnlich wie bei Sonja B. verlief das Leben der Tochter eines Kranführers und einer Putzfrau aus der belgischen Kleinstadt
Charleroi eher unspektakulär. Erst nach
der Heirat mit einem gebürtigen Marokkaner wurde sie zusehends radikaler.
„Kamikaze belge“ nennen die Zeitungen die Konvertitin seit ihrem Tod. Ihre
Biografie ist bis ins Detail analysiert worden. „Es sind Leute, die gegen eine Gesellschaft rebellieren, zu der sie sich nicht
zugehörig fühlen“, sagt der zuständige belgische Polizist Alain Grignard hilflos.
Eine Erklärung für die Motive, warum
Konvertitinnen aus Europa in der Ferne
sterben wollen, hat auch im Fall Sonja B.
niemand. Tagelang behandelten Ärzte die
Neuköllnerin nach ihren Vernehmungen
psychiatrisch, erst stationär, dann
ambulant. Von einer „labilen
Psyche“ und Verfolgungswahn ist
die Rede. Aber wer sie so radikalisiert haben könnte, dass sie
womöglich bereit war, nicht nur
ihr eigenes Leben zu opfern, sondern sogar das ihres Kindes, diese Frage haben auch die Ärzte
nicht beantworten können.
Nachbarn in Neukölln jedenfalls sprechen von einer „sehr netten, sehr freundlichen“ jungen
Mutter mit Prinzipien. An ihrer
Wohnungstür im ersten Stock einer Fünfziger-Jahre-Mietskaserne
hängt ein computergedrucktes
Schild „Bitte Schuhe ausziehen“
Selbstmordanschlag (in Karatschi): Tipps und Tricks im Internet und am Briefkasten die Mahnung
wo meist Männer die großen Reden halten;
sie können unbehelligt reisen, weil sie einen deutschen Pass besitzen. Nur wenn sie
einen Fehler machen, wenn sie sich im Internet oder anderswo so verdächtig outen,
wie Sonja B. es offenbar tat, gibt es eine
reelle Chance, Schlimmeres zu verhindern.
Sicher ist, dass die gebürtige Hannoveranerin, die sich sogar für den Personalausweis mit Kopftuch ablichten ließ, eingebunden war in ein Umfeld, das sie in
ihrem Glauben bestärkte. Von einem
„Schwestern-Netzwerk“ sprechen Staatsschützer, einem Verbund zum Islam konvertierter deutscher Frauen, die meist über
ihre Ehemänner radikalisiert wurden und
dann oft nicht minder kompromisslos als
die Gatten für den Dschihad eintreten.
„Konvertiten spielen eine immer wichtigere Rolle im militanten Islamismus“, sagt
der Berliner Politikwissenschaftler Guido
Steinberg. „Das ist ein Trend, auf den wir
uns einstellen müssen.“
Dass es von der bekundeten Sehnsucht
nach dem Paradies zu tödlichen Taten mit-
ASIF HASSAN / AFP
* Am vergangenen Mittwoch vor ihrer Berliner Wohnung.
DER SPIEGEL
D
ie E-Mail an die „lieben Brüder
und Schwestern“, verschickt im
Morgengrauen des 9. April, war in
jener blumigen, zweideutigen DschihadProsa verfasst, die typisch ist für islamistische Internet-Seiten: „Ich bekomme jetzt
eine großartige Möglichkeit mit meinem
Baby, natürlich habe ich ein bisschen Angst
um mein Kind“, schrieb die Autorin, die
sich selbst als „Mutter Abdullahs“ bezeichnete, um 5 Uhr 32. „Deshalb will ich
euch bitten, für mich und mein Baby zu
beten, dass Allah, der Gepriesene, uns für
das Paradies akzeptieren wird.“
Der Weg ins vermeintliche Paradies endete jedoch für die Berlinerin Sonja B., 39,
offenbar bereits, bevor sie ihn antreten
konnte: Wie erst jetzt bekannt wurde,
durchsuchten Beamte des Landeskriminalamts in den Nachmittagsstunden des
23. April die Zwei-Zimmer-Wohnung der
alleinerziehenden Mutter, die nach Überzeugung der Ermittler die Urheberin
der Netzbotschaften ist. Während die
mit zwei Sprengstoffhunden angerückten
Staatsschützer die Fliesen im Badezimmer
ihrer Wohnung im Bezirk Neukölln aufstemmten, brachten Zivilbeamte die junge
Mutter im Rettungswagen in eine Klinik,
wo sie von Psychologen betreut wurde.
Sonja B.s zweijähriger Sohn ist inzwischen
in der Obhut des Jugendamts.
Deutsch, gläubig, jung, sucht und auf
der Suche nach einem direkten Weg zu
Allah – diese Mischung ist der Alptraum
der Sicherheitsbehörden. Die Ermittler
vermuten, dass die zum Islam konvertierte Deutsche in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet reisen wollte,
um sich dort als Märtyrerin im
Kampf gegen die Ungläubigen zu
opfern. Auch der Irak gilt den
Fahndern als mögliches Ziel.
Weil aber weder die Ankündigung eines Selbstmords noch die
Ausreise in eine Krisenregion
strafbar ist, ließen die Polizisten
die Frau nach mehreren Tagen
wieder laufen.
Frauen wie Sonja B. schlüpfen
leicht durch das Raster deutscher
Staatsschützer, weil sie keinem
gängigen Muster entsprechen. Sie
fallen in den Moscheen nicht auf,
d e r
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Matthias Gebauer, Sven Röbel, Holger Stark
PA R L A M E N TA R I E R
Verdichteter
Verdacht
In zwei Ländern regiert die
Linkspartei mit. Doch das Bundesamt für Verfassungsschutz
überwacht Funktionäre der Partei,
die im Bundestag sitzen.
I
m Deutschen Bundestag gilt Wolfgang
Nescovic, 58, als unkonventioneller
Typ. Im Juli wird er als Mitglied
des Parlamentarischen Kontrollgremiums
(PKG), das die Geheimdienste überwachen
soll, einen Schnupperkurs beim Bundesnachrichtendienst (BND) machen. Um die
Arbeit einer Behörde zu kontrollieren, hat
er sein Ansinnen begründet, müsse man
auch ihre Innenansicht kennen.
Demnächst dürften dem Mitglied der
Linksfraktion Nescovic noch ganz andere
Einblicke ermöglicht werden – etwa in die
Partei, die ihn für den Bundestag nominiert hat.
Kurioser könnte die Konstellation kaum
sein: Wenn Geheimdienstkontrolleur Nescovic darauf besteht, muss ihm der Chef
des Bundesamts für Verfassungsschutz,
Heinz Fromm, in geheimer Sitzung erklären, weshalb seine Beamten in der
Linkspartei bis heute noch „linksextremistische Bestrebungen“ erkennen können,
wie es im Verfassungsschutzbericht heißt.
Nescovic kann sogar Einsicht in vertrauliche Dossiers fordern, von denen die
Parlamentarier bislang nichts wissen: Aufzeichnungen über Funktionäre der Linkspartei, die im Deutschen Bundestag sitzen.
„Dass der Verfassungsschutz sogar Personenakten zu Abgeordneten führt, ist mir
neu“, sagt PKG-Mitglied Christian Ströbele (Grüne). „Diese Frage muss dringend
geklärt werden, entweder im Kontrollgremium, unter Umständen auch im Untersuchungsausschuss.“ Ein anderes PKG-Mitglied wittert bereits einen neuen „Geheimdienstskandal“.
In der Tat ist der Vorgang ohne Beispiel.
Denn das Kölner Bundesamt sammelt offensichtlich nicht nur Informationen zur
Linkspartei, sondern auch gezielt zu deren Spitzenfunktionären, selbst wenn diese bereits in den Bundestag eingezogen
sind. Nach SPIEGEL-Informationen führt
der Dienst Personenakten über mehrere
Linkspolitiker – und zwar nicht nur über
die bekennende Kommunistin Sahra Wagenknecht, sondern auch über Pragmatiker
wie Parteichef Lothar Bisky, Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch und Vorständler Bodo Ramelow. Alle drei sind Mitglieder des Deutschen Bundestags.
Erstmals hat das Amt diese spezielle Art
der Aufklärungsarbeit zumindest in einem
Fall ganz offiziell eingeräumt: Seit wenigen
Tagen ist Ramelow, Vizechef der linken
Bundestagsfraktion, im Besitz eines Briefs
des Bundesamts, in dem dieses mitteilt,
dass es zu seiner Person bis heute „verfassungsschutzrelevante Informationen sammelt und speichert“. Auch die Begründung
für die Anlage solch einer „Personenakte“
wird mitgeliefert: Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse, „insbesondere seiner
Funktionärstätigkeit für die Linkspartei“,
liege zu Ramelow „ein konkreter und verdichteter Verdacht in Bezug auf extremistische Bestrebungen vor“.
Solch hartes Urteil über einen Bundestagsabgeordneten ist politischer Zündstoff
– und eine Steilvorlage für Kritiker des
Bundesamts für Verfassungsschutz, dessen
* Mit Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch (5. v. l.), Kommunistin Sahra Wagenknecht (7. v. l.), Parteichef Lothar
Bisky (7. v. r.) und Vorstandsmitglied Bodo Ramelow
(2. v. r.) auf dem Parteitag am 30. April in Halle (Saale).
THÜRINGEN PRESS / ACTION PRESS
„Müll vermeiden“ mit drei Ausrufungszeichen dahinter. Die Vorhänge im dunklen
Grün des Islam lassen keinen Blick ins Innere zu, aber ab und an schallten Gebetssuren nach draußen. Bei ihrem Einzug hatte
ein in ein langes weißes Gewand gekleideter
Mann die Möbel getragen. Ihren Sohn schob
die Sozialhilfeempfängerin in einem dunkelblauen Buggy durch den Kiez, ein paar
Fußminuten weiter bietet eine Moschee mit
Leuten aus dem Umfeld palästinensischer
Radikaler Gelegenheit zum Gebet.
„Es war, als wollte sie sich oder ihren
Sohn vor irgendjemandem verstecken“,
berichtet eine Bekannte. Bevor Sonja B.
Anfang November bei Nacht und Nebel
aus dem Ost-Berliner Bezirk Treptow nach
Neukölln zog, soll sie Nachbarn von ihrer
Angst erzählt haben, jemand könne ihr das
Kind wegnehmen.
Welche Rolle die Hamburger al-NurMoschee spielte, in der Sonja B. früher gelegentlich verkehrte und welche ihr Mann
Abdulrahman Hussein M., von dem sie
mittlerweile getrennt lebt, untersuchen die
Ermittler derzeit noch. Vielleicht waren es
auch erst Freundschaften aus dem Umfeld
des internationalen Internet-Forums, in
dem sie sich öfter aufhielt, die sie dem
Dschihad näherbrachten.
Dort, in den virtuellen Weiten des Netzes, suchte sie offenbar sowohl Kontakte
als auch Unterstützung, in einem Kauderwelsch aus Englisch und Arabisch. Am
9. März meldete sich Sonja B. laut Ermittlern unter ihrem Pseudonym „Ummu Abdullah“ in dem einschlägig bekannten
Forum an, in dem „junge Dschihadisten
Tipps und Tricks austauschen“, wie Rita
Katz von dem auf Terrorismusforschung
spezialisierten Site-Institut in Washington
sagt. Einem Rechercheur von Site fielen
dann schließlich die eindringlichen Bitten
auf, sie in Gebeten zu berücksichtigen –
„eine eindeutige Ankündigung, fast ein
Abschiedsbrief“ vor dem Märtyrertod, wie
Katz glaubt. Allerdings warnen Ermittler
vor Panikmache; in den Chaträumen würden sich keineswegs reihenweise deutsche
Konvertitinnen zum Dschihad melden, die
„Mutter Abdullahs“ sei schon außergewöhnlich weit gegangen.
Als deren Ton Anfang April immer
schriller wurde, beschloss die von Site
alarmierte deutsche Polizei zuzugreifen –
zu groß schien den Staatsschützern das Risiko, dass die Frau in Berlin einfach unterund in einer der Krisenregionen dieser
Welt wieder auftauchen könnte, womöglich wie Muriel Degauque als Märtyrerin.
Sonja B. selbst, die tiefverschleiert wie
stets durch Neukölln läuft und sich öffentlich nicht äußern will, räumte einer Vertrauten gegenüber ein, auf islamischen
Web-Seiten gechattet zu haben – bestritt
aber, einen Selbstmordanschlag vorbereitet
zu haben: Sie werde von Polizei und Geheimdiensten zu Unrecht verfolgt.
Linkspartei-Bundesvorstand*: Extremistische Bestrebungen?
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Deutschland
ROLAND SCHEIDEMANN / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Einschätzung der umbenannten PDS doch Bundesamt mit jenem Brief ein, der eine
etwas gestrig wirkt. Schließlich ist die seit neue Debatte über Sinn und Unsinn der
mehreren Jahren in zwei Bundesländern PDS-Beobachtung entfachen dürfte.
Schließlich wird der schwere Vorwurf
an der Regierung beteiligt, jüngst flog Bisky ganz selbstverständlich im Gefolge von des Extremismus gegen Ramelow nicht beKanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Be- legt. Und wie schon die thüringischen Geheimen wollen auch die Kölner nicht alle
such nach China mit.
Nicht nur im politischen Umgang mit gesammelten Informationen offenlegen.
der Linkspartei stehen die Zeichen auf Ent- Wieder ist vage von „Quelleninformatiospannung. Viele Landesämter für Verfas- nen“ die Rede, zu denen man nichts Gesungsschutz haben ihre Beobachtung ein- naues erklären könne, auch wenn beteuert
gestellt, allenfalls sind noch linksradikale wird, dass zu seiner Person nur öffentlich
Splittergruppen wie das Marxistische Fo- zugängliche Materialien ausgewertet würrum oder die Kommunistische Plattform den. 16 Einträge aus seiner „Personenakte“
im Visier der Geheimen. In Berlin been- werden zumindest konkret benannt: seine
dete Innensenator Ehrhart Körting (SPD) Spenden für die Partei etwa, sein Aufstieg
an die Landesspitze der thüringischen
die Überwachung im Jahr 2003.
Demgegenüber wirkt jener 15-seitige, Linkspartei, Beiträge in Parteizeitungen
am 11. Mai in Köln verfasste Brief, der und im Partei-Pressedienst werden aufgeRamelow vorliegt, wie ein letzter Ausläu- listet, sein Treffen mit einer Delegation der
fer des Kalten Kriegs. Er ist Teil eines KP Chinas, seine Teilnahme an einem Gelangjährigen Rechtsstreits, mit dem Rame- werkschaftskongress, der angeblich von
low herausfinden will, welcher Dienst ihm Linksextremisten initiiert war.
Offen gibt das Bundesamt zu, dass
wann nachforschte und mit welcher Begründung dies auch dann weiter erfolgte, es auch nach seiner Wahl in den Bundestag Informationen zu ihm eifrig „sammelt
als er bereits Parlamentarier war.
Am 7. März 2002 hatte Ramelow, damals und speichert“. Verfassungsschutzchef
Fraktionschef im Thüringischen Landtag, Heinz Fromm bestätigt die Erhebung
„personenbezogener Daten“
beim dortigen Landesamt für
von Linkspolitikern und rechtVerfassungsschutz den Antrag
fertigt sie mit dem Ziel der Parauf Auskunft zu seiner Akte getei, den Kapitalismus zu überstellt. Inzwischen weiß er, wie
winden. Allerdings werde
groß die Sammelwut der Diens„nicht jedes einzelne Mitglied“
te war, die sich bereits seit 1986
beobachtet.
um ihn, damals noch GewerkDabei wissen die Rechtsexschaftsfunktionär in Hessen,
perten in Köln nur zu genau,
kümmerten.
wie brisant es ist, zu einem
Ramelow kennt mittlerweile
Bundestagsabgeordneten, der
– ganz offiziell – sogar Teile seiImmunität genießt und dessen
ner Personalakte beim thüFreiheit das Grundgesetz ausringischen Verfassungsschutz Dienstchef Fromm
drücklich schützt, eine „Perso(Aktenzeichen P 511 327/VS- Eifrig gesammelt
nenakte“ anzulegen. Deshalb
Vertraulich). In zwei Ordnern
hatten die thüringischen Geheimen zu- sind die Kölner auf einen skurrilen Kniff
sammengetragen, was der gen Osten ge- verfallen – auf die Teilung der Person
zogene Gewerkschaftsmann nun so im Ramelow in den Funktionär und den
Freistaat trieb: gegen Betriebsschließun- Parlamentarier. Zum Erstgenannten, heißt
gen protestieren, auf Parteitagen reden, es in dem Brief des Bundesamts, würde
Flugblätter verteilen, an Ostermärschen der Dienst Informationen sammeln, zu
Letzterem aber nicht. Die Rechte des dopteilnehmen.
Zusätzlich jedoch speicherten die Ge- pelten Ramelow seien deshalb durch eine
heimen in der elektronischen Schriftgut- „Beobachtungs- und Speichertätigkeit“
erfassung des Dienstes, genannt „Redo“, nicht „in relevanter Weise berührt“.
beinahe alles, was sich zu Ramelow fand: Schließlich ziele das Sammeln und AusSelbst die Anfrage eines Journalisten an werten nicht auf eine „Störung der Abgeden Innenminister Thüringens, in der Ra- ordnetentätigkeit“.
Das sieht der Betroffene, der von einem
melow lediglich erwähnt wird, wurde registriert. Sogar parlamentarische Anfragen „ungeheuerlichen Vorgang“ spricht, nades Landtagsabgeordneten Ramelow wur- turgemäß anders. Inzwischen hat er seine
den erfasst. Doch bis heute kennt der Be- Fraktionsspitze darüber informiert. „Grotroffene nicht die „Hinweise von Quellen“, tesk“ nennt Fraktionschef Gregor Gysi das
mögliche Spitzelberichte sind weiter ge- Verhalten der Verfassungsschützer. „Der
Bundestag soll doch die Geheimdienste
heim – weshalb er vor Gericht zog.
In diesem Rechtsstreit wurden auch die kontrollieren, nicht umgekehrt.“ Nächste
Aktionen des Bundesamts aktenkundig. Woche will die Fraktionsspitze nun ihre
Ramelow reagierte prompt und beauftrag- Abgeordneten auffordern, genau wie
te seinen Anwalt, auch bei der Behörde in Ramelow Anträge auf Aktenauskunft zu
Köln ein Auskunftsersuchen zu stellen. In stellen.
Stefan Berg, Holger Stark,
Steffen Winter
diesem zweiten Verfahren ließ sich nun das
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Kokainfund aus dem Motorsegler „Nadia“*: Von
K R I M I N A L I TÄT
Operation auf
dem Atlantik
Mit Segelyachten schaffen Drogenschmuggler immer häufiger ihre
Ware nach Europa – für Fahnder
sind sie kaum kontrollierbar.
A
uf dem Atlantik, nordwestlich der
Azoren, herrschte am 28. März
schwere See. Ein Sturm tobte, die
Wellen gingen bis zu 14 Meter hoch. Die
beiden deutschen Segler Rüdiger Sch., 56,
und Niko S., 30, hatten Mühe, die rund 15
Meter lange Stahl-Segelyacht „Nadia“ auf
Kurs Richtung Spanien zu halten.
Außer Sichtweite kämpfte sich ein
Schnellboot der spanischen Marine ebenfalls durch das tosende Meer. Aufmerksam
hielten die Militärs Ausschau nach der in
Flensburg registrierten „Nadia“. Es war
aber weniger die Sorge um die Segler, welche die Matrosen antrieb, sondern die Jagd
nach deren Ladung.
Erst als der Sturm sich gelegt hatte, wagten die Matrosen, die „Nadia“ zu entern
und nach Pontevedra in Galicien zu
manövrieren. Und dort, im sicheren Hafen,
holten die Beamten mehr als eine Tonne
nahezu reinen Kokains aus einem Hohlraum im Heck hinter der Ruderanlage.
Es war eine der größten Drogenlieferungen, die Fahnder jemals auf einer Segelyacht entdeckt haben. Aber auf solche
Boote haben Kollegen in Europa inzwischen ein besonderes Augenmerk. Denn
immer häufiger wird Kokain mit scheinbar harmlosen Segelyachten aus Südamerika nach Europa geschmuggelt. 16
Schmuggelboote mit insgesamt mehr als
* Im spanischen Hafen von Pontevedra.
Der Koks-Kurs
Segelrouten der Drogenschmuggler
über den Atlantik
Westwind-Drift
SPANIEN
Azoren
Kanaren
Bermudas
Atlantik
Kapverden
Karibik
BARBADOS
Passatwinde
SURINAM
KUBA
spanischen Militärs geentert
zehn Tonnen Kokain wurden 2005 aufgebracht. „Wir haben es hier mit einem neuen Phänomen zu tun“, sagt Karl-Heinz
Dufner, Chef der Rauschgiftfahnder beim
Bundeskriminalamt (BKA).
Die beiden deutschen Schmuggler hatten den Motorsegler in den Niederlanden
übernommen. Da hieß das Schiff noch
„Grafemberg“. Die Männer segelten die
Yacht ins südamerikanische Surinam, von
wo aus sie sich zum Jahreswechsel auf den
Weg zurück nach Europa machten. Ihre
letzte Station in Übersee war die Karibikinsel Barbados. Dort hatten die Segler ihre
Yacht umgetauft, und am 28. Februar stachen sie in See. Wegen der schweren Ladung lag die „Nadia“ zehn Zentimeter tiefer im Wasser als üblich.
Der Stoff an Bord hatte fast 90 Prozent
Reinheitsgehalt und hätte sich vor dem
Weiterverkauf leicht auf die doppelte
Menge strecken lassen. Doch ein abgefangenes Telefonat brachte die spanischen
Behörden auf die Spur der Deutschen. Der
mutmaßliche Auftraggeber, ein Italiener,
konnte sich rechtzeitig absetzen.
Kokainkonsument (in Berlin)
Eine Tonne Stoff im Heck
Wegen der steten Windsysteme über
dem Atlantik und der Strömungen nehmen Segler zwischen Europa und Amerika
fast immer jene Route, die schon Christoph
Columbus wählte. Sie führt von den Kanarischen Inseln Richtung Kapverden und
dann nach Westen, quer über den Atlantik.
Der Rückweg geht über die Bermudas bis
fast an den 40. Breitengrad und von dort
aus ostwärts (siehe Grafik). Und auf dieser Route sind nun immer mehr Drogenschmuggler unterwegs, ihre Ware verstecken sie in den Hohlräumen unauffälliger Segelyachten, die bislang kaum
kontrolliert wurden.
Fast 50 Tonnen Kokain wurden 2005 in
Spanien sichergestellt, knapp 10 Tonnen
davon fanden sich an Bord von Fischkuttern und Yachten. Von Spanien oder Portugal aus wird der Stoff dann in Europa
verteilt. Allein in Deutschland zog die Polizei 2005 knapp 1,1 Tonnen Kokain aus dem
Verkehr, rund zehn Prozent mehr als im
Jahr davor.
Trotz solcher Fahndungserfolge ist die
Droge offenbar unbegrenzt auf dem deutschen Markt verfügbar. „Auch größere
Sicherstellungen haben keinen wesentlichen Einfluss auf die Schwarzmarktpreise“, klagt Jürgen Maurer, Präsident der
Abteilung Schwere und Organisierte Kriminalität im BKA.
Im Kampf gegen den Drogenschmuggel sollen sich seine Fahnder künftig
noch stärker in Südamerika engagieren.
Denn am besten werden dort bereits die
Spuren der Drogensegler aufgenommen,
ist der Schmuggel auf kleinen Yachten doch anders kaum zu überwachen.
In den Weiten des Atlantiks haben die
Fahnder wenig Chancen, Yachten aufzuspüren oder gar zu kontrollieren – wenn
sie nicht schon vorher etwa durch Verbindungsleute in der Szene informiert
werden.
Für die Banden ist die Methode zudem
weitaus effizienter als der Einsatz von Kurieren, die den Stoff in Kondome verpackt
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schlucken und dann mit ein paar Gramm
im Bauch nach Europa fliegen.
So gelang es einer Bande von Drogenhändlern aus Berlin, rund zehn Jahre lang
regelmäßig große Mengen Kokain an Bord
von Booten über den Atlantik und dann
via Spanien nach Großbritannien zu transportieren. Mehr als zwei Jahre lang waren
deutsche, britische und spanische Fahnder
im Rahmen der „Operación Atlántico“ den
Schmugglern auf der Spur.
Die sechs Hauptverdächtigen sollen Millionen verdient haben. „Sie lebten in Saus
und Braus“, sagt ein deutscher Fahnder.
Sie besaßen Firmen, Häuser und Wohnungen in Südamerika und Spanien. Einer
der Hauptbeschuldigten, Michael Heinz
B., 62, lebte in einer Villa samt Schwimmbad und Kinosaal auf einem 27 000 Quadratmeter großen Grundstück in Estepona
bei Marbella.
Diverse Yachten soll die Bande über den
Atlantik geschickt haben, der letzte Törn
aber wurde ihr zum Verhängnis. Als der
blaue Zweimaster „Are Nui“ am 9. Mai
vergangenen Jahres die Karibikinsel St. Lucia verließ, klebte bereits ein kleiner Sender
im Boot. Eine Spezialeinheit des deutschen
Zolls hatte das Gerät in einem günstigen
Augenblick in Trinidad angebracht, wo die
Yacht wegen Motorschadens fünf Monate
lang gelegen hatte. Fortan war die „Are
Nui“, die von zwei Deutschen und einem
Österreicher gesegelt wurde, unter permanenter Überwachung.
18 Tage später brachte die spanische
Marine den komfortablen Segler 500 Kilometer westlich der Azoren auf. Schwerbewaffnete Soldaten enterten die Yacht und
steuerten sie in den Hafen von El Ferrol
an der spanischen Atlantikküste. An Bord
fanden sie dann mehr als 100 Kilogramm
Kokain.
Bis zu 400 Kilogramm Kokain soll die
Bande sonst pro Trip über den Atlantik
gebracht haben – ein äußerst lukratives
Unternehmen, meint Michael Grunwald
von der Berliner Staatsanwaltschaft. Der
Einkaufspreis pro Kilo habe bei etwa 3000
Euro, der Verkaufspreis bei 30 000 Euro
gelegen. Jeder Hochseetörn brachte so einen Multi-Millionen-Profit.
Fünf Komplizen der „Are Nui“-Crew
verhaftete das Crime Squad Birmingham in
Großbritannien, in Deutschland durchsuchte die Polizei 41 Wohnungen und
Büros, sechs Verdächtige wurden festgenommen. Die Anklage ist bereits gefertigt, der Prozess soll demnächst eröffnet
werden.
Die Hauptbeschuldigten sind weit über
50 Jahre alt. Das dürfte, so hoffen die
Ermittler, ihre Bereitschaft zur Aussage
deutlich erhöhen. Geständnisse wären
wohl der einzige Weg, die Freiheitsstrafen
etwas milder ausfallen zu lassen. „Ansonsten kommen die als alte Männer aus
dem Gefängnis“, prophezeit ein Fahnder.
Andreas Ulrich
49
Deutschland
ein älteres Modell. Selbst ein Kennzeichenfragment ist bekannt: Mehrere Buchstaben hat sich eines der Mädchen gemerkt.
Doch Kinder könnten sich irren, sagt
der Staatsanwalt, Haare kann man färben,
Kontaktlinsen ändern die Augenfarbe, das
Sonnenstudio kann man meiden, und Raucher haben keinen Eintrag im Pass. „Das
Auf der Suche nach einem SexualEinzige, was sicher ist, ist die DNA“, sagt
straftäter plant die Dresdner
Avenarius – deshalb das äußerst grobe RasPolizei den größten DNA-Massentest
ter bei dem Test.
Über tausend Fahrzeuge haben die ErDeutschlands. 80 000 Männer
mittler bisher überprüft, einmal hatten sie
sollen Speichelproben abgeben.
einen Volvo, sogar mit Spermaflecken auf dem FahrerUMFRAGE: SPEICHELPROBE
sitz, doch es war die falsche
DNA. Die Beamten suchten
„In Sachsen soll bald der
vergebens in Waschanlagen,
bisher größte DNA-Massentest
Autovermietungen und Autohäusern nach dem Mobil.
Deutschlands zur Aufklärung
800 einschlägig Vorbestrafte
von Sexualstraftaten beginnen:
wurden überprüft – all das
80000 Männer sollen Speichelohne Ergebnis.
proben abgeben.
Bis heute kennen die ErHalten Sie dieses Verfahren
mittler nicht einmal die
für angemessen?“
Tatorte. Der Unbekannte
hatte die Mädchen entführt
JA
und mit dem Wagen an
68 %
entlegene Orte in der Stadt
gebracht, um sich an ihnen
NEIN 30 %
zu vergehen. Wohin genau,
das wissen die Mädchen
TNS Infratest für den SPIEGEL vom 29. und 30. Mai;
nicht, aber die Fahnder
rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/
schließen aus anderen Hinkeine Angabe
weisen, dass der Täter sich
sehr gut auskennen muss in
Polizeibeamte bei DNA-Abnahme: Kriminalistisches Flächenbombardement ohne Beispiel
Dresden.
Eine hinzugezogene Psychologin glaubt,
o ganz wohl ist dem Dresdner Ober- puter schlichtweg die Adresse des Topdass sich der Mann selbst stellen könnte,
staatsanwalt Christian Avenarius bei verdächtigen ausgespuckt.
Die Erschütterungen reichten bis ins In- wenn der Fahndungsdruck nun durch den
seinem Rekordversuch nicht mehr.
Sein außergewöhnlicher Plan werde tat- nenministerium und in die Polizeispitze, Massentest zu groß wird. Denn bei aller
sächlich zu einem „kriminalistischen Flä- ein neues Desaster bei diesem sensiblen Brutalität in der Tat – die Mädchen wurchenbombardement“ führen, einer Treib- Thema kann sich niemand erlauben. Nur: den schwer verwundet – hat sich der Unjagd ohne Beispiel in der deutschen Poli- Das sächsische Landeskriminalamt kann bekannte danach fast fürsorglich verhalzeigeschichte. Und noch dazu einer Hatz, derzeit gerade mal 1000 DNA-Proben pro ten. Statt die Kinder einfach auszusetzen,
Monat auswerten. Ohne Hilfe von außen brachte er sie dorthin zurück, wo er sie in
deren Ausgang reichlich ungewiss ist.
Avenarius plant derzeit den größten würde die Aktion also fast sieben Jahre sein Auto gelockt hatte. Die Ermittler geDNA-Test, den es in Deutschland je gege- dauern – mit privaten Spezialfirmen ver- hen zudem davon aus, dass der Mann sehr
gut mit Kindern umgehen kann. Dieser
ben hat: Ab Juli sollen 80 000 Männer aus handeln die Ermittler noch.
Als verdächtig gelten inzwischen alle weiche Kern, so die vage Hoffnung, könndem Raum Dresden Speichelproben abliefern. Die ganze Auswertung kann sich über Männer in Dresden und Umgebung zwi- te ihn nun zur Aufgabe bewegen. „Wir
Jahre hinziehen und soll nach ersten gro- schen 25 und 45 Jahren mit einer Körper- wollen zeigen, dass wir keine Ruhe geben Kalkulationen mindestens 2,2 Millio- größe zwischen 1,65 und 1,85 Meter. Für ben“, sagt Thomas Herbst von der Dresdsie hat das Amtsgericht Dresden auf ner Polizei.
nen Euro kosten.
Und mit Treibjagden kennen sich seine
Die Hatz gilt einem Mann, der im Sep- Grundlage eines neuen Paragrafen in der
tember 2005 in Dresden und im Januar Strafprozessordnung den DNA-Test ange- Kollegen aus. 2003 hatten bei Torgau Jah2006 in Coswig jeweils ein Mädchen brutal ordnet. Allerdings bleibt die Teilnahme re nach einem Doppelmord schon einmal
missbraucht hat. Die Kinder haben den Tä- freiwillig. Wer nicht hingeht, kann nur ge- 15 000 Männer ihre DNA-Probe abgegeter beschrieben, es gibt einen Hinweis auf zwungen werden, wenn Polizisten konkre- ben. Gefunden wurde der Täter dann jedas Tatfahrzeug, und es gibt vor allem eine tere Anhaltspunkte für eine mögliche Tä- doch nicht in der Stadt, sondern sicher
verwahrt in der geschlossenen Psychiatrie
DNA-Spur, die bei beiden Vorfällen iden- terschaft vorlegen.
Dabei hat die Polizei durchaus Hinwei- Uchtspringe, wo er wegen eines anderen
tisch ist.
Die Ermittler müssen ihn fassen, der Er- se, die ein engeres Raster zuließen. Denn Mordes saß. Seine DNA war allerdings
folgsdruck ist enorm. Denn zum einen der Täter soll zwischen 30 und 40 Jahre nicht in die Gendatei des Bundeskrimiwarnen Psychologen, dass er jederzeit wie- alt und eher schlank sein, er soll blaue Au- nalamts gelangt. Zur finalen Speichelprobe
der zuschlagen könnte. Die Einwohner gen und eine recht dunkle Haut haben, er kam die Soko „Wald“ aber dann doch
sind extrem verunsichert, im Norden Dres- trug einen Ohrring, und er raucht. Wahr- knapp zu spät: Der Mann hatte sich geradens sieht man kaum noch Mädchen zu scheinlich fuhr er einen silbergrauen Volvo, de in seiner Zelle erhängt. Steffen Winter
FA H N D E R
KÖHLER / ULLSTEIN BILDERDIENST
Treibjagd
in Sachsen
Fuß in die Schule gehen. Zum anderen hat
sich die Dresdner Polizei in einem anderen
Missbrauchsfall eine grobe Ermittlungspanne geleistet: Als im Januar die 13-jährige Stephanie in Dresden entführt und fünf
Wochen lang sexuell missbraucht wurde,
kamen die Beamten dem Täter erst auf die
Spur, als das Kind einen Zettel aus dem
Haus schmuggeln konnte. Dabei wohnte
der Mann ganz in der Nähe des Entführungsortes – und war auch noch einschlägig vorbestraft: Die Beamten hatten
jedoch das polizeiliche Auskunftssystem
nicht richtig bedient, sonst hätte der Com-
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Deutschland
CHRISTEN
Himmlische
Lösung
Erstmals könnte ein geweihter
Priester Oberbürgermeister einer
deutschen Großstadt
werden – für die SPD. CDU und
Kirche reagieren scharf.
D
Zum Zorn der Christdemokraten kommt
Angst. Als Nachfolger des 2007 aus Altersgründen abtretenden CDU-Oberbürgermeisters Hildebrand Diehl, 66, wollen sie
den amtierenden Stadtkämmerer Helmut
Müller ins Rennen schicken. Er gilt zwar
als Fachmann, der bis spät nachts im Rathaus über Zahlen brütet, wirkt aber
gegenüber dem quirligen Kirchenmann so
lustig wie ein Sack Zement.
Dass der Priester schon deshalb ein
„ernstzunehmender Gegner“ (Klee) ist,
wird von der CDU nicht bestritten. Die
Partei wehrt sich aber dagegen, die hässlichen Gerüchte über Roth in die Welt gesetzt zu haben. Seit Bekanntgabe seiner Kandidatur wird behauptet, der zur
Keuschheit verpflichtete Priester habe eine
Freundin – eine blonde Kriminaloberrätin
vom Bundeskriminalamt.
Die Fahnderin, die öfters an Roths Seite in Wiesbadener Kneipen auftaucht,
räumt eine „persönliche Freundschaft“ ein,
möchte aber weiter nichts sagen. Und der
Kandidat dementiert: „Ich habe keine Liebesbeziehung, nur einen großen Freundeskreis. Dazu gehören auch Frauen.“
ARNE DEDERT / PICTURE-ALLIANCE / DPA (L.); FRIEDRICH WINDOLF (R.)
as Abstimmungsergebnis fiel eindeutig aus: Von 132 Delegierten
stimmten 130 mit Ja. Anschließend
feierten die Wiesbadener Sozialdemokraten ihren neuen Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl im Frühjahr 2007 mit
minutenlangen Ovationen.
Noch verblüffender als der Grad der
Einmütigkeit ist die Person des Kandidaten. Ausgerechnet die Sozis mit ihrem Faible für Stallgeruch setzen auf einen parteilosen Außenseiter: den 53-jähri-
lerhöchsten zustande gekommen. Als ihm
die Kandidatur angetragen wurde, habe er
sich als Erstes gefragt: „Was will in dieser
Situation Gott von dir?“ Und Gott habe
jedenfalls nicht nein gesagt. „Der will von
mir, dass ich mein Leben in den Dienst
von Menschen stelle. Und das kann ich
auch als Oberbürgermeister.“
Für die Genossen – viele sind längst aus
der Kirche ausgetreten – gilt der Priester
seitdem als Heilsbringer. Mit dem Geistlichen als Menschenfischer wollen die gebeutelten Wiesbadener Sozis, die bei den letzten
Wahlen von 34,7 auf 30,2 Prozent absackten,
endlich wieder siegen lernen. „Der Mann ist
ein echter Knaller“, glaubt der Wiesbadener
Parteichef Marco Pighetti. Der frühere SPDOberbürgermeister Achim Exner schwärmte
gar von einer „himmlischen Lösung“.
Die Kandidatur ist jedoch umstritten.
Weil es katholischen Priestern laut Kirchenrecht streng verboten ist, „öffentliche
Ämter anzunehmen, die eine Teilhabe an
der Ausübung weltlicher Gewalt mit sich
bringen“, liegt Roth im Clinch mit den Kirchenoberen. Der Limburger Bischof Franz
Kamphaus stauchte ihn wegen „Unge-
Kandidat Roth vor dem Wiesbadener Rathaus, Priester Roth: „Was will in dieser Situation Gott von dir?“
gen Wiesbadener Stadtdekan Ernst-Ewald
Roth – einen katholischen Priester.
So etwas hat es seit Bestehen der Bundesrepublik noch nicht gegeben: Katholische Geistliche betätigten sich zwar immer
mal wieder als Einflüsterer christdemokratischer Regierungen, ein höheres Amt
aber übernahmen sie nie. Dass ausgerechnet die SPD mit diesem Tabu brechen will,
erzürnt die CDU und die Kirche, die nun
versuchen, Roth zu verhindern.
Denn der wortgewaltige Prediger Roth –
ein Mann mit grauen Schläfen und markanten Zügen – ist populär und entspricht
durchaus sozialdemokratischem Anforderungsprofil: Er wetterte gegen den IrakKrieg, geißelt Auswüchse des Kapitalismus, kümmert sich als gelernter Sozialarbeiter um Obdachlose und klappert für
Bedürftige mit der Sammelbüchse.
Sein Schritt in die Politik, versichert
Roth, sei in enger Absprache mit dem Al54
horsams“ zusammen, suspendierte ihn von
allen seelsorgerischen Aufgaben. Der Kirchenmann darf nicht mehr taufen, niemanden mehr trauen oder beerdigen.
Ausnahmen gestattet die katholische
Kirche ihren Priestern höchstens, um die
Demokratisierung in Entwicklungsländern
zu fördern. „Aber Wiesbaden ist nicht
Sierra Leone“, sagt Kamphaus.
Trotz seiner Suspendierung bleibt Roth
freilich Priester. Falls er nicht gewählt wird,
kann er beim Bischof um Rückkehr zu Altar und Kanzel bitten. Bis zur Wahl kassiert
er ein reduziertes Gehalt, das sogenannte
Tafelgeld – ein Umstand, der besonders
den politischen Gegner wurmt.
„Wahlkampf auf Kosten der Kirchensteuerzahler“ sei das, schimpft der Wiesbadener CDU-Vorsitzende Horst Klee, der
dem bislang auch bei Christdemokraten
beliebten Stadtdekan seit dessen Einsatz
für die SPD nicht mehr grün ist.
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„Persönlich habe ich da Zweifel“, sagt
Bernhard Lorenz, CDU-Fraktionschef
im Wiesbadener Stadtparlament. Katholik Lorenz, der früher als Messdiener
bei Roth jahrelang das Weihrauchfass
schwenkte, versichert aber, das heikle
Thema werde im Wahlkampf nicht aufgegriffen: „Wir werden nicht darin herumrühren.“
Bei katholischen Fundis ist der abtrünnige Priester ohnehin unten durch. Gläubige aus seiner Gemeinde werfen ihm
„Treulosigkeit“ und „Fahnenflucht“ vor,
übers Internet wird der „elende Wechselbalg“ aufgefordert, seinen Schritt rückgängig zu machen, seine Sünden zu bereuen und Buße zu tun.
Zumindest Buße muss Roth eh bald tun:
Die Wiesbadener SPD hat 28 Ortsvereine.
Bis zur Wahl muss der Kandidat bei allen
seine Aufwartung gemacht haben.
Bruno Schrep
Deutschland
LEBENSMITTEL
Delikatessen
mit Gift
Importeure drängen mit Fischen
und Shrimps aus Asien auf
den Markt – doch die Tiere sind oft
mit Parasitenkillern verseucht.
58
HOANG DINH NAM / AFP
D
as Tier hat alle Voraussetzungen für
einen Verkaufserfolg: Sein Fleisch
ist weiß und saftig, es schmeckt
mild und hat wenig Fett. Und deshalb liegt
der exotische Speisefisch namens Pangasius – aus der Familie der Haiwelse –
inzwischen schon auf Platz zwölf der
beliebtesten Importfische in Deutschland.
Doch der Fisch stammt, wie auch viele
Shrimps und Krabben, vor allem aus
Aquakulturen in Asien. Und die Züchter
dort scheren sich offenbar wenig um
die Gesundheit der Kunden im fernen
Deutschland. Auf jeden Fall finden deutsche
Lebensmittelkontrolleure immer häufiger
importiertes Meeresgetier, das mit Malachitgrün belastet ist – einem für die Nutztierhaltung streng verbotenen Gift, das sehr
effektiv Parasiten tötet, aber im Verdacht
steht, beim Menschen Krebs auszulösen.
Die Funde sind auch ein Musterbeispiel
dafür, wie schlecht es trotz vollmundiger
Politikerversprechen nach dem Gammelfleischskandal immer noch um die deutsche Lebensmittelkontrolle bestellt ist.
Denn der Verbraucher hat bislang noch
nichts von ihnen erfahren: Während etwa
einige US-Staaten im vergangenen Jahr
einen generellen Importstopp für den
besonders häufig vergifteten Pangasius
verhängten, verschwinden deutsche Messergebnisse oft zwischen den Aktendeckeln
der zuständigen Behörden.
Kenner des Fischmarkts vermuten seit
langem, dass der Boom asiatischer Aquakulturen auch hemmungslosem Chemikalieneinsatz zu danken ist. 60 000 Tonnen
Fische, Krebs- und Weichtiere importiert
Deutschland jährlich allein aus Südostasien.
Rasante Steigerungsraten verzeichnen vor
allem Thailand und Vietnam, die Heimatländer des Pangasius.
In Südkorea hantieren die dortigen
Fischzüchter laut einer Studie mit 140 verschiedenen Antibiotika – viele davon sind
weder für Menschen noch Tiere zugelassen.
Von Januar 2005 bis Mai 2006 meldete
das EU-Schnellwarnsystem RASFF (Rapid
Alert System for Food and Feed) offiziell 60
mit Malachitgrün vergiftete Lieferungen.
51 der betroffenen Chargen stammten aus
Südostasien.
Doch die Zahlen spiegeln keinesfalls die
Realität auf dem deutschen Fischmarkt
wider. Allein das Untersuchungsamt Cux-
Fischfarm in Vietnam: Boom durch hemmungslosen Chemikalieneinsatz
haven fand im Jahr 2005 in 15 Fischproben
Malachitgrün, rund jede zehnte untersuchte Charge war somit verseucht. Aber:
Im wöchentlich zur Warnung der Verbraucher herausgegebenen Bulletin des
RASFF taucht längst nicht jeder dieser
Befunde auf.
Der Grund dafür liegt in der Struktur der deutschen Lebensmittelkontrolle. Die Proben werden in der Regel von
Mitarbeitern der Kreisveterinärämter genommen. Die schicken sie weiter an die
Landesuntersuchungsanstalten. Und der
Kreisveterinär entscheidet anschließend,
ob er die ihm übermittelten Informationen weiterleitet, dem Importeur selbst
mal auf die Finger klopft – oder beides
bleiben lässt. Er handelt zwar im Auftrag seiner Landesregierung, dienstlich ist
er jedoch den Landräten oder Kreisdirektoren unterstellt, die es sich mit den in
ihrem Beritt Steuern zahlenden Verarbeitungs- und Importbetrieben nicht verderben wollen.
Heiß begehrte Ware
16
Import von Fischen und Fischzubereitungen aus Vietnam in
tausend Tonnen
14
12
10
8
6
4
2
Quelle: Statistisches Bundesamt
2001
2002
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2003
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2004
2005
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Ärger machen neben Malachitgrün auch
Antibiotika. Zum dritten Mal innerhalb von
sechs Monaten meldete das RASFF am
20. April den Fund hoher Konzentrationen
Ciprofloxacin und Enrofloxacin in Fischprodukten aus Fernost. Sie zählten zu den
„wichtigsten Antibiotika“ im Krankenhaus,
sagt Norbert Schnitzler vom Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte –
wer sie an Fische verfüttert, nimmt in Kauf,
dass Patienten resistent werden und ihnen
die Mittel nicht mehr helfen.
Noch öfter verzeichnen europäische
Kontrolleure Spuren des seit 1993 in der
EU verbotenen Bakterienkillers Nitrofuran. Das ebenfalls krebserregende Mittel
wurde in den vergangenen 16 Monaten laut
RASFF in 53 Lieferungen von Shrimps und
Fischen aus Südostasien gefunden.
Nur ein „schneller und systematischer
Austausch von Informationen“, sagen Experten wie Christian Grugel, Chef des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, könne die Sicherheit
von Lebensmitteln erhöhen. Aber Stefan
Effkemann, Laborleiter des Instituts für
Fischkunde in Cuxhaven, fand etwa in
diesem Jahr Nitrofuran in Aalen und Malachitgrün in Forellen aus Deutschland. Die
Messungen der Chemiefische tauchten niemals in der RASFF-Statistik auf.
Mit einem schärferen Vorgehen ließe
sich die Affäre um verseuchten Fisch zügig
beheben. Müssten die Lebensmittelkontrolleure grundsätzlich öffentlich vor vergifteter Ware warnen – wie es in den USA
der Fall ist –, könnte dies die Importeure
empfindlich treffen. Zudem benötigt jeder
Betrieb, der Lebensmittel tierischer Herkunft in die EU liefert, eine Zulassung.
Würden die Behörden die Genehmigungen
für Hersteller und Händler, die gedopten
Fisch auf den Markt bringen, zurückziehen, dürften sich die Probleme schnell
erledigen.
Frank Brendel, Udo Ludwig
Gesellschaft
Szene
George (im dunklen Anzug)
BI LDBÄNDE
SPRACH FORSCHUNG
Wilde Heimat
Brabbeln auf ewig
D
ie Hässlichkeit des Daseins – Juergen Teller glaubt ans Ungeschönte. Er hat Models in Verrenkungen geknipst, mit
Narben und fettigen Haaren. Er hat mit der Verkleidungskünstlerin Cindy Sherman alle Kostüme dieser Welt probiert und zuletzt
die elegante Madame Rampling im luxuriösen Dekor fotografiert
– während er als nackter Wilder durchs Format hüpfte. Und nun,
da er endlich weltberühmt ist, kehrt er zurück und nimmt sich
Deutschland vor: „Nürnberg“ heißt Tellers neuer Bildband, Aufnahmen von den Stätten seiner Kindheit. Da lacht eine Oma aus
einem Fenster, da dreht sich ein abgefressenes Spanferkel auf
dem Grill, und im verschneiten Wald sitzt ein nackter, schwabbeliger Fotograf – Teller. Dass er dennoch die besten schlechtesten
Bilder macht, beweist er mit diesem Buch: Teller gelingen Fotos,
die man nicht vergisst – Tellers Heimat, das ist Kitsch, Kälte und
Liebe, die übliche Mischung der Gefühle.
Teller-Foto „Smiling Ed“
T
ruman Burbank
brauchte 29 Jahre,
um festzustellen, dass
sein Leben von Geburt
an aufgezeichnet wurde.
Das war Hollywood, Jim
Carrey als Hauptdarsteller, 1998 in „Die Truman
Show“. Der Sohn von
Deb Roy ist neun Monate alt und hat noch keine Ahnung, dass seine
Laute und Bewegungen
der Nachwelt erhalten
bleiben – denn das ist
Teil eines Forschungsprojekts am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge.
Wissenschaftler Roy
Roy ist Medienwissenschaftler und will, gemeinsam mit dem bekannten Linguisten Steven Pinker, herausfinden, wie ein Kind sprechen
lernt. 11 Kameras und 14 Mikrofone hat er dazu in seiner
Wohnung installiert, die jede Bewegung und jedes Gebrabbel seines Sohnes bis zu dessen drittem Geburtstag registrieren werden. 300 Gigabyte komprimierter Daten sammelt
Deb Roy pro Tag. Ethische Bedenken hat er dabei nicht:
Die Aufzeichnungen dienen schließlich der Wissenschaft.
Sorgen bereitet Roy allerdings etwas anderes: „Meine
Stromrechnung hat sich in den letzten Monaten vervierfacht.“
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MIT
Der Präsident des US-Autorennens Indy
500, Tony George, 46, über Rennfahrer
und Flieger
„Die Jungs auf dem Foto sind keine Piloten, sie sind Rennfahrer. Zum 90. Indianapolis 500 wollte ich ein besonderes
Gruppenfoto. Es sollte eine Verbindung
zum Militär schaffen, seit 1911 findet das
Rennen jedes Jahr zum Memorial Day
statt, dem Gedenktag für unsere Kriegsgefallenen. Also habe ich den ehemaligen
Flugzeugträger USS ‚Intrepid‘ gemietet,
heute ein Museumsschiff vor New York.
Mit den 33 Fahrern flog ich nach New
York, an Bord hatten wir den BorgWarner-Pokal, auf dem die Gesichter aller
bisherigen Gewinner eingraviert sind.
Letzten Sonntag war es dann so weit, mit
den Worten ‚Ladys and Gentlemen, start
your engines‘ gab meine Mutter Mari das
Startkommando für die 200 Rennrunden.
Gewonnen hat Sam Hornish, der steht
auf dem Foto rechts hinter mir.“
MARY ALTAFFER / AP
Was war da los,
Mr George?
Gesellschaft
Szene
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
Der perfekte Experte
In 78 Sekunden zum TV-Star
62
verfällt in Laufschritt. Es geht um Sekunden, okay?
Um Sekunden? Die Bewerbung liegt
doch Monate zurück, aber Guy ist kein
Spielverderber, er rennt mit. Mal ehrlich, die Briten sind doch alle irre.
Ein Fahrstuhl, ein Flur, ein kleiner
Raum. Schnell pudern, sagt der junge
Mann.
Pudern? Damit du nicht glänzt, Süßer, die Maskenbildnerin hat eine rauchige Stimme und ein Schminktäschchen am Gürtel und wutscht mit dem
Pinsel über sein Gesicht.
CAMERA 4 / IMAGO
B
eifall rauscht, Gelächter, Jubel,
sie erkennen ihn, sein Foto war
ja in allen Zeitungen, „talk of the
town“, schrägste Story Londons, und
winkend stapft er bis zu der roten Bühnenmarkierung, genau wie der Regisseur es ihm erklärt hat, blinzelt in
die Scheinwerfer, grient, ein schwerer
schwarzer Mann, Schweißtröpfchen auf
der stumpfen Nase, zwischen den
Schneidezähnen eine Lücke.
Wenn seine Eltern ihn jetzt sehen
könnten. Guy, we love you, rufen sie. In
den vorderen Stuhlreihen sitzen hübsche Mädchen. Er wirft eine Kusshand,
rum-bum-bum-bum, jetzt trampeln sie
sogar mit den Füßen, kreischen.
Guy, we love you! Rum-bum-bum.
Gestern noch ein Arbeitsloser, und
jetzt der Eröffnungsauftritt in „Friday
Night“, der beliebtesten Fernsehshow.
Sie lieben ihn, ein Star ist er, Guy
Goma, 36 Jahre alt, aus Brazzaville im
Kongo, doch wie es dazu kam?
Er hat keine Ahnung.
Der Aufstieg des Guy Goma beginnt
elf Tage zuvor, am 8. Mai, um 10.27 Uhr,
beginnt im Erdgeschoss eines gläsernen Turms, im Westen von London, im
Foyer der BBC. Guy hat sich als Buchhalter beworben. Er trägt sein bestes
Hemd, hellblau, das graue Sakko hat er
reinigen lassen. Er hat dem Pförtner seinen Namen genannt, Zettel ausgefüllt,
jetzt wartet er.
Hier ist viel los, Guy staunt. Ständig
schlägt die Schwingtür, schöne Frauen
klackern durchs Foyer, eilige Männer
mit Plastikausweisen um den Hals, Regisseure, Schauspieler – und übrigens
steht zur selben Zeit ein unauffälliger
Mann an der Rezeption, rotblonder
Bart, der ebenfalls Guy heißt, Guy
Kewney, Fachmann für Rechtsfragen im
Internet. Es gab ein Gerichtsurteil an
diesem Morgen, ein Streit in der Computer- und Musikindustrie; eine recht
öde Sache, aber ein Thema fürs BBCFrühstücksfernsehen, und Guy mit dem
Bart ist jedenfalls als Experte geladen.
Um 10.28 Uhr kommt ein junger,
atemloser Typ und fragt nach „Guy“.
Das bin ich, sagt Guy Goma, der Guy
ohne Bart.
Okay! Cool! Der junge Mann redet
sehr schnell. Hey, toll. Nett, Sie kennenzulernen, bitte mitkommen – der Typ
Goma beim Fernsehauftritt*
Aus der „tageszeitung“
Nicht glänzt?
Okay, und das Mikro stecke ich ans
Revers, rasch bitte, okay? Der junge
Mann fummelt an ihm, schon sitzt Guy
im Sessel, schon stellt ihn eine blonde
Karen Sowieso vor als Herausgeber der
Technology-Website „Newswireless“.
Wie? Moment. Guy erschrickt. Er
zuckt, lächelt verzerrt. Seine Augenlider flattern. Er möchte was klarstellen,
hier liegt ein Irrtum vor, aber anscheinend sind sie schon auf Sendung.
* Die BBC-Aufnahme kann eingesehen werden auf
SPIEGEL ONLINE unter www.spiegel.de/panorama/
bbc-interview.
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„Hallo und guten Morgen!“
Kamera. Auf ihn gerichtet. Rotes
Licht. Blonde Frau starrt ihn an.
„Hat dieses heutige Urteil Sie erstaunt?“
Guy ist erstaunt, und wie. Aber er
antwortet – er antwortet ausweichend,
nichtssagend und irgendwie tapfer.
Die Moderatorin reagiert, als hätte
sie gerade die faszinierendste Antwort
der Welt bekommen. Nächste Frage:
„Werden, mit Blick auf die Kosten, Ihrer Meinung nach mehr Leute online
downloaden?“
Blick auf Kosten? Welche Kosten?
Welche Leute?
Äh, hm, eigentlich, antwortet Guy,
sieht man doch überall Leute, die irgendwas aus dem Internet downloaden. Aber
ich denke, äh … Es ist besser für die
Entwicklung und, äh … Und um Leute
zu informieren, was sie wollen, und damit
sie schneller kriegen, was sie wollen …
Guy wird von Antwort zu Antwort
sicherer. Nächste Frage: „Es scheint, die
Musikindustrie macht Fortschritte, weil
immer mehr Leute downloaden?“
Guy will gerade ansetzen, jetzt allerdings erfährt Karen, dass sie den
Falschen erwischt haben. Der richtige
Guy wartet noch im Foyer, und was er
da auf den Fernsehern sieht, vor allem
sein eingeblendeter Name, missfällt
ihm. Im Studio sieht Karen plötzlich
aus, als hätte sie was Verfaultes im
Mund. „Vielen Dank, wir schalten um.“
An den Rest kann sich Guy kaum erinnern. Derselbe junge Typ, jetzt betreten, geleitet ihn ins Foyer. Nach einer
halben Stunde holt man ihn wieder ab,
diesmal zum Vorstellungsgespräch, leider herrscht in seinem Kopf nur Leere.
Weil es anfangs hieß, er sei ein Taxifahrer, dauerte es ganze acht Tage, bis
ihn die Rechercheure der „Sun“ endlich
fanden. Guy erzählte ihnen treulich
seine Geschichte, erzählte sie auch
„Daily Mail“, „Daily Telegraph“, den
Radio- und Fernsehleuten von GMTV,
ITN, Channel 4, CNN, Capital Radio,
den Teams aus Japan und Neuseeland,
er war der perfekte Experte, der ein
für alle Mal bewies, worum es im Fernsehen geht: Jemand fragt, jemand antwortet, und das reicht. Die Krönung
für Guy war die Einladung zu „Friday
Night“. Das Honorar betrug 100 Pfund.
Und so steht er jetzt auf der Bühne
von Studio vier und wirft Kusshände
und genießt den Applaus, genau 30 Sekunden lang. Guy, we love you. Sein
Auftritt als Experte hatte allerdings
48 Sekunden länger gedauert. Vielleicht
ist dies der Anfang des Vergessenwerdens.
Ralf Hoppe
Gesellschaft · Sport
Nationalmannschaft vorm Brandenburger Tor: „Ich bin mit Sicherheit kein extremer Patriot“
CAMERA 4 / IMAGO
W E LT M E I S T E R S C H A F T
„Wir brauchen einen Rausch“
Das Berliner Regierungsviertel verwandelt sich in eine Fan-Meile, die Polit-Prominenz
drängt ins Rampenlicht. Die Fifa-Fußball-WM 2006 in Deutschland, das größte Sport- und Medienspektakel der Nachkriegszeit, ist auch ein politisches Großereignis. Von Jürgen Leinemann
R
egiert Fußball die Welt? Seufzend
nimmt Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble das Motto einer
Veranstaltung auf, zu der im Mai Parlamentarier aus den Teilnehmerländern
der „Fifa WM 2006“ in der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung zusammengekommen
sind: „Man neigt dazu, die Frage zu bejahen.“
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Natürlich widerruft der Minister am
Ende pflichtschuldig seine Aussage. Aber
dass ihm solche Anwandlungen gar nicht
erspart bleiben können, dafür sorgt in der
Hauptstadt die optische Allgegenwart „der
größten internationalen Veranstaltung, die
in Deutschland je stattgefunden haben
wird“, wie Gerhard Schröder zu schwadronieren pflegte, als er noch Kanzler war.
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Eine Fußballarena unmittelbar vor dem
Reichstag. Ein Fernsehturm, dessen Kuppel
zum Fußball mutiert ist. Der Fußballglobus
am Brandenburger Tor. Die eingezäunte
Renommierallee zwischen Siegessäule und
Pariser Platz, die als Fan-Meile dient. Vor
allem aber jene zwei gigantischen Fußballstiefel, die – je 12 Meter lang, 5 Meter hoch,
4,5 Meter breit und 20 Tonnen schwer – in
Die Vorfreude war groß, sie wurde von mehr läuft. Mythen reduzieren komplexe
Sichtweite des Kanzleramts auf dem grüUnternehmen, Politik und Medien bis zur Botschaften auf einfache Codes. Sie transnen Rasen herumstehen.
An diesen Schuhen ist alles ein paar Hysterie zusätzlich angeheizt. Jeder Bürger portieren Zuversicht und Selbstvertrauen,
Nummern zu groß – die Ausmaße, der sollte Deutschland sein – jeder ein Freund indem sie suggerieren, der Mensch habe
für unsere Gäste, ein Wunder an guter sein Schicksal selbst in der Hand, ErfolgsAufstellungsort und die Symbolik.
Kinder rutschen auf den silberglasierten Laune, ein Weltmeister der Organisation. geschichten seien wiederholbar.
„Wir sind wieder wer“, jubelten damals
Töppen herum, Touristen posieren davor „Wir brauchen eine Stimmung wie einen
zum Familienfoto. Und jeder weiß die drei Rausch“ wünscht sich Peter Danckert Millionen Deutsche, denen noch der TrümStreifen auf den Sportschuhen zu deuten – (SPD), der Vorsitzende des Sportausschus- merstaub des verlorenen Krieges in den
Reklame. Aber das ist eben ein Irrtum, wie ses im Deutschen Bundestag, „am besten verschlissenen Klamotten hing. Und wer
und was und wie sind wir heute?
ein Schild aufklärt, oder wenigstens fast – auch einen Kaufrausch.“
Das Land überzog sich mit Fußballweil nämlich die Schuhe zwar werben,
aber eben nicht für Adidas speziell, son- opern, -revuen, -ausstellungen, -lesungen,
enn Angela Merkel darüber redet,
dern für Deutschland schlechthin, das sich mit Kicker-Werbespots, schwarzrotgoldewas sie am Fußball faszinierend
nen „Dessous für heiße Fußballnächte“, findet, dann schützt sie sich vor der Geals „Land der Ideen“ anpreist.
Die erste Idee ist, dass die Schuhe natür- Weltmeister-Anlagefonds und den Grinse- fahr, nicht ernst genommen zu werden,
lich auf die WM 2006 verweisen. Dass die masken des offiziellen Fifa-Emblems indem sie selbstironisch lächelt. „Ich bin
ja, was dieses Thema angeht,
Skulptur im Regierungsviertel
in einer ,No win‘-Situation“,
steht und signalisiert, wie begrient sie. Niemand werde
dingungslos sich die deutsche
ihr abnehmen, dass sie sich
Politik hinter dieses Event
seit ihrem siebten Lebensstellt und wie hemmungslos
jahr für das Spiel interessiert
sie davon zu profitieren trachhabe, ohne natürlich selbst
tet – das ist die zweite.
spielen zu können. Aber soll
Und drittens schwingt in
sie etwa damit rumprotzen,
der Verherrlichung der
dass sie sich schon als Sturechtzeitig zur WM 1954
dentin in Leipzig beim Spiel
erfundenen SchraubstollenDDR gegen England den
schuhe, die der HerbergerHintern abgefroren habe?
Elf auf rutschigem Boden
Dabei scheut sich die
festen Halt und damit den
Kanzlerin überhaupt nicht,
Weltmeistertitel verschaffmitzureden. Demonstrativ
ten, die Hoffnung auf eine
setzt sie sich Ende April im
Wiederholung des „Wunders
Berliner Oympiastadion bei
von Bern“ mit.
den Endspielen der Frauen
Ein „magisches Datum“
und Männer um den DFBist dieser 4. Juli 1954 für
Wolfgang Schäuble, JahrPokal zum vielgescholtenen
gang 1942, und seine AltersTeamchef Klinsmann, der –
gefährten Schröder, Stoiber,
von seinen Mitstreitern OliFischer und Struck. Selbst
ver Bierhoff, Jogi Löw und
wenn man ihn nachts um
Andreas Köpke umringt wie
drei aus dem Schlaf holen
von einer Schutztruppe – in
würde, erzählt der Innenmi- Torhüter Kahn, Kanzlerin Merkel: „Ich bin ja in einer ,No win‘-Situation“ eisiger Isolierung inmitten
nister, könne er noch fehlerder offiziellen Funktionärsfrei die Aufstellung der deutschen Sieger- „Deutschland 2006“, als wäre es von einer und Politikergarde am Tisch hockt. Zuvor
Seuche befallen.
mannschaft hersagen.
hatte sie sich sogar schon heimlich mit ihm
Doch je näher das Turnier heranrückte, zum Essen getroffen.
Bundespräsident Horst Köhler, Jahrgang
’43, proklamierte in seiner Weihnachtsan- desto bedrohlicher begann sich der HeimSein Reform-Elan gefällt ihr. Wenn man
sprache 2005 die Wiederholung sogar zum vorteil in einen Erfolgsdruck zu verwan- von einem Kurs überzeugt sei, müsse man
Staatsziel: „Im kommenden Jahr wollen deln. Die Erwartungen blieben, aber zu- daran festhalten, mahnt sie. Und es klingt
wir Fußballweltmeister werden.“ Und Sil- gleich schien jedes sportlich, politisch oder wie Selbstanfeuerung, wenn sie hinzufügt:
vester schob Bundeskanzlerin Angela Mer- gesellschaftlich missliche Ereignis Vorbote „Wankelmut schafft kein Vertrauen.“ Das
kel nach: „Ich glaube, die Chancen sind einer nationalen Katastrophe zu sein.
Fußball-Establishment hingegen schmollt.
Aber hatten wir das nicht schon öfter?
Bei der Diskussion mit Klinsmann und
gar nicht schlecht.“
Das Ereignis, das nicht nur für das ganze Gerade im Vorfeld späterer Titelgewinne? dessen Assistenten Löw sind es nicht die
Land wichtig ist, sondern vier Wochen lang „Auch 1954, 1974 und 1990 gab es schlech- Herren Fachleute, die sich am lebhaftesten
rund 30 Milliarden Fernsehzuschauer auf te Ergebnisse und heftige Diskussionen“, und ausführlichsten äußern.
Auf eine paradoxe Weise wirkt Angela
allen Kontinenten faszinieren soll, beginnt macht sich DFB-Präsident Theo Zwanziger
am 9. Juni, wenn in München zur Eröff- Mut: „Am Ende sind wir doch Weltmeister Merkel im Kreise von berühmten Ex-Fußnung der WM 2006 das Spiel Deutschland geworden.“
ballstars, DFB-Funktionären und sentiUnd so wird dieser Tage von Sportfunk- mentalen Alt-Amateuren männlich begegen Costa Rica angepfiffen wird. Und
ein Titelgewinn – der vierte nach 1954, 1974 tionären, Politikern, Wirtschaftsbossen, in herrschter als die gefühlsbeladenen alten
und 1990 – böte, wie es Teamchef Jürgen den Medien und an den Stammtischen der Knaben. Schwer vorstellbar, dass sie bei
Klinsmann ausdrückt, „die Chance, der Nation tapfer das „Wunder von Berlin“ einem Spiel mit hochrotem Kopf vom
Welt zu zeigen, wer wir eigentlich sind. herbeigeredet: die aktualisierte Neufassung Sitz hochschnellt, brüllt und die Arme in
Wir haben die Möglichkeit, Deutschland des legendären Fußballmirakels von 1954: die Luft wirft. Die Kanzlerin bewegt sich
neu zu definieren: eine Marke, einen Es gibt Hoffnung, auch wenn man sich auf der Tribüne mit der gleichen unaufganz unten wähnt und scheinbar nichts geregten Selbstverständlichkeit wie inzwi,brand‘, zu schaffen“.
UWE KRAFT
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CHRISTOF KOEPSEL / GETTY IMAGES
Gesellschaft
· Sport
Gesellschaft
·
Deutsche Fußballfans in Düsseldorf: Die sommerliche Leichtigkeit, die Christos Reichstagsverhüllung zu einem Volksfest werden ließ
schen im Bundestag oder auf einer Technologiemesse.
Sie meint ja auch, wenn sie „Faszination“ sagt, nicht jene jungenhaft-emotionale Begeisterung ihres Vorgängers Gerhard Schröder. Die Naturwissenschaftlerin
Angela Merkel betrachtet Fußball systemisch, für sie ist das Spiel reine Kopfsache
– eine komplexe Kombination von Spontaneität und Plan, von „exzentrischen
Einzelleistungen“ und dem „blinden Sichverstehen“ als Mannschaft, von PsychoSpielen zwischen Verteidigern und Angreifern; kurz: Auf dem Fußballplatz geht es in
ihren Augen zu wie in der Politik. Und
natürlich ist sie sich über den politischen
Werbewert der WM völlig im Klaren.
1954 ist Angela Merkels Geburtsjahr. Sie
hat viel nachgelesen über diese Zeit, sie
teilt die Einschätzung, dass das „Wunder
von Bern“ nicht reproduzierbar sei. Nicht
nur die historische Ausgangssituation hält
sie für unvergleichlich, auch die Spieler
seien völlig andere Typen gewesen.
Die Nationalspieler – die als Vertragsspieler nicht viel mehr verdienten als Facharbeiter – seien damals den Durchschnittsbürgern noch viel näher gewesen als die
Bundesliga-Stars heute, glaubt sie: „Die
haben Deutschland in seiner großen Breite repräsentiert.“ Nur deshalb habe ihr
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Sieg auch die nachhaltige Wirkung haben
können, die als Mythos bis heute trägt.
Im Grunde, sinniert sie, brauche die
Nationalmannschaft eine Art „Baumschulen“-Effekt. Die Spieler müssten „Jahresringe“ bilden können, um zu einer anderen
„Holzdichte“ heranzureifen. Erst dann
werde auch die Identifizierung der Fans
mit der Nationalmannschaft wieder enger
werden. Zurzeit, glaubt die Kanzlerin, verflöge die Freude im Falle eines deutschen
WM-Erfolgs schneller als 1954. Und frühzeitiges Ausscheiden – womit sie natürlich
nicht rechnen darf – würde leichter verkraftet.
D
as „Wunder von Bern“ hatte sich 1954
noch in völliger Abwesenheit deutscher politischer Prominenz ereignet. Kein
einziger Bundesminister, geschweige denn
der Kanzler oder gar der Bundespräsident,
saß auf der Tribüne des regentriefenden
Wankdorf-Stadions, als Tausende deutsche
Fußballfreunde siegestrunken „Deutschland, Deutschland über alles“ anstimmten.
Die Bonner Herren schickten karge Telegramme und hielten sich auch fern, als
das Volk seine Helden bei der Heimkehr
feierte.
Heute gehören bei Spitzenspielen Politiker zum Stammpublikum in den Ehrend e r
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logen. Im Medienzeitalter sind Sport und
Politik als Varianten des Showgeschäfts zusammengewachsen, und vor allem der
Fußball garantiert in seiner Mischung aus
Zirkus, Volkskultur und Big Business die
Faszination von Erfolg und Macht.
Die Annäherung einer immer populistischer werdenden Politik und eines immer
stärker durchrationalisierten Fußballgeschäfts hatte Bundeskanzler Helmut Kohl
1986 im Azteken-Stadion von Mexico City
besiegelt, als er nach dem verlorenen Finale gegen Argentinien alle deutschen
Spieler erbarmungslos an seine Brust zog,
öffentlich herzte und fast erdrückte.
Auch die Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt hatten sich bei Welt- und Europameisterschaften schon im Glanz der
bundesdeutschen Kicker gesonnt. Aber
keiner suchte die Nähe zu den Sportlern
so körperlich, keiner machte sich so aufdringlich mit den Kicker-Idolen und ihren
Nationaltrainern gemein wie Helmut Kohl.
Gerhard Schröder traf eher den Kumpelton des aktiven Mitspielers.
Die Übergänge zwischen der Politik und
dem Fußball sind fließend geworden. Mit
dem früheren Mainzer CDU-Landtagsabgeordneten Theo Zwanziger, dem Stuttgarter Ex-Minister Gerhard Mayer-Vorfelder, ebenfalls CDU, und dem ehemaligen
Hamburger SPD-Senator Werner Hack- der Prächtigen des Fußballs treibt: die TVBeckenbauers Erfolge haben öffentlich
mann als Präsident der Bundesliga stehen Prominenz.
stattgefunden, nicht am Verhandlungstisch
längst Politikprofis an der Spitze des Deutund hinter geschlossenen Türen. Jeder hat
schen Fußballs. Zwanziger tritt gefällig
enn Außenminister Steinmeier und sie gesehen, Zehntausende sogar live. „Die
und medienbewusst auf, gibt sich offen,
Weltfußballer Beckenbauer heute ge- Wahrheit is’ auf ’m Platz“, heißt die ultiformuliert glatt und unangreifbar – ein meinsam in der Hauptstadt vor die Mikro- mative Erfahrung der Kicker-Gemeinde.
Harmoniemensch ohne Ecken und Kan- fone treten, dann klingen sie so synchron Doch wer wüsste definitiv, wo die Wahrten, in jeder Talkshow könnte er für Au- wie das doppelte Lottchen. Hier „der heit der Politik liegt?
Die Leistungen der Fußballer sind eben
ßenminister Frank-Walter Steinmeier ein- Frank“, 50, aus Detmold, da „der Franz“,
60, aus Giesing – zwei soziale Aufsteiger, nicht nur von Statistiken und Tabellen abgewechselt werden.
lesbar – Beckenbauer: 69 Siege in
Stolz erzählt der DFB-Chef,
103 Länderspielen –, womit sie
dass er am selben Tag, dem dritten
vergleichbar wären mit PolitikerSonntag im März 1981, seine KarGewinnen bei Landtags- und
rieren als Politiker und als FußBundestagswahlen. Sie sind durch
ballfunktionär begonnen habe:
Zweikämpfe und Lattenschüsse
Vormittags wurde der Profi-Jurist
dokumentiert, mit Selbsttoren,
und Amateur-Halbstürmer zum
Bänderrissen und KnochenCDU-Vorsitzenden des Rheinbrüchen bezahlt, also ganz archaLahn-Kreises gewählt, abends zum
isch durch Blut, Schweiß und TräVereinsvorsitzenden seines Clubs
nen beglaubigt. Der wehende
VfL Altendiez. „Mir war immer
Blondschopf des stürmenden
deutlich: Du kannst beides. Du
Klinsmann, die Wutausbrüche des
darfst nur den Sport nicht parteieleganten „Kaisers“, die wuchtipolitisch nutzen.“
gen Kopfballtore des „Prada-ProDer Innenminister Wolfgang
fis“ Ballack – das sind QualitätsSchäuble, der, bevor ihn 1990 ein
markenzeichen, die im Alltag der
Attentäter in den Rollstuhl schoss,
Politik ihresgleichen suchen.
selbst gespielt hat – sogar noch in
Diese Spitzenleute sind längst
der offiziellen Auswahl des Deutdaran gewöhnt, als Repräsentanschen Bundestags zusammen mit
ten eines modernisierten, weltofFranz Müntefering, den er seither
fenen, demokratischen Deutschduzt –, leistet sich, bei allem Enland ausgestellt zu werden. Eine
gagement, eine eher ironische
Art „Wunschsohn der BundesDistanz zu den Aufregungen
um die WM. Er will nicht so aufrepublik“ nennt der Beckenbauertreten, als wäre er „der OberBiograf Torsten Körner seinen
befehlshaber im Sport“. Um an WM-Duo Steinmeier, Beckenbauer: „Ergriffen vor Ehrfurcht“
Helden Franz, die Verkörperung
einer Ehrung für das karitative
des permanenten Erfolgs. „Er hat
Engagement seiner Ehefrau teilnehmen zu denen niemand ihre Erfolge an der Wiege nie kritisch nach hinten geschaut, sondern
können, schwänzte Schäuble sogar im gesungen hat. Unterschiedlicher in Lebens- immer froh und fröhlich nach vorn gelebt.
März den Showtermin mit Klinsmann, art und Lebensweg als der wortgenaue West- Damit war er die Idealfigur für die ältere
Beckenbauer und Merkel im Kanzleramt. fale und der launig daherplauschende Bayer Generation, die sich befreien wollte von
16 Kamerateams filmten damals das können zwei Männer kaum sein. Und doch den Schatten der Vergangenheit, von der
Staatsereignis vor dem Bundesadler auf haben ihre diskrepanten Karrieren sie jetzt Last des Dritten Reiches. Mit Beckenbauder blauen Fernsehwand im Berliner Kanz- zusammengefügt, als wären sie beide für bei- er konnte man den Augenblick genießen.“
leramt, mehr als hundert Journalisten des zuständig – für Politik und Fußball.
Jürgen Klinsmann steht für Aufbruch,
drängten sich in der Lobby. BundeskanzWie fühlt sich ein Frank-Walter Stein- Risiko, Bewegung, Offensive, Innovation.
lerin Angela Merkel hatte Deutschlands meier neben Franz Beckenbauer, wenn sie In Schwaben geprägt, bei Bayern München
Kicker-Elite zum Gipfelgespräch geladen, beide vor Journalisten davon schwärmen, gehärtet, in Italien, Frankreich und Engund die Gäste überraschte sowohl der hit- die WM sei „die perfekte Plattform, um land gereift, in Kalifornien amerikanisiert,
darzustellen, welch ein positiver, führt er ein Leben im Schnelldurchlauf.
großartiger Standort Deutschland Tempo hat sein Spiel geprägt, radikaler
„Die perfekte Plattform, um
Da möchte der Politiker doch Optimismus beflügelt seine Auftritte.
darzustellen, welch ein großartiger ist“?
Dass Michael Ballack aus Görlitz, der
lieber von den Journalisten reden
Standort Deutschland ist.“
als von sich und dem „Kaiser“, beim BSG Motor Fritz Heckert Karl-Marxdem Begriffe wie Zauber, Charme, Stadt, heute Chemnitz, die fußballerischen
Aura und Wunder anhängen und Grundkenntnisse erlernte, längst zur
zige Ansturm der Medien als auch die pro- der für Erfolg schlechthin steht. Für einen Kicker-Weltklasse zählt, ist vielen Deuttokollarische Galabehandlung durch die leidgeprüften Polit-Profi wie ihn, der sich schen verborgen geblieben. Dem eleganten
Regierungschefin.
als Kanzleramtschef der Schröder-Regie- Star-Kicker, der mit dem schweißfreien HaMan kann darüber streiten, ob mit die- rung häufig genug wie der Prügelknabe bitus eines Jungunternehmers aufzutreten
ser Veranstaltung nun „der Fußball“ – wie vom Dienst gefühlt hat, sei es ein fast pflegt, klebt – wie seiner Kanzlerin und
die „FAZ“ mutmaßte – „in der Absurdität schockierendes Erlebnis gewesen, neben anderen ostdeutschen Landsleuten – seine
angekommen“ war oder die Politik. Wer dieser deutschen Legende im Blitzlicht- Herkunft aus der DDR wie Kaugummi an.
indes die neue Kanzlerin zwischen den gewitter zu stehen. So hatte Steinmeier die „Dort zählt das Kollektiv, das hat den Weg
schmucken Altstars und aktuellen Top- Pressemeute in Berlin noch nie erlebt. für Genies verstellt“, befand ARD-ExperWerbeträgern „Franz“, „Klinsi“ und „Olli“ „Die Journalisten waren ja fast ergriffen te Günter Netzer.
posieren sah, der versteht sofort, was vor Ehrfurcht“, staunte der Außenminister,
Inzwischen reibt sich Ballack als Kapitän
die Mächtigen der Parteien an die Seite „beneidenswert.“
der Nationalmannschaft in Zweikämpfen
MARCUS BRANDT / DDP
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PATRICK LUX / PICTURE-ALLIANCE / DPA
auf, verdient auch ohne Geaggressiven Nationalismus der
nie-Bonus geschätzte acht Milalten Sorte. Wenn der Teamlionen Euro im Jahr. Und er
chef heute bisweilen so ähnlich
wird in der nächsten Saison für
klingt wie einst „der Chef“,
200 000 Euro die Woche in
dann leiht er sich allenfalls HerEngland beim FC Chelsea
bergers Psycho-Tricks aus, nicht
spielen.
seine Gesinnung.
Beckenbauer, Klinsmann,
Klinsmann habe seinen JungBallack – drei deutsche Erprofis „alle Reste von Mythos,
folgsgeschichten der NachTradition und Legende“ ausgekriegszeit, dreimal Hans im
trieben, glaubt der fußballkunGlück?
dige Schriftsteller Burkhard
„Wer sich auf dem Platz
Spinnen: Kredit gibt es nur
nicht durchsetzen kann,
noch auf die Zukunft. Legenschafft es auch im Leben
den sind nicht börsentauglich.
nicht“, hat Beckenbauer geStatt Mythen zählen Quartalslernt.
berichte. „Wie in der ÖkonoDie Herren können sich
mie geht es auch in unserem
nicht nur intelligenter artikuBewusstseinsalltag nicht mehr
lieren als viele ihrer Berufsums Einkleben von Erinnerunkollegen, sie sind auch härter,
gen, sondern um Investitionen
ehrgeiziger, fleißiger und disins Morgen.“
ziplinierter als der Rest.
Gewiss, Michael Ballack, der
Ihr Eigensinn und ihre speStar unter den deutschen Spieziellen fußballerischen Talente
lern, ist „stolz, für Deutschland
haben sie als Individualisten
als Erster aufzulaufen“, wie er
zu unverwechselbaren Persönversichert. Doch betritt mit dem
lichkeiten werden lassen. Zu
attraktiven Sachsen nicht nur
Idolen des Fußballvolks und
der Kapitän der NationalmannAushängeschildern des Exschaft den Rasen – cool, locker,
portweltmeisters Deutschland Projektionsfigur Ballack*: Hersteller und Verkäufer zugleich
wohlerzogen, die dunkle Haarsind sie aber nur geworden,
pracht ordentlich durcheinanweil sie sich auch für die Mannschaft Wirtschaft und Kultur ersetzen die alten deronduliert –, sondern zugleich auch eine
quälen können.
politischen Mythen der Nation, die – von zentrale Werbefigur von Adidas, der „gloden Nibelungen bis zum Kyffhäuser – aus bal player“ aus weiland Karl-Marx-Stadt,
ls Gerhard Schröder im Sommer 2000 guten Gründen als integrierende Kraft ab- eine kickende Litfaßsäule.
Ballack und seine Poldis und Schweinis,
als Bundeskanzler mit optimistisch em- gewirtschaftet haben.
porgereckten Daumen minutenlang neben
Schon 1990, im Jahr nach der Wende, die im eigenen Land Deutschland vertreClaudia Schiffer und Boris Becker auf der begannen Beckenbauers Kicker, sich bei ten, verstehen Klinsmanns Fußball nicht
Bühne der Messehalle von Zürich die posi- der WM in Italien an das Weltniveau zuletzt auch als ein kommerzielles Angetive Entscheidung für den WM-Austra- der Fußballfolklore heranzuarbeiten. Im bot, das man möglichst attraktiv vertreten
gungsort Deutschland zu suggerieren ver- schwarzrotgoldenen Bus fuhren die muss. Sie sind Hersteller, Verkäufer und
suchte, ging er ein hohes Risiko ein. Im deutsch-national gestylten Jungmillionäre Produkt zugleich, bemüht, jung, fröhlich,
Falle einer Entscheidung für Südafrika – die durch das Land, bejubelt von schwarzrot- ehrgeizig und dynamisch auf dem Weltdurchaus möglich erschien – wäre der Kanz- goldbemalten Fans, die so unermüdlich markt mit den Spitzenangeboten aus Braler mit diesem Auftritt zur Lachnummer ge- ihre Schals und Fahnen in den nationalen silien, Italien und Frankreich mitzuhalten.
Empfindung als Ware statt wahre Empworden. Es war nicht nationaler Stolz, der Farben schwenkten wie die Engländer und
findung? Fußball ist eine phantastische
ihn zu solchem Engagement bewegte, das die Argentinier.
Damals betrachtete sich Jürgen Klins- Projektionsfläche für Träume und Aggresihm die uneingeschränkte Wertschätzung
Franz Beckenbauers, Jürgen Klinsmanns, mann, der als Profi bei Inter Mailand spiel- sionen, ein Ventil für Hass und Ohnmacht,
aller DFB-Großkopfeten und sämtlicher te, „als Individuum auf einem kleinen eine Chance für Versöhnung und gegen
deutscher Fußballfans eintrug. Er leitete Planeten“ und ausdrücklich nicht als Bür- Einsamkeit. Fußball ist ein Sport, dessen
ger eines Landes, das nur sich selbst Wesen die Ambivalenz ist – Spontaneität
wichtig nimmt. „Das ist überholt“, und Plan, Witz und Wut, Geschäft und BeHeute klingt der Weltbürger
befand er: „Ich bin mit Sicherheit geisterung. Das Spiel ist Kunst und Politik
Klinsmann so markig und
kein extremer Patriot.“ Heute, da und Lebensmetapher, für jeden in der Welt
altdeutsch wie Sepp Herberger.
der Internationalist und Welt- verschieden, für alle verständlich. Allerbürger Klinsmann im fernen Kali- dings auch für vieles missbrauchbar.
fornien lebt, klingt er in einem
Wolfgang Schäuble setzt auf die Faszidaraus später eine Art moralische Berech- Kinospot so markig und altdeutsch wie nation des Spiels, das sich bisher noch imtigung ab, der real bevorstehenden WM Sepp Herberger, wenn er vom Teamgeist mer behaupten konnte. Als Atmosphäre
2006 eine Nebenrolle in der für dasselbe schwärmt: „Hier gibt es kein Ich, hier gibt der WM wünscht er sich nicht das „Wunder von Bern“ zurück, sondern jene somJahr geplanten Wahlkampfinszenierung der es nur Wir.“
Dennoch wäre nichts irreführender, als merliche Leichtigkeit, die 1995 Christos
rot-grünen Regierung zuzuweisen.
Jetzt hat Berlin üppig Schwarzrotgold hinter solchen Sprüchen einen Rückfall in Reichstagsverhüllung zu einem unbeaufgetragen, um sich für die WM heraus- die angestaubte nationale Folklore des schwerten Volksfest werden ließ. „Im Idealzuputzen, doch sind diese Farben eher De- 19. Jahrhunderts zu sehen oder gar in einen fall“, spottet der Minister, „merken wir
dann am Ende sogar selbst, was für ein
koration der „Marke“ Deutschland als natolles Land wir sind.“
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tionale Symbolik. Trivialmythen aus Sport, * Werbeplakat in Hamburg.
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Gesellschaft · Sport
WM-GESPRÄCH
„Ein Team von Hermaphroditen“
Der Philosoph Peter Sloterdijk über Torschützenorgasmen und
nationale Erregungsgemeinschaften, über den männlichen Jäger, den niemand
mehr braucht – und was das alles mit Fußball zu tun hat
ist der Punkt, wo man den Begriff „deep Sloterdijk: Ich habe auf dem zweiten Bilsich die WM an, als Fan oder als Philo- play“ ins Spiel bringen darf. Er bezeichnet dungsweg einen passablen Bezug zum Fußdie Arten von Spielen, die den ganzen ball gefunden. Um ein normaler Mensch zu
soph?
werden, musste ich allerdings den Umweg
Sloterdijk: Eher als ein Mensch, der sich Menschen mitreißen.
für die Archäologie der Männlichkeit in- SPIEGEL: Der Ur-Mann im Mann ist also über die Anthropologie gehen. Als Anthroteressiert. Das Fußballspiel ist atavistisch, weitgehend nutzlos und nur im Spiel zu ge- pologe erlaube ich mir dann auch sozusagen, Mensch zu sein. Zur Grundausstattung
und es ist eine anthropologische Versuchs- brauchen. Haben es die Frauen besser?
anordnung. Seit einigen tausend Jahren Sloterdijk: Frauen sind herkunftsmäßig des Menschlichen gehört ein gewisses Maß
suchen die männlichen Menschen nach Sammlerinnen, und die braucht man heute an Bereitschaft, gemeinsam mit anderen
einer Antwort auf die Frage:
Was macht man mit Jägern,
die keiner mehr braucht? Von
unserem anthropologischen
Design her sind Männer so gebaut, dass sie an Jagdpartien
teilnehmen. Doch haben wir
seit gut 7000 Jahren, seit Beginn des Ackerbaus, die Jäger
einem riesigen Sedierungsprogramm unterworfen. Je höher
die Religion, desto stärker war
der Versuch, den inneren Jäger davon zu überzeugen, dass
es im Grunde eine Schande
ist, ein Mann zu sein, und dass
Männer als Männer niemals
des Heils teilhaftig werden.
SPIEGEL: Es sei denn, sie spielen Fußball und ersetzen die
Jagd nach dem Wild durch die
Jagd nach dem Tor?
Sloterdijk: So ist es. Es gibt
kaum ein Spiel, bei dem unsere alten protoartilleristischen
Jagderfolgsgefühle so deutlich
imitiert werden können. Wenn
Peter Sloterdijk ist Philosoph, Fernsehmoderator und Rektor der Hochschule für Gestaltung in
man den inneren Jäger ganz
Karlsruhe. Sein Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ zählt zu den meistverkauften philosophischen Werken
paralysiert, ganz umgebracht
des 20. Jahrhunderts. Zuletzt veröffentlichte Sloterdijk, 58, die Studie „Im Weltinnenraum des Kapitals“.
hat, dann kommt man unvermeidlich zu der Überzeugung,
dass es auf der Welt nichts
Dümmeres gibt als die Reaktion von Fuß- mehr denn je, denn aus der Sammlerin verrückt zu werden. Und das gestatte ich
ballern nach dem Torerfolg. Es ist wirklich wird auf dem kürzesten Weg die Konsu- mir auf meine alten Tage hin und wieder.
obszön, was man da zu sehen bekommt. mentin. Frauen sind in diesem Punkt viel SPIEGEL: Haben Sie einen Goleo gekauft?
Eine Pornodarstellerin müsste sich genie- kapitalismuskompatibler als Männer. In Sloterdijk: Ich bin nicht der Maskottren, verglichen mit diesen seltsamen Tor- der Konsumentin zeigt sich noch immer chentyp.
schützenorgasmen, die vor zahlendem Pu- diese stille, triumphale Genugtuung der SPIEGEL: Singen Sie die Nationalhymne
blikum zum Besten gegeben werden. Aber: Sammlerin, die in ihrem Korb etwas mit?
Sobald man auf diesen Mord am inneren heimbringt. Daraus ist dieses mysteriöse Sloterdijk: Dazu bin ich physiologisch unJäger verzichtet und die alten Jagdgefühle weibliche Universal der Handtasche ent- fähig. Ich beobachte manchmal die Spieler
zulässt, spürt man sofort, was auf dem Ra- standen. Ein Mann ohne Speer oder oh- und sehe, wie manche bei der Hymne so
sen verhandelt wird. Da wird nämlich das ne Ball, das geht ja noch, aber eine verkniffene kleine Lippenbewegungen maälteste Erfolgsgefühl der Menschheit re- Frau ohne Handtasche, das ist wider die chen. Andere verfallen in tiefes, deutsches
inszeniert: mit einem ballistischen Objekt Natur.
Schweigen. Das wäre wahrscheinlich auch
ein Jagdgut zu treffen, das mit allen Mitteln SPIEGEL: Lassen Sie sich persönlich von mein Fall. Ich habe sonst für Gesang viel
versucht, sich zu schützen. Ich glaube, das Fußball mitreißen?
übrig, aber allein in künstlerischer Gestalt.
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ANTONIO BELLO
SPIEGEL: Herr Sloterdijk, wie gucken Sie
ge wirken auf die Stimmung des Kollektivs ein.
SPIEGEL: Meckern wir uns unsere letzten
Helden zugrunde?
Sloterdijk: Helden haben wir ohnehin nicht
mehr. Wir haben sie durch Stars ersetzt.
SPIEGEL: Was unterscheidet den Star vom
Helden?
Sloterdijk: Der Held stirbt früh, und der
Star überlebt sich – mit dieser Formel bekommt man Übersicht auf diesem Feld. Beide sind eigentlich zu einem frühen Ende
berufen. Der Held auf dem Schlachtfeld,
wo er fällt, der Star durch seine Wiedereingliederung ins zivile Leben, was ja einer
Ausmusterung und somit einem symbolischen Tod gleichkommt. Insofern wäre für
die meisten Sportler ein früher Tod nicht
schlecht, weil sie nach der Karriere fast ausnahmslos unangenehm werden. Selbst die
interessantesten Athleten verwandeln sich,
wenn sie als Funktionäre weitermachen, in
Muffköpfe. Dann tun sie für
den Rest ihres Lebens nichts
anderes mehr, als die Gründe,
weswegen sie bekannt wurden,
Lügen zu strafen. Sie fangen
glänzend an – und enden in
Selbstdemontage. Das blieb
Achilles erspart, weil er einen
echten Showdown erlebte.
SPIEGEL: In David Beckham
oder Ronaldinho, den Stars
des modernen Fußballs, ist der
Jäger schwer zu erkennen.
Sloterdijk: Der Star muss heute mit einer permanenten
Überbelichtung leben. Er besitzt ein passives Aufmerksamkeitsprivileg: Er wird sehr
viel gesehen – und sieht selbst
fast nichts. Die Antwort darauf heißt: Werde Model. Am
besten kommen daher die
Spieler mit ihrer Starrolle zurecht, die bewusst in die Modelwelt wechseln, wie zum
Beispiel Beckham. So jemand
kann zeigen, dass der Spieler
„Helden haben wir ohnehin nicht mehr, wir haben sie
selbst seine Entheroisierung
durch Stars ersetzt.“ Werbende Fußballer Roberto Carlos, Francesco Totti, Beckham, Ronaldinho, Raúl verstanden hat. Folglich ist es
heute besser, als Hermaphrodit aufzutreten statt als männlicher Heros. Die Kicker-Modie nur im Modus der Reue inneren Zu- gen Klinsmann gezeigt. Warum können wir dels folgen einem evolutionären Trend, der
sammenhang erleben kann.
nicht dem Bundestrainer und seiner Mann- seit den sechziger Jahren zu beobachten
ist: dem Zug zur Hermaphroditisierung.
SPIEGEL: Sie haben geschrieben, Nationen schaft vertrauen?
seien Erregungsgemeinschaften. Was kann Sloterdijk: Vertrauen ist keine deutsche Das ist eine Langzeitbewegung, bei der die
eine Nation mehr erregen als die WM im Option. Wir kennen ja Lenin: „Vertrauen Männer abrüsten und als Klientel für koseigenen Lande? Es gibt immer noch eine ist gut, Kontrolle ist besser.“ Die Deut- metische Angebote entdeckt werden.
Menge Leute, denen beim Gedanken an schen machen daraus: „Vertrauen ist gut, SPIEGEL: Ist die deutsche Nationalmannein erregtes Deutschland mulmig wird.
Gemecker ist besser.“ Es gibt einen un- schaft ein Team von Hermaphroditen?
Sloterdijk: Natürlich. Wenn man die Erfah- glaublich starken Herabsetzungsaffekt bei Sloterdijk: Im Prinzip ja. Wobei sich Klinsrung gemacht hat, dass die Kollektiverre- unseren lieben Landsleuten. Deswegen mann dagegen wehrt. Ich denke, der hat
gungen, um mit Thomas Mann zu reden, ist das Amt des Bundestrainers in die- den Kuranyi nicht wegen der angeblich
„dämonisches Gebiet“ sind, dann wird sem Land noch ungemütlicher als in schwachen Leistung rausgeschmissen, sonman vorsichtig bei allem, was aufputscht. anderen Ländern. Doch allgemein gilt, dass dern weil er ihm übelnimmt, dass er eine
Wir sind gebrannte Kinder, seit wir erlebt der Nationaltrainer so etwas wie ein halbe Stunde braucht, um sein Bärtchen zu
haben, dass Kollektiverregungen auch im- Jagdgruppenleiter ist, und seine Erfol- rasieren. Das ist auch ein antihermaphromer Produkt einer gewissen politischen
Regie sein können. Solche emotionalen Liturgien werden nach bestimmten Regeln
erzeugt und sind von Hause aus instrumentalisierbar. Die Samstagsunterhaltung
und der Wille zum Krieg sind psychologische Verwandte. Daher erweist sich der
Enthusiasmus als ein missbrauchbares Phänomen. Also sollte man die deutsche Vorsicht nicht nur als eine Neurose ansehen.
Es würde genügen, darauf hinzuweisen,
dass man auch die Vorsicht moralisch missbrauchen kann. Wer als Deutscher einmal
miterlebt hat, wie Engländer feiern und
Hymnen singen, meint unwillkürlich, der
Faschismus sei auf die Britische Insel ausgewichen. In uns sitzt ein Pädagoge, der
auch den anderen ein Ernüchterungsprogramm made in Germany vorschlagen
möchte, weltweit.
SPIEGEL: In Deutschland wird Erregung
schnell hässlich. Das hat der Streit um Jür-
IMAGO
Das Singen von Nationalhymnen gehört
nicht zu meiner Grundausbildung.
SPIEGEL: Nationalmannschaft ist einer der
wenigen Begriffe, wo wir uns das Wort Nation erlauben. Was bedeutet die Nationalmannschaft speziell für uns Deutsche?
Sloterdijk: Zunächst bedeutet sie dasselbe
wie bei allen modernen Nationen, die solche Selbstdelegationen auf ihre Mannschaft vollziehen. Da geschehen Stellvertretungsrituale, an denen sich ein Großteil der Population beteiligen will. Wir
Deutschen haben in dieser Angelegenheit
– wie in den meisten anderen – eine Sonderstellung, weil wir durch unsere Geschichte, spätestens seit 1918 und dem
Versailler Vertrag, ein tiefverwundetes Kollektiv sind, teilweise sogar ein revanchebedürftiges. Und nach 1945 wiederum
ein Kollektiv, das selbst vor seinen Revancheimpulsen Angst hat und auch die
wegzensiert. Wir sind eine bizarre Gruppe,
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Gesellschaft · Sport
ANTONIO BELLO
PIXATHLON
ders als im modernen Theater, wo
ditisches Votum von Klinsmann, ein
von Anfang an nur Verlierer auftreAnti-Model-Protest.
ten, die über ihre Probleme reden
SPIEGEL: Ihr Kollege, der Berliner
und sich dabei immer weiter verPhilosoph Gunter Gebauer, sagt:
knoten, geht es in der modernen
Bis heute bleibe das Spiel mit dem
Arena immer nur um die Lust an
Fuß ein stummer Protest gegen die
der Urunterscheidung: Sieg oder
gelehrte Kultur.
Niederlage.
Sloterdijk: Das sehe ich auch so. Für
mich war eine der faszinierendsten
SPIEGEL: Fußball ist auch ein extreFragestellungen der jüngeren Kulmes Beispiel für Globalisierung. In
turgeschichte die folgende: Warum
einigen deutschen Bundesligaverhaben wir die Renaissance vom 15.
einen spielt kaum noch ein DeutJahrhundert bis ins 19. Jahrhundert
scher, im Finale der Champions
immer nur als die Wiederkehr der
League waren für Arsenal London
antiken Literatur und der Künste
zwei Engländer auf dem Platz, für
erlebt? Jedes Kind weiß doch, dass
Barcelona drei Spanier.
die Antike bereits eine faszinierenSloterdijk: Was wir in diesem Finale
de Massenkultur hatte, den urgesehen haben, war das Spiel von
sprünglichen Sport. Unsere klassizwei Weltauswahlen, die lokale
sche Renaissance jedoch hat nur das
Clubs simulieren. Das heißt aber
wieder heraufgeholt, was dem Pläauch, dass der Fußballclub und seisier der Oberschichten in die Hänne Stadt sich genauso in Standorte
de gearbeitet hat. Sehr lange hat
verwandeln wie die Städte als solman gezögert, neben dem Künstler,
che sich in Standorte verwandeln.
dem Philosophen und dem WissenIn der Ära der Globalisierung, also
schaftler auch die faszinierendste
seit 1492, verwandelt sich Heimat
antike Figur wieder heraufzube- „Eine Pornodarstellerin müsste
in Standort.
schwören, nämlich den Athleten. sich genieren.“
Ronaldinho beim Torjubel SPIEGEL: Wenn die Champions
Erst vor 100 Jahren ist dieser
League ein Wettbewerb der Standzurückgekehrt, und seither prägt er
orte ist, was ist dann die Weltdie Szene. Mit seinem Auftauchen
meisterschaft?
gibt es wieder Vollbeschäftigung für die verdrängen die Sponsoren und VIPs die Sloterdijk: Eigentlich ein restauratives Untimotheischen Regungen der Menschen. klassischen Fans.
ternehmen. In einer Situation, in der die
Nach der psychologischen Grundlehre der Sloterdijk: Diese Transformation folgt ei- Nationen im Postnationalisierungstrend
alten Griechen besitzen wir nicht nur den nem Grundtrend des entwickelten Kapita- schwimmen, stellen sich dann dem Turnier
Eros, der uns Dinge begehren lässt, son- lismus: der Verwandlung der Arbeiter in zuliebe die Nationen wieder als Nationen
dern wir haben auch den Thymos, sprich Spieler, in Börsianer. Für diese ist typisch, auf. Das ist ein bisschen merkwürdig.
das Streben danach, die eigenen Vorzüge dass sie bereit sind, die Verbindung zwi- SPIEGEL: Warum?
geltend zu machen.
schen Leistung und Bezahlung zu durch- Sloterdijk: Nationalmannschaften haben
SPIEGEL: Heutzutage zeigen wir unsere trennen. Was Lohn ist, wissen wir unge- außerhalb des Turniers fast keine Realität.
fähr, weil er mit einer Leistung zu tun hat. Im Turnier stellen sie so etwas wie NatioVorzüge durch gekonnte Dribblings?
Sloterdijk: Auch. Wir haben es endlich ge- Heute aber genügt Lohn nicht mehr, man nalsimulatoren dar, die eine Population
wagt, die antike Massenkultur wirklich zu will die Überbelohnung. Das Verlangen daran erinnern, dass sie sich, wenn sie
zitieren – das heißt, neue Kampfspiele nach Überbelohnung ist die aktuelle Form will, auch national identifizieren kann.
aufzuführen. Darum bauen wir seit kur- der Gewinnerwartung. Diese Gesellschaft SPIEGEL: Das funktioniert?
zem neuantike Kampfstätten – das grie- trifft sich natürlich auch in den Stadien. Sloterdijk: Überaus gut, weil die PartizipaDa ist man unter sich. Die Leute auf dem tionsgefühle der Menschen sonst chronisch
chische Stadion und die römische Arena.
SPIEGEL: Warum hat man den Athleten erst Rasen sind mit denen in der Lounge ein unterbeschäftigt sind. Wir leben nicht in eiHerz und eine Seele. Alle wissen, dass es ner Welt, die Partizipationsbedürfnisse anso spät wiederentdeckt?
Sloterdijk: Man hat wohl gespürt, dass es ge- nur noch um Überbelohnung geht. Wie spricht. Im Gegenteil: Man gehört eigentfährlich wird, wenn man mit diesen Ener- gefährlich das ist, beginnen wir erst all- lich immer sich selbst, bestenfalls der eigien spielt. Erlaubt man dem Volk, sich in mählich zu verstehen, denn wir bekom- genen Zukunft. Obendrein hat man ein
Arenen zu versammeln, könnte das leicht men die demoralisierenden Folgen des paar Beziehungen oder ist, wie man so
politisch brisant werden. Erst als klar war, Systems nur nach und nach zu Gesicht. schön sagt, vernetzt. Aber Menschen, die
dass diese Formen der sportlichen Massen- Im Übrigen ist auch das postmoderne Sta- vernetzt sind, sind ja sowieso in einer postversammlung nicht in Revolutionen um- dion eine harte Wahrheitsmaschine. An- nationalen Situation. Im Allgemeinen will
man die Besessenheit durch die Gemeinschlagen, hat man überall diese neuen Geschaft nicht mehr. Die Zivilisationsdrift
hege der Massenkultur hingestellt. Die
geht dahin, die Gemeinschaften aufzulöAntike hatte ja hier einen vollkommenen
sen, und zwar aus einem guten Grund:
Archetypus hinterlassen – die Arena mit
Weil selbstbewusste Individuen die perihren steigenden Stufen. Selbst wenn man
manente Belästigung durch Zugehörigdie modernsten Stadien ansieht, wie die
keitsgruppen zunehmend schlechter erAllianz Arena in München, erkennt man
tragen. Wir wollen weder Repräsentanten
sofort: Das ist noch immer das Kolosseum.
des eigenen Stammes sein noch die eigene
SPIEGEL: In den modernen Arenen mit
Nation im Ausland darstellen müssen.
ihren Lounges und Business-Bereichen
Trotzdem gibt es Situationen, in denen
man sich für ein paar Stunden wieder naSloterdijk, SPIEGEL-Redakteure*
* Dirk Kurbjuweit und Lothar Gorris in Sloterdijks
tional identifiziert.
Karlsruher Wohnung.
„Sie wollen harte Fouls sehen?“
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DUCCIO MALAGAMBA
SPIEGEL: Wenn sich in der Nationalin meinem Leben begegnet ist. Ich
mannschaft das Nationale zeigt,
selbst habe natürlich überhaupt
wäre es dann nicht logisch, in den
nichts verstanden. Ich merkte nur,
Einwandererfragebogen beispielsdass sich die Erwachsenen alle sehr
weise die Frage reinzuschreiben:
merkwürdig benahmen und begeisWer hat 1974 für Deutschland im
tert taten aus einem Grund, der mir
Endspiel gespielt? Als Beweis dafür,
völlig undurchsichtig blieb.
SPIEGEL: Haben Sie vom WM-Titel
wie sehr sich jemand für dieses
1974 mehr mitbekommen?
Land interessiert?
Sloterdijk: Warum nicht? AndererSloterdijk: Damals galt: „Was kümseits müsste es auch die Möglichmert mich der Vietnam-Krieg, wenn
keit geben, durch die gegenteilige
ich Orgasmusschwierigkeiten habe.“
Antwort zu beweisen, dass man
Das konnte man in Bezug auf so gut
hierhergehört. Die schlechten Deutwie alles sagen, auch in Bezug auf
schen waren ja bisher die guten
Fußballdramen.
SPIEGEL: Ein richtiger Fan wird aus
Deutschen – das sollte man auch
Ihnen wohl nicht mehr.
Ausländern erlauben. Wer einSloterdijk: Ich fürchte, nein. Das
wandern will, soll die Freiheit haEinzige, was mich beim Fußball
ben zu sagen: „Ich bin ein schlechwirklich zutiefst beeindruckt, das
ter Patriot, deswegen passe ich
ist diese Fähigkeit der jungen Spiehierher. Diese Mischpoke, Beckenler, hinzufallen und wieder aufzubauer und Co., kann mir gestohstehen. Das finde ich begeisternd.
len bleiben. Ich finde den Sport
SPIEGEL: Sie wollen harte Fouls sehen?
idiotisch, und es ist besser, wir verSloterdijk: Nein, ich will nur sehen,
lieren. Folglich habe ich ein Recht,
wie Männer wieder aufstehen. Ich
ein Mitglied dieser Nation zu
„Man sieht: Das ist immer noch das
finde das ein Manifest der Antiwerden.“
SPIEGEL: Aber das Wunder von Bern Kolosseum.“
WM-Arena in München gravitation. Wenn man älter und
sollte der Einwanderer kennen?
schwerer wird, dann weiß man ja,
Sloterdijk: Man könnte etwa die Frawie es sonst zugeht. Ich falle gelege stellen: „Was ödet Sie am meisgentlich vom Fahrrad, und die
ten an?“ Wenn einer das Wunder von Bern ge Interpretationen für triviale Ereignisse Mühe, wieder auf die Beine zu kommen,
ankreuzt, ist er ein Fall für die Fremden- formulieren.
ist eine grauenvolle Beleidigung. Deshalb
polizei. Wer das Wunder von Bern in Fra- SPIEGEL: Wie erinnern Sie 1954?
habe ich großen Respekt vor diesem rage stellt, steht vermutlich einer terroristi- Sloterdijk: Ich habe die kritischen Tage als schen Aufstehen bei hingefallenen Spieschen Vereinigung nahe.
Kind in München miterlebt. Meine Mutter, lern. Das sind Momente, wo ich innerlich
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die hysteri- die mit Fußball absolut nichts am Hut hat- total beteiligt bin. Das Hinfallen gehört zur
sche Verklärung, die der WM-Titel von te, nahm mich eines Tages an der Hand Sache, aber erst das Wiederaufstehen
1954 hierzulande ausgelöst hat?
und ging mit mir eilig auf die Prinzregen- macht sie großartig. Ich beklage darum
Sloterdijk: Das hat vor allem mit der Intel- tenstraße, wo sich die deutsche Mannschaft auch die neue Zwangsverarztung auf dem
lektualisierung des Fußballs zu tun. Seit es nach dem Sieg in Bern zeigte. Auf diese Feld: Ein angeschlagener Spieler, der noch
die Massenkulturforschung gibt, wird die Weise habe ich Fritz Walter mit dem Pokal laufen könnte, muss sich auf einer Bahre
Popularkultur insgesamt verklärt. Diese gesehen. Als meine Mutter mich zum Auf- wegtragen lassen. Schauderhaft.
Forschung ist ein Zufluchtsort derjenigen bruch drängte, habe ich gespürt, dass da SPIEGEL: Das passt nicht zum Jäger, oder?
gewesen und geblieben, die den Neomar- bei ihr irgendwas nicht in Ordnung war. Sloterdijk: Früher sind die Spieler heroisch
xismus überlebt haben und nach seinem Für sie war das vielleicht eine Anknüp- selbst an den Rand gehumpelt. Jetzt werDahinscheiden neue Arbeitsfelder gesucht fung an ihre Zeit beim Bund Deutscher den sie obligatorisch abgeschleppt, das halhaben. Beim Thema Fußball konnte man Mädel, wo man von Staats wegen Stolz- te ich für eine Verirrung.
irgendwie dem Interesse für das Proletariat gefühle zu entwickeln hatte. Ansonsten SPIEGEL: Herr Sloterdijk, wir danken Ihnen
treu bleiben. Man musste nur höherwerti- war sie der unpolitischste Mensch, der mir für dieses Gespräch.
FRANCESCO PISCHETOLA / AFP
Gesellschaft · Sport
Argentinischer Nationalspieler Messi (vorigen Dienstag in Salerno gegen Angola): Vorgesehen für Beckhams Thron
WM-STARS
„Leo, wir beten für dich“
Lionel Messi ist die Entdeckung der Saison. Nun lasten auf
dem Supertalent des FC Barcelona die Titelträume Argentiniens.
Bislang hielt der Ausnahmestürmer jeglichem Druck stand.
D
er Carabiniere mit dem Doppelkinn
musste abwägen, ob er seine Pflicht
erfüllen oder seiner Leidenschaft
nachgeben sollte.
Seine Pflicht bestand darin, den Innenraum des Stadions von Salerno nach dem
WM-Vorbereitungsspiel zwischen Argentinien und Angola zu sichern. Seine Leidenschaft galt einem Spieler der Südamerikaner, der soeben die hohe Kunst des
Fußballs zelebriert hatte.
Der Uniformierte entschied sich für die
Leidenschaft, kommandierte einen jungen
Kollegen an seine Stelle, zog Papier und
Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und
postierte sich vor dem Kabinentrakt. Er
wollte ein Autogramm von Lionel Messi.
Doch der Beamte hatte Pech. Auf den
Moment, in dem das Supertalent des
FC Barcelona vor die Tür trat, hatten auch
mehrere Dutzend Journalisten gewartet.
Es gab so viel zu fragen.
„Leo, kannst du deinen Fans in Argentinien, die dich lieben, sagen, wie dein rechtes Bein auf die Belastung reagiert hat?“
„Leo, du bist doch beim ersten WMSpiel gegen die Elfenbeinküste dabei?“
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„Leo, wirst du Argentinien zum Titel
schießen?“
Messi antwortete im Telegrammstil, belangloses Zeug, seine dünne Stimme war
kaum zu hören. Bei seinem Anblick schien
es absurd, dass dieser schüchterne, kleingewachsene Teenager, dessen Kinn und
Hals von Pickeln übersät ist und dessen
Blick Beklemmung verriet, als einer gehandelt wird, der bei der WM zum Topstar aufsteigen könnte.
Vier Bodyguards befreiten Messi schließlich aus der Umlagerung. Als er im Mannschaftsbus verschwand, rief ihm ein
Mädchen, das sich die argentinische Nationalflagge um die Schultern gelegt hatte, hinterher: „Leo, alles Gute, wir beten
für dich.“
Für ein Land wie Argentinien, das sich
im Fußball zur Avantgarde zählt, ist die
Bilanz der letzten Weltmeisterschaften
ziemlich dürftig: Seit 1994 ist das Team spätestens im Viertelfinale gescheitert. Die
Auftritte vor vier Jahren bescherten der
nach Anerkennung gierenden Nation gar
ein kollektives Trauma. Denn die „Selección“, gespickt mit hochdotierten Spielern
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aus den besten Vereinen Europas, schied
bereits in der Vorrunde aus.
Doch nun glaubt Argentinien wieder an
Großes, und die Hoffnungen ruhen auf
Lionel Messi, 18. Mit seinen Tempodribblings und seiner überbordenden Kreativität
war der nur 1,69 Meter große Stürmer des
FC Barcelona die Entdeckung der abgelaufenen europäischen Fußballsaison. Seine
Auftritte, frühreif und genialisch, haben
etwas von einem Naturereignis.
„Leih mir diesen Teufel aus“, flehte Fabio Capello, Trainer von Juventus Turin,
seinen Kollegen Frank Rijkaard an, nachdem Messi die Italiener in Barcelona vorgeführt hatte. „Fußballerisch ist er ein
Monster“, schwärmt auch sein Teamkollege Ronaldinho, derzeit der beste Spieler
der Welt, „Leo macht Dinge mit dem Ball,
von denen selbst ich keine Ahnung habe.“
Das Problem ist nur: Der Youngster ist
angeschlagen. Das Spiel in Salerno war erst
der zweite Einsatz seit einem Muskelfaserriss im rechten Oberschenkel Anfang
März. Auf den schleppenden Heilungsverlauf angesprochen, redet Argentiniens Trainer José Pekerman verkniffen von „einer
rebellischen Angelegenheit“ – eine diplomatische Floskel. Denn in Messis Umfeld
werfen sie den Ärzten des FC Barcelona
vor, die eigentlich banale Verletzung nachlässig behandelt zu haben. Messi hätte, so
kritisieren sie intern, bereits zum Champions-League-Finale am 17. Mai gegen Arsenal London wieder einsatzbereit sein
müssen.
Wie für den englischen Ausnahmestürmer Wayne Rooney, 20, der nach einem
mehrfachen Knochenbruch im Mittelfuß
PANORAMIC / IMAGO
REUTERS
Der Schritt nach Europa dokumentiert
Als eine Art Urknall ist dabei der Sieg
um seinen Einsatz bei der WM bangt, ist
das Weltturnier auch in Messis Karriere- der argentinischen U-20-Nationalelf bei der allerdings auch, wie unbeirrt Lionel Messi
plan fest vorgesehen. Es geht um Ruhm, es Junioren-WM 2005 in Holland anzusehen. seinen Weg ging. Der Druck, bereits als 13geht um weltweite Vermarktung, um Mil- Der Angreifer aus Barcelona sorgte für den Jähriger der Versorger einer sechsköpfigen
lionen von Euro. Und es wäre nur die logi- Titel fast im Alleingang: Er schoss die meis- Emigrantenfamilie zu sein, berührte ihn
sche Fortsetzung seiner bisherigen Lauf- ten Tore und wurde zum besten Spieler nicht im Geringsten. Messi, den alle nur „la
bahn, wenn Messi auch in Deutschland eine des Turniers gekürt. Vergleiche mit Diego pulga“ nannten, den Floh, war schüchtern
und sprach kaum. Messi spielte.
Maradona machten die Runde.
Protagonistenrolle übernehmen würde.
Ex-Profi Guillermo Hoyos, einer seiner
Ganz sicher wäre Messis Karriere geSeit der Junge aus Rosario mit seinen
Eltern und den drei Geschwistern Anfang wöhnlicher verlaufen, wenn er gewachsen Jugendtrainer in Barcelona, erinnert sich:
2001 nach Katalonien übersiedelte und als wäre wie ein normales Kind. Im Alter von „Er war vom ersten Tag an für den Rest
13-jähriger Niemand beim FC Barcelona neun Jahren diagnostizierten Endokrino- der Jungs ein natürlicher Anführer. Sie
anheuerte, hat er die Erwartungen, die in logen bei ihm jedoch einen hormonellen hatten so etwas wie blindes Vertrauen in
ihn gesteckt wurden, immer übertroffen. Defekt. Messi wurde erst mit Levothyroxin seine Qualität, das Messi mit absoluter
„Auf dem Platz habe ich Leo noch nie ner- behandelt, später mit dem Präparat Nor- Natürlichkeit annahm. Er war ein stiller
vös gesehen“, sagt sein Vater Jorge, der ditropin. Die Kosten, etwa 900 Dollar mo- Anführer, der niemals die Stimme erhob.“
Und so dauerte es mehr als fünf
auch sein Manager ist, „der Junge
Jahre, ehe sich Lionel Messi erstist absolut resistent gegen Druck.“
mals ungefragt zu Wort meldete:
Fast alle italienischen Topclubs
Es war Mitte Mai, am Tag nach
waren schon vor einem Jahr hinter
dem Champions-League-Finale in
dem Argentinier her, und besonParis, das er wegen seiner Verletders Massimo Moratti, Besitzer von
zung verpasst hatte.
Inter Mailand, schien zu allem beWährend die knapp 600 Gäste
reit. „Es gibt einen Spieler, für den
am Flughafen Charles de Gaulle
ich den Kopf verlieren würde“, bedie zweigeschossige Boeing bestiekannte der Erdölmagnat, „und diegen, die das Team und die Edelfans
ser Spieler heißt Lionel Messi.“
nach Barcelona fliegen sollte,
Doch Barcelona vermochte den
schnappte sich Messi das BordHochbegabten zu halten, 50 Milmikrofon. „Presi“, rief er und
lionen Euro Gehalt soll er angebmeinte den Barça-Präsidenten Joan
lich bis 2014 beziehen.
Laporta, „Sie müssen sofort in die
Wie heiß die Aktie Messi im gloKabine nach oben kommen und
balen Fußball-Business inzwischen
die Sache mit den Prämien regeln.
gehandelt wird, zeigte sich auch
Bitte, wir warten hier auf Sie.
Anfang Februar. Da gab Adidas – Argentinische Idole Maradona, Messi: Stiller Anführer
Schluss mit den Uhren, es reicht!“
aufs engste verbunden mit dem arDie ersten Zuhörer brüllten,
gentinischen Nationalteam – seine
Messi fuhr fort: „Es scheint ein
Zusammenarbeit mit dem Stürmer
Witz, Presi, aber es ist keiner. Prebekannt. Nike, der Weltmarktfühsi, wir sprechen hier ganz im Ernst,
rer für Sportartikel und aufs engste
der Mannschaftsrat erwartet Sie
verbunden mit dem FC Barcelona,
hier oben. Ich weiß nicht, ob Sie es
zog umgehend vor ein katalanigehört haben, aber wir haben uns
sches Gericht: Messi stehe bei ihhier oben gezofft. Wir wollen eine
nen im Wort.
Wohnung für jeden. Wenn Sie sich
Adidas, das Argentiniens Team
umschauen, werden Sie das Gewährend der Weltmeisterschaft im
sicht von Ronaldinho sehen und
firmeneigenen Sportzentrum in
ein bisschen weiter hinten das von
Herzogenaurach beherbergt, geKapitän Puyol. Die wollen mit Ihwann die juristische Schlacht. Nun
nen reden. Wir wiederholen:
werden die Franken alles daransetSchluss mit den Uhren! Wir wolzen, Messi weltweit als Identifikationsfigur ihrer bedeutendsten Clubkollegen Messi, Ronaldinho: Fußballerisch ein Monster len keine Uhren mehr! Chema, der
Zeugwart, sagt, er wolle ein Auto.
Käuferschicht, der 14- bis 17-Jährigen, zu positionieren. Noch thront dort natlich, übernahm zunächst der Stahlkon- Wenn für ihn keine Wohnung rausspringt,
zern Acindar, bei dem Messis Vater ange- gibt er sich mit einem Auto zufrieden. Und
David Beckham.
jetzt ist gut: Lasst uns fliegen, wir werden
Auch in Argentinien ist das Rennen der stellt war.
Als das Unternehmen seine Zuschüsse erwartet in Barcelona!“
Konzerne um Messis Gunst längst entMessi war endgültig angekommen, in
schieden. Er posiert für Weltunternehmen kürzte, bat der Vater die Vereinsbosse des
wie Pepsi, Mastercard oder Danone, was Erstliga-Clubs Newell’s Old Boys, in dessen der Gesellschaft der Fußballprofis, in der
bemerkenswert ist, weil er in seiner Heimat Jugendmannschaften das Können seines Welt der Stars. Für den Redner gab es Ovanie als bekanntes Gesicht gelebt hat. An- Sohns bereits Aufsehen erregte, den feh- tionen, als hätte er nach grandiosem Dribbders als die unzähligen Talente, die nach ei- lenden Betrag zu übernehmen. Der Club ling soeben das entscheidende Tor gegen
ner kurzen Karriere bei einem argentini- weigerte sich, ebenso wie die Vereinsbos- Real Madrid erzielt.
Sollte Argentiniens Team erst am 10. Juli,
schen Club nach Europa transferiert und se von River Plate, die den 13-Jährigen
dort zu Stars werden, verließ Messi das nach Buenos Aires holen wollten. Und so dem Tag nach dem WM-Endspiel, in RichLand als namenloser Jugendlicher. Auf- stimmte Messis Vater einem Probetraining tung Buenos Aires abheben, dann sei nun
merksam auf seine Künste wurden die Fans beim FC Barcelona zu – für die Katalanen damit zu rechnen, sagen Messis Wegbegleierst via Satellit. So wurde Messi zum ersten waren die paar hundert Dollar pro Monat ter, dass der Jungstar wieder zum Bordfür die Medikamente nicht der Rede wert. mikrofon greife.
virtuellen Nationalhelden Argentiniens.
Michael Wulzinger
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Gesellschaft · Sport
DEUTSCHE NATIONALELF
Die ungleichen Drei
ROLF VENNENBERND / DPA
Eifersüchteleien führen zu Scharmützeln im Umfeld der deutschen
Mannschaft. Sportdirektor Sammer, Trainer Klinsmann
und Manager Bierhoff suchen ihre Rollen für die Zukunft.
DFB-Manager Bierhoff, -Sportdirektor Sammer: „Zwei starke Persönlichkeiten“
* Am 16. Juni 1996 im EM-Gruppenspiel
gegen Russland (3:0) in Manchester.
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Attacken inbegriffen. So tritt wohl erstmals
bei einer Weltmeisterschaft ein gesamtdeutsches Team nicht für den Deutschen
Fußball-Bund (DFB) an, sondern gegen
ihn.
Das Team Klinsmann, ein mit ausgesuchten Vertrauten des Bundestrainers besetzter Betreuerstab, hat die Nationalmannschaft vom Verband nahezu abgekoppelt. Und Bierhoff, nach eigenem Verständnis sowohl „ganz klar DFB-Mann“
als auch Sprachrohr des Trainerteams,
sieht sich zwischen allen Stühlen: „Ich
hüpfe hin und her.“
BERND WEIßBROD / PICTURE-ALLIANCE / DPA
D
er Teammanager Oliver Bierhoff
saß dieser Tage auf dem schwarzen
Ledersofa einer Stadionloge, als die
Rede aufs Atmosphärische kam. Er sprach
von Spannungen, „wahnsinnigen Spannungen“ sogar, und sein Lächeln wirkte
ein bisschen bemüht.
Die Sache mit dem Gemeinsinn im deutschen Lager ist demnach etwas kompliziert. Der Teamgeist wird nämlich nur im
engen Zirkel der Mannschaft mit Inbrunst
beschworen, im Umfeld formieren sich die
streitenden Gruppen. Scharmützel, die vor
allem Bierhoff zu schaffen machen.
Es waren die Tage des Trainingslagers von Genf, da blickte
der smarte Ex-Profi bang über
den Tag des Berliner WM-Endspiels hinaus: „Meine Hauptaufgabe wird sein, die Klüfte zu
schließen.“
Denn während auf dem Rasen bis zum Eröffnungsspiel gegen Costa Rica an der „vertikalen Spielweise“ gefeilt wird, wie
Jürgen Klinsmann die innovativen Steilpässe nennt, pflegen
die Funktionsträger eher altdeutsche Tugenden – rustikale
Fußballer Bierhoff, Sammer*: „Die Klüfte schließen“
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Erste Unruhe hatten die Einwürfe des
neuen DFB-Sportdirektors Matthias Sammer ins deutsche Lager getragen. Der
drohte in „Bild am Sonntag“ zum Entsetzen des Stabs an, bei einem „Vakuum“
nach der WM einen „Beitrag zu leisten“:
Er wolle nötigenfalls mithelfen, einen neuen Bundestrainer auszusuchen.
Sofort war Alarm, und gleich sortierten
sich die Fraktionen. Klinsmann gegen die
Funktionäre, die ihm gegen seinen Willen
für konzeptionelle Aufgaben den unbequemen Sammer zur Seite gestellt hatten
und sich nicht länger wie „Moppelgreise“
vorführen lassen wollten, wie der Vizepräsident Karl Schmidt klarstellte. Und Sammer gegen Bierhoff, deren Eifersüchteleien
zuletzt in einen Disput über die Größe der
Dienstwagen mündeten.
Bierhoff habe zwar jetzt bis 2010 einen
Vertrag, aber „noch lange kein Standing“
beim DFB, streut die Sammer-Partei. Sammer habe als Sportdirektor „eine gewisse
Wertigkeit“, spöttelte Bierhoff – aber bei
der Klinsmann-Nachfolge nichts zu entscheiden. Das, raunt unterdessen ein DFBMann, habe Bierhoff – „ein Egomane wie
Klinsmann“ – im Prinzip auch nicht.
Schon sah sich der geschäftsführende
Verbandspräsident vergangenen Dienstag
herausgefordert, Manager und Sportdirektor in Leverkusen zum Gespräch zu bitten. Bierhoff und Sammer seien nun mal
„zwei starke Persönlichkeiten“, bilanzierte Vermittler Theo Zwanziger dann etwas
hilflos. Damit „die Schnittstellen der Aufgabenfelder klarer werden“, seien noch
weitere Erörterungen vonnöten.
So wachsen die Schnittstellen allmählich
zum deutschen Problem heran. In die
„Schnittstellen der Abwehr“ spielen die
Gegner allzu mühelos ihre gefährlichen
Pässe, wie die Trainer klagen. Und in denen
der Funktionsträger lodern die Konflikte.
Wie ein Unfall der deutschen Fußballgeschichte erscheint es in diesen Tagen,
dass drei Verbündete der so verschworenen Europameister-Elf von 1996 sich derart
beharken. Sammer, damals Abwehrchef,
galt als eigenwilliger Anführer. Mannschaftskapitän Klinsmann, wichtigster Getreuer des Bundestrainers Berti Vogts, repräsentierte das Unternehmen und hielt
den Teamspirit hoch. Bierhoff, Schütze
wichtiger Tore, kämpfte als Spätberufener
mit bescheidenem Talent um die Anerkennung der Kameraden.
Ähnliche Rollen spielen die ungleichen
Drei heute noch. Bierhoff, einst beneideter
Liebling der Werbung (Shampoo, Pudding,
Investmentfonds), macht immer noch in
erster Linie Reklame. Einem Uhrenhersteller, für den er selbst als „Markenbotschafter“ firmiert, verschaffte er jetzt Eingang in deutsche Fernsehbeiträge über das
Freizeitprogramm der Nationalspieler: Den
Uhrmacherkurs, geleitet von seinem Partner IWC, hatte der Teammanager selbst
vermittelt. Und wie ein PR-Chef, der den
THOMAS BOHLEN / REUTERS
Gesellschaft · Sport
Bundestrainer Klinsmann, Nationalspieler: In der Wohnortfrage nicht kompromissbereit
eigenen Vorstand preist, eröffnete er unlängst ein Hintergrundgespräch des Trainerteams mit Journalisten: Unaufgefordert
zog er ein „Fazit“ der Klinsmannschen
Amtszeit und trug „schöne Zuschauerzahlen bei öffentlichen Trainingseinheiten“
wie Wirtschaftsdaten vor. Jetzt in Leverkusen, nach dem Testspiel gegen Japan
(2:2), warb er um Verständnis für den
schlappen Eindruck, als sei er der Trainer:
„Wir haben zuletzt viel im Fitnessbereich
gearbeitet.“
Klinsmann hob Bierhoff in den Job,
doch jetzt möchte sich der „Vermarktungsoffizier“ („taz“) allmählich vom Bundestrainer emanzipieren. Künftig will er
dem Chefcoach, wer immer das sein wird,
weisungsbefugt sein: „Wenn jetzt der Jürgen sagt, er mache bei dem oder dem Werbespot nicht mit, müsste ich mich an den
Generalsekretär oder Präsidenten wenden,
damit die ihn überzeugen.“
Fraglich erscheint jedoch, ob ein Klinsmann-Nachfolger neben den DFB-Direktoren für Marketing und Medien einen zusätzlichen Verkäufer braucht. Der scheidende DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder jedenfalls hält Bierhoff weiterhin für
„ein Stück vom System Klinsmann“ und
dessen Vertragsverlängerung, die der künftig alleinregierende DFB-Chef Zwanziger
unabhängig von der Trainerfrage durchsetzte, für einen Fehler.
Bierhoff soll in Fragen der Jugendausbildung ein „wichtiges Bindeglied“ zum Sportdirektor sein, meint Zwanziger. Das dürfte
schwierig werden. Wenn Bierhoff etwa über
seine Vorstellungen vom DFB als „EliteUni“ für Trainer spricht, klingt es verdächtig, als wisse er es besser als Sammer.
Vielleicht ist es auch so. Als Bierhoff Anfang des Jahres im Auftrag des DFB die
Sportdirektor-Kandidaten prüfte, fertigte er
78
eine sogenannte Swot-Analyse (Strengths,
Weaknesses, Opportunities, Threats) nach
den Regeln der Business-Welt an: Die meisten Pluspunkte erhielt Klinsmanns Favorit,
der Hockey-Bundestrainer Bernhard Peters.
Sammer dagegen hatte das schriftliche Konzept, das Bierhoff per Mail angefordert hatte, nicht geliefert.
Das DFB-Präsidium gab Sammer den
Job trotzdem. Die Entscheidung, von
Klinsmann als „Ohrfeige“ aufgefasst, wie
dessen Mitstreiter wissen, führte geradewegs ins Zerwürfnis. Sammer, sagen nun
die einen, habe WM-Chef Franz Beckenbauer persönlich eingeschaltet, um auf den
gewünschten Posten zu gelangen. Bierhoff,
behaupten die anderen, habe den Bewerber Sammer hereinlegen wollen und ihm
ohne Wissen der DFB-Oberen vorzeitig
abgesagt. Das bestreitet der Manager.
Auf einer Terrasse mit Blick auf den
Genfer See knetete Delegationsleiter Mayer-Vorfelder in den Tagen der WM-Vorbereitung gedankenverloren einen herumliegenden Beipackzettel irgendeiner Arznei.
Er wolle ja „den Teufel nicht an die Wand
malen“, sagte er, aber für tragfähig hält er
ein Zukunftsmodell mit den Führungskräften Sammer und Klinsmann nicht.
Der Sportdirektor soll laut Präsidiumsbeschluss „in enger Abstimmung mit dem
Bundestrainer“ eine gemeinsame Spielphilosophie für alle Jugendteams entwickeln. Mayer-Vorfelder gefällt es, was
Klinsmann und dessen Kompagnon Joachim Löw auf diesem Gebiet ausheckten.
Sammer jedoch, „im Hauruck-Verfahren
ohne jede Not“ noch vor der WM installiert, hält er praktisch für eine Fehlbesetzung: „Auf der Position ist eine gewisse
Hinwendung zur Theorie gefragt. Matthias
Sammer ist nach meiner Erfahrung eher
ein Mann der Praxis.“
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Gegenseitige Geringschätzung prägt derzeit das Klima. Als Sammer bei einem Jugendfußball-Symposium in Hoffenheim
ausgerechnet den mäßig filigranen Ex-Abwehrhaudegen Karlheinz Förster zum Vorbild erhob, schwoll dem Modernisierer
Klinsmann der Kamm. Umgekehrt fühle
sich Sammer, sagt einer aus dem DFBStab, von Klinsmanns Bemerkungen „gedemütigt“. Sie klängen, als fehle es ihm
für den Direktorenposten an Verstand.
Zumindest war der rothaarige Sachse
der Partei Klinsmann seit Beginn der Bewerbungsphase suspekt. Beraten von dem
früheren „Bild“-Reporter Ulrich KühneHellmessen, parkte Sammer wohl zu nahe
am Boulevard. Als Kühne-Hellmessen im
Herbst in einem TV-Talk beim DSF die Arbeit des Bundestrainers bemäkelte, beschwerte sich Klinsmann-Berater Roland
Eitel beim DFB.
Ein Verbands-Insider rechnet mit einem
„Shootout nach der WM“. Einstweilen gehen sich die Streithähne aus dem Weg.
Sammer, der es als Unverschämtheit empfand, dass ihn Bierhoff Ende Februar per
Anruf am Besuch des Länderspiels in Florenz hindern wollte, kündigte zwar sein
Erscheinen bei deutschen WM-Spielen an.
Mit erstaunlicher Gelassenheit aber kommentierte er, dass er im Teamquartier unerwünscht ist.
Der frühere Trainer von Borussia Dortmund und des VfB Stuttgart wartet ab.
Mancher seiner Ratgeber glaubt, dass
Klinsmann sich „zu viele Feinde geschaffen hat“, um nach der WM im Amt zu
bleiben.
DFB-Schatzmeister Heinrich Schmidhuber stellt zudem die Kostenfrage. Klinsmanns Crew, die er maliziös das „Imperium“ nennt, verschlinge mehr als doppelt
so viel wie der Stab der WM 2002, war zu
hören. Allein Torwarttrainer Andreas Köpke soll 500000 Euro im Jahr kassieren, Vorgänger Sepp Maier bezog eine Tagespauschale von 300 Euro. Mit Blick auf die
Heim-WM habe der DFB „gewisse Zugeständnisse“ gemacht, sagt Schmidhuber,
danach werden „die Karten neu gemischt“.
Die Fitmacher aus Arizona, „Gymnastikfreaks“, wie ein Funktionär höhnt, stünden ebenso zur Disposition wie Klinsmanns
Heimflüge nach Los Angeles. Auch die –
kein Geschenk des DFB-Partners Lufthansa, wie häufig angenommen, sondern „ein
Ausgabenposten, der zu Buche schlägt“ –
müssten „neu verhandelt werden“, kündigt der strenge Schatzmeister an.
Die Fronten sind verhärtet, vor allem in
der Wohnortfrage wird der Wahlkalifornier nicht mit sich reden lassen. Ob er angesichts solcher Widerstände den Vertrag
überhaupt verlängern will?
Ein Argument könnte ihn wohl zum
Bleiben bewegen, meint ein enger Klinsmann-Mitarbeiter. „Man müsste ihm nur
sagen: Sonst macht’s der Sammer.“
Jörg Kramer
Gesellschaft · Sport
Die Blutspendergrätsche
Ortstermin: In Düsseldorf gibt Berti Vogts alles für die WM.
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Nebenan bedankt sich der Professor bei
Berti Vogts und erklärt, dass bei sportlichen Großereignissen wie der WM natürlich – mit so viel Welt zu Gast bei Freunden
– auch mehr als sonst passiere, dass aber
gerade in solchen Zeiten die Spendenbereitschaft sinke, daher die Aktion. Er lasse
zur WM hier eine Großbildleinwand installieren, um die Menschen vom Sofa in
die Blutspendezentrale zu locken; Hilfsslogan: „Steht auf, wenn ihr Spender seid“.
Vogts, stehend, spricht kurz von der
Sonnenseite des Lebens und vom Rand
der Gesellschaft und all so was, und da es
keine Fragen mehr gibt, fährt er mit dem
Signieren fort. Von allen Stationen hat sich
Personal zusammengerottet, Fußbälle und
Blutspendengummiknetbälle werden ihm
angereicht, und Vogts kringelt und kringelt, erzählt dabei, dass er zuletzt
vorgestern, beim Rasieren, Blut
verloren habe, dass das Eröffnungsspiel sehr wichtig sei, dass
1974 alles noch nicht so schlimm
war mit den Medien und dass
sein Favorit die Italiener seien.
Nur die könnten Brasilien schlagen. Außer, pardon, Deutschland
natürlich.
Er selbst werde während der
WM Spiele beobachten und sie
„natürlich analysieren“ und diese Erkenntnisse dann dem DFB
zugänglich machen. Denn da sei
viel verpasst worden, vor allem
im Nachwuchsbereich. Deutschland braucht frisches Blut.
Ein Arzt möchte dem Professor einen signierten Ball abschwatzen. Die sind für Spender gedacht,
sagt der Professor, lassen Sie sich doch Ihren
Kittel signieren. Der Arzt zieht beleidigt
von dannen.
Berti Vogts will die Sache nun zu Ende
bringen und sein Blut loswerden. Aber auch
ein Weltmeister muss sich testen lassen, bevor er spenden darf, sagt der Professor, heute wird das nichts mehr. Melden Sie sich?,
fragt Vogts nachdrücklich, auf dem Platz
wurde er Terrier genannt. Der Professor
nickt. Und weil Vogts ein Mann ist, auf den
Verlass ist, wenn es hinten eng wird, deshalb
wird der graue Porsche in ein paar Tagen
wieder vor der Blutspendezentrale parken.
500 Milliliter Blut sind abzuliefern und ein
paar Autogrammkarten für die Intensivstation. Wie vereinbart.
FOTOS: ULRICH BAATZ
D
eutschland braucht frisches Blut, her, Blitz, Blitz, erst mal die Fotos. Vogts ist
das ist ja klar. Besonders bei Groß- der Einladung der Agentur Special Key geereignissen, sagt Professor Rüdiger folgt, hier heute „Cause Marketing“ zu beScharf. Er steht mit seiner Frau und einigen treiben, was früher mal „Guter Zweck“ geJournalisten vor dem Eingang zur Blut- nannt wurde.
Das ist Frau Vis, sagt der Professor und
spendezentrale des Universitätsklinikums
Düsseldorf und wartet. Er trägt einen deutet auf eine der liegenden Personen,
weißen Kittel, seine Frau ein hübsches ro- Frau Vis spendet regelmäßig bei uns, sie ist
tes Stehempfangskleid, sie tippelt von ei- Lehrerin. Frau Vis hat auch zwei Fußbälle
dabei, die sie sich signieren lassen möchte
nem Fuß auf den anderen.
Am vergangenen Wochenende hat der – für ihre Schüler. Autogramme von Berti
von der Boulevardpresse so genannte – für einen halben Liter Blut. Ich muss doch
Amok-Stecher in Berlin eine „800 Meter die Kanüle anlegen, jammert die von Folange Blutspur durch das Regierungsvier- tografen zur Seite geschobene Krankentel“ gestochen, und die Angst der Deut- schwester, die an der Ellenbeuge von Frau
schen vor der Weltmeisterschaft gilt nun Vis rumfuhrwerkt.
Vogts malt Eddingkringel auf die Ledernicht mehr nur den brasilianischen Stürmern. Falls irgendwo rund um die Stadien bälle, höchstwahrscheinlich heißt, was er
Blut fließen sollte nach dem 9. Juni, muss da kringelt: Berti Vogts. Es könnte aber
vorher welches geflossen sein.
Das ist wichtig, dafür muss man
werben, und dafür braucht man
Leute, auf die man sich verlassen kann.
Ein Porsche biegt um die Ecke,
der Professor federt zum Parkplatz, wo der Porsche gerade sanft
ausblubbert. Es steigt aus: Berti
Vogts. Na endlich. Schön, dass es
geklappt hat, sagt der Professor,
und Berti Vogts bekommt einen
Button ans Revers gepinnt, „Mein
Blut tut D’dorf gut“.
Sie streiken ja gar nicht, sagt
Berti Vogts.
Nee, nee, lacht der Professor.
Na dann, nickt Berti Vogts und
fragt, ob er denn auch direkt an Blutwerber Vogts: „Steht auf, wenn ihr Spender seid“
eine Kanüle angeschlossen werde. Er ist wie früher auf dem Platz, Ärmel auch „Blut Spenden“ heißen. Oder „Düshochkrempeln und grätschen, bis Blut fließt. sel Dorf“ – es sind eben richtige AutoAber sie wollen sein Blut erst mal nicht, gramme, die er da aufs Leder quietscht.
Jetzt mal mit den Kindern reden, forsie wollen nur seinen Namen. Er solle heute nur Fußbälle signieren, „nur“ in An- dert ein Fotograf, obwohl Vogts längst
führungsstrichen, sagt der Professor und spricht. Los, Berti!, ruft der Fotograf. Warum glaubst du denn, dass wir nicht Weltlacht wieder.
Doch Vogts lässt nicht locker: Kann ich meister werden, fragt Vogts einen 13-Jähridenn überhaupt noch spenden, in meinem gen im Ballack-Trikot. Weil die Spieler zu
schlecht sind, sagt Manuel, MittelfeldspieAlter?, fragt er.
Wie vieles, so wurde auch die Alters- ler bei Teutonia St. Tönis. Wart mal ab,
grenze für Blutspender hochgesetzt, bis die werden über sich hinauswachsen, sagt
zum 68. Lebensjahr ist das nun möglich. Vogts, pustet seine Signatur trocken und
gibt Manuel den Lederball zurück. Wir haDann geht das ja, sagt Vogts.
Im Blutspenderaum liegen ein paar Frei- ben’s dann so weit, danken die Fotografen,
willige, denen schon die Arme abgebunden und die Meute zieht einen Raum weiter,
wurden, zwischen ihnen stehen fünf Jungs endlich kann die Blutentnahme bei Frau
in Trikotmontur, mit Fußbällen in der Vis beginnen. Sie knetet einen Gummiball,
Hand, dazwischen wuseln Fotografen um- damit das Blut schön pumpt.
Benjamin von Stuckrad-Barre
Wirtschaft
Trends
PLAMBECK / LAIF
NORBERT FÖRSTERLING / PICTURE-ALLIANCE / DPA
BAH N-I M MOBI LI EN
Arbeitsagentur (in Berlin)
Rechnungshof fordert
Geld zurück
erade hat Bahnchef Hartmut Mehdorn im monatelangen Konflikt um
G
die Zuordnung der Bahn-Immobilien
eingelenkt, droht schon der nächste
Krach mit der Bundesregierung um eine
Rückzahlung der in diesem Fall zu viel
gezahlten Fördermittel. Hintergrund:
Nach der Bahnreform von 1999 hätte
der Konzern alle „betriebsnotwendigen
Immobilien“ wie Bahnhöfe und Gleise
an die jeweiligen Infrastrukturtöchter,
DB Station & Service AG und DB Netz
AG, übertragen müssen. In vielen Fällen
geschah das nicht, wie der Bundesrechnungshof im Sommer 2005 feststellte.
Insider schätzen, dass 30 bis 40 Prozent
dieser Immobilien bei der DB AG geblieben sind, darunter Filetstücke wie
die Hauptbahnhöfe von Frankfurt am
Main, Hamburg und Stuttgart. Der
Rechnungshof hatte erst kürzlich das
Verkehrsministerium aufgefordert, „un-
Callcenter (in Heilbronn)
HARTZ IV
Sechs Prozent Falschmeldungen
M
SPENDEN
Kritik an Krombacher
ie Umweltorganisation World Wide
Fund for Nature (WWF) kommt
D
erneut unter Druck wegen der Zusam-
DANIEL MODJESCH / ACTION PRESS
menarbeit mit dem Bierbraukonzern
Krombacher. Bis zum Endspiel der
Fußballweltmeisterschaft am 9. Juli soll
von jeder verkauften Flasche Bier jeweils ein Cent an den WWF, das Deutsche Kinderhilfswerk oder die Deutsche
Knochenmarkspenderdatei abgeführt
werden. Auf der Stuttgarter EnviComm,
einer Fachkonferenz für Industrievertreter und Umweltverbände zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, wurde die WWF-Aktion, die
bereits 2002 rund 2,4 Millionen Euro für
ein Regenwaldprojekt in Zentralafrika
eingespielt hatte, als „Umwelt-Marketing“ kritisiert. So sei auch der Einsatz
der TV-Stars Günther Jauch oder des
Fußballers Rudi Völler, über deren
Honorierung nach Angaben von Krombacher „Stillschweigen der Kooperationspartner“ vereinbart wurde, vor
allem auf den Produktverkauf gerichtet
und nicht auf ein dauerhaftes soziales
oder gesellschaftliches
Engagement. Die Kunden, die beim Getränkehändler, per Internet
oder via SMS über den
Spendenempfänger
entscheiden können,
lassen den Naturschutz
zudem links liegen:
Für den WWF mit
dem Wappentier Panda entscheiden sich
bislang nur ein Viertel
der Spendenwilligen.
Völler
d e r
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PAUL LANGROCK / ZENIT
indestens sechs Prozent der Hartz-IV-Empfänger beziehen ihre Unterstützung
zu Unrecht oder erhalten zu hohe Leistungen. Das ist das Ergebnis einer
neuen Telefonumfrage, mit der die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit derzeit
einen Teil ihrer Hartz-IV-Empfänger überprüft. Dabei waren rund 35 Prozent der
Angerufenen trotz mehrfacher Versuche nicht erreichbar oder nicht bereit, mit den
Agenturmitarbeitern zu sprechen. Von den Übrigen mussten in rund sechs Prozent
der Fälle Leistungen gekürzt oder zurückgenommen werden, weil die Betroffenen
inzwischen einen Job gefunden oder sonstige Einkünfte nicht korrekt angegeben
hatten. Bei den unter 25-Jährigen lag der Anteil sogenannter Statusänderungen
bei fast zwölf Prozent, bei den über 50-Jährigen dagegen bei lediglich knapp vier
Prozent. Die Nürnberger Bundesagentur hat seit Jahresbeginn rund 100 000
Bezieher von Arbeitslosengeld II in rund 20 Jobcentern im ganzen Bundesgebiet befragt.
Gleisanlagen (in Frankfurt am Main)
verzüglich eine Korrektur der Eigentumsverhältnisse“ durchzusetzen. Begründung: Die DB AG verlange von
ihren Töchtern, deren Abspaltung bei einem Börsengang zur Debatte steht, für
eigentlich ihnen zustehende Immobilien
auch noch Pacht, jährlich etliche Millionen Euro. Dadurch werde deren „ohnehin angespannte Eigenmittelsituation
zusätzlich belastet“. In der Folge zahle
der Bund für Baumaßnahmen, die die
Infrastrukturtöchter „aus Eigenmitteln
hätten finanzieren müssen“ – aus Sicht
der Prüfer Verschwendung von Bundesmitteln. Der Rechnungshof kommt zu
dem Schluss, dass der Bund unnötig an
die DB AG gezahlte Zuschüsse samt
Verzinsung zurückfordern müsse. „Wir
werden eine mögliche Rückzahlung prüfen, sobald uns der ausführliche Bericht
vorliegt“, heißt es aus dem Ministerium.
83
Trends
HANDEL
Geiz bleibt geil
ange waren die deutschen Verbraucher nicht mehr so konsumfreudig wie in den ersten vier Monaten dieses Jahres –
um 3,5 Prozent stieg die private Nachfrage nach Gütern des täglichen Bedarfs. Dennoch haben die Kunden ihre Geiz-ist-GeilMentalität nicht abgelegt. Vor allem beim Lebensmitteleinkauf,
dem größten Posten im Konsumbudget, achten sie nach wie vor
auf den Preis. Kräftig gestiegen sind deshalb in den ersten vier
Monaten nur die Umsätze der Discounter Aldi und Lidl – und
zwar um rund 7 Prozent nach Berechnungen des Marktforschungsunternehmens GfK. Der traditionelle Lebensmittelhandel kam nur auf ein Plus von 2 Prozent. Die großen Verbrauchermärkte mussten sich gar mit einem Minizuwachs von 0,3
Prozent begnügen. Die meist auf der grünen Wiese angesiedelten Verbrauchermärkte litten vor allem unter den gestiegenen
Benzinpreisen. In deren Folge, so die GfK, hätten die Kunden
ihre Fahrten zu den Großmärkten um vier Prozent reduziert.
FELIX HEYDER / PICTURE-ALLIANCE/ DPA
L
Kaufhaus (in Düsseldorf)
BOEING
KOR RU P T ION SBE K Ä M PF U NG
Teltschik auf dem Abflug
D
allem Polit-Profis wie den ehemaligen
Kanzleramtsberater Horst Teltschik, 65,
anheuerte. Das soll sich nun ändern. Auf
den Posten von Pickering rückte bei
Boeing kürzlich eine hochrangige Topmanagerin des Konzerns, die anstelle der
Altpolitiker verstärkt industrieerfahrene
Lobbyisten einsetzen möchte. In
Deutschland wird dieser Strategiewechsel
bereits im Sommer umgesetzt. Vor einigen Wochen signalisierte Teltschik, einst
enger Vertrauter von Altbundeskanzler
Helmut Kohl, dem neuen Boeing-Chef
James McNerney, dass er seinen Vertrag
in Berlin nicht verlängern und Ende Juni
ausscheiden will.
J. H. DARCHINGER
ECO CLEMENT/ GAMMA / STUDIO X
er US-Flugzeugriese Boeing will den
Abgang von zwei prominenten Cheflobbyisten nutzen, um sein weltweites
Beziehungsnetz umzubauen. Auslöser ist
der Rückzug des ehemaligen Spitzendiplomaten Thomas Pickering, 74, der
seit 2001 die Abteilung für internationale
Angelegenheiten des Konzerns leitete
und am 1. Mai in den Ruhestand wechselte. In seiner Amtszeit hatte der Manager
rund ein Dutzend Statthalter in europäischen Metropolen ernannt, die den Amerikanern neue Geschäftschancen fern der
Heimat erschließen sollten. Der Erfolg
der großangelegten Werbeoffensive hielt
sich aber in Grenzen, weil Pickering vor
Kohl, Teltschik (1984)
84
Politiker dürfen
WM-Tickets annehmen
rotz des Ermittlungsverfahren wegen Vorteilsgewährung gegen
T
EnBW-Chef Utz Claassen, der mehre-
McNerney
d e r
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ren baden-württembergischen Landespolitikern WM-Tickets geschickt hatte,
brauchen sich die meisten Politiker
keine Sorgen machen. Denn deutsche
Volksvertreter in Bund, Ländern und
Kommunen dürfen von jedermann beliebig Geschenke annehmen – nur der
Verkauf von Stimmen bei konkreten
Abstimmungen oder Wahlen ist ausdrücklich verboten. Dabei hat der Europarat bereits 1999 ein Strafrechtsübereinkommen zur Korruptionsbekämpfung abgeschlossen. In diesem Papier
werden Abgeordnete mit Beamten und
Amtsträgern gleichgestellt, so dass auch
die Bestechlichkeit bei Volksvertretern
mit Strafe bedroht wird. Die Annahme
von teuren Geschenke wie WM-Karten
wäre dann für einen Abgeordneten
strafbar, wenn er sich als „Gegenleistung“ für eine bestimmte Angelegenheit
einsetzen oder seinen Einfluss geltend
machen würde. Deutschland gehört
jedoch wie Frankreich zu den 12 der
46 Mitglieder des Europarates, die das
Übereinkommen immer noch nicht ratifiziert haben, während selbst Staaten
wie Moldawien, Aserbaidschan oder die
Türkei die Vorgaben bereits in nationales Recht umgesetzt haben.
Geld
GENERIKA
E
in ungewöhnlich aggressiver Preiswettbewerb sorgt auf dem deutschen Generika-Markt für trübe Stimmung. Marktführer Sandoz/Hexal, seit
vorigem Jahr Teil des Novartis-Konzerns, war mit einem Preisnachlass von
jährlich 67 Millionen Euro auf das
gesamte Sortiment seiner patentfreien
Medikamente vorige Woche vorgeprescht. Nummer zwei und drei in
Deutschland, die private Ratiopharm
und die börsennotierte Stada AG, die
mit Hexal zusammen fast 60 Prozent
des deutschen Markts beherrschen,
zogen nach. Besonders die Stada AG,
die vorigen Dienstag Preissenkungen
zum 1. Juli von 50 Prozent in der Spitze
ankündigte, wurde von den Anlegern
mit einem Kurseinbruch bestraft. Doch
die Reaktion scheint übertrieben. Denn
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt
verbot sogenannte Naturalrabatte, Gratispackungen im Wert von mehreren
hundert Millionen Euro, mit denen vor
allem die drei großen Generika-Hersteller die Apotheker zur Abgabe ihrer
Produkte bewegten. Die Großen können
nun darauf hoffen, dass kleine Anbieter
nicht mehr mithalten können und deren
Marktanteile frei werden. Die Stada AG
hält trotz Preisrutsch an den positiven
Prognosen für das laufende Jahr fest.
Pharma-Aktien Kurse in Euro
47
Quelle: Thomson Financial Datastream
40
38
46
36
34
45
32
30
44
28
26
43
Jan.
Febr.
März
April
Mai
Jan.
Febr.
März
April
Mai
JENS RÖTZSCH / OSTKREUZ
Übertriebener Kurseinbruch
Grandhotel Heiligendamm
IMMOBILIENFONDS
Luxus lohnt nicht
F
ondsanleger, die in Luxusimmobilien der Fundus-Gruppe investiert haben, müssen genügsam sein. Wer sich am
Fünf-Sterne-Grandhotel Heiligendamm
an der Ostsee beteiligt hat, wurde mit
jährlichen Ausschüttungen von fünf
Prozent angelockt. Tatsächlich gab es
2004 gar keine Ausschüttung. Für 2005
wird es nach Auskunft eines Sprechers
der Fundus-Gruppe ebenfalls nichts
geben, auch 2006 sieht es mau aus. Erst
2007 soll mit der Ausrichtung des G-8Gipfels in Heiligendamm der große
Durchbruch kommen. Derweil hoffen
die Fundus-Leute auf den Stadtrat von
Bad Doberan, der weniger betuchten
Touristen den Spaziergang durch das renovierte Prunkstück am Meer verbieten
soll. Auch viele Anleger, die insgesamt
rund 220 Millionen Euro Eigenkapital in
das Berliner Adlon-Hotel investiert
haben, sind vergrätzt. Da Fundus nicht
mehr genug Neuanleger finden konnte,
sollen die Eigentümer des geschlossenen
Immobilienfonds nun einer Erhöhung
der Fremdkapitalquote zustimmen. Die
Ausschüttung lag 2005 bei zwei Prozent.
Goldmine (in Australien): Würde die Lieferung von Erzen eine Woche aussetzen, käme die globale Produktion ins Stocken
B O D E N S C H ÄT Z E
Die Macht der Minenriesen
M
it 36 Jahren war der Mann aus
dem Erzgebirge, der sich später
Charles Rasp nannte, noch auf der
Suche nach seiner Bestimmung. Die Frau,
die er liebte, eine Gräfin, durfte er nicht
heiraten. Und die Gräuel, die er als Offizier
der Königlich Sächsischen Armee im Krieg
von 1870/71 erlebte, hatten ihn tief erschüttert. Sein bester Freund war an der
Front gefallen.
Rasp wanderte nach Australien aus,
nach New South Wales, er hielt sich mit
Hilfsjobs auf Farmen über Wasser. An einem Septembertag des Jahres 1883 war er
als Grenzreiter unterwegs, da fiel ihm auf
einer Anhöhe namens Broken Hill dieser
besondere Felsen auf.
Das Gestein schimmerte schwarz und
glänzte matt – Zinn, dachte sich Rasp. Er
nahm ein Stück mit und untersuchte es.
Tatsächlich enthielt die Probe Zinn, aber
86
außerdem noch Zink, Blei und Silber.
Rasp, so würde sich bald herausstellen,
hatte eines der weltgrößten derartigen
Vorkommen entdeckt. „Ich war ziemlich
naiv“, bekannte er später.
Er steckte den Claim ab, 16 Hektar groß,
und gründete mit sechs Farmkollegen
einen Minenbetrieb, den sie „Broken Hill
Proprietary Company“ nannten, kurz:
BHP. Heute ist es der größte Bergbaukonzern der Welt. 37 000 Menschen arbeiten
für BHP Billiton, wie das Unternehmen
inzwischen heißt. Es fördert fast alles, was
die Erde hergibt: Eisenerz, Kohle und Kupfer, Öl und Gas, Gold und Silber, sogar
Diamanten. Die Zentrale liegt im Zentrum
von Melbourne an der Londsdale Street,
ein schickes neues Gebäude, erst zwei
Jahre alt. Man kann es sich leisten.
Dem Unternehmen geht es blendend.
„The Big Australian“, wie der größte Ind e r
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2 3 / 2 0 0 6
dustriekonzern des Landes auch genannt
wird, legt Rekordergebnisse in Serie vor.
Dem stehen die anderen Großen der Rohstoffbranche kaum nach.
Weder der alte BHP-Rivale Rio Tinto,
der in Melbourne nur drei Straßen weiter
seine Dependance unterhält, noch der
britisch-südafrikanische Minenkonzern
Anglo American oder der brasilianische
Eisenerzgigant CVRD (Companhia Vale do
Rio Doce). Ihre Produkte sind begehrt wie
lange nicht mehr.
Nach zwei Jahrzehnten der Stagnation
erlebt die Traditionsbranche eine fulminante Rückkehr. Mit ungeheurer Dynamik
treiben die Wachstumsmärkte in China
und Indien das Geschäft an. Inzwischen
dauert der Aufschwung der Branche schon
länger als jeder andere nach dem Krieg.
Und die Konzerne investieren weiter, als
könne es immer nur aufwärtsgehen.
GREG WOOD / AFP
Umbruch in der Bergbauindustrie: Die Unternehmen erzielen Rekordgewinne,
nur eine Handvoll Konzerne bestimmt weltweit das Geschäft. Je länger aber der Boom anhält,
umso größer wird das Risiko: Lohnt es sich noch, weiter in den Ausbau zu investieren?
Eine riskante Strategie: Sie setzt voraus,
dass der Bedarf kontinuierlich weiterwächst. Das aber hängt ganz und gar von
einem Faktor ab, den sie kaum beeinflussen können: der Nachfrage aus China.
Skeptiker wie der Morgan-Stanley-Analyst Stephen Roach warnen, dass China
versuchen werde, die Rohstoffabhängigkeit seiner Volkswirtschaft zu reduzieren:
„Die Theorie ständig steigender Rohstoffpreise basiert auf der falschen Annahme,
dass China auf dem gleichen Kurs bleibt
wie in den vergangenen 27 Jahren“,
meint Roach.
Seine Prognose: „Auch diese Blase
wird platzen.“ Tatsächlich fühlten sich
die Skeptiker in den vergangenen Wochen
bestätigt, als die Preise einiger Rohstoffe
zwischenzeitlich kräftig nachgaben.
Praktiker wie der BHP-Vorstand Bob
Kirkby sind zuversichtlicher. Der Heißhunger auf Rohstoffe werde so lange anhalten,
erwartet der Manager, „wie das chinesische Volk so leben will wie wir“. Kirkby
war zuletzt für den wichtigsten Unternehmensbereich zuständig, die Eisenerzsparte.
Er kennt das Auf und Ab im Geschäft, er
hat im Laufe der Jahre so manchen Zyklus mitgemacht. Doch noch keiner glich
auch nur annähernd dem jetzigen.
Als er in den sechziger Jahren seine
Karriere startete, stieg Japan gerade zur
ökonomischen Weltmacht auf, gefolgt von
Südkorea. Die Nachfrage nach Bodenschätzen wuchs damals sprunghaft an.
Heute geschehe mit China etwas ganz
Ähnliches, „allerdings in einem anderen
Maßstab“, sagt Kirkby: „Es gibt etwa 125
Millionen Japaner und 50 Millionen Südkoreaner – in China geht es um ein Fünftel der Menschheit.“
In nur vier Jahren hat BHP Billiton
die Verkäufe in die Volksrepublik verfünfzehnfacht, der China-Faktor hat das
Gesicht der gesamten Rohstoffbranche
komplett verändert: Nur noch eine Handvoll Unternehmen bestimmt das globale
Geschäft. Wohl keine andere Industrie hat
RAINER WEISFLOG (L.); DAVID GRAY / REUTERS (R.)
Wirtschaft
Stahlarbeiter, Riesenlaster: Monatelange Lieferzeiten für Spezialpneus
in den vergangenen Jahren einen solch
tiefen Strukturwandel erlebt.
Angetrieben wird er durch eine Welle
von Akquisitionen, meist bar bezahlt aus
den dank des Rohstoffbooms kräftig gestiegenen Gewinnen. In den Konzernen
sind komplette Stäbe nur damit beschäftigt,
vielversprechende Kandidaten zu identifizieren. Milliarden werden lockergemacht,
um neue Firmengebilde zu schaffen. Viele
alte Namen des Gewerbes verschwinden
ein für alle Mal von der Bildfläche.
Der kanadische Kupferproduzent Rio
Algom etwa fiel im Jahr 2000 an das südafrikanische Unternehmen Billiton; ein
Jahr später wurde Billiton wiederum von
BHP geschluckt. Auch Minenbetreiber wie
North, Ashton oder Comalco sind nicht
mehr eigenständig, sie alle hat Rio Tinto
übernommen. Die neuen Bergbaugiganten
decken die ganze Palette an Rohstoffen ab.
BHP Billiton etwa ist weltweit die Nummer eins im Markt für Kokskohle, die
Nummer zwei bei Kupfer und die Nummer
drei bei Nickel. Selbst im Öl- und Gasgeschäft spielt die Gesellschaft eine bedeutende Rolle, im Golf von Mexiko gehört sie
zu den wichtigsten Förderern.
Lizenz zum Schürfen
UMSATZ
31,8 Mrd. $
GEWINN
6,4 Mrd. $
MITARBEITER
37 000
AKTIENKURS in Euro
19
Gleichzeitig schreitet die Konsolidierung
auch in den einzelnen Rohstoffklassen voran. Im Markt für Nickel etwa, dessen Preis
sich seit Jahresbeginn mehr als verdoppelt
hat, liefern sich gerade mehrere Unternehmen eine milliardenschwere Übernahmeschlacht um den kanadischen Produzenten Falconbridge.
Das Kalkül hinter solchen Feldzügen ist
klar: Die Exploration neuer Lagerstätten ist
mühsam, sie zieht sich über Jahre hin und
trägt stets das Risiko des Scheiterns in sich.
Wer hingegen ein erschlossenes Vorkommen übernimmt, weiß recht genau, wofür
er sein Geld ausgibt.
So sind die Erzproduzenten immer
größer und mächtiger geworden. Ihr Einfluss ist in den vergangenen Jahren derart
gewachsen, dass es ihren Abnehmern zuweilen schwerfällt, mit ihnen auf Augenhöhe zu verhandeln.
Im Eisenerzgeschäft kontrollieren nur
drei Konzerne – CVRD, Rio Tinto und
BHP Billiton – etwa drei Viertel des weltweiten Angebots. Würde dieses Oligopol
bloß eine Woche die Lieferungen an die
Stahlfirmen aussetzen, käme die gesamte
Industrieproduktion ins Stocken. Die Welt-
Die größten Minenkonzerne der Welt
UMSATZ
29,4 Mrd. $
GEWINN
3,5 Mrd. $
MITARBEITER
195 000
AKTIENKURS in Euro
UMSATZ
19,0 Mrd. $
GEWINN
5,2 Mrd. $
MITARBEITER
27 800
50
AKTIENKURS in Euro
30
40
UMSATZ
13,9 Mrd. $
GEWINN
4,3 Mrd. $
MITARBEITER
38 800
AKTIENKURS in Euro
40
15
30
12
30
20
Quelle: Thomson
Financial Datastream
9
2005
2006
2005
2006
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Historische Gipfel
Wie Fondsmanager und Kleinanleger vom grassierenden
Rohstofffieber profitieren wollen
D
ie Männer in den blauen Overalls
wirken völlig entspannt, der Anblick der glänzenden Schätze um
sie herum löst beim Personal des Hanauer Heraeus-Konzerns keine Ehrfurcht aus. Wie beim Pferdeschmied
wird da gerade ein dicker Barren mit
groben Hammerschlägen behandelt. Der
Brocken ist 33 Kilogramm schwer, besteht aus Platin-Rhodium und hat einen
Wert von 2,5 Millionen Euro.
Arbeiter mit Schutzbrille und silberfarbenen Handschuhen bis zu den Ellbogen kochen und gießen in der Edelmetallschmelze täglich Millionenwerte.
Mit Zangen greifen sie sich die glühenden Barren, die vor zwei Jahren noch
fast die Hälfte wert waren.
Im Mai 2004 lag zum Beispiel der Platinpreis bei 800 Dollar je Feinunze, heute sind es über 1300. Der Goldkurs hat
sich in dieser Zeit ebenfalls beinahe verdoppelt. Die Unze lag Mitte Mai gar über
700 Dollar.
Die Preisrallye lockt auch die Kleinanleger. Und für jeden Geschmack gibt
es das richtige Produkt – für Risikofreunde wie für Nummer-Sicher-Geher.
Die ängstliche Fraktion bunkert gern
Hanauer Goldprodukte im Tresor. „Seit
rund eineinhalb Jahren hat der Umsatz
mit Goldbarren spürbar zugenommen“,
freut sich Hans-Günter Ritter, Chef des
Edelmetallhandels.
Nicht nur Gold und Platin glänzten
in jüngster Vergangenheit mit wahren
Wertexplosionen. Beinahe die gesamte
Rohstoffpalette sorgt für eine selten dagewesene Geldvermehrung. Ähnliche
Höhenflüge gab es zuletzt vor 25 Jahren.
Egal ob Öl, Kupfer, Zink, Silber oder
Titan – an den Warenbörsen in New
York, London, Tokio oder Chicago
schaffte es beinahe jeder Rohstoff in den
vergangenen Monaten auf historische
Preisgipfel. Die US-Investmentbank
Goldman Sachs verarbeitet die täglichen
Kursdaten von 24 Rohstoffen in einem
Index, dessen Wert sich innerhalb von
drei Jahren glatt verdoppelt hat (siehe
Grafik).
Blind vertrauen dabei viele Anleger
auf den anscheinend unstillbaren Rohstoffhunger der prosperierenden Riesenreiche China und Indien. Fonds pumpen plötzlich Unsummen in Aktien von
Förderfirmen und die vergleichsweise
kleinen Rohstoffmärkte. „Die Jahres88
produktion von Palladium im Wert von
2,5 Milliarden Dollar verfrühstückt ein
einziger Hedgefonds“, beschreibt Ritter
das Phänomen der engen Märkte. Das
Frischgeld der mächtigen Spieler sorgt
für schnelle, aber gefährlich schwankende Preisentwicklungen.
Entsteht da schon eine neue Spekulationsblase? Ist das ökonomische Blutbad
nach dem Ende des Internet-Booms vor
sechs Jahren bereits vergessen? Droht
bald der Crash?
Vorvergangene Woche fühlten sich die
Untergangspropheten erstmals bestätigt.
Im Zuge der Angst vor konjunkturbremsenden Zinserhöhungen der USNotenbank brachen auch die Notierungen für Kupfer, Gold und andere Rohstoffe ein. Fonds hatten Kasse gemacht.
Inzwischen scheint das Debakel schon
fast wieder vergessen. Vor allem die
Preise für Basismetalle erholten sich
schnell, weil die Lagerbestände weiter
sinken. „Wie im Tollhaus“, umschreiben
allerdings Händler die derzeitige Situation am Terminmarkt für Kupfer, wo die
Preise besonders gefährlich schwanken.
Gebetsmühlenartig predigen die Banker ihren Kunden derzeit, einen Anteil
von fünf bis zehn Prozent im Depot zu
halten. Selbst die kleinsten Kunden kriegen nun Anrufe von ihren Beratern, die
sie zum Kauf von Rohstoffaktien-, Rohstoffindex-Fonds oder den komplexeren
Zertifikaten, die sich von einem einzel-
Goldman Sachs Rohstoffindex
Der GSCI Rohstoffindex beinhaltet
die wichtigsten 24 Rohstoffe aus den
Bereichen Edelmetalle, Industriemetalle, Energieträger,
Agrar- und Tierprodukte
450
Quelle: Thomson
Financial Datastream
400
350
300
250
200
2003
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Edelmetallschmelze von Heraeus
Selten dagewesene Geldvermehrung
nen Basiswert wie zum Beispiel Gold ableiten, überreden wollen.
Nach anfänglichem Zögern steigen institutionelle Großanleger wie Pensionskassen ebenso ein wie Kleinaktionäre.
Bei der US-Investmentbank Merrill
Lynch floss allein aus Deutschland im
ersten Quartal des Jahres die Rekordsumme von 500 Millionen Euro netto in
die Kasse des World Mining Fund.
Mit einem Volumen von weit über
sechs Milliarden Dollar gilt der Fonds,
der nur in Aktien von Rohstofffirmen
wie etwa Rio Tinto investiert, weltweit
als erste Adresse. Der Geologe Graham
Birch ist Chef des Fondsteams. Die
Branchenlegende steigt vor dem Investment schon mal persönlich in eine
Goldmine. Birch schaffte mit dem World
Mining Fund eine Dreijahresrendite von
über 250 Prozent.
Dagegen wirken die Verhältnisse bei
heimischen Anbietern bescheiden. Die
Deutsche-Bank-Tochter DWS produzierte etwa mit ihrem Commodity Plus
seit März 2005 eine Rendite von 18 Prozent. Laut Branchenstatistik flossen vergangenes Jahr rund eine halbe Milliarde
Euro Frischgeld in alle deutschen Rohstofffonds. In den ersten vier Monaten
dieses Jahres sind es schon 640 Millionen
Euro – Treibstoff für neue Exzesse.
So erlebte zum Beispiel die australische Uran-Aktie Paladin Resources seit
Anfang 2004 eine sagenhafte Kurssteigerung von über 7000 Prozent. Und das, obwohl das Unternehmen bislang noch gar
kein Uran gefördert hat.
Beat Balzli
Wirtschaft
drei Millionen Dollar, liegen bei mindestens 18 Monaten. Inzwischen ist es sogar
üblich, Neufahrzeuge ohne Reifen zu verkaufen: Die Fünf-Tonnen-Spezialpneus
sind noch schwerer zu bekommen.
Michelin und Bridgestone, die Hauptanbieter, zögern, ihre Kapazitäten zu erweitern. Sie haben schlechte Erfahrungen
gemacht: Vor Jahren gaben sie einmal dem
Drängen der Bergbauindustrie nach, doch
dann blieb die erwartete Nachfrage aus –
und die Branche auf der Ware sitzen.
Ausgesprochen zyklisch entwickelt sich
auch der Personalbedarf im Rohstoffgewerbe. Vor einigen Jahren kam es vor, dass
sich Geologen in Perth als Taxifahrer verdingen mussten. Heute gehören Leute mit
solchen Qualifikationen zu den begehrtesten Kräften Australiens. Wer nach dem
Examen einen Vertrag unterschreibt, steigt
zuweilen mit einem Jahresgehalt von umgerechnet fast 100 000 Euro ein.
Mehr noch als die Personalkosten machen der Bergbaubranche aber die Ausgaben ausgerechnet für Rohstoffe zu schaffen. Eine Minenanlage besteht schließlich
vor allem aus Eisen und Stahl. Und für die
Herstellung der Metalle werden Unmengen Energie benötigt.
Die Aluminiumhütte nahe dem südaustralischen Portland verbraucht zwölf Prozent des Stroms, der im Bundesstaat Victoria erzeugt wird. In einer Halle von 750
Meter Länge stehen kleine Hochöfen aufgereiht wie Sarkophage. In ihnen wird bei
950 Grad Celsius per Elektrolyse Aluminium gewonnen. Alcoa, der weltgrößte Aluminiumkonzern mit Sitz im amerikanischen Pittsburgh, stellt hier jährlich 345 000
Tonnen Aluminium her. Mit der dazu nötigen Energie könnte man rund 700 000 Einfamilienhäuser ein Jahr lang versorgen.
Jetzt investiert das Unternehmen gut eine
Milliarde Dollar in eine neue Schmelze, die
erste seit 20 Jahren. Sie wird in Island
gebaut. Dort ist dank des vulkanischen
Untergrunds Erdwärme im Übermaß vorhanden und Energie entsprechend günstig.
SINOPIX / LAIF
TIM WEGNER
wirtschaft stünde bald vor dem
Kollaps.
Kein Wunder, dass die Rohstofflieferanten derzeit überaus
günstige Konditionen durchsetzen können. In diesem Jahr haben sie den Preis um 19 Prozent
verteuert, ein Jahr zuvor betrug
der Aufschlag sogar mehr als 70
Prozent. Das Einzige, was sich
nicht verändert hat, ist das Procedere der Verhandlungen.
Jedes Frühjahr kommen die
Einkaufschefs der großen Erzlieferanten mit den Vertretern
der wichtigsten Stahlfirmen in
Japan, China und Europa zusammen.
Jeder verhandelt mit jedem:
die Brasilianer vorzugsweise
mit den europäischen Abnehmern, die Australier und Briten
sitzen japanischen und chinesischen Stahlmanagern gegenüber. Man trifft sich in Luxushotels in Tokio, Peking oder
London. Meist liegt ein Golfplatz in der Nähe.
Die Gespräche ziehen sich über Wochen
hin, bis sich eine der Verhandlungsrunden
zu einer Zahl durchringt. Nach diesem
Pilotabschluss richten sich alle anderen. In
diesem Jahr hat überraschend ThyssenKrupp Stahl den Vorreiter gespielt. Das
größte deutsche Stahlunternehmen akzeptierte am Ende, dass CVRD die Preise um
19 Prozent erhöht.
Solche Sprünge sind beispiellos in der
jüngeren Geschichte des Rohstoffgewerbes. Allerdings haben die Produzenten
Kosten zu verkraften, die ebenfalls noch
nie dagewesen sind.
Laster, Bagger, Bohranlagen: Sämtliche
Gerätschaften sind erheblich im Preis gestiegen – sofern ein Minenbetreiber überhaupt von Herstellern wie Caterpillar, Komatsu oder Liebherr versorgt wird. Die
Lieferzeiten für Riesentrucks, Stückpreis
Stadtansicht von Shanghai: „Auch diese Blase wird platzen“
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Island selbst verfügt über keinerlei Bauxitvorkommen. Das rötliche Erz, das zu
Aluminium verarbeitet wird, gelangt per
Schiff in den hohen Norden, angeliefert
aus so fernen Ländern wie Brasilien oder
Australien. Dort liegen die sogenannten
Weltklasse-Vorkommen, also Lagerstätten,
die besondere Eigenschaften miteinander
vereinen: ein großes Volumen, einen hohen Rohstoffgehalt, niedrige Förderkosten,
eine lange Lebensdauer und vor allem eine
politisch stabile Umgebung.
Lagerstätten mit solchen Voraussetzungen finden die Rohstoffkonzerne immer
seltener – auch das treibt ihre Kosten. In
den achtziger Jahren seien seine Leute in
80 Metern auf Kohle gestoßen, heute müssten sie 200 oder 300 Meter in die Tiefe gehen, sagt Ken Talbot, Chef des südaustralischen Kohlenförderers Macarthur Coal:
„Das sind neue Herausforderungen.“
So wirkt die Hochstimmung, die seit
Monaten die Rohstoffmärkte bewegt, etwas fehl am Platze. Tatsächlich stehen die
Konzernchefs vor schwierigen Entscheidungen. Die Multi-Milliarden-Dollar-Frage lautet: Wie lange hält dieser bemerkenswerte Zyklus an? Lohnt es sich noch,
in den Ausbau weiterer Vorkommen zu investieren? Vor allem: Wie sollen sie die gegenwärtig steigende Nachfrage bedienen?
Durch Zukäufe zu wachsen, wird allmählich unerschwinglich. Die andere Strategie, in eher unsichere, aber rohstoffreiche
Regionen der Welt wie Zentralafrika zu
expandieren, ist mühsam und riskant.
Eine dritte Möglichkeit wäre es, nun
auch zweit- oder drittklassige Lagerstätten
zu erschließen. Mit dieser Option sind die
Konzerne allerdings schon in den siebziger
Jahren gescheitert: Als die Weltwirtschaft
stagnierte und die Nachfrage einbrach,
mussten sie diese Minen abschreiben.
BHP-Manager Kirkby hat diese bitteren
Jahre miterlebt. Er hält nichts von der
Exploration mittelmäßiger Vorkommen.
Dann würde er schon eher den Ausbau in
heiklen Regionen vorantreiben.
Als BHP vor fast 20 Jahren mit der Erschließung der chilenischen Mine Escondida begann, regierte noch das Militärregime des Generals Pinochet, erinnert er
sich. Heute ist Escondida die größte Kupfermine der Welt und Chile eine respektierte Demokratie. „Man muss dorthin gehen, wo die Erzvorkommen sind.“
Unter diesen Umständen dürfte das
Unternehmen wohl kaum zu seinen Ursprüngen zurückkehren: Die Erzader bei
Broken Hill ist weitgehend erschöpft. In
der australischen Minenstadt erinnern nur
noch Straßennamen wie Bromide- oder
Sulphide-Street an die glanzvolle Vergangenheit. Trotzdem ist in den alten Schächten noch Leben. Jeden Tag erkunden Besuchergruppen das Tunnelsystem. Die Touristen lassen sich erzählen, wie hier einst
geschuftet wurde: Ihre Führer sind ehemalige Minenarbeiter.
Alexander Jung
89
Wirtschaft
KARRIEREN
Weißes Haus
statt Wall Street
CHARLES DHARAPAK / AP
Bushs designierter Finanzminister
Henry Paulson ist einer der reichsten
Manager der USA und überzeugter
Umweltschützer. Bekommt Washington eine neue Wirtschaftspolitik?
gründete der Präsident seine Entscheidung. Das scheint bei Bush auch vonnöten.
Aufklärung über seine Wirtschaftspolitik
ist dringend erforderlich.
Zwar zeigt die US-Ökonomie seit Jahren
ein gesundes Wachstum; im ersten Quartal
legte sie gar um 5,3 Prozent zu. Die Arbeitslosenquote beträgt 4,7 Prozent. Doch
für Bush zahlt sich das nicht aus. Seine
Umfragewerte rutschen auf immer neue
Tiefststände. Und schuld daran ist nicht allein der Irak-Krieg.
Die milliardenschweren Steuergeschenke aus Washington helfen vor allem den
Konzernen und der rasch wachsenden Kas-
Präsident Bush, Finanzmanager Paulson, Snow: Kluft zwischen Arm und Reich reißt auf
K
ein Schild am Eingang deutet darauf
hin, dass an der Adresse 85, Broad
Street eines der mächtigsten Geldhäuser der Welt residiert: Goldman Sachs.
Diskretion herrscht auch weit oben in der
Chefetage mit Blick über Manhattan.
Dicke Teppiche gibt es da, holzvertäfelte
Wände und einen Vorstandschef, der beim
Interview erst einmal selber Fragen stellt.
Was wird aus Schröder?, wollte Henry
(„Hank“) Paulson beim Gesprächstermin
im vergangenen Oktober wissen. Citibank
oder Gasprom als Arbeitgeber? Der Banker witterte schon damals, dass der Altkanzler die russische Karte ziehen würde.
Nun wechselt er selbst den Job, die Seite
und die Gehaltsklasse – was in seinem Fall
mit deutlichen Abstrichen verbunden ist.
An der Wall Street lagen seine Bezüge
allein 2005 bei astronomisch anmutenden
38,8 Millionen Dollar. Künftig erhält er
183 500 Dollar. Das dürfte indes nicht der
Hauptgrund gewesen sein, dass es doch einiger Überredungskunst bedurfte, bis er
George W. Bushs Ruf folgte und sich zum
neuen US-Finanzminister nominieren ließ.
Paulson könne „in klaren Worten ökonomische Zusammenhänge darstellen“, be90
te der Milliardäre und Multimillionäre in
den USA. Bei den mittleren und unteren
Schichten dagegen stagnieren die Einkommen oder gehen gar zurück.
Zwischen Arm und Reich reißt die Kluft
immer weiter auf. Wie angespannt die
Stimmung bereits ist, hat sich beim Aufruhr um den jüngsten Anstieg der Benzinpreise gezeigt: Mit hektischen Gesetzesinitiativen versuchten Bushs Republikaner,
die Wut der Verbraucher zu lindern.
Im November stehen Wahlen für den
US-Kongress an. Da mussten Signale her,
gerade was die Finanzpolitik angeht, die
von dem früheren Eisenbahn-Manager
John Snow im US Treasury drei Jahre lang
wie von einem farblosen Pressesprecher
dirigiert wurde. Der einflusslose Finanzminister wurde abwechselnd von den Demokraten und dem eigentlich Bush-freundlichem „Wall Street Journal“ attackiert.
Henry Paulson, 60, ließ sich denn auch
längere Zeit umwerben. Es gab Einladungen
zum Staatsbankett mit Chinas Präsident
Hu Jintao und zum Wochenendbesuch im
Weißen Haus. Erst danach sagte er zu, obwohl politisches Engagement bei Goldman
Sachs durchaus zum Geschäft gehört.
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Ex-Bankchef Jon Corzine ist zurzeit
Gouverneur von New Jersey. Der einstige
Co-Chairman Robert Rubin wurde in den
neunziger Jahren zu Bill Clintons Finanzminister.
Paulson sah sich wohl in die Pflicht genommen. Dennoch war für ihn Vorsicht
angebracht. Schließlich ist er seit Jahren
der Erste im Washingtoner Machtzirkel,
der nicht aus Bushs ideologischem Dunstkreis stammt.
Was aber steht auf der Agenda des Bankers, der Goldman Sachs jahrelang Rekordergebnisse bescherte? Lässt sich einer
der mächtigsten Wirtschaftsführer Amerikas überhaupt in den straff geführten Regierungsapparat integrieren?
Selbstverständlich ist Paulson, seit 1974
bei Goldman Sachs, ein entschiedener Verfechter von Freihandel und Globalisierung.
Strafzölle gegen chinesische Billigimporte
wären für ihn Teufelszeug. Die Abhängigkeit des Dollars von den Chinesen, die Exportschwäche der Vereinigten Staaten, das
historisch einmalige Außenhandelsdefizit
– all das ist für ihn kein Problem, solange
die US-Wirtschaft weiter anzieht und damit
auch die Weltkonjunktur in Schwung
bleibt. „Das alles ist mir lieber als kein Defizit – und gleichzeitig auch kein Wachstum“, sagt Paulson.
Trotzdem dürfte er versuchen, in Bushs
Wirtschaftsprogramm ein paar bislang ungewohnte Akzente zu setzen. Schon dass
er ein überzeugter Umweltschützer ist,
macht ihn rund ums Weiße Haus zur Ausnahmefigur. Erst kürzlich spendete er 100
Millionen Dollar aus seinem auf insgesamt
700 Millionen geschätzten Privatvermögen
für den Naturschutz.
„Regierungen haben die Pflicht, das Armutsproblem anzugehen“, sagte Paulson
im SPIEGEL-Gespräch. In für einen Investmentbanker fast warmherzigen Worten spricht er über Kranken- und Altersversicherung sowie die gesellschaftlichen
Schattenseiten der Globalisierung. Das in
New Orleans nach dem Hurrikan „Katrina“ zu besichtigende Elend war für ihn
„ein Schock“, der ihn sogar nach einer
stärkeren Rolle des Staates rufen ließ. So
viele Demokraten-Töne hat man in Bushs
Nähe lange nicht gehört.
„Wir sprechen hier über die Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Habenichtsen, den Reichen und Armen“, sagt
er: Da sei in den USA noch viel zu tun.
Noch vorigen Dienstag sagte Paulson in
Washington, die Vereinigten Staaten müssten nun „Schritte unternehmen, um ihre
Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten“.
Die Analysten seiner eigenen Bank sehen die US-Wirtschaft ohnehin seit einiger
Zeit eher kritisch. Sinkendes Verbrauchervertrauen, wachsende Probleme auf dem
Immobilienmarkt, das gewaltige DoppelDefizit – „das Wirtschaftswachstum wird
sich deutlich abkühlen“, orakelt ein erst
eine Woche altes Papier.
Frank Hornig
RAINER DREXEL / BILDERBERG
Wirtschaft
Bankenmetropole Frankfurt am Main: Mit Hochglanzbroschüren und Seminaren auf der Jagd nach Kommunalbeamten
GE L DA N L AGE
Kämmerer im Zockerrausch
Mit riskanten Spekulationen versuchen hochverschuldete
Kommunen, ihre Zinslast zu mindern. Die Banken freuen sich
über ein Milliardengeschäft, Fachleute sind beunruhigt.
G
ünter Hall nimmt das Sparschwein variable. Denn auf den Finanzmärkten gibt
von der Fensterbank, streckt es in es andere Schuldner, die sich auf einen soldie Höhe und sagt: „Der Vorgänger chen Tausch (Englisch: „swap“) einlassen,
weil sie die künftige Entwicklung der Sätze
hat es mir überlassen, es ist fast leer.“
Dann stellt Hall, der die Neusser Fi- anders einschätzen oder an einer bestimmnanzverwaltung leitet, das Schwein wie- ten Laufzeit interessiert sind. Eine Bank
der hin, blickt aus dem Rathausfenster und wickelt den Swap ab und kassiert dafür
sagt Sätze wie: „Modernes Schuldenport- eine Gebühr.
Die kommunalen Glücksspiele sind
foliomanagement kann helfen, die Zinslast
zu mindern. Wir haben mit Swaps bereits legal – aber nicht ungefährlich: Sollte beispielsweise die Europäische Zentralbank
gute Erfahrungen gemacht.“
Das Fachchinesisch geht dem kommu- die Leitzinsen in den kommenden Monanalen Finanzbeamten leicht über die ten kräftiger erhöhen als von manchen
Lippen. Wie viele seiner Kollegen handelt Kämmerern prognostiziert, könnte die
er neuerdings mit Derivaten – letztlich Jubellaune schnell in Katerstimmung umWetten auf die künftige Entwicklung von schlagen.
Katastrophen gab es zumin- 115,6
Zinssätzen und Wechselkursen.
Wer die Wetten gewinnt, streicht fette dest zu früheren Zeitpunkten
115
Gewinne ein. Um fast 500 000 Euro hat immer wieder: Bereits Ende
die nordrhein-westfälische Stadt Neuss der achtziger Jahre hatte
110
ihren Haushalt in nur eineinhalb Jahren der Londoner
108
aufgebessert. Salzgitter in Niedersachsen Stadtbezirk
105
meldet allein für 2005 Zinseinsparungen Hammer102
in Höhe von 1,4 Millionen Euro, „mit stark smith
99
100
steigender Tendenz“, wie der Kämmerer
96
betont. Sogar die Ruhrpottgemeinde Dors95
95
ten freut sich über ein 24-Monate-Plus von
400 000 Euro.
90
Gute Nachrichten werden dringend
benötigt: Die 12 630 deutschen Kom85
munen haben innerhalb von Jahr- 85
zehnten einen Schuldenberg von mehr
80
als 115 Milliarden Euro angehäuft.
in Milliarden Euro
Viele Kredite mussten sie zu Zins75
sätzen aufnehmen, die weit über
den heutigen liegen. Nun drücken
70
horrende Zinskosten.
Mit Derivatgeschäften können
70,0
65
Kämmerer hohe Zinssätze gegen
niedrige tauschen, oder feste gegen
91
93
95
97
99
01
03
05
Verschuldung von
Städten und Gemeinden
92
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and Fulham mit Zins-Swaps 500 Millionen
Pfund in den Sand gesetzt. 1994 verlor das
Orange County in Kalifornien mit Derivaten und anderen riskanten Geschäften
sogar 1,7 Milliarden Dollar.
Auch Günter Hall hat erfahren, wie mit
derlei Deals schwarze Zahlen rasch rot
anlaufen können. Für die Stadtentwässerung von Neuss, deren Chefposten er in
Personalunion bekleidet, hat er sich von
der Deutschen Bank einen sogenannten
Spread-Vertrag empfehlen lassen.
Die Wette lautet: Beträgt die Spanne
(Englisch: „spread“) zwischen zwei Referenzzinssätzen, einem kurz- und einem
langfristigen, mehr als 0,8 Prozentpunkte, wird Geld aufs Konto der Stadtentwässerung gespült – andernfalls trocknet
es aus.
Das Spiel begann am 20. August vergangenen Jahres. Hall machte sich keine
Sorgen, hatte er doch Kurven studiert, die
bis ins Jahr 1995 zurückreichen: Die Differenz lag fast immer bei mehr als 0,8 Prozentpunkten.
„Bis November lief alles prima, dann
kamen die Probleme“, sagt Hall. Die Sätze spielten plötzlich verrückt, der Kontostand schlitterte tief ins Minus. Kurz vor
Weihnachten setzten sich die Neusser Finanzbeamten mit ihren Bankern an einen
Tisch und diskutierten. An das „Geschrei“
erinnert sich Hall nur ungern.
Schließlich einigte man sich darauf, den
Vertrag zugunsten der Stadtentwässerung
zu ändern – die aber der Bank zum Jahresende mehr als 200 000 Euro überweisen
musste. Die Deutsche Bank will den Fall
nicht kommentieren.
Für die Geldhäuser sind die kommunalen Schulden ein Bombengeschäft.
Während mit simplen Krediten kaum noch
Geld zu verdienen ist, locken bei Swaps
und Spreads hohe Gebühren. Kommunen
sind als Kunden besonders attraktiv: Verzockt sich ein Kämmerer, muss der Staat
dafür geradestehen.
Mit speziellen Hochglanzbroschüren und
Seminaren werden den Finanzbeamten die
Derivate schmackhaft gemacht. „Modernes Zinsmanagement“ könne die kom-
Christoph Pauly, Sebastian Ramspeck
96
T E L E KO M M U N I K AT I O N
„Moderne Wegelagerei“
Mit versteckten Gebühren sahnen die Mobilfunkbetreiber
bei ihren Kunden kräftig ab. Jetzt wollen die
Regulierungsbehörden in Bonn und Brüssel eingreifen.
WILLIAMSON / IMAGES.DE
munalen „Haushalte massiv entlasten“,
schreibt etwa die Deutsche Bank.
Besonders die nordrhein-westfälischen
Gemeinden ließen sich verführen. Allein
mit der WestLB haben sie im vergangenen Jahr Derivate-Deals im Wert von 4,1
Milliarden Euro abgeschlossen. Die Bank
übernahm bei zwei Dutzend Kommunen
das komplette „Schuldenmanagement“, die
Kommunen brauchen nur zuzuschauen.
Geht die Sache gut, kassiert die Bank eine
erfolgsabhängige Prämie – die Verluste
muss die Kommune dagegen allein tragen.
Die Deutsche Bank setzt lieber auf Hilfe zur Selbsthilfe: Die Kämmerer werden
beraten, müssen sich aber schon ihre eigene „Zinsmeinung“ bilden. Dann stehen
9000 Händler bereit, um für den Kunden
„maßgeschneiderte Produkte“ zu fertigen
und am Markt unterzubringen. Fachleute
sind beunruhigt.
„Es ist zu befürchten, dass viele Kommunen nicht über das geeignete Personal
und das notwendige Know-how verfügen,
um solche Geschäfte verantwortungsvoll
abzuwickeln“, sagt zum Beispiel Gerhard
Schleif, der als Geschäftsführer der Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur
GmbH die Derivatgeschäfte des Bundes
abwickelt. Schließlich setzt die Regierung
in Berlin beim Schuldenmanagement auf
hochqualifiziertes Personal.
Berater bieten bereits bankenunabhängige Seminare für kommunale Kämmerer
an. Für Roland Eller aus Potsdam gleichen
Beamte im Zockerrausch oft „VW-Fahrern
am Steuer eines Ferrari“. Eller hat Hunderte Kommunalpolitiker und Beamte durch
seine Seminare geschleust. Dort hört er
manchmal von abenteuerlichen Deals, die
er „James-Dean-Geschäfte“ nennt: „Denn
die Beamten, sie wissen nicht, was sie tun.“
„James-Dean-Geschäfte“ hatte die Deutsche Bank etwa dem Geschäftsführer der
Stadtwerke von Salzwedel in SachsenAnhalt im Jahr 2000 aufgeschwatzt. Die
Zins- und Währungs-Swaps erwiesen
sich schnell als Verlustgeschäft, es folgte
ein jahrelanger, komplizierter Rechtsstreit
zwischen Stadtwerken, ihrem früheren
Geschäftsführer und Deutscher Bank.
Am 21. März wies der Bundesgerichtshof eine Nichtzulassungsbeschwerde ab,
das Geldinstitut musste der Nachfolgefirma
E.on Avacon 370 000 Euro Schadensersatz
plus Zinsen überweisen – wegen eines
„Beratungsfehlers“.
Günter Hall aus Neuss hofft derweil,
dass das Geschäft, das er mit der Deutschen Bank neu ausgehandelt hat, besser
verläuft als der erste Spread. „Bis jetzt sind
wir in der Gewinnzone“, sagt Hall, „aber
erst 2013 wird man sagen können, ob das
ein gutes Geschäft war.“
Der Chefbeamte ist dann 67, das ausgehungerte Sparschwein auf der Fensterbank
seines Büros wird er dann vermutlich seinem eigenen Nachfolger überlassen haben.
Handy-Nutzerin (auf Mallorca): Horrende Aufschläge im Urlaub
D
ie Drohung kam schon kurz vor
Weihnachten. In gleichlautenden
Briefen teilte die Bundesnetzagentur den Betreibern aller vier Mobilfunknetze in Deutschland mit, dass sie ihre Gebühren „entsprechend den europäischen
Standards bei vergleichbaren effizienten
Netzbetreibern“ senken müssten – ansonsten werde die Behörde eingreifen.
Viel Kopfzerbrechen bereitete die Drohung den Mobilfunkmanagern zunächst
nicht. Wie so oft hatte die Netzagentur
nämlich auch diesmal eine Hintertür offen
gelassen. Durch freiwillige Vereinbarungen könnte eine staatliche Aufsicht vermieden werden, teilte das Amt mit.
Alles sah nach dem üblichen Procedere
aus: Die Netzagentur droht, die Branche
bewegt sich in kleinen Trippelschritten voran. Und so waren sich T-Mobile, Vodafone
und O2 auch diesmal schnell einig über
eine moderate Absenkung der Gebühren.
Nur einer machte nicht mit beim freundlichen Getuschel. Völlig überraschend weigerte sich der Düsseldorfer Mobilfunker
E-Plus, die von T-Mobile und Vodafone diktierten Vereinbarungen zu unterschreiben.
„Das Duopol der marktbeherrschenden
Konzerne“ lasse keinen fairen Wettbewerb
zu, klagte E-Plus-Manager Thorsten Dirks.
Da die „Selbstregulierung in unserem
Markt offensichtlich versagt“, müsse jetzt
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der Regulierer „seiner Pflicht nachkommen und handeln“, fordert der E-PlusMann – und bekommt dafür großen Beifall
von den Verbraucherschützern.
Seither ist in der sonst so geschlossen
auftretenden Zunft der Teufel los. „Das ist
ein ungeheuerlicher Vorgang“, schimpft
T-Mobile-Chef René Obermann. Nur weil
sich E-Plus „querstellt“, müsse „die gesamte Branche mit staatlichen Eingriffen
rechnen“. Das sei „völlig inakzeptabel“.
Sein Ärger verwundert nicht weiter:
Jahrelang konnten die Mobilfunker weitgehend frei schalten. Nahezu tatenlos sahen die Regulierungsbehörden zu, wie vor
allem die beiden Pioniere immer dickere
Gewinne einfuhren. Die Folge: Kaum irgendwo in Europa ist das Telefonieren per
Handy so teuer wie in Deutschland (siehe
Grafik). Zwar sind im vergangenen Jahr
die Mobilfunkkosten mit dem Auftauchen
diverser Discountanbieter um rund zehn
Prozent gefallen. Im internationalen Vergleich aber haben die Preissenkungen
kaum etwas an der deutschen Position im
Spitzenfeld verändert.
Das könnte nun anders werden. Denn
nachdem Anfang Mai die letzte Chance
für eine freiwillige Regelung geplatzt ist,
wird die Netzagentur die Branchengrößen
jetzt mit einer Regulierungsverfügung an
die Kandare nehmen. Dann müssen die
Wirtschaft
Mobilfunkpreise
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etwas anderes übrigbleiben, als nachzugeben. Denn die neuen Zahlen, die Miller
kürzlich der EU-Kommission präsentierte,
belegen eindrucksvoll, wie weit sich die
Durchleitungsgebühren von ihrem ursprünglichen Zweck, der Kostendeckung
für die Netze, entfernt haben. So fährt
Vodafone Deutschland im Jahr 2006 nach
Berechnungen von durch E-Plus beauftragten Gutachtern allein über Terminierungsentgelte einen Reingewinn von 576,7
Millionen Euro ein, bei T-Mobile seien es
577,3 Millionen Euro.
Ein Senkung der Gebühren, heißt es
deshalb in der EU-Behörde, sei „zwingend
notwendig“. Man werde die Vorschläge der
deutschen Netzagentur „sorgfältig prüfen“
und wenn nötig vom „Veto-Recht“ Gebrauch machen. Konkret bedeutet das
nichts anderes, als dass sich die deutschen
Mobilfunkbetreiber darauf einstellen müs-
JUERGEN MOERS / VARIO-PRESS
lein die Branchenriesen T-Mobile und Vodafone, so errechneten Experten der Beratungsfirma WIK Consult, haben zwischen 1993 und 2003 gut 18 Milliarden Euro
einkassiert – und damit deutlich mehr, als
sie für den Aufbau ihrer gesamten GSMNetze ausgaben.
An der versteckten Maut halten die
Konzerne verbissen fest. Zwar wurde sie
inzwischen auf etwa elf Cent reduziert,
liegt aber immer noch deutlich über den
echten Kosten, die bei der Vermittlung in
ein anderes Netz anfallen. Maximal fünf
bis sechs Cent, so meinen Experten, seien
dafür angemessen.
„Moderne Wegelagerei“ nennt Stan Miller neuerdings solche Abzockpraktiken.
Der Chef des in Brüssel ansässigen Mobilfunk-Discounters Base, der wie E-Plus zur
niederländischen Telefongesellschaft KPN
gehört, will da nicht mehr mitmachen und
hat dem Konzern eine neue Strategie verordnet: Telefonieren soll billiger werden,
lautet sein Credo.
Der ungewöhnliche Vorstoß ist wohlkalkuliert. Denn kleine Netzbetreiber wie
E-Plus oder O2 profitieren längst nicht so
stark von der Telefon-Maut wie die Branchenriesen. Da Miller wenig zu verlieren
hat, macht er nicht nur bei der Regulierungsbehörde in Bonn, sondern auch in
Brüssel bei der für Telekommunikation zuständigen EU-Kommissarin Viviane Reding
Druck – mit wachsendem Erfolg.
Schon seit Monaten liefert sich die Luxemburgerin eine Fehde mit den großen
europäischen Mobilfunkern und hat inzwischen tiefe Einblicke in deren Kalkulationsmethoden erhalten. Anlass für ihre
Untersuchung waren die sogenannten internationalen Roaming-Gebühren.
Warum, fragte die Kommissarin anfangs
noch ziemlich naiv, müssen Handy-Kunden eigentlich horrende Aufschläge auf
Monatliche Gesprächskosten* von
ihre Gesprächspreise akzeptieren, wenn
Handy-Nutzern in Euro
sie im Ausland telefonieren? Entstehen den
Firmen tatsächlich Kosten,
Deutschland Vodafone, Vodafone 100
53,90 die Minutenpreise von bis
Deutschland T-Mobile, TellyActive More Talk
zu rund drei Euro recht48,80
fertigen? Oder nutzen die HanItalien Vodafone, Vodafone Easy
dy-Gesellschaften einfach ihre
43,80
Marktmacht aus, um sich ganz neGroßbritannien O2, O2 100
benbei jährlich etwa zehn Milliarden
40,40
Euro an Zusatzeinnahmen zu sichern?
Österreich T-Mobile, Relax Light
Plausible Antworten blieben Voda37,20
fone
und Co. bis heute schuldig. So
Spanien Vodafone,
37,20 drohte Reding unter dem Aufschrei fast
Contrato Autonomus
aller Netzbetreiber damit, notfalls rechtFrankreich SFR, Le Compte 2h30
35,60
lich gegen die überhöhten Gebühren
vorzugehen. Schon die Drohung zeigte
Tschechien T-Mobile, T 80
32,00
Wirkung. Um eine juristische AuseinanSchweden Tele 2, Comdersetzung zu vermeiden, versprachen Voviq Knock-Out 19,20
dafone, T-Mobile und die spanische TeleDänemark Sonofon
fónica mit ihrer Tochter O2 bereits, die umKvantum 99 16,90
strittenen
Sondertarife demnächst um bis
Quelle: EUFinnland Sonera
Kommission
zu
60
Prozent
zu reduzieren. Ob das der
Netto
16,70
Stand: 2005
EU-Kommission reicht, ist offen.
* Preise für 48 abgehende Mobil-Gespräche, 27 Gespräche
Auch im Streit um die Terminierungsins Festnetz, sowie 35 SMS; ausgewählte Anbieter
entgelte dürfte den Mobilfunkern kaum
Netzbetreiber erstmals ihre Bücher offenlegen und nachweisen, ob die hohen Gebühren wirklich den Kosten entsprechen.
Die Verfügung, die wahrscheinlich im
Herbst erlassen wird, markiert für die erfolgsverwöhnte Zunft einen tiefen Einschnitt. Denn nicht nur die Bonner Behörde macht Druck, auch die Brüsseler EUKommission sieht „Handlungsbedarf in
Deutschland“. Gleichzeitig ist der Markt
nahezu gesättigt, große Wachstumsraten
sind vorerst nicht mehr zu erwarten.
Im Mittelpunkt des Interesses der
Behörden steht eine Gebühr, die auf keiner
Handy-Rechnung auftaucht, aber oft dafür
verantwortlich ist, dass die Telefonkunden
so kräftig zur Kasse gebeten werden: das
sogenannte Terminierungsentgelt. Die Gebühr wird bei jedem Gespräch kassiert, bei
dem der Anrufer eine Nummer in einem
anderen Handy-Netz anwählt. Elf bis zwölf
Cent pro Minute sind zurzeit allein für die
Durchleitung fällig.
Die Netz-Maut, die zum Beispiel bei den
neuen Discounttarifen mehr als 50 Prozent
der gesamten Gesprächskosten ausmacht,
ist ein Relikt aus den Anfangstagen des
Mobilfunks. Damals schien der Einstieg in
das Handy-Geschäft noch hochriskant. Für
den Netzaufbau mussten Milliarden investiert werden. Ob die Kunden die damals
Backstein-schweren Telefone nutzen würden, war kaum absehbar.
Um die Risiken zu minimieren, einigte
sich die Branche auf eine möglichst stabile Einnahmequelle, von der alle profitieren
sollten – die Durchleitungsgebühr, die anfangs sogar mit 60 Cent pro Minute festgelegt wurde. Ungeheure Summen sind da im
Lauf der Jahre zusammengekommen. Al-
E-Plus-Zentrale (in Düsseldorf)
Ungewöhnlicher Vorstoß
sen, dass ihr gemütliches Oligopol demnächst empfindlich gestört wird und dass
sie ihre Kunden – per Verordnung – um einige Milliarden entlasten müssen.
Selbst Festnetztelefonierer können auf
niedrigere Preise hoffen. Denn auch dort
wird bei Gesprächen in die Mobilfunknetze ordentlich zugelangt. Genau 22,8 Cent
pro Minute verlangt etwa die TelekomTochter T-Com von ihren Kunden im Standardtarif für ein Gespräch in die Mobilfunknetze E-Plus und O2. Nach Abzug
sämtlicher Kosten und Gebühren verbleiben dem Telefonmulti davon als reiner
Gewinn rund 14,34 Cent pro Minute, rechnet Miller vor.
„Das entspricht einer Marge von 110
Prozent und ist nichts anderes als modernes Raubrittertum“, schimpft der BaseManager. Es gebe auch andere Tarife, mit
denen Gespräche in Mobilfunknetze deutlich preiswerter seien, hält die Telekom
dagegen.
Seine brisanten Kalkulationen hat Miller
inzwischen nicht nur der EU-Kommission,
sondern auch der deutschen Monopolkommission und der Bonner Netzagentur
zugeleitet. „Wir hoffen“, sagt er, „dass die
Aufseher auch diesen Markt sehr genau
unter die Lupe nehmen.“ Frank Dohmen,
Klaus-Peter Kerbusk
97
Medien
PRESSE
„Nicht gut fürs Image“
98
Jaffé
Kirch-Filmlager
I N S O LV E N Z E N
Erstes Geld für Kirch-Gläubiger
M
ehr als vier Jahre nach der spektakulären Pleite des Medienimperiums von Leo Kirch im April 2002
können Geschädigte erstmals damit
rechnen, dass ein kleiner Teil ihrer Forderungen beglichen wird. „Eine erste
Abschlagszahlung ist in Arbeit und soll
noch in diesem Jahr erfolgen“, bestätigt
Insolvenzverwalter Michael Jaffé, der
zur erwartbaren Quote indes keine Angaben machen möchte. Insider rechnen
mit einer Insolvenz-Quote von insgesamt rund zehn Prozent, die in Gänze
allerdings erst zum Ende des Verfahrens
überwiesen werde. Damit sei nicht vor
2013 zu rechnen. Ein Gläubiger, bei
dem Kirch mit 1000 Euro in der Kreide
stand, könnte nach Ablauf dieser Frist
also insgesamt rund 100 Euro erwarten.
Der jetzt in Aussicht gestellte Abschlag
SAMMELBILDER
Lehmann reloaded
T
entspricht jedoch voraussichtlich nur
etwa drei Prozent. Aktuell umfasst die
Liste der Kirch-Gläubiger 1900 Eintragungen – von der 21-Euro-Forderung einer ehemaligen Mitarbeiterin bis zu
dreistelligen Millionenforderungen einzelner Hollywood-Studios. Ursprünglich lagen die Gesamtforderungen bei
rund 9,3 Milliarden Euro, darunter fanden sich auch viele Schadensersatzansprüche. In den vergangenen Monaten erzielten Jaffé-Mitarbeiter mit zahlreichen Großgläubigern wie zuletzt dem
Hollywood-Studio Columbia (erste Forderung: rund zwei Milliarden Euro) Einigungen. Mit Warner Brothers und Disney werden Abschlüsse im Sommer erwartet. Dann wäre der Weg frei für die
erste Abschlagszahlung, die im dritten
Quartal erfolgen könnte.
könnten die Fans dann im Album krankheitsbedingte Ausfälle ersetzen, schlägt
Panini-Deutschland-Chef Frank Zomerdijk vor. Die Überraschungsnominierung David Odonkor wird dagegen
keine klebrigen Konsequenzen haben –
für den Debütanten will Panini die
Druckerpressen nicht wieder anwerfen.
orwartfehler verzeihen echte Fans
selten. Das bekam nun auch der
Klebebildchen-Hersteller Panini zu
spüren. Es hagelte Nachfragen von
Sticker-Sammlern, die im WM-Album bislang ausgerechnet auf die
Nummer eins im deutschen Tor
verzichten mussten. Statt auf Jens
Lehmann hatte Panini in der früh
angelaufenen Bildchen-Produktion ausschließlich auf Oliver
Kahn gesetzt. Dieser Fehler soll
nun gutgemacht werden: Panini
druckt zwei Millionen Lehmanns
nach. Die Torwart-Bildchen werden den Zeitschriften „PC-Welt“,
„Macwelt“, „GameStar“ und
„Just Kick-it!“ beigelegt. Damit
Panini-Bilder
d e r
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CHRISTIAN JUNGEBLODT / LAIF
JENS KALAENE / PICTURE-ALLIANCE/ DPA
SPIEGEL: Aus Protest gegen Ihre Personalentscheidung erschien am Dienstag nur eine Notausgabe der Zeitung.
Wie fühlt man sich, wenn die eigene
Redaktion derart rebelliert?
Skulimma: Darüber kann niemand
glücklich sein. Das ist weder gut für die
Zeitung noch für den Verlag. Und es
ist auch nicht gut fürs Image. Aber wir
hatten es von Beginn an mit einer
außergewöhnlichen Situation zu tun.
Jetzt schauen wir nach vorn.
SPIEGEL: Der Eklat wäre vermeidbar gewesen: In einer von allen Redakteuren
unterschriebenen Petition hatten diese
ein Vetorecht in der Chefredakteursfrage gefordert.
Skulimma: Wir haben von Anfang an
klargemacht, dass wir ein solches – im
Übrigen in der Verlagswelt unübliches –
Vetorecht nicht akzeptieren. Aber wir
stehen zu anderen Punkten des geforderten Redaktionsstatuts und werden
darüber auch weiterverhandeln.
SPIEGEL: Was qualifiziert den Boulevardmann Depenbrock – und wohin
soll er das Blatt bewegen?
Skulimma: Er hat viele
Jahre Erfahrung als
Journalist und Medienmanager und steht
zum Profil des Blattes
als führender Qualitätszeitung der Hauptstadt.
SPIEGEL: Im Dezember
haben Sie die ambitioSkulimma
nierten Renditeziele der
neuen Investoren intern präsentiert. Die
Anzeigenerlöse liegen indes aktuell unter Plan – wie wollen Sie die Ziele erreichen? Durch weiteren Personalabbau?
Skulimma: Zahlen und Anzeigenentwicklung kommentiere ich nicht. Gehen Sie
davon aus, dass alle Verantwortlichen
nichts unternehmen werden, was der
Qualität der Zeitung schaden könnte. Einen Stellenabbau konnten wir nie ausschließen – auch heute nicht, schon aufgrund des heißen Wettbewerbs in Berlin.
SPIEGEL: Ist der „grobe Vertrauensbruch“, den die Redaktion Ihnen
vorgeworfen hat, wieder zu kitten?
Skulimma: Das ist unser Ziel. Wir wollen
konstruktiv zusammenarbeiten. Ich
bin sicher, dass wir das notwendige
Vertrauen wieder neu schaffen.
BRENNINGER / SÜDD. VERLAG (L.); AP (R.)
Peter Skulimma, 39, Geschäftsführer
des Berliner Verlags, über den Eklat in
der „Berliner Zeitung“ nach der
Berufung von Josef Depenbrock zum
Chefredakteur
TV-Vorschau
La finta giardiniera –
Die Gärtnerin aus Liebe
Montag, 10.40 Uhr, 3sat
An Pfingsten wird der Heilige Geist
ausgegossen, vielleicht wäre das eine
gute Gelegenheit, sich diese MozartOper, die 2003 in Stuttgart Premiere
hatte, drei Stunden (trotz Kürzungen)
anzutun. Die Kritiken waren geteilt.
Am Dirigenten Lothar Zagrosek lobte
die „Neue Zürcher Zeitung“ dessen
Gefühl für die Finessen der Partitur,
Regisseur Jean Jourdheuil wurden
einerseits „erlesene Ästhetik“, aber
auch „Sterilität“ bescheinigt.
Der zehnte Sommer
Montag, 12.35 Uhr, ZDF
ASTRID WIRTH / ZDF
In einem spießigen deutschen Provinzstädtchen, 1960: Kalli „König“
(Martin Stührk), gerade neun Jahre alt, verbringt die Sommerferien
damit, mysteriöse Ereignisse in
seinem Revier aufzuklären – nur
auf das eine hätte er lieber verzichtet: Sein Vater (Kai Wiesinger) besucht auffallend häufig die
geheimnisvolle Nachbarin. Mit
Märchenerzähler-Stimme und Visionen der phantasievollen SpürBär, Göring in „Tatort: Hundeleben“
nase blickt der Film nach Dieter
Bongartz’ Jugendroman lächelnd
auf die Erwachsenenwelt (Regie: Jörg
Tatort: Hundeleben
Grünler). Wonneproppen-Kinder und
Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
ein Kapuzineraffe runden das warmherOberkommissar Schenk (Dietmar
zige Sechziger-Jahre-Märchen ab.
Bär) liefert seine Großmutter (Helga
Göring) im Altenheim ab, das sich
Tatort: Blutschrift
schnell als Brutstätte des Bösen erMontag, 20.15 Uhr, ARD
weist. Die Wiederholung von 2004
Die Leipziger Hauptkommissare (Peter
(Buch: Nina Hoger, Regie: Manfred
Sodann, Bernd Michael Lade) geraten
Stelzer) lohnt: ein nachdenklicher
in die heimtückische Welt der Bücherund zugleich unterhaltsamer Film.
würmer. Eine Antiquitätenhändlerin
wird ermordet, ein Bücherforscher
Austerlitz, Napoleons
(Hans-Werner Meyer) macht sich
langer Marsch zum Sieg
verdächtig, einem fast bankrotten
Sonntag, 20.40 Uhr, Arte
Antiquar (Gert Baltus) samt TochRegisseur Jean-François Delassus erter (Bernadette Heerwagen) ist
klärt dem Zuschauer die Schlacht von
nicht zu trauen. Dazu geistert ein
Austerlitz, in der Napoleon (Bernardtausend Jahre alter Schmöker,
Pierre Donnadieu) 1805 durch geniale
„Die Blutschrift“, herum, in dem
Strategie die Russen und Österreicher
ein Benediktinermönch Unheil
schlug. Der Grundton ist Bewundeprophezeit. Dan-Brown-Flair
rung. Erst am Schluss wird durch den
macht aus einem deutschen TVMund des französischen AußenminisKrimi (Buch: Holger Jancke, Reters Talleyrand Kritik an Napoleons
gie: Hajo Gies) dann aber doch
Unfähigkeit geübt, eine Friedensordkeinen Thriller, sondern nur ein
nung zu entwickeln.
reichlich zähes Stück.
Stührk in „Der zehnte Sommer“
UWE STRATMANN / WDR
Fernsehen
Medien
TA L K S H OW S
Öder als Schröder
Unter der Harmonie der Großen Koalition leiden vor allem die politischen TV-Plauderrunden.
Wo sich niemand mehr streitet, regiert schnell Langeweile. Deshalb
laden Christiansen, Illner, Maischberger und Co. immer seltener Mandatsträger ein.
N
* Journalist John A. Kantara, Politiker Matthias Platzeck,
Daniel Cohn-Bendit und Günther Beckstein am 21. Mai
in Berlin.
100
ARD-Talkerin Christiansen, Gesprächspartner*: Polit-Theater ohne Schurken und Helden ist auf
P.S.I. BONN / ULLSTEIN BILDERDIENST
ur mal angenommen, Harald
Schmidt hätte recht gehabt, als er
neulich bei „Sabine Christiansen“
diesen einen Satz so locker in die Runde
warf. Es war eine Replik auf FDP-Mann
Wolfgang Gerhardt, der gerade große Linien gefordert hatte statt des kleinen Karos
der Großen Koalition. Er müsse ihn enttäuschen, sagte daraufhin Schmidt: Das
Volk wolle nicht nur seine Ruhe und keinen Streit. „Das Volk will auch keine Konzepte.“ Da lachten alle. Und es klang so
befreit, dass fast was dran sein muss.
Eigentlich hätte man das Studio danach
auch dichtmachen können. Denn mit diesem einen Satz schien die ganze Wahrheit
endlich auf Christiansens Glastischchen zu
liegen. Und die Wahrheit lautete: Das alles
hier macht keinen Sinn. Geht nach Hause,
oder lasst es bleiben! Schaltet ein oder aus!
Ist alles egal.
Schmidts Befund jedenfalls ist schlagend. Wenn das Volk klare Konzepte wollte, hätte es vielleicht anders gewählt. Wenn
das Volk richtigen Streit wollte und nicht
das aktuelle fade Geplänkel, hätte es besser die alte Regierung im Amt gelassen.
Nun hat es weder das eine noch das
andere bekommen, sondern das große,
halbgare Nichts. Und alles ist noch öder als
bei Schröder.
Das Volk, das keine Konzepte will, könnte abschalten. Aber das Volk ist nicht allein.
Es hat immer noch Sabine Christiansen,
Maybrit Illner und Sandra Maischberger.
Es hat Frank Plasberg mit „Hart aber fair“
vom WDR, „Das Duell“ auf N-tv und „Was
erlauben Strunz?“ auf N24. Und die müssen
ihre Sesselchen jede Woche füllen.
Aber mit wem reden? Und worüber?
Politiker im Fernsehen sind inzwischen so
aufregend wie die Beobachtung trocknender Dispersionsfarbe.
Wo sich vor ein paar Monaten noch
Showgrößen wie Joschka Fischer, Friedrich
Merz und Guido Westerwelle eifersüchtige
Gefechte lieferten, wo Edmund Stoiber
aufgeregt stotterte und das Testosteron aus
des Kanzlers Anzug zu quellen schien,
herrscht nun lähmende Harmonie. Der
deutsche Polit-Talk hat sich selbst ad absur-
TV-Moderatorin Maischberger, Studiogast Dalai Lama: „Kehrt das Patriarchat zurück?“
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MARCEL METTELSIEFEN / NDR
INA PEEK / IMAGO
f
Doch die Show ist aus. Zurück bleibt der
Talk, der nun oft derart spröde wirkt, dass
auch die Quoten zu leiden beginnen.
Zumindest „Sabine Christiansen“, die
Mutter aller TV-Polit-Runden, merkt das
längst. Marktanteil von Juni bis September
2005: 18,0 Prozent. Marktanteil in den vergangenen sechs Monaten: 12,9 Prozent.
Polit-Theater ohne Schurken und Helden
ist auf Dauer so fesselnd wie Torwandschießen ohne Ball.
„Die Kleinen möchten sich gern mit
den Großen streiten. Die Großen möchten sich aber nicht mit ihnen streiten. Sie decken die
Streitthemen mit Harmonie
zu“, sagt Sabine Christiansen. Darum lade ihre Redaktion verstärkt Nichtpolitiker
als Gäste ein. „Mehr Politiker bringen nicht unbedingt
mehr Erkenntnisgewinn“,
glaubt die öffentlich-rechtliche Talk-Diva.
Sandra Maischberger hat
in ihrem täglichen Talk auf
N-tv Hunderte Interviews
mit Politikern geführt. Dass
sie die Sendereihe kürzlich
beendete, hat auch mit dem
Ausgang der letzten Bundestagswahl zu tun. Bei einer anderen Konstellation
hätte sie womöglich weitergemacht.
So talkt sie nun über andere Themen. In den vergangenen beiden Wochen
waren das: „Du sollst den
Mann ehren – Kehrt das Patriarchat zurück?“ Und:
„Freud ist schuld: Schluss
mit dem Sexwahn.“
Auch bei ihrer verbliebenen „Menschen bei MaischDauer so fesselnd wie Torwandschießen ohne Ball
berger“-Runde in der ARD
sitzen oft Politiker auf dem
Sofa, aber möglichst wenige.
Sie setzt nicht mehr auf
den Schlagabtausch nach
Parteibuch, eher auf skurrile
Paarungen. Da sitzt dann
etwa Alt-Kommunarde Rainer Langhans neben der traditionsbewussten Marianne
Fürstin zu Sayn-Wittgenstein-Sayn.
Hauptsache, es kommt
nicht zu dieser speziellen Begegnungsroutine, die Politikern so entsetzlich eigen geworden ist, weil sie sich untereinander ohnehin ständig
sehen – und alle das Gleiche
reden.
„Wir müssen schauen,
dass es mehr Arbeit in
Deutschland gibt“, sagt Saarlands Ministerpräsident PeZDF-Frontfrau Illner: Die neue Sachlichkeit ist Gift
dum geführt. Mit all seiner TV-gerechten
Konfliktgier, seinen ewig gleichen Phrasen
und dem manischen Drang, jedes Tabu zu
knacken, solange man dafür nicht mehr
als 30 Sekunden Sende-/Redezeit braucht,
lockte er erst Zuschauer an und stößt sie
nun genauso kraftvoll wieder ab. Und beide, Wahlvolk wie Moderatoren, erwischt
der große Kater.
Die neue Sachlichkeit ist Gift – auch und
vor allem für das unter allen Medien am
meisten auf Action und Krawall gebürstete Fernsehen. Talkshow heißt das Genre.
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ter Müller in „Berlin Mitte“ im ZDF.
„Richtig“, sagt Moderatorin Maybrit Illner. „Dazu haben wir jetzt ungefähr schon
200 Sendungen gemacht.“
Immer die gleichen Leute. Immer dieselben Sprüche. Dabei ist das Klagelied
über die Polit-Talkshows nicht mal neu. Im
Bauch der Fernsehnation rumpelt und rumort es seit Jahren. Doch statt Langeweile war das vorherrschende Gefühl zuletzt
eher die Wut.
Der Kabarettist Georg Schramm hat das
im Jahr 2003 versucht zu kanalisieren. Damals ließ er seine Figur des zornigen Rentners Lothar Dombrowski über die „Bühne
der Berliner Puppenkiste“ schimpfen. Die
Politiker würden „in den öffentlich-rechtlichen Bedürfnisanstalten bei den Klofrauen Christiansen und Illner ihre Sprechblasen entleeren“. Es sollte ein Einmal-Gag
sein für den ARD-„Scheibenwischer“. Etwas später nahm Schramm den Satz dann
in sein Tourprogramm auf. „Ich habe gespürt, dass die Leute auf diesen Satz gewartet haben. Und für keinen anderen Satz
habe ich regelmäßig so viel Begeisterung
geerntet wie für diesen“, sagt er.
Meist kam er gar nicht bis zum Ende,
weil er vom Applaus unterbrochen wurde. Nach der Show bedankten sich die
Zuschauer bei ihm. Für diesen einen Satz.
Irgendetwas müssen diese ritualisierten
Polit-Plauderrunden also an sich haben,
das die Zuschauer rasend macht.
Selbst das Entertainment
des verbalen Boxkampfs ist
verschwunden.
Vielleicht sind Politiker und ihre Gastgeber gar nicht so weit voneinander entfernt in diesem Fall. Vielleicht haben Langeweile und Wut einen gemeinsamen
Grund. Ein Gefühl der Ohnmacht.
Dazu muss man etwas tiefer in die Befindlichkeit der Fernsehnation eindringen,
dorthin, wo es rumort und grummelt. Der
Psychologe und Buchautor Stephan Grünewald („Deutschland auf der Couch“)
macht das. In seinem Kölner Institut
Rheingold führen er und sein Team tiefenpsychologische Interviews mit Konsumenten. Zu einem großen Teil geht es dabei um
Fernsehgewohnheiten. Rund 5000 Deutsche werden jährlich befragt. Eineinhalb
Stunden dauert so ein Gespräch.
Das hat seinen Grund. In der ersten halben Stunde erzählen die Interviewten nur
das sozial Erwünschte. Erst wenn sie allmählich Vertrauen fassen, geben sie auch
das persönlich Peinliche preis. Wozu man
nachts die Erotikfilmchen tatsächlich nutze
zum Beispiel. In diesen Interviews bekommt Grünewald auch heraus, wie das so
abläuft, abends im Kopf des Zuschauers
bei „Sabine Christiansen“ & Co. Sagt er.
Nach politischer Bildung klingt das eher
nicht. In den ersten 15 Minuten erwarte
101
der Zuschauer eine echte Lösung für ein politisches Problem. „Er will den gordischen
Knoten tatsächlich lösen.
Doch dann geht ihm irgendwann der Faden verloren zwischen Details und Expertenkauderwelsch, und er versteht
nichts mehr.“ Frustriert wechsle der Zuschauer dann sein Interesse und schaue sich „Sabine Christiansen“ an wie einen
Boxkampf. Er suche sich einen
Freund und einen Feind und
schaue, wie die sich schlagen.
Doch am Ende der Sendung
gebe es ja, anders als beim
Sport, niemanden, der zum
Sieger des Kampfs erklärt WDR-Moderator Plasberg
wird. Dann erinnere sich der Mit wem reden – und worüber?
Zuschauer wieder, weshalb er
die Sendung überhaupt gucke. Und aus Tageszeitungslandschaft gibt es im deutdem Chaos ziehe er den Schluss: Es gibt schen TV-Journalismus keine Streitkultur,
keine Lösung. „Also lohnt es sich auch die über das Abfragen von Statements hinnicht, dass wir überhaupt irgendwas ver- ausgeht. Es sei denn, man zählte den rituändern. Alles kann bleiben, wie es ist.“ alisierten Ärmelschonerkommentar in den
Jetzt, da selbst das Entertainment des nächtlichen „Tagesthemen“ schon dazu.
verbalen Boxkampfs verschwunden ist,
Die Politik allein jedenfalls liefert die
bleibt nur noch der Frust. Das Nichtver- nötige Streitkultur nicht mehr. Sabine
stehen. Die Öde.
Christiansen vermisst „Politiker mit klaDoch die Polit-Talks reagieren auf die ren Positionen, um die gerungen wird“.
neue Situation seit Monaten mit den alten Früher habe man auch nur Horst Seehofer
gegen Ulla Schmidt stellen müssen und
Friedrich Merz gegen Oskar Lafontaine.
„Die Politik fürchtet sich
„Doch wenn heute Herr Beck sagt, wir stedavor, mit dem
hen fest an der Seite der CDU, dann verBürger zusammenzutreffen.“
wischen Konturen bis zur Unkenntlichkeit.“ Alles richtig, alles wahr. Doch was
Reflexen. Wenn sich aus den Plauder- folgt daraus? Dass man statt dieser Langrunden überhaupt keine Originalität mehr weiler eben andere einlädt?
pressen lässt, werden immer häufiger
Sicher ist, dass es die Politik den TalkEinspielfilmchen gezeigt, in denen das shows nicht leicht macht. Die Redaktion
Straßenvolk kurz sagen kann, was ihm von „Sabine Christiansen“ etwa hat für diestinkt. Zur Erhellung trägt das nicht bei. sen Sommer eigentlich mehrere Sendungen
Aber es gäbe eine gute Materialsammlung im sogenannten Townhall-Format geplant,
ab für eine Doktorarbeit über die Deut- bei der Politiker quasi mit dem eigenen
schen und ihre Ressentiments.
Wahlvolk konfrontiert werden, ein direkter
Das ist die Antwort des hiesigen Fern- Schlagabtausch zwischen Volk und Polisehjournalismus auf die Große Koalition: tik gewissermaßen. Doch die angefragten
Nebenkriegsschauplätze, Scheingefechte, Politiker bis hoch zum Bundespräsidenten
Spiegelfechterei. Wo die Politik den TV- hätten fast alle abgesagt. „Die Politik“, verLeuten die Aufreger nicht mehr frei Haus mutet man in Christiansens Redaktion,
und gut portioniert ins Haus liefert, kommt „fürchtet sich davor, mit dem Bürger zunicht etwa irgendwer auf die Idee, mal sammenzutreffen.“ Denn da unten, das
wirklich etwas Neues zu machen. Man merken auch sie, scheint etwas zu brodeln.
hofft einfach weiter.
Man mag die Feigheit vor dem Wähler
Zurzeit kracht es gerade ein bisschen in tadeln. Aber das ist nur die halbe Wahrder Großen Koalition, SPD und Union sind heit. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen,
sich auch öffentlich ein klein wenig böse. Abteilung politische Volksbildung, ist geDoch wer glaubt, die Flaute in den Talk- fesselt in seiner Moderatorenrolle: Wenn
shows sei damit passé, könnte sich irren. sich die Parteien nicht gegenseitig beißen,
Weder Mehrwertsteuererhöhung noch sieht man erst, wie zahnlos es ist.
Hartz-IV-Krach vermögen das Fernsehvolk
Doch das ist kein Gegenentwurf zu einer
zu elektrisieren.
Regierung, die letztlich auch nur eine
Und die Stimme der Opposition? Ist so Talk-Runde repräsentiert, moderiert eben
leise geworden, dass man ihren Wider- von Angela Merkel nach dem Motto: Ich
spruch kaum hört. Leider zeigt sich, dass glaube, jetzt sollten wir mal Herrn Müntedem Fernsehen eine Stimme des Wider- fering zu Wort kommen lassen, und dann
Markus Brauck
spruchs überhaupt fehlt. Anders als in der ist Herr Glos dran.
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TEUTOPRESS
Medien
Ausland
Panorama
FRANKREICH
Tragikomisches Finale
erwickelt in eine politische Verleumdungskampagne, belastet
V
durch Bestechungsvorwürfe und giftige
BRENDAN ESPOSITO / FAIRFAX
Kabalen im Kabinett, desavouiert durch
die Fehltritte seines Premiers und politischen Ziehsohns – Jacques Chirac, einst
als dynamischer „Bulldozer“ gefeiert,
gilt längst als apathische Verkörperung
des französischen Verfalls. Und jetzt
wird der angezählte Präsident, ein Jahr
vor dem Ende seiner zwölfjährigen
Amtszeit, auch noch der Lächerlichkeit
preisgegeben. Zwar ließ er sich gerade
in Lateinamerika noch als Staatsmann
der Grande Nation hofieren; zurück in
der Heimat, gibt der Präsident dagegen,
wenn auch diesmal ohne eigenes Zutun,
Australische Sicherheitskräfte in Dili
S Ü D O S TA S I E N
Schwere Last für die
Ordnungsmacht
Plakat zum Chirac-Film
die Rolle eines grotesken Polit-Clowns.
Der satirische Dokumentarfilm „In der
Haut von Jacques Chirac“, der jetzt in
Frankreichs Kinos anläuft, entlarvt ihn
als widersprüchlich, wankelmütig – und
vor allem als tragikomische Figur. Der
90-Minuten-Film ist aus Originalaufnahmen und TV-Auftritten Chiracs montiert, die lange in Archiven verschüttet
waren. Kommentiert werden die Szenen der Bürgermeister- und Präsidentenkarriere von einem Stimmenimitator
im Chirac-eigenen Pathos. Die Kritik
lobt den Zusammenschnitt als „maliziöses und leidenschaftliches Werk“, dabei
sehen sich die Filmemacher durchaus
nicht als Trittbrettfahrer einer grassierenden „Chiracophobie“. Eine „nichtautorisierte Autobiografie“ nennt Regisseur Karl Zéro seine Arbeit und versichert: „Jacques Chirac wird erkennen,
dass der Film ehrlich ist.“
enn in der Region die Erde bebt
oder Unruhen die politische Stabilität erschüttern, ist Australiens selbsterklärter Anspruch als führende Ordnungsmacht auf eine harte Probe gestellt. Die Welt erwarte, „dass wir in
dieser Region den Großteil der Last auf
unsere Schultern nehmen“, hat Premierminister John Howard erst kürzlich
erklärt. Angesichts des schweren Bebens vor Java mit über 6000 Toten und
der anhaltenden Kämpfe in Osttimor
wiegt die Verantwortung derzeit besonders schwer.
Schon wenige Stunden nach den verheerenden Erdstößen, die weite Teile
Yogyakartas und der Umgebung zerstörten, bat Indonesiens Präsident Susilo Bambang Yudhoyono in Canberra
telefonisch um medizinische Hilfe.
Australiens Außenminister Alexander
Downer sagte umgerechnet 1,78 Millionen Euro Soforthilfe zu.
Doch auch die prompte Unterstützung
vom fünften Kontinent konnte nicht verhindern, dass die internationale Hilfsaktion nur schleppend anlief.
Die medizinische Versorgung
war selbst Tage nach dem
ersten Beben in entlegenen
Gebieten katastrophal. In der
Erdbebenregion lebten Mitte
Erdbebenopfer auf Java
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vergangener Woche 200 000 obdachlose
Menschen, viele wegen fehlender Zelte
schutzlos unter freiem Himmel.
In der einstigen indonesischen Provinz
Osttimor, die seit 2002 unabhängig ist,
versuchte australisches Militär zur selben Zeit, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Auf Wunsch der Regierung in Dili schickte Canberra rund
2000 Soldaten, die sofort mit schwerem
Gerät strategische Punkte besetzten. In
dem ehemaligen Bürgerkriegsland hatten zunächst 600 der insgesamt 1450
Soldaten gegen die eigene Regierung
gemeutert. Danach zogen bewaffnete
Jugendbanden brandschatzend durch
die Hauptstadt. 50 000 Menschen flohen
vor der neuen Gewaltwelle.
Osttimors Präsident Xanana Gusmão
übertrug den Australiern einstweilen die
Sicherheitshoheit über Dili, und das
trifft sich durchaus mit den Interessen
des reichen Nachbarn. In der Region
habe „kein Land der Welt eine größere
Rolle zu spielen als Australien“, rühmt
sich Regierungschef Howard.
DENNIS M. SABANGAN / DPA
W
Panorama
NAHOST
Abbas droht
mit Rücktritt
m Streit mit der Hamas-Regierung verbindet Palästinenserpräsident Mahmud
Abbas seine Zukunft mit dem Ausgang
der von ihm geforderten Volksabstimmung zur Klärung des politischen Kurses. „Wenn das Referendum scheitern
sollte, hat der Präsident keine Macht
mehr“, sagt Abbas’ Sprecher Walid
Awad und droht unverhohlen mit dessen Rücktritt: „Ich glaube nicht, dass er
sein Amt dann weiterführen wird.“ Die
Palästinenser sollen nach dem Willen
von Abbas über einen 18-Punkte-Plan
abstimmen, den in Israel inhaftierte
Landsleute veröffentlicht haben. Der
Aufruf wurde von Gefangenen fast aller
politischen Gruppierungen unterzeichnet und sieht unter anderem die Gründung eines palästinensischen Staates in
den Grenzen von 1967 vor, was eine Koexistenz mit Israel bedeuten würde. Die
Hamas-Führung lehnt einen solchen Entscheid ab und kündigte den Boykott an.
Für eine Volksabstimmung gebe es keinen Grund, sagte Außenminister Mahmud al-Sahar, „niemand wird Israel anerkennen“. Die Extremisten wissen nur
LIBERIA
Wohin mit Taylor?
A
REUTERS
I
Abbas (in Ramallah)
zu gut, dass das von Abbas angeregte
Referendum mit großer Wahrscheinlichkeit Erfolg haben dürfte. Einer aktuellen Umfrage zufolge unterstützen 85 Prozent der Palästinenser die GefangenenInitiative. Selbst von den Hamas-Sym-
King. An die Eröffnung des TaylorProzesses sei dann gar nicht mehr zu
denken. „Wenn man will, dass Gerechtigkeit waltet“, appellierte King an
die Geberländer, „muss man die nötigen Mittel aufbringen.“ Die Regierungen der Region indes, allen voran Liberias Präsidentin Ellen Johnson-Sirleaf,
106
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würden das heikle Verfahren gegen
Taylor sowieso lieber an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag abschieben, schon weil der Ex-Staatschef noch
immer viele gewaltbereite Anhänger in
Westafrika hat. Den Haag ist dazu auch
bereit, hat aber ein ganz anderes Problem: Die niederländische Regierung
will den Angeklagten nur
einreisen lassen, wenn garantiert ist, dass sie ihn nach
dem Prozess und einer möglichen Verurteilung auch
wieder loswird. Bislang hat
Uno-Generalsekretär Kofi
Annan allerdings kein Land
gefunden, das für Taylor
eine Zelle frei hätte; vergebens hat er etwa in Schweden,
Österreich und Dänemark
nachgefragt. Außerdem
kämen auch auf den Gerichtshof in Den Haag Finanzprobleme zu: Auf wessen Kosten
Hunderte Zeugen aus Westafrika einfliegen sollten, ist
völlig ungeklärt.
GEORGE OSODI / AP
us Geldmangel und wegen diplomatischer Ränkespiele kommt der
Prozess gegen Westafrikas berüchtigtsten Kriegsverbrecher nicht in Gang.
Charles Taylor, Ex-Präsident
von Liberia, unter dessen Patronat in den neunziger Jahren
Rebellengruppen das benachbarte Sierra Leone mit Massenmorden, Vergewaltigungen
und Plünderungen überzogen,
sitzt seit März in Freetown im
Gefängnis und wartet auf sein
Verfahren. Doch dem von der
Uno unterstützten Gerichtshof
in der Hauptstadt Sierra Leones, der die Massaker untersucht, geht das Geld aus.
Selbst derzeit anhängige Verfahren könnten ohne neue
Mittel kaum zu Ende gebracht
werden, warnt der Präsident
Taylor im Gericht in Freetown
des Gerichts, George Gelaga
pathisanten wollen 72 Prozent für die
Vereinbarung stimmen. Konkret gefragt,
ob sie eine Zwei-Staaten-Lösung auf
Basis der Grenzen von 1967 akzeptieren
würden, antworten derzeit 55 Prozent
der Hamas-Anhänger mit Ja.
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Ausland
der Ostukraine wie auch die Stadträte
von Charkow und Sewastopol auf der
Krim haben den Schritt bereits vollzogen – gegen den energischen Widerstand der Regierung in Kiew. Zu Protestkundgebungen kommt es auch
gegen den von Präsident Wiktor Juschtschenko favorisierten Nato-Beitritt
des Landes. Zugleich wird es für den
angeschlagenen Hoffnungsträger immer
Z
wei Monate nach der Parlamentswahl gerät die Stabilität des Landes
zunehmend ins Wanken. Die Führung
ist gelähmt, eine Lösung der politischen
Krise durch ein tragfähiges
neues Regierungsbündnis
noch immer nicht in Sicht.
Und der Druck von der
Straße wächst. Auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew,
wo vor anderthalb Jahren
noch die „Revolution in
Orange“ bejubelt wurde, demonstrierten Ende Mai Tausende Gewerkschafter gegen
die steigenden Strom- und
Gaspreise. Anlass für den
wachsenden Unmut ist die
grassierende Arbeitslosigkeit, die in manchen Gegenden, etwa auf der Krim, bei
70 Prozent liegt. Die soziale
Krise lässt vor allem im inDemonstranten in Kiew
dustriellen Osten des Lanschwieriger, bei der Regierungsbildung
des wieder Rufe nach einer stärkeren
die Moskau-freundliche Partei der
Anlehnung an Russland laut werden.
Regionen von Ex-Premier Wiktor JanuEtwa 80 Prozent der Ukrainer sprechen
kowitsch zu umgehen. Die von dubiosich in Umfragen inzwischen dafür aus,
sen Industriebaronen finanzierte Partei
Russisch gesetzlich als regionale Amtswurde bei der Wahl mit 32,1 Prozent
sprache anzuerkennen. Die Gebietsparder Stimmen stärkste Kraft.
lamente von Donezk und Lugansk in
E U R O PA
Manipulation mit Mais
arallel zur hitzigen Gen-Debatte in
der Großen Koalition in Berlin
P
steckt auch Brüssel in einer Zwickmüh-
PAUL LANGROCK / ZENIT
le: Bis Mitte Juni muss die EU-Kommission erklären, ob sie dem Europäischen
Parlament bislang geheime Studien
überlässt, auf deren Basis gentechnisch
veränderte Futterpflanzen und Lebensmittel für den Import in die EU zugelassen sind. Lehnt die Kommission das Ersuchen ab, muss sie vor den Kadi. Die
Grünen-Abgeordnete Hiltrud Breyer
will die Herausgabe der brisanten Unterlagen vor dem Europäischen Gerichtshof erzwingen. Aber selbst wenn
die Kommission den geforderten Einblick gewährt, muss sie mit einer Klage
rechnen – in diesem Falle angestrengt
vom US-Konzern Monsanto. Der Hersteller der umstrittenen genetisch manipulierten Mais- und Baumwollsorten
betrachtet die Unterlagen als Betriebsgeheimnisse. Nach der ersten Veröffentlichung einer Monsanto-Zulassungsstudie auf Geheiß eines deutschen
Gerichts im vergangenen Juni – für das
Maisprodukt MON 863 – hatten Wissenschaftler und Politiker Zweifel an der
Stichhaltigkeit der EU-Entscheidungen
geäußert. So hätte Monsanto gerade
einmal 90 Tage lang Ratten mit Labormais gefüttert – für verlässliche Aussagen eine viel zu kurze Testphase, so
die Kritiker. Zudem seien negative
Erkenntnisse als „biologisch nicht relevant“ einfach unter den Tisch gefallen.
Protest gegen Gen-Mais (in Brandenburg)
d e r
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Roter Gutsbesitzer
arum eigentlich zahlt Göran Persson keine Wohnsteuer? Diese Frage
W
stellen einfache Eigenheimbesitzer immer
nachdrücklicher. Dem sozialdemokratischen Premier Persson könnte sie bei der
Wahl im September zum Verhängnis
werden. Denn Geschichten und Skandälchen um seinen Landsitz belasten zunehmend den Wahlkampf der Regierungspartei. Private Immobilienbesitzer
müssen im Hochsteuerland Schweden,
natürlich, eine jährliche Abgabe an den
Fiskus entrichten. Je schöner Lage und
Hausausstattung, desto mehr. Seeblick
oder Sauna kosten extra – eigentlich.
Nicht für den Premier. Im April 2004
kaufte er mit seiner Frau ein ansehnliches Gut in der Provinz Södermanland,
Seebesitz inklusive, und begann mit Bau
und Umbau eines Herrenhauses mit 350
Quadratmeter Wohnfläche. Kosten: rund
20 Millionen Kronen (zwei Millionen
Euro). Der Clou: Landsitze, egal wie
prunkvoll, genießen Steuervergünstigungen, sobald Ackerland und Wald vorhanden sind. Und davon hat Persson reichlich: 277 Hektar Felder, Weiden und Bäume. Seitdem sticheln Zeitungen über den
vom Arbeiterführer zum steuerfreien
SCANPIX / DANA PRESS (O. + U.)
Präsident in der
Klemme
SCHWEDEN
REUTERS
UKRAINE
Landsitz, Persson
„Gutsbesitzer“ mutierten Sozi und erinnern
genüsslich daran, dass
Vorgänger wie Olof Palme oder Ingvar Carlsson allenfalls im Reihenhaus lebten. Zu allem
Überfluss ermittelt nun
auch noch die Staatsanwaltschaft gegen
den Premier, einmalig im Musterland
der Demokratie, ob er beim Bau gegen
den Arbeitsschutz verstoßen habe – bei
einer Inspektion waren Sicherheitsmängel etwa beim Baugerüst ruchbar geworden. Eine Geldbuße droht. Schwerer
wiegt wohl der politische Schaden. „Ich
hätte besser aufpassen müssen“, sagt
Persson. Das sagen viele Sozialdemokraten inzwischen auch.
107
Ausland
USA
Tod in Haditha
In einer Stadt am Euphrat starben 24 Menschen bei einem Massaker, begangen von Marines – das ist
das Resümee von Untersuchungen, die das Pentagon anstellen ließ. Erst ein halbes Jahr
nach der Gräueltat kommen Einzelheiten ans Tageslicht und sorgen für Entsetzen in Washington.
LUCIAN READ / WPN / AGENTUR FOCUS
H
Geborgene Leichen in Haditha: „Diese Morde sind ein Verrat am amerikanischen Volk“
Euphrat
Schauplatz des Massakers
SYRIEN
I RKirkuk
AK
Die Ereignisse am 19. November 2005
in der irakischen Stadt Haditha
Haditha
1
Frau und drei Kinder
4 Vier Brüder
250 km
5 Taxi Vier Studenten und der Fahrer
3
Hajj-al-Sina
N
i-Stra
5
ße
Satellitenbild:
Google Earth
d e r
2 Sieben Zivilisten, darunter eine
3 Acht Zivilisten, darunter fünf Kinder
SAUDIARABIEN
Weg des
HumveeKonvois
2
108
Angeblich von US-Soldaten in Folge
der Explosion getötete Iraker:
Bagdad
Eine Bombe explodiert
unter einem US-Konvoi
und tötet einen Marineinfanteristen
Richtung Stadtzentrum
Samarra
Balad
Falludscha
1 7.15 Uhr:
4
IRAN
aditha ist eine kleine staubige Stadt
am Euphrat. Sie liegt 200 Kilometer
nordwestlich Bagdads in der Provinz Anbar, von der sich vor allem sagen
lässt, dass hier Tag für Tag noch öfter als irgendwo sonst im Irak gestorben wird, denn
diese sunnitische Region beherrschen die
Aufständischen. Die amerikanischen Marines versuchen periodisch, den Widerstand zu brechen, ehe sie sich wieder auf
ihre Stützpunkte zurückziehen. Nur dort
sind sie sicher, einigermaßen. Sobald sie
auf Patrouille gehen oder fahren, geraten
sie in Lebensgefahr.
Haditha ist auch die Hölle für die Bauern, die in der Stadt leben. Sie sterben,
wenn die behelfsmäßig fabrizierten Bomben hochgehen, da die Aufständischen selten Rücksicht auf Zivilisten nehmen. Und
sie sterben, wenn die Marines den Ort unter Beschuss nehmen.
Die Marines vom 3. Bataillon der ersten
Division sind durchweg Veteranen dieses
Krieges, viele sind schon auf der zweiten
Tour im Land, eine Minderheit auf der
dritten. Haditha ist nicht die erste Hölle,
die sie kennenlernen. Im Sommer vorigen
Jahres waren 20 Marines in einem drei
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Tage währenden Gefecht mit den Aufständischen ums Leben gekommen, 14 von ihnen starben, als eine Bombe am Straßenrand hochging, 6 Scharfschützen gerieten
in einen Hinterhalt und wurden abgeknallt.
Alltag im Irak.
Der 19. November 2005 begann wie so
viele Tage mit einer Explosion. Morgens
um 7.15 Uhr fuhren vier Geländefahrzeuge der Marines auf einer Hauptstraße langsam durch Haditha. Die Bombe war diesmal so sorgfältig versteckt worden, dass sie
nur einen Humvee, aber keinen Zivilisten
Patrouillierende Marines in Haditha: „Angst und Terror statt Frieden und Sicherheit“
traf. Miguel Terrazas, 20, der einen der
Humvees steuerte, war sofort tot, zwei andere Soldaten zogen sich Verwundungen
zu. Den anderen Soldaten vom 3. Bataillon
passierte nichts.
Die US-Streitkräfte buchen solche Attentate normalerweise unter die unvermeidlichen, aber üblichen Vorkommnisse
in der Anbar-Provinz ein. Was daraus entstand – so lautet das Resümee vorläufiger
Untersuchungen, die die US-Armee selbst
in Auftrag gegeben hatte –, wäre aber das
größte Kriegsverbrechen, das sich US-Soldaten seit Vietnam zuschulden kommen
ließen: ein irakisches My Lai. Ein Massaker
an Unschuldigen, an Kindern, Frauen und
unbewaffneten Männern, das sogar Abu
Ghureib, den Inbegriff folternder Barbarei
im Irak, in den Schatten stellt.
24 Menschen starben an diesem Tag. Ein
alter Mann hatte im Rollstuhl gesessen, die
Mütter versuchten vergebens, ihre Kinder
zu schützen. Nur die Halbwüchsige, die
schnell wegrannte, und das Mädchen, das
so tat, als wäre es tot, überlebten.
Zuerst muss Totenstille über Haditha gelegen haben, wahrscheinlich bargen die
Marines erst einmal den Toten und die beiden Verletzten. Die Bewohner beobachteten sie aus ihren Ziegelhäusern und den
kleinen palmenbesäumten Innenhöfen.
Die Marines standen um den ausgebrannten Humvee, sie wirkten wie unter Schock.
Dann, sagten hinterher ein paar Leute,
habe einer der Marines irgendetwas ge-
brüllt – und daraufhin zogen sie los, wahrscheinlich entfesselt durch den Tod ihres
Kameraden und den Irrsinn dieses Krieges.
Vier Stunden lang terrorisierten sie
Haditha, töteten wahllos die Menschen,
die das Pech hatten, ihnen vor die Flinte zu
geraten. So hat das Nachrichtenmagazin
„Time“ die Vorgänge rekonstruiert.
Sie drangen zuerst ins Haus von Abd alHamid Hassan Ali ein, der an Diabetes litt
und im Rollstuhl saß, weil ihm ein Bein
amputiert worden war. Im Haus waren
außer ihm seine Frau, 66, zwei Männer
mittleren Alters, die Schwiegertochter und
vier kleine Kinder zwischen zwei Monaten
und acht Jahren. Der Schwiegertochter gelang es, mit dem Baby zu fliehen. Der alte
Mann hatte neun Schüsse in Brust und
Bauch, die Eingeweide quollen aus einer
klaffenden Wunde im Rücken.
Es war anscheinend nicht genug, die Marines brachen noch ins Nachbarhaus ein.
Sie schossen aus allernächster Nähe und
warfen Handgranaten in die Küche und ins
Bad. Die Eltern, 43 und 41 Jahre alt, die
Schwester der Frau, sie starben mit fünf
Kindern zwischen 3 und 14 Jahren. Die 13jährige Safa Junis Salim überlebte, ihre
sterbende Mutter fiel über sie, und sie verlor das Bewusstsein, die Marines hielten
sie vermutlich für tot.
Im dritten Haus brachten die Marines
vier Brüder um. Die letzten Toten dieses
Tages in Haditha waren vier Studenten
und ihr Taxifahrer, die im falschen Mod e r
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SEIGLE / MARINE CORPS / AP
ment auftauchten. Sie wollten übers Wochenende nach Hause fahren, der Taxifahrer legte noch schnell den Rückwärtsgang
ein, weil sie wohl ahnten, was da vor sich
ging. Sie starben so wie die anderen.
Erst vor wenigen Tagen hatten George
W. Bush und Tony Blair Asche auf ihr
Haupt gestreut und verspätet eingestanden, dass Amerika und England etliche
Fehler im Irak unterlaufen waren. Symbolisch erwähnte der amerikanische Präsident Abu Ghureib. In diesem Gefängnis
haben sich amerikanische Soldaten Exzesse der Grausamkeit geleistet. Sollten sich
die Vorwürfe bestätigen, wäre Haditha
aber eine Steigerung der Barbarei, der
systematische Mord an Unschuldigen zum
Zwecke der Vergeltung.
Haditha steht dann in einer Reihe mit
My Lai, jenem Massaker, das in die Geschichtsbücher eingegangen ist. 504 Zivilisten starben damals am 16. März 1968, als
die Soldaten der 11. Infanteriebrigade unter Führung von Leutnant William Calley
unter ihnen wütete. Es dauerte fast zwei
Jahre, bis das „Life“-Magazin erstmals
über die Gräuel in der Siedlung an der
Grenze zu Nordvietnam berichtete und so
das Schweigen durchbrach, das die Streitkräfte über My Lai gelegt hatten.
Gerade eben erst kam auch ein Fünkchen Hoffnung im Irak auf. Fünf quälende
Monate hatte es gedauert, bis endlich eine
Regierung unter Nuri al-Maliki zustande
kam. Überdies tasten sich Amerika und Iran
109
REUTERS (L.); AP (R.)
Videoaufnahmen im Leichenschauhaus
110
von der Moschee hinaus auf den US-Stützpunkt an. Die Kleriker erinnerten die
Amerikaner daran, sie hätten „versprochen, dem Land Frieden und Sicherheit zu
bringen anstatt Panik, Angst und Terror“.
Sie bekamen gesagt, die Mordorgie sei ein
Versehen gewesen.
Die Marines stellten nicht etwa von sich
aus eine Untersuchung an, im Gegenteil,
sie versuchten die Spuren zu verwischen.
Nach ihrer offiziellen Darstellung waren
die 24 von den Aufständischen getötet wor-
NATIONAL ARCHIVES
an Gespräche heran, wie sich das Land auf
lange Sicht befrieden lassen könne – als vertrauensbildende Maßnahme für Verhandlungen über Teherans Nuklearprogramm.
Haditha macht viel zunichte, Haditha
bestärkt den Verdacht, dass die Besatzungsmacht USA zu Grausamkeiten fähig
ist, sie erst vertuscht und dann aufklärt,
wobei jeder Fall zum Einzelfall erklärt
wird. Haditha schwächt Amerika und
dürfte dazu beitragen, dass der Krieg des
mittlerweile unpopulären Präsidenten noch
unpopulärer wird. „Solche Zwischenfälle
wirken verheerend“, sagt Zalmay Khalilzad, der amerikanische Botschafter in
Bagdad, im Gespräch mit dem SPIEGEL
(siehe Seite 111). Die arabischen Sender alDschasira und al-Arabija berichten ausführlich über Haditha und die Folgen.
Im Washingtoner Establishment haben
die Vorgänge Entsetzen ausgelöst. Senator
John Warner, ein älterer Herr mit gutem
Ruf und dazu noch Republikaner, nannte
als Erster Haditha in einem Atemzug mit
Abu Ghureib. Er leitet den StreitkräfteAusschuss, der Anhörungen über die vier
Stunden am 19. November anberaumte,
und stellte eine entscheidende Frage: „Wie
eigentlich haben die Offiziere der Marines
unmittelbar darauf reagiert?“
John Murtha ist ein hochdekorierter Offizier der Marineinfanterie aus dem Vietnam-Krieg und sitzt heute für die Demokraten im Abgeordnetenhaus. Er sagt, er
hege keinerlei Zweifel, dass die Marines
Unschuldige getötet hätten und dann die
Umstände verschleiern wollten. Ihm sei
von offiziellen Stellen mitgeteilt worden,
die Soldaten hätten „kaltblütig“ eine Frau
erschossen, die sich schützend über ihr
Kind gebeugt und um Gnade gefleht habe.
Murtha will vor allem wissen, ob Generalstabschef Peter Pace „Order gab, die Affäre zu vertuschen“.
Passenderweise übergab der neue irakische Botschafter Samir al-Sumeidai am
Dienstag im Weißen Haus sein Beglaubigungsschreiben. Gleich danach gab er
CNN sein erstes Interview: „Diese Morde
sind ein Verrat am amerikanischen Volk.“
Nach dem Massaker führten die Prediger und die Clanchefs des Ortes einen Zug
Im März veröffentlichte das Magazin einen
Artikel, der die Version der Marines entkräftete. Die Reporter hatten 28 Zeugen in
Haditha interviewt und so die Vorgänge am
19. November rekonstruiert.
Inzwischen kursiert das Videoband, das
der Student Thabit drehte, überall im Nahen Osten. Kopien gelangten an Moscheen
in Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien.
Vermutlich sorgte das weite Netzwerk der
Qaida für umsichtige Verbreitung.
Im Februar begann Oberst Gregory
Watt mit dem Verhör der 13 Marines. Sie
blieben bei ihrer Version, die 24 seien
durch die Bombe und den Schusswechsel
gestorben, aber die Tatsachen sprachen dagegen. Vor allem der Tod der Studenten
und ihres Taxifahrers widerlegte die Lesart
der Marines: Die fünf besaßen keine Waffen, sie hatten keine Anstalten gemacht,
den Soldaten gefährlich zu werden.
15-mal begutachteten die Ermittler der
Streitkräfte die Tatorte. In den Wänden
der drei Häuser fanden sich Dutzende
Einschusslöcher. Die Schüsse, aus kurzer
Distanz abgefeuert, durchschlugen die Körper. Dazu tauchten neue Fotos der Leichen auf, die offenbar gezielt unterschlagen wurden.
Die Ermittler ließen das Massaker nachstellen, am Ende fiel die
Version der Marines in sich zusammen. Zu den Hauptverdächtigen gehören Unteroffizier Frank
Wuterich, der die Patrouille führte,
und zwei Wehrpflichtige; ihnen
droht eine Anklage wegen Mordes. 9 der 13 Marines haben aller
Wahrscheinlichkeit nach mitbekommen, was sich in Haditha zutrug, ohne einzugreifen.
Der Kommandeur des Bataillons, Jeffrey Chessani, und zwei
andere Offiziere sind mittlerweile
ihrer Posten enthoben worden. Sie
stehen unter Vertuschungsverdacht. Von Chessani soll auch die
Anweisung stammen, die Familien
der Opfer materiell zu entschädigen. Bargeld dürfen die Marines nur auszahlen,
wenn Unschuldige ums Leben gekommen sind.
Der Obergefreite Ryan Briones, 21,
gehörte dem 3. Bataillon an, er war in
Haditha, er gehört allerdings nicht zu den
Beschuldigten, er wurde abkommandiert,
um die Toten zu bergen. Miguel Terrazas
war sein Freund, die beiden waren zusammen im Fitness-Studio der Einheit, sie
zechten gemeinsam. Briones bedeckte die
Leiche mit einem Poncho und sprach ein
Gebet. Etwas später, erzählt er, habe er
ein kleines Mädchen vom Boden aufgehoben, sie war tot, ein Kopfschuss, Gehirnmasse sei auf seine Kampfstiefel getropft.
Diese Bilder, sagt er, werde er wohl nie
vergessen. „Sie sind in meinem Kopf und
in meinem Herzen.“
Georg Mascolo,
US-Soldaten in My Lai (1968)
Symbol des Grauens
den und nicht etwa von den Soldaten. In
ihrem Kommuniqué vom 20. November
steht, der Obergefreite Terrazas und 15 irakische Zivilisten seien zunächst von der
Bombe getötet worden, die anderen neun
beim anschließenden Feuergefecht mit
Heckenschützen.
Die Familien der meisten Getöteten bekamen 2500 Dollar, das ist der Höchstbetrag
nach den Vorschriften der Marines. Das war
ein erstes Eingeständnis, dass Haditha mehr
war als nur einer der üblichen Anschläge
mit der üblichen hohen Zahl an Opfern.
Am Tag nach dem Gemetzel in Haditha
machte Tahir Thabit, ein Student der Journalistik, Videoaufnahmen von den Toten
im Leichenschauhaus. Er brachte den Stein
ins Rollen. Das US-Magazin „Time“ kam
im Januar in den Besitz des Videos und gab
eine Kopie an Oberst Barry Johnson weiter,
der eine förmliche Untersuchung einleitete.
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Gerhard Spörl
Ausland
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Sechs entscheidende Monate“
Amerikas Botschafter im Irak, Zalmay Khalilzad, über Washingtons Abkehr von allzu ehrgeizigen
Kriegszielen, den anhaltenden Terror aufständischer Milizen, Teherans Versuche, dem
Nachbarn seinen Willen aufzuzwingen, und die „schrecklichen Fehler“ beim Wiederaufbau
Wo ist denn nun der positive
Effekt der Irak-Intervention?
Chefin, Außenministerin Condoleezza Rice, hat zugegeben, dass
Khalilzad: Wir Amerikaner sind
im Irak „Tausende taktische Fehimmer so ungeduldig. Manchler“ gemacht worden seien. Präsimal lässt der Fortschritt auf sich
dent Bush bedauert vor allem den
warten.
Folterskandal von Abu Ghureib.
SPIEGEL: Es gibt also bislang keine
Was halten Sie für Amerikas entkonkreten Erfolge?
scheidenden Fehler?
Khalilzad: Nehmen Sie Libyen. Da
würde ich nicht ausschließen, dass
Khalilzad: In meinem Job bemühe
die Operation im Irak ihren Anteil
ich mich, nach vorn zu schauen.
am Kurswechsel hatte. Außerdem
Die Historiker haben große Fragab es inzwischen in mehreren
gen zu beantworten: War es eine
arabischen Ländern Wahlen – degute Idee, nach Kriegsende die
ren Ergebnisse man natürlich
Kontrolle den Besatzungsmächten
nicht kontrollieren kann, siehe
zu überlassen, statt von Anfang
Hamas.
an auf eine irakische Regierung
SPIEGEL: Die ehemalige USzu setzen – wie wir es in AfghaAußenministerin Madeleine Alnistan gemacht haben? War es
bright behauptet, der Westen
richtig, die Armee aufzulösen und
müsse sich nun einmal darauf einso viele Mitglieder der Baath-Parstellen, dass im Nahen Osten islatei aus ihren Ämtern zu vertreimistische Regime an die Macht
ben? Hat man zu lange gewartet,
gewählt werden.
um die Sunniten in den politiKhalilzad: Nicht unbedingt. Hätten
schen Prozess einzubinden?
wir zum Beispiel in Pakistan freie
SPIEGEL: Jetzt kommt es womögWahlen, dann – das wage ich zu
lich noch schlimmer: In der westbehaupten – würden die Religiöirakischen Stadt Haditha soll ein
sen nicht gewinnen. Im Irak war
Trupp US-Marineinfanteristen 24
es umgekehrt, hier haben die IslaZivilisten, darunter Kinder, kaltmisten bei den letzten Wahlen zublütig erschossen haben. Können
Sie sich vorstellen, welche Folgen
gelegt. Es gibt heute grundlegenZalmay Khalilzad
de Auseinandersetzungen innerdas haben wird?
halb des politischen Islam – auf
Khalilzad: Ich habe bislang zu
vertritt die Vereinigten Staaten, nach zwei Jahren als Botschafter
der einen Seite die fundamentawenige Informationen und warte
in Kabul, seit Juni 2005 in Bagdad. Bushs ehemaliger Berater
listischen Kräfte, auf der anderen
darauf, was mir die Militärs bein Sicherheitsfragen wurde 1951 im nordafghanischen Masar-idie gemäßigten. Für die Welt
richten. Aber wir bedauern den
Scharif geboren, studierte Politikwissenschaften in Beirut und
kommt viel darauf an, wer wo die
Verlust jedes Menschenlebens.
Chicago und lehrte an Universitäten in New York und San Diego.
Oberhand behält. Außerdem werAus Abu Ghureib haben wir geWährend der Clinton-Jahre gründete er ein Zentrum für Nahostden sich viele islamische Bewelernt, dass solche Zwischenfälle
Studien. Khalilzad ist verheiratet, hat zwei Söhne und ist ranggungen verändern, sobald sie poverheerend wirken.
höchster Muslim in der Washingtoner Regierung.
litische Verantwortung tragen. Ich
SPIEGEL: Amerikas erklärtes Ziel
bin da gar nicht so pessimistisch,
war es, durch den Einmarsch
nicht nur dem Irak Demokratie zu bringen, Eindämmungspolitik gegenüber der So- denken Sie doch an die Türkei, wo sich
sondern den ganzen Nahen Osten zu mo- wjetunion im Kalten Krieg. Ich glaube die Islamisten heute wie eine Art christdedernisieren. Ist das nicht gründlich fehl- nicht, dass militärisches Eingreifen immer mokratische Partei in Europa benehmen.
das richtige Rezept ist. Gefragt ist eine um- SPIEGEL: „Ich bin nicht überzeugt“, hielt der
geschlagen?
Khalilzad: Ich halte die Modernisierung des fassende Strategie, welche Demokratisie- deutsche Außenminister Joschka Fischer
Nahen Ostens für die zentrale Herausfor- rung, Wirtschaftsreformen und die Gleich- kurz vor Kriegsbeginn US-Verteidigungsderung unserer Zeit. Diese Region agiert berechtigung der Frauen vorantreibt.
minister Donald Rumsfeld entgegen. Wer
verhaltensgestört, wenn Sie den klinischen SPIEGEL: Die Aussichten sind eher düster. hat denn nun recht behalten?
Ausdruck entschuldigen. Die meisten Pro- In Palästina ist die radikal-islamische Ha- Khalilzad: Darauf kommt es doch gar nicht
bleme, mit denen die USA, Europa und mas gewählt worden, andere autokratische mehr an. Die Probleme, mit denen wir es
Asien konfrontiert sind, haben hier ihren Regime denken gar nicht an Reformen – heute zu tun haben, sind so groß, dass uns
Ursprung. Dem Nahen Osten zu helfen Ägypten zum Beispiel. Auch im Libanon gar nichts anderes übrigbleibt, als zusamist eine ähnlich große Aufgabe wie die schwindet die Hoffnung der Demokraten. menzuarbeiten. Wenn der Irak scheitert,
HADI MIZBAN / AP
SPIEGEL: Herr Botschafter, Ihre
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111
Ausland
KHALID MOHAMMED / AP
wenn der konfessionelle Bürgerkrieg aus- liberalen Kräften, viel Mühe darauf ver- Khalilzad: Wir haben sehr intensive Gebricht und die Nachbarstaaten in diesen wandt, das zu verhindern. In der Verfas- spräche. Auch die Aufständischen haben
Konflikt hineingezogen werden, wenn die sung steht, dass die Scharia nicht die ein- auf die Bildung der neuen Regierung geKurden sich unabhängig machen und al- zige, sondern eine grundsätzliche Quelle wartet und beraten jetzt, ob ihre Führer
Qaida eine ganze Provinz übernimmt, der Rechtsprechung ist.
ausreichend vertreten sind.
dann werden die Konsequenzen drama- SPIEGEL: Glauben Sie, die Planer dieser In- SPIEGEL: Die USA prangern Irans Untertisch sein.
vasion haben sich über solche Feinheiten stützung schiitischer Milizen an. Was genau
werfen Sie Teheran vor?
SPIEGEL: Woher droht derzeit die größere Gedanken gemacht?
Gefahr – von den Aufständischen oder Khalilzad: Nicht dass ich wüsste. Ich selbst Khalilzad: Wir Amerikaner haben Iran von
vom Streit der Konfessionen?
habe mir das sehr wohl überlegt, denn seinen schlimmsten Feinden befreit, den
Khalilzad: Es gibt einen Teufelskreis: Die in Afghanistan, wo ich vorher Botschafter Taliban in Afghanistan und von Saddam.
Terroristen wollen Bürgerkrieg. Die Qaida war, stand ich vor dem gleichen Problem. Meinem iranischen Kollegen in Kabul habe
greift die Schiiten an. Die schiitischen SPIEGEL: Heute stehen im Irak 130 000 US- ich manchmal gedroht, ich würde ihm eiMilizen rächen sich an den Sunniten. Und Soldaten, etwas über 20 000 aus an- nes Tages einmal eine dicke Rechnung
die Sunniten werden extremistischer, man- deren Ländern und 250 000 einheimische dafür ausstellen. Aber ernsthaft: Iran fährt
che schließen sich der Qaida an. Bei den Sicherheitskräfte. Trotzdem kommen je- im Irak eine zweigleisige Strategie. EinerAufständischen selbst ist
seits sind die Iraner nach
eine Spaltung zu erkennen.
Jahrzehnten der FeindEinige laufen zum Terroschaft an guten Beziehunristenführer Abu Mussab
gen interessiert, andereral-Sarkawi über, andere
seits wollen sie das Land
drängt es in die Politik,
schwach halten und die
wieder andere warten
Region dominieren.
ab. Das alles kann nur
Wir können mit Sicherheit
im Zusammenhang gelöst
sagen, dass sie Gruppen
werden: das Problem der
unterstützen, welche die
Aufständischen, der MiliKoalitionstruppen angreizen, der inneren Aussöhfen. Sie verwenden dieselnung. Es freut mich, dass
be Munition, um gepander neue Ministerpräsident
zerte Fahrzeuge zu zerNuri al-Maliki genau das
stören, die sie auch an die
als seine große Aufgabe
Hisbollah im Libanon lieerkannt hat.
fern. Sie zahlen Geld an
schiitische Milizen und bilSPIEGEL: Derartige Verspreden einzelne Gruppen aus.
chen haben die Iraker jeWir können nicht sagen,
des Mal gehört, wenn eine
ob Teheran al-Qaida unneue Regierung antrat.
terstützt, aber wir wissen,
Khalilzad: Diese ist anders, Premier Maliki (vorn M.), Parlamentarier: „Seine große Aufgabe erkannt“
dass Qaida-Leute aus Padiesmal sind auch die sunnitischen Araber dabei. Das ist eine abso- den Monat 1500 Menschen ums Leben. kistan über Iran hierherkommen. Und Anlut notwendige Voraussetzung, aber noch Warum bekommen Sie die Lage nicht in sar al-Sunna, eine Partnerorganisation von
Sarkawis Netzwerk, besitzt einen Stützden Griff?
keine Garantie für den Erfolg.
SPIEGEL: Wie viel Zeit hat Maliki?
Khalilzad: Aus drei Gründen: Wir haben punkt in Nordwestiran.
Khalilzad: Die nächsten sechs Monate wer- die Terroristen nicht ausschalten können, SPIEGEL: Sie selbst haben vorgeschlagen,
den entscheidend sein, um die Gefahr ei- Sarkawi und sein Netzwerk bleiben mäch- direkt mit der iranischen Regierung über
nes Bürgerkriegs einzudämmen. Schafft tig. Dann sind die Aufständischen da, die die Lage im Irak zu sprechen. Teherans
die Regierung das nicht, hat sie verspielt. wir in den politischen Prozess einbinden Außenminister hat das vorige Woche abSPIEGEL: Viele Iraker sind tief beunruhigt, müssen. Drittens haben wir das Problem, gelehnt. Ist die Initiative damit gestorben?
dass in der neuen Regierung, bei Sunniten dass wir die Milizen auflösen, entwaffnen Khalilzad: Dazu kriegen wir aus Iran alle
wie Schiiten, die religiösen Eiferer die und ihre Kämpfer irgendwo unterbringen 14 Tage ein neues Signal. Irakische PoliÜbermacht haben. Im Verkehrsministe- müssen. Die Grundrichtung ist zweifellos, tiker beispielsweise haben uns gesagt, dass
rium sollen jetzt alle Frauen Kopftuch tra- dass die Iraker Schritt für Schritt selbst die Teheran durchaus mit uns sprechen wolle.
Verantwortung für ihre Sicherheit über- Unsere Haltung jedenfalls ist dieselbe gegen, selbst die Christinnen.
blieben.
Khalilzad: Ich teile diese Sorge. Vor allem in nehmen.
der letzten Regierung gab es die Tendenz, SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, die kurdi- SPIEGEL: Viele irakische Politiker haben
dass Minister ihre Ministerien als persön- schen Peschmerga werden freiwillig ihre lange im iranischen Exil gelebt. Wie stark
liche Lehen betrachtet und Budgetmittel Waffen abgeben?
ist Teherans Einfluss im Irak heute?
direkt an ihre Parteien abgeführt haben. Khalilzad: Die irakische Verfassung garan- Khalilzad: Im Südirak arbeitet Iran massiv
Diesmal versuchen wir, jedem Minister tiert regionale Streitkräfte. Welche Waffen daran, seinen Einfluss auszubauen. Gleicheinen Stellvertreter der jeweils anderen sie tragen dürfen und welche Aufgaben sie zeitig nimmt der aber umso mehr ab, je
Seite zuzuordnen. Die letzte Wahl war eine haben, darüber muss noch gesprochen weiter der politische Prozess im Irak fortIdentitätswahl. Die Iraker entschieden werden. Schwieriger ist die Frage, wie wir schreitet. Wir haben erlebt, wie irakische
ihrer Herkunft und ihrer Konfession ent- mit den Aufständischen umgehen, den Politiker sich dem Druck aus Teheran wisprechend. Bei der nächsten Abstimmung selbsternannten Widerstandskämpfern. dersetzen, auch solche, die da gelebt haben.
geht es hoffentlich mehr um Inhalte.
Vielleicht wird man manche von ihnen – SPIEGEL: Selbst einflussreiche amerikaniSPIEGEL: Sie glauben also nicht, dass es zur wie die Mitglieder der Milizen – am Ende sche Politiker wie Senator Joseph Biden
in die Sicherheitskräfte aufnehmen.
sprechen inzwischen offen über Teilung
„Islamischen Republik Irak“ kommt?
Khalilzad: Sicher nicht im Sinne des irani- SPIEGEL: Stehen Sie immer noch mit Füh- entlang ethnisch-religiöser Grenzen. Wäre
das eine Lösung?
schen Modells. Wir haben, zusammen mit rern des Aufstands in Kontakt?
112
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HADI MIZBAN / AP
Schwierigkeiten, die Energieversorgung
aufrechtzuerhalten.
SPIEGEL: Besonders dramatisch ist die Situation im Ölsektor, der doch eigentlich
den Wiederaufbau finanzieren sollte.
Khalilzad: Der Irak exportiert zurzeit etwa
1,7 Millionen Barrel pro Tag. Aber auch
hier haben wir mit der schwierigen Sicherheitslage zu kämpfen. Und nicht alle
Nachbarn sind am wirtschaftlichen Erstarken des Irak interessiert.
SPIEGEL: Das Pentagon, das diesen Krieg
geplant hat, interessierte sich im Gegensatz zum US-Außenministerium nie für
den Prozess des „nation building“. Und
doch ist es genau das, womit Sie heute
überwiegend beschäftigt sind. Haben die
Diplomaten letztlich recht behalten gegenüber den Geostrategen im Verteidigungsministerium?
Khalilzad: Dieses „nation building“ ist
unsere zentrale Aufgabe, sowohl in Afghanistan als auch im Irak. Und Staaten,
Nationen bildet man nicht mit militärischer
Macht. Es ist trotz aller Schwierigkeiten
sehr eindrucksvoll zu sehen, wie die Kurden, die arabischen Sunniten und Schiiten
hier zusammenfinden, wie sie gemeinsam
definieren, auf welchen Grundlagen ihr
Staat ruhen soll, welchen politischen Kurs
dieser Staat verfolgen will, wer welchen
Kabinettsposten bekommen soll.
SPIEGEL: Die frühen Jahre der Bush-Regierung waren von moralischem Rigorismus
geprägt, von einem missionarischen Eifer,
die Welt zu demokratisieren. Ist das jetzt
die Rückkehr zur Realpolitik?
Khalilzad: Es kommt darauf an, seine Ideale
und seine Interessen gleichermaßen umzusetzen. In der Ära des Kalten Krieges ging
es um die Eindämmung des sowjetischen
Einflusses, und da haben wir manches autoritäre Regime geduldet, solange es uns in
dieser Hinsicht genutzt hat. Heute konvergieren unsere Werte und unsere Interessen
– vor allem im Nahen Osten, denn diese
Region muss endlich funktionieren, politisch
und wirtschaftlich. Nur so lässt sich die globale Gefahr des Extremismus bekämpfen.
Und das geht nicht von heute auf morgen.
SPIEGEL: Herr Botschafter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Khalilzad: Diese Frage müssen die Iraker
selbst entscheiden. Ich glaube nicht, dass
sie das wollen. Hier ist nicht der Balkan,
wo die Völker wirklich auseinanderstrebten. Das Gefühl, Iraker zu sein, verbindet
alle Volksgruppen dieses Landes. Selbst
die Kurden, die traditionell auf einen eigenen Staat aus sind, sehen die Vorteile
der gegenwärtigen Lage: Sie haben einen
autonomen Status in Kurdistan, bestimmen aber gleichzeitig die Entscheidungen
in Bagdad mit. Wenn etwa die Nachbarstaaten eine Teilung des Irak vorantrieben,
wäre das ein schrecklicher Fehler.
SPIEGEL: Also doch ein einheitlicher Irak?
Khalilzad: Warum sollten sich etwa die
Schiiten abspalten wollen?
SPIEGEL: Weil sie dann den Großteil des
irakischen Öls unter sich aufteilen könnten.
Khalilzad: Aber sie sind doch schon heute
die Mehrheit! Die Sunniten sehen sich,
womöglich aus nostalgischen Gründen,
nach wie vor als die einflussreichste Gruppe und wollen einen starken Zentralstaat –
ganz anders als Minderheiten in anderen
Ländern. Die Verhältnisse sind viel komplexer, als sich das manche Leute in Washington vorstellen.
SPIEGEL: Die USA haben Milliarden in
den Wiederaufbau des Irak gepumpt, die
offenbar wirkungslos verpufft sind. Was
ist da schiefgegangen?
Khalilzad: Wir haben schon bei der Planung schreckliche Fehler gemacht, zudem
leiden wir unter der verheerenden Sicherheitslage. Bei unseren Projekten gehen im Schnitt 20 Prozent der Gesamtkosten für den Schutz der Leute und Objekte drauf. Wir mussten riesige Summen
kurzfristig umleiten, um Polizisten auszubilden. Erst jetzt beginnen manche
Projekte, sich zu rentieren. In der Stromerzeugung werden wir bis Mitte Juli die
Kapazität von 4200 auf 6000 Megawatt
erhöhen.
SPIEGEL: Gestern hatte Bagdad eine einzige
Stunde Strom.
Khalilzad: Im Schnitt haben wir derzeit vier
Stunden, und wir wollen das auf zwölf
Stunden ausbauen …
SPIEGEL: Und solche mageren Ergebnisse
machen Sie nicht wütend?
Khalilzad: O ja, ich werde manchmal zornig,
fragen Sie meine Leute hier in der Botschaft. Aber man muss auch bedenken,
dass dieses Land im Umbruch ist. Die Infrastruktur liegt am Boden, und wir haben
* Mit den Redakteuren Hans Hoyng und Bernhard Zand
vergangenen Montag in Bagdad.
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DER SPIEGEL / AGENTUR FOCUS
Explosion einer Autobombe in Bagdad: „Diese Region agiert verhaltensgestört“
Khalilzad beim SPIEGEL-Gespräch*
„Modernisierung des Nahen Ostens“
113
Ausland
Prügelopfer Beck in Moskau, Parade in Warschau
JEREMY NICHOLL / LAIF (L.); TUCHLINSKI / REPORTER / EASTWAY (R.)
Westlich-dekadenter Lebensstil
MINDERHEITEN
Polens Retter
Homosexuelle werden in Osteuropa
gern verprügelt und verspottet.
Ob in Budapest, Riga oder Moskau
– populistische Politiker haben
sie als Sündenböcke entdeckt.
D
as Handy von Tomasz Baczkowski
piept: „Wir beobachten dich, Sieg
Heil“, steht auf dem Display. Solche elektronischen Botschaften empfängt
der Vorsitzende der Warschauer „Stiftung
für Gleichheit“ mehrfach am Tag, seit
Rechtsradikale seine Nummer im Internet
veröffentlicht haben.
Baczkowski ist derzeit die Hassfigur
Nummer eins der national-katholischen
Rechten, denn er organisiert die diesjährige „Parade der Gleichheit“ in der Warschauer Innenstadt. Samstag kommender
Woche soll sie stattfinden.
In den vergangenen zwei Jahren hatte
Lech Kaczyński, damals noch Bürgermeister an der Weichsel, inzwischen aber
Staatspräsident, die Demonstration für die
Gleichberechtigung von Homosexuellen
verboten. Egal, ob die Stadtväter diesmal
ihr Placet geben, Polens Schwule und Lesben werden am 10. Juni auf die Straße gehen – und mit ihnen wieder hasserfüllte
Gegendemonstranten. Unvergessen die
hässlichen Bilder von den Prügeleien im
vergangenen Jahr.
Homosexuelle leben gefährlich – nicht
nur zwischen Oder und Bug. Besorgt notiert der britische „Guardian“ Vorurteile,
die eine „neue Linie zwischen Ost und
West“ in Europa ziehen. Schließlich habe
sogar das katholische Spanien die Schwulenehe zugelassen, während die Minderheit im Osten des Kontinents vielerorts
schweren Diskriminierungen ausgesetzt ist.
Im Juli vorigen Jahres mussten ganze
Hundertschaften Polizei in der lettischen
Hauptstadt Riga einige Dutzend Schwule
vor einem wütenden Mob schützen. In
Rumänien und Moldau verboten die
Behörden Umzüge gegen die Diskriminierung von Homosexuellen von vornherein.
116
Dass russische Rechtsradikale während
einer Schwulendemo am letzten Mai-Wochenende in Moskau auf den Grünen-Politiker Volker Beck einprügelten, überrascht daher wenig. Der Bundestagsabgeordnete trug eine Platzwunde am Kopf
davon, die Täter wurden nicht gefasst.
Osteuropas Schwulenhasser dürfen sich
sicher fühlen, sie handeln mit Billigung von
ganz oben. Moskaus Bürgermeister Jurij
Luschkow wetterte unlängst: „Mögen westliche Länder mit ihrer Zügellosigkeit dergleichen dulden, Russland tut dies nicht.“
Lettlands Premier Aigars Kalvitis sprach
sich für ein generelles Untersagen derartiger Demonstrationen aus, denn man sei
„ein auf christlichen Werten gegründeter
Staat“. Als erstes EU-Land haben die Balten das Verbot der Schwulenehe sogar in
der Verfassung festgeschrieben.
Auch Zsolt Semjén, Fraktionschef der
christdemokratischen Partei in Ungarn,
fand es im Wahlkampf schick, mit schwulenfeindlichen Sprüchen auf Stimmenfang
zu gehen: „Wenn sie wollen, dass ihr Sohn
seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem bärtigen älteren Mann sammelt, dann
sollten sie für die Liberalen stimmen.“
Als Warschauer Oberbürgermeister ließ
Lech Kaczyński die Parade der Gleichheit früher bereits einmal durchgehen. Doch kaum näherte sich der Präsidentschaftswahlkampf, besann er sich
auf seine katholischen Prinzipien und untersagte das bunte Treiben. Seit seine
Partei „Recht und Gerechtigkeit“ zusammen mit der national-katholischen „Liga
polnischer Familien“ regiert, ist die Luft
noch dünner geworden für Polens Homosexuelle.
Denn in der Jugendorganisation der
Liga wird obsessiver Schwulenhass ged e r
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pflegt. Wojciech Wierzejski, stellvertretender Vorsitzender der Liga-Fraktion im
Sejm, forderte vom Innenministerium
jüngst sogar, man möge Verbindungen der
Schwulenszene mit dem „Umfeld der Pädophilen und der Drogenmafia prüfen“.
Jahrzehntelang hatte die kommunistische Propaganda Homosexuelle stigmatisiert, sie galten als Vertreter eines westlich-dekadenten Lebensstils. Für Liebe
zwischen Männern kam man in der Sowjetunion bis zu fünf Jahre in Haft.
An die Tabus von damals knüpfen osteuropäische Politiker heute an. Sie stoßen
damit vor allem bei jenen auf offene Ohren,
die von den Veränderungen der letzten Jahre überfordert sind. Homosexuelle geben
ideale Sündenböcke ab, sie haben kaum
eine Lobby. Ihnen lässt sich die Schuld zuschieben am vermeintlichen Werteverfall, an Aids, Drogenmissbrauch, Kinderschändung – ja selbst am organisierten Verbrechen.
Tadeusz Janiszewski hält das für unerträglich. Der Schauspieler am „Theater des
achten Tages“ in Posen hat zu kommunistischen Zeiten gegen Intoleranz und Diskriminierung angespielt, musste deswegen ins Exil nach Italien. 16 Jahre nach
der Wende fürchtet der Dissident von
einst um sein Lebenswerk. Janiszewski
war dabei, als die Polizei vergangenen November eine Schwulendemo niederknüppelte: „Das fühlte sich an wie damals im
Kriegszustand, als die Kommunisten die
Solidarno£ƒ-Bewegung erstickten.“ Trotzdem will er am 10. Juni wieder mit den
Homosexuellen auf die Straße, weil es „um
mehr als die Rechte von ein paar Schwulen geht“.
Auch aus Berlin werden Hunderte Unterstützer anreisen. Nicht nur, weil Tausende polnische Schwule in den vergangenen Jahren in das offene Klima der deutschen Hauptstadt geflüchtet sind. Auch
politische Prominenz hat sich angesagt,
darunter der lädierte Volker Beck.
Schüler und Studenten wollen sich
anschließen, ebenso die postkommunistische Linke. Sogar der auch in Deutschland
bekannte Popstar Michal Wi£niewski
(„Keine Grenzen“) hat zugesagt.
So verwandelt sich die kleine polnische
Schwulenbewegung inzwischen peu à peu
in eine Bürgerinitiative gegen die Intoleranz der national-katholischen Regierungskoalition. „Die Gays könnten Polens
Retter sein“, freut sich ein liberaler Warschauer Journalist.
Chef-Organisator Baczkowski erwartet
diesmal mehr Nicht-Schwule zu seiner Parade als Homosexuelle. Denn: „Unsere Demonstration war nie ein Karneval wie im
Westen, sondern schon immer sehr politisch – eine Parade der Demokratie.“
Jan Puhl
Ausland
Aufständische Kämpfer in der Unruheprovinz Darfur: Verzweifeltes Aufbegehren gegen ein skrupelloses Regime
S U DA N
Die schwarzen Dschandschawid
Obwohl es ein erstes Friedensabkommen zwischen Rebellen aus Darfur und der Regierung in Khartum
gibt, geht der Krieg in Afrikas größtem Staat weiter. Jetzt könnte sich das Gemetzel
gar zu einem Brudermord ausweiten, in Flüchtlingslagern werden Tausende Guerilleros rekrutiert.
D
er Herr trägt plötzlich Nadelstreifen. Minni Arkou Minawi, Führer
eines mächtigen Flügels der Sudan
Liberation Army und für gewöhnlich in
den graublauen Drillich des Buschkämpfers gehüllt, sitzt in maßgeschneidertem
Zwirn in der Lobby des Novotels in
Tschads Hauptstadt Ndjamena. Gemeinsam mit einem General aus dem Tschad
trinkt er Coca-Cola, mit Strohhalm.
Um ihn herum fläzen sich ebenfalls herausgeputzte Kampfgesellen und einflussreiche Gönner in den Korbstühlen, die Klimaanlage kühlt das Foyer auf angenehme
20 Grad, von der gutbestückten Bar klingt
kubanische Musik herüber.
Minawi wirkt etwas unsicher im vornehmen Ambiente des Hotels. Unablässig
hacken seine Finger auf der Stuhllehne
118
herum, sein Blick huscht von einer Ecke
des Raums in die nächste: von den französischen Marine-Infanteristen in ihren kurzen Wüstenhosen zu den vier finnischen
Kaufleuten, die Karten spielen.
Minni Arkou Minawi hat gleich einen
Termin beim Präsidenten des Tschad, Idriss
Déby. Déby ist ein launischer Mensch, eine
„Ein-Mann-Mafia“, wie eine westliche Diplomatin sagt. Laut Statistik der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International ist sein Land das korrupteste der
Erde, und Déby ist hier der uneingeschränkte König der Diebe.
Der Staatschef hat Minawi, den Rebellenführer, einbestellt. Er soll ihm erklären,
warum er vor wenigen Tagen in Nigeria
ein Friedensabkommen mit der sudanesischen Regierung unterschrieben hat. Hoffd e r
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nungsträger nennen ihn seitdem die einen,
Verräter schimpfen ihn die anderen.
Die erste Gruppe sitzt in den Büros der
Europäischen Union in Brüssel, der Vereinten Nationen in New York oder des State
Department in Washington; die zweite –
das sind jene, die im Staub riesiger Flüchtlingscamps im tschadisch-sudanesischen
Grenzgebiet hausen, in den Rebellenlagern
in Darfur oder bei Minawis bisherigen Verbündeten, in Eritrea oder dem Tschad.
Seit einigen Jahren schon kämpfen Aufständische in Darfur gegen die Regierung
in Khartum. Sie führen einen verzweifelten
Guerillakrieg gegen ein kampferprobtes,
skrupelloses Regime, das zudem Stammeskonflikte und einen arabischen, antiafrikanischen Rassismus schürt. Es hat sich
nicht gescheut, mordlustige arabische Rei-
Zerstörtes Dorf in Darfur
TSCHAD
Port Sudan
Darfur
Khartum ERITREA
Faschir
Bredjing
Ndjamena
500 km
r
ee
NIGER
ÄGYPTEN
M
tes
Ro
LIBYEN
LYNSEY ADDARIO / CORBIS (L.), SVEN TORFINN / LAIF (R.)
Schwere Hungersnöte drohen
SUDAN
Kassala
ÄTHIOPIEN
Süd-Sudan
Afrika
KENIA
Nairobi
REUTERS
DEM.
REP.
KONGO
Rebell Minawi (2005)
Verräter oder Hoffnungsträger?
terbanden zu bewaffnen, die „Dschandschawid“, und mit ihnen einen Wüstensturm zu entfachen, der an Grausamkeit
kaum noch zu überbieten ist.
Die Rebellen wehren sich gegen diese
Übermacht, sie haben einen breiten Streifen des Landes erobert, doch sie sind eingekeilt zwischen arabischen Siedlungsgebieten und der Grenze zu Sudans westlichem Nachbarland Tschad.
Ohne die Unterstützung aus dem Tschad
wäre Minawis Mannschaft militärisch erledigt. Sie würde ihre Nachschubbasis verlieren. Minawi weiß nicht, ob Tschads Diktator Idriss Déby besonders glücklich darüber ist, dass er sich nun mit dem Regime
in Khartum verständigt hat, denn auch der
Tschad befindet sich in einer Art Kriegszustand mit dem Sudan.
Der Rebellenchef steckt deshalb in einem Dilemma. Er könnte leichte Beute
werden für seine Rivalen in der Widerstandsbewegung. Eine Zeitlang gab es nur
zwei Truppen, die den Aufstand gegen
Khartum führten, die eine nennt sich Sudan Liberation Army (SLA), die andere
Justice and Equality Movement (JEM).
Beide kämpfen für mehr Rechte der
Schwarzen im Westen Sudans, die Leute
von der JEM jedoch sind auch noch
fromm, die meisten waren früher in islamistischen Parteien aktiv. Doch es gibt
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noch eine andere, viel gefährlichere Sollbruchstelle in der Rebellenfront. Ein Großteil der afrikanischen Bevölkerung Darfurs
gehört zum Stamm der Fur, daher auch
der Name der Region. Da sind aber auch
noch der Stamm der Massalit und jener
der Saghawa von Minni Arkou Minawi.
Lange Zeit war ein Fur der alleinige Anführer der SLA; er heißt Abd al-Wahid Mohammed al-Nur, ist ein lebensfroher, wohlgenährter Mann und lebt die meiste Zeit in
Nairobi. Als Minawi genug davon hatte,
sich von einem meist abwesenden Fur herumkommandieren zu lassen, machte er
sich mit seinen Leuten selbständig.
Doch nicht genug damit: Seit die Rebellen anfingen, in Nigerias Hauptstadt Abuja mit der Khartumer Regierung zu verhandeln, teilte sich die Liberation Army
erneut. Auch Chamis Abdullah Abakr, ein
Massalit, verließ mit einer Gruppe von
18 weiteren Anführern die alte SLA und
kämpft seither auf eigene Rechnung. Das
Friedensabkommen in Abuja hat nur Minni Arkou Minawi unterzeichnet. Statt Frieden könnte das Papier Sturm bringen: einen Bruderkrieg der Afrikaner in Darfur,
einen Krieg im Krieg, der bisher nur eine
Auseinandersetzung mit den Arabern war.
Minawi sagt, er habe unterschrieben,
weil er den Dialog suche, „weil die Menschen aus den Flüchtlingslagern endlich in
ihre Heimat zurückkehren wollen und weil
das Blutvergießen auf beiden Seiten beendet werden soll“. Zwar ist er jetzt für eine
gewisse Zeit der Liebling des Westens,
doch zu Hause, da trauen sie ihm nicht
mehr. Sie glauben, er habe die Interessen
seines Volks verkauft. In der rauen Wirklichkeit der Wüstensöhne kann das einem
Todesurteil gleichkommen.
Monatelang hatten die Verhandlungen in
Abuja gedauert. Sie begannen im Oktober
2005. Jede Rebellendelegation bestand aus
mehr als 30 Vertretern, sie waren anfangs
also rund einhundert Leute. Sie diskutierten ewig, ließen vorbereitete Dokumente
in allerlei Sprachen übersetzen und stritten
viel dabei. Doch die meiste Zeit saßen sie in
ihren Gallabijas, den weiten weißen Umhängen, im Chida International und tranken süßen Tee. Eine Nacht im Chida kostet
zwischen 120 und über 300 Dollar, es gibt
eine Cocktailbar und einen Massagesalon.
Die Rebellen hatten keine Eile.
Aber die Amerikaner brauchten einen
Erfolg bei diesen Verhandlungen. Schon
im Juli 2004 hatte der US-Kongress das
Abschlachten in Darfur einen Völkermord
genannt.
Minni Arkou Minawi ist nicht der einzige Rebellenführer, der in diesen Tagen im
Novotel der Tschad-Hauptstadt Ndjamena vorbeischaut. Gerade hat sich Chalil
Ibrahim, der Führer der JEM, in seinem
funkelnden Landcruiser vorfahren las119
Ausland
THILO THIELKE / DER SPIEGEL
US-Vermittler Robert Zoellick, daheim ger ist aus dem Käfig, der kommt nicht
sen. Zwei Kombattanten mit Kalaschnikows springen aus dem Wagen und reißen Vize-Außenminister, platzte irgendwann freiwillig zurück.“
Dass Rebellenführer Minawi auf der Lisder Kragen. „Er fuchtelte mit den Armen
dem Chef die Wagentür auf.
Die meiste Zeit hat Ibrahim einen Mann in der Luft herum und brüllte“, sagt Nou- te des Internationalen Kriegsverbrecherim Gefolge, der Mao-Jacken trägt und rain Minawi, der Mann vom Justice and tribunals steht, wird schon seit langem verschwarze Lederslipper: Nourain Minawi. Equality Movement. Und habe immer ge- mutet. Er soll für Morde an Intellektuellen
Der studierte Anthropologe und Soziologe rufen: „Ihr kommt vors Kriegsverbrecher- verantwortlich sein und im Mai 2004 einen eigenen Stammeskönig zu Tode gefolwar in Abuja dabei, er ist der Berater und tribunal, wenn ihr nicht unterschreibt.“
Es war ein bisschen wie in einem billigen tert haben. „Er hat dessen Hände und
das Sprachrohr Chalil Ibrahims.
Er glaubt nicht, dass das Abkommen Film. Die Führer der verschiedenen Frak- Füße zusammenbinden und ihn dann
von Abuja Frieden stiftet. Im Gegenteil, tionen wurden einzeln von Vertretern der kopfüber an einem Baum aufhängen lassagt er: „Wir sind bereit zu kämpfen. Wir Afrikanischen Union in ein Zimmer geru- sen. Der König blieb so lange dort oben,
respektieren das Darfur-Friedensabkom- fen. „Unterschreibst du?“, fragte der Mann bis er tot war“, erzählt Schugar: „Und das
men nicht. Gut möglich, dass die Kämpfe von der Afrikanischen Union. „Nein“, ant- war kein Einzelfall. Minawi wusste, warum
jetzt erst eskalieren, seit Minawi die Seiten wortete Abd al-Wahid al-Nur für die Fur, er das Abkommen unterschrieb.“
In einem kalkweißen Bürokomplex in
er müsse sich erst mit seinen Leuten beragewechselt hat.“
Dann kündigt er eine Ausweitung des ten. Chamis Abdullah Abakr, der Massalit, Nairobis vielbefahrener Lenana-Road hat
Krieges an: „Wir werden auch unsere Leu- lehnte ebenfalls ab. Und Chalil Ibrahim, David Mozersky sein Büro. Mozersky ist
Sudan-Experte der Internate im Osten des Sudan zu
tional Crisis Group und der
den Waffen rufen.“
vielleicht genaueste Chronist
Die Verhandlungen in Nides Staatszerfalls im Sudan.
geria, sagt Nourain Minawi,
„Wenn wir nicht aufpasseien eine Farce gewesen.
sen, fliegt uns der ganze SuDas Ergebnis spiegele ledigdan um die Ohren“, sagt er:
lich die Positionen Khartums
„Die Gemetzel in Darfur
wider. Etliche Forderungen
weiten sich bereits zu einem
der Aufständischen wie die
Krieg mit dem Nachbarland
nach einer Entschädigung für
Tschad aus. Und im Osten
Kriegsopfer seien nicht bebefürchten wir einen Aufrücksichtigt worden. „Nach
stand der Rebellen der Easdem Friedensabkommen soltern Front.“
len wir lediglich einen MiSo zeichnet sich im Sudan
nisterposten in Khartum beeine Entwicklung ab, die chakommen statt wie gefordert
rakteristisch war schon für
drei, nur 12 Sitze in einem
viele andere Kriege auf dem
Parlament von 450 AbgeordKontinent. Zunächst drehen
neten, und auch der Posten
sich die Kämpfe noch um ereines Vizepräsidenten des
kennbare politische Ziele wie
Sudan wird uns verwehrt“, Zwangsrekrut Mohammed: Dürftige Rationen, regelmäßige Prügel
Zugang zu Land oder Rohklagt Nourain Minawi: „Diese Abmachung ist die 120 Seiten nicht wert, der Mann von der JEM, sagte, das gehe stoffen, dann aber zerfasert der Konflikt
jetzt nicht, denn das sei „die Position Khar- immer mehr. Rebellengruppen spalten sich,
auf denen sie niedergeschrieben wurde.“
Nach den endlosen Verhandlungen da- tums“. Nur Minni Arkou Minawi unter- lokale Warlords kämpfen auf eigene Rechmals in Abuja lagen irgendwann die Ner- schrieb. Und wird dafür, so soll es ihm ver- nung und in eigenem Interesse. Der Krieg
ven blank. In Darfur starben die Men- sprochen worden sein, von der Liste der wird zum Selbstzweck, eine friedliche Einigung rückt in immer weitere Ferne.
schen, die nächste Regenzeit stand bevor. Kriegsverbrecher gestrichen.
Es war der 5. Mai, als Minawi den VerSudans Süden gibt ein beredtes Beispiel:
Und die Hilfsorganisationen klagten über
immer weniger Unterstützung für immer trag mit Khartum abschloss, am selben Tag Die Rebellen der südsudanesischen Sudan
mehr Flüchtlinge. Die Zeit also drängte, wurde in Labado in Süd-Darfur sein Bru- People’s Liberation Army (SPLA) haben
doch die Rebellen der SLA verfügten über der Jussuf Arkou Minawi von Regierungs- zwar mit der Regierung in Khartum im Januar 2005 ein Friedensabkommen unterwenig politische Erfahrung. Viele haben truppen erschossen.
Minawis Alleingang hat die anderen Re- zeichnet. Dennoch wird noch immer zwinie eine Schule besucht.
Irgendwann nahmen die eingeflogenen bellen verbittert, zum Beispiel die Männer schen verschiedenen Milizen gekämpft.
Währenddessen halten Korruption und
Krisenmanager von den Vereinten Natio- von Massalit-Führer Chamis Abdullah
nen, der Afrikanischen und der Europäi- Abakr. Sie sitzen im Schatten einer stau- Misswirtschaft Einzug in der Region. Es
schen Union, der Regierung der Vereinig- bigen Veranda in Ndjamena und trinken droht eine Sezession in diesem Teil des Suten Staaten und Großbritanniens die Sa- Tee. Der Wüstenwind treibt Sand herüber, dan und die Entstehung einer neuen afriche selbst in die Hand. „Ruht euch aus“, es ist fast 40 Grad heiß. Die Männer auf kanischen Diktatur. Vom Süden, dessen
Vertreter jetzt erst mal in Khartum mitresagten sie den Rebellen und zogen sich der Veranda sprechen vom Krieg.
„Wenn sich Minawis Leute, wie es in gieren, ist bei der Lösung der Darfur-Krizurück. Nach 15 Tagen waren sie wieder
da: Sie hatten ein langes Dokument vor- dem Abkommen heißt, in Khartums Ar- se so wenig Hilfe zu erwarten wie von der
bereitet, gaben den Rebellen einen Tag mee integrieren lassen und gegen uns Afrikanischen Union.
Seit Wochen fordert US-Präsident
Bedenkzeit und forderten deren Zu- kämpfen, kommt es zum Bürgerkrieg der
Schwarzen in Darfur“, sagt Wortführer George W. Bush deshalb, dass das Mandat
stimmung.
Doch die andere Seite wollte nicht un- Adam Ali Schugar: „Minawi ist ein der Afrikanischen Union auf die Vereinten
terschreiben. „Was ist mit der Entschädi- schwarzer Dschandschawid geworden.“ Nationen übertragen wird, damit Blauhelgung für unsere Leute?“, fragten die Su- Schugar glaubt im Übrigen nicht, dass die me endlich das Gemetzel stoppen und die
danesen. Und sagten, dass sie ihre Waffen Regierung in Khartum in der Lage sei, die Bevölkerung besser versorgt werden kann.
Dschandschawid zu entwaffnen: „Der Ti- Dass dies eine Sisyphusarbeit wird, eine
behalten wollten.
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Flüchtlingslager Bredjing im Tschad
REUTERS
THILO THIELKE / DER SPIEGEL
Unwirtlichste Gegend der Erde
Friedenspartner Minawi (l.)*
Das Papier kann einen Sturm auslösen
„Verwaltung der Nato“ erforderte und man
„wahrscheinlich die doppelte Anzahl
Peacekeeper“ braucht, hat der Chef des
Weißen Hauses erkannt.
Doch der Übel ist damit noch kein Ende.
Spätestens ab November befürchtet die
Deutsche Welthungerhilfe „eine schwere
Hungersnot im ganzen Land“.
Aber die Hauptstadt hat ganz andere
Sorgen. Seit Bush die Nato ins Spiel brachte, bekommen Khartums Islamisten plötzlich wieder Oberwasser. Darfur werde zum
„Friedhof der Imperialisten“, tönt Präsident Umar al-Baschir und ruft zu Massendemonstrationen gegen einen möglichen
Einsatz der Uno auf; der Führer der Nationalen Jugendgewerkschaft erklärt seine
Anhänger gar zum Dschihad bereit. Ab
und an marschieren ein paar tausend auf
Lastwagen der Regierung herangekarrte
Hardliner vor dem Regierungspalast auf,
sie schwenken Plakate, auf denen „Tod den
ausländischen Soldaten“ steht.
Es hat auch nicht lange gedauert, bis
sich Weltterrorist Osama Bin Laden per
Tonband aus dem Untergrund meldete und
* Mit dem Präsidenten der Afrikanischen Union, Alpha
Oumar Konaré, bei der Unterzeichnung des Abkommens
in Abuja am 5. Mai.
122
zur heiligen Schlacht um den Sudan hetzte. „Alle Mudschahidin und ihre Unterstützer, besonders im Sudan und auf der
Arabischen Halbinsel“ müssten sich auf einen langen Krieg gegen die „plündernden
Kreuzzügler im Westsudan vorbereiten“,
verkündete er bei al-Dschasira.
Auch Lam Akol war früher Rebell. Mal
kämpfte er an der Seite der südsudanesischen SPLA gegen die Araber, mal machte
er gemeinsame Sache mit der Regierung.
Doch nie ging es ihm so gut wie heute:
Seit Inkrafttreten des Friedensabkommens
zwischen Nord und Süd ist er Außenminister des Sudan – und kommt zu verblüffenden Schlussfolgerungen. Alles in seinem
Reich laufe nach Plan, sagt er nun. Selbst
in Darfur.
Schuld an den Verletzungen der Waffenruhe in Darfur trügen die Aufständischen selbst. Die Uno lasse man unter
keinen Umständen ins Land, und einen
eigenständigen Staat für die Darfur-Bewohner gebe es auf keinen Fall. Vor nicht
allzu langer Zeit hatte das alles ganz anders
geklungen, da hatte die SPLA noch „ihre
Brüder“ zum Krieg gegen die Araber angestachelt, Waffentransporte aus dem Süden organisiert und eigene Soldaten nach
Darfur zum Kämpfen geschickt. Heute
scheint es allein um die baldige Unabhängigkeit der eigenen Region zu gehen
und um möglichst großen Profit für deren
Führer.
In Darfur rüsten die Parteien nun zur
nächsten Schlacht. Die Rebellenfraktionen,
die sich mit Khartum nicht einigen konnten, suchen neue Rekruten für den Waffengang. Kaum ein Ort ist für die Sammlung neuer Kombattanten so geeignet wie
die riesigen Flüchtlingslager im Tschad,
nahe der sudanesischen Grenze.
Bredjing ist so ein Lager. Gerade einmal 60 Kilometer sind es von hier bis zur
Grenze. Es ist ein Platz mitten in einer der
unwirtlichsten Gegenden der Erde. Die
einstmals weißen Zelte des Flüchtlingsd e r
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hilfswerks UNHCR sind längst von einer
feinen Sandschicht bedeckt; zum Schutz
vor dem unbarmherzigen Wüstenwind haben die Menschen Einfriedungen aus getrocknetem Gras und Dorngestrüpp, aus
Plastikplanen und Pappkartons errichtet.
Mohammed Dschuma Mohammed, ein
Dorflehrer, gehört zu den Vertriebenen, er
ist bereits seit zwei Jahren im Tschad.
Am 18. März ist er wie jeden Morgen auf
dem Weg zum Schulplatz, als plötzlich ein
paar junge Männer den Weg versperren.
Sie sagen, dass sie von der SLA kämen
und Mohammed verhaftet sei, und bringen den Lehrer auf einen Sammelplatz.
Dort kauern schon über 200 andere Männer, 6 Wächter halten die Menge in Schach.
Zwei tragen Pistolen, die anderen Stöcke.
Schließlich setzt sich der ganze Zug in
Bewegung. Acht Stunden dauert der Fußmarsch, bis die Gruppe den Ort Arkum erreicht. 3716 junge Rekruten kommen binnen kurzem auf diese Weise zusammen.
Sie werden jeden Tag zweimal durchgezählt, erhalten eine dürftige Ration Brei
und werden regelmäßig verprügelt. Die
meiste Zeit jedoch müssen die Männer trainieren: durch die Gegend robben, rennen,
strammstehen. Bis sie irgendwann ahnen,
wo sie eigentlich gelandet sind: „Ihr seid
jetzt Soldaten der SLA, und euer Kommandeur ist Chamis Abdullah Abakr.“
Dass sich der Massalit-Führer Chamis
Abdullah Abakr kurz zuvor vom Rest der
SLA getrennt hatte, wissen die neuen Rekruten nicht. Sie ahnen nichts vom Bruderzwist der Schwarzen und davon, dass
nach dem Krieg gegen die Araber längst
der nächste Konflikt ausgebrochen ist. Sie
haben nur furchtbare Angst: Wenn jemand
versucht, dem Terror zu entkommen, treiben ihn die Bewacher unter Stockhieben
ins Lager zurück. Er wird in ein Erdloch
geworfen, zwischen dorniges Gestrüpp. Im
ganzen Lager kann man dann nachts seine
Schreie hören.
Dorflehrer Mohammed immerhin gelingt mit zwei anderen Leidensgenossen
nach zehn Tagen die Flucht aus dem Rebellenlager. Sie kehren in ihr Camp nach
Bredjing zurück. Die Angst allerdings lässt
sie nicht los. Selbst wenn nun harmlose
Pick-ups durchs Lager rasen und Staub
aufwirbeln, verstecken sie sich.
So ist der Horror bis nach Bredjing gekommen. Diesmal nicht in Gestalt der apokalyptischen Dschandschawid, der Wüstenreiter. Jetzt geht die Gefahr von jenen
aus, die vorgeben, im Namen der Elenden
aus Darfur Krieg zu führen.
Dieser Kampf hat sich zu einem Krieg
jeder gegen jeden entwickelt. „Und dieses
neuerliche Gemetzel“, sagt der „Flüchtlings-Präsident“ von Bredjing, Dschamal
al-Din Daud, „hat gerade erst begonnen.“
Thilo Thielke, Volkhard Windfuhr
Ausland
Das Vertrauen ist zerstört
Der Oppositionspolitiker und Ex-Premier
Sadik al-Mahdi, 70, über die Stationierung von Uno-Friedenstruppen und die drohende Spaltung des Sudan
AXEL KRAUSE / LAIF
SPIEGEL: Bürgerkriege und Aufstände im dschawid“-Reiterbanden gegen die rebellieSudan haben bisher zwei Millionen Men- renden Bauern von Darfur in Marsch zu setschenleben gefordert. Doch trotz Inter- zen. Ströme von Blut flossen, Hunderttauvention der Vereinten Nationen und der sende flohen. Die Stationierung afrikaniAfrikanischen Union geht das Morden scher Friedenstruppen hat leider nur wenig
weiter – wird das Land auseinanderbre- bewirkt. Deswegen brauchen wir jetzt Unochen?
Einheiten. Aber wir sollten auf der Hut sein.
Mahdi: Wenn das Regime in Khartum so SPIEGEL: Vor den Vereinten Nationen?
weitermacht wie bisher und mit den Re- Mahdi: Wenn Amerikaner an Friedensopebellen im Westen …
rationen beteiligt sind, was auch im Sudan
SPIEGEL: … in der Region Darfur …
nicht auszuschließen ist, kommen fast imMahdi: … und in den anderen aufbegeh- mer politische und wirtschaftliche Sonderrenden Regionen im Osten, wie in Kassa- interessen zum Tragen. Das wäre sicher
la und am Roten Meer, nicht ehrliche Ver- kaum anders in Darfur, wo Erdöl und anhandlungen beginnt, wird es tatsächlich so dere Bodenschätze lagern.
kommen. Der Machthunger des Regimes SPIEGEL: Der Einsatz von Uno-Truppen
blockiert jeden der dringend notwendigen scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.
Mahdi: Aber das Grundproblem wird daSchritte.
SPIEGEL: Was müsste jetzt geschehen?
mit nicht gelöst. Die Vertrauensbasis zwiMahdi: Weil alle Welt auf
schen Zentralregierung
Darfur schaut und einund Bevölkerung ist unschneidende internationawiderruflich zerstört.
SPIEGEL: Wollen die Rele Sanktionen drohen,
bellen in Darfur eine Absollte sich die Staatsfühspaltung der Region?
rung nicht länger gegen
Mahdi: Seit sich die Reeine internationale Trupgierung mit den Südsudapenpräsenz in der Krisennesen auf einen weitgeregion sträuben. Doch unhenden Autonomiestatus
sere Machthaber betreider Südprovinzen geeinigt
ben eine Hinhaltepolitik,
hat, fühlen sich die Aufum Zeit zu gewinnen – in
ständischen in Darfur und
der Hoffnung auf ein
im Osten in ihrem Kampf
Wunder, mit dem das Einbestärkt und verlangen
rücken von Blauhelmeine bessere Verteilung
Kontingenten noch verder Staatseinnahmen. Ich
hindert werden könnte.
SPIEGEL: Warum hat die
denke, dass unsere RegieMannschaft von Präsident Regimekritiker Mahdi
rung auf Zeit spielen wird.
SPIEGEL: Aber im mehrUmar al-Baschir Angst „Ströme von Blut in Darfur“
heitlich christlich-animisvor solch einer Truppe?
Mahdi: Weil die Sudan-Problematik mit tisch besiedelten Süden gibt es bereits eine
deren Einsatz internationalisiert würde, eigene Armee und eine Separatwährung,
was natürlich ein Armutszeugnis für unse- im Osten fordern Rebellen mehr Selbstänre Regierung und der Anfang vom Ende digkeit – kann der Sudan diese Zerreißdes Regimes wäre. Auch die Opposition, probe überstehen?
meine Umma-Partei eingeschlossen, wäre Mahdi: Ich habe die Hoffnung nicht verloüber die Intervention des Auslands nicht ren. Das Abkommen mit den Rebellen im
Süden hat immerhin den am längsten togerade begeistert.
SPIEGEL: Ist die Lösung des Darfur-Problems benden Bürgerkrieg Afrikas beendet.
ohne tatkräftiges Eingreifen des Auslands SPIEGEL: Aber was passiert, wenn sich die
überhaupt noch möglich?
Südsudanesen in fünf Jahren in dem mit
Mahdi: Jetzt nicht mehr. Khartum hat auf Khartum ausgehandelten Volksentscheid
die Hilferufe der sich ausgegrenzt fühlenden für das Ausscheiden aus dem StaatsverBevölkerung immer nur mit Polizeieinsät- band entscheiden?
zen geantwortet. Als sich dann politische Mahdi: Dann müssten wir den Traum einer
und bewaffnete Widerstandsorganisationen funktionierenden arabisch-afrikanischen
bildeten, beging unsere Regierung den Symbiose in Afrikas größtem Flächenstaat
schweren Fehler, die berüchtigten „Dschan- begraben.
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Ausland
DUBA I
Heidi ja, Kate nein danke
Global Village: Die Fluglinie Emirates sucht nach den schönsten
Stewardessen der Welt.
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anderen die Araber oder die Afrikaner. Jeder hat seine Stärken.“
Auf Emirates-Flügen arbeiten Inderinnen und Pakistanerinnen zusammen, Serbinnen und Kroatinnen, katholische Irinnen und protestanische Nordirinnen, Irakerinnen und Amerikanerinnen. „Ich mache
diesen Job seit zwölf Jahren“, sagt Ali. „Es
gab genau vier Vorfälle, in denen wir einen
Streit schlichten mussten.“
Vor zwei Wochen traf die Regierung der
Vereinigten Arabischen Emirate eine epochale Entscheidung. Sie verlegte das Wochenende, bislang Donnerstag und Freitag,
auf Freitag und Samstag. Das erleichtert
die Zusammenarbeit mit internationalen Geschäftspartnern und
gibt ein Beispiel für die
Lösung eines Problems à
la Dubai ab: Das Business
hat Vorrang. Übersetzt in
die Sprache der Zivilluftfahrt heißt das: Asiatinnen,
entspannt euch. Levantinerinnen, haltet eure Gestik
im Zaum. Spielt eure Stärken aus, aber kommt euch
nicht in die Quere.
Wer diese Mitte findet
und sich wohl darin fühlt,
hat mitunter viel Spaß
bei der Arbeit. „Natürlich
merkt eine Stewardess,
wenn ihr die Blicke der
Passagiere folgen“, sagt
eine Iranerin, die seit Jahren mit Emirates um die
Welt fliegt. „Aber täuscht
euch nicht. Manchmal flüstern wir uns in der Pause
beim Take-off zu: Hast du diesen Mann
auf 32B gesehen?“
Flug EK 923 nach Kairo hebt mit leichter Verspätung um 15.20 Uhr ab. Es geht in
einer Kurve hinaus auf den Persischen
Golf, links verschwinden die künstlichen
Inseln von Dubai im Dunst, rechts taucht
die Küste Irans auf.
Nach zehn Minuten ist das Band mit den
Sicherheitshinweisen durchgelaufen, die
Stewardessen schnallen sich los, es meldet
sich der Purser, aber etwas ist anders als auf
anderen Flügen. „Die Sprachen, in denen
Sie sich auf diesem Flug mit unserem Personal unterhalten können, sind: Arabisch,
Englisch, Farsi, Finnisch, Koreanisch, Thai,
Ukrainisch, Kisuaheli und Malaiisch.“
Multikulti lebt an Bord, Emirates total
global.
Bernhard Zand
RICHARD ALLENBY-PRATT
W
er definiert Schönheit im Zeit- in halbhohen Pumps an die Feuerlöscher
alter der Globalisierung? Heidi in den Gepäckfächern heranreichen. Mehr
Klum? Kronprinzessin Masako nicht.“
Außerdem sollten sie souverän mit Menvon Japan? Sonia Gandhi? „Eine Frau ist
schön“, sagen arabische Männer, „wenn schen jeder Herkunft klarkommen, nicht
man sie zart drückt und der Daumen dabei nur mit den Passagieren, sondern auch mit
in ihrem Unterarm versinkt.“ Die Reize den täglich wechselnden Crew-Mitgliedern, mit denen sie auf beengtem Raum an
von Kate Moss sind anderer Art.
Abd al-Asis al-Ali ist Personalchef von Bord zusammenarbeiten. „Asiatinnen sind
Emirates, der rasant wachsenden Flug- sehr zurückhaltend in ihrer Körperspragesellschaft mit Sitz in Dubai. Er muss ei- che, man nimmt sie kaum wahr, wenn sie
gentlich wissen, was und wer schön ist, er in der Galley hantieren. Mediterrane Tysetzt die Standards für seine rund 5000 pen dagegen fuchteln beim Reden gern
herum“, sagt Mira, 29. Sie ist seit fünf JahStewardessen.
Mit ihren sandfarbenen Uniformen, ih- ren bei Emirates, sie ist Palästinenserin und
ren roten Mützen und Haargebinden, mit weiß, wovon sie spricht.
ihrer Eleganz und Weltläufigkeit sind sie das Markenzeichen der Airline. Sie
sind einfach die Schönsten
ihrer Zunft.
Ali ist Mathematiker und
scheut ästhetische Festlegungen. Unter seinen Flugbegleitern sind 108 Nationalitäten vertreten, und mit
jeder Woche werden es
mehr. Allein im Juni werden Personalberater der
Gesellschaft in 13 Ländern
auf fünf Kontinenten unterwegs sein, um Tausende
Bewerberinnen zu sichten,
oft auch in Städten, die
Emirates noch gar nicht anfliegt: Peking, Vancouver,
Algier, São Paulo.
Was schön ist, lässt sich
unter diesen Umständen Emirates-Stewardessen: Elegant und weltläufig
nur schwer beschreiben.
„Wenn zwei Araberinnen auf dem gleiDen Idealtypus gibt es nicht, es gibt viele
chen Flug Dienst haben, stecken sie autodavon.
Was schön ist, weiß man erst, wenn man matisch in jeder freien Minute die Köpfe
es sieht, meint Ali. Und bescheiden sollen zusammen: Habibi guck mal, Habibi hör
die Stewardessen sein. Ihr Einstiegsgehalt mal – das kann andere in der Crew irritieist enttäuschend niedrig, knapp 1600 ren“, sagt Jacques, 40, ein Libanese, der
Dollar steuerfrei, dazu ein paar Privile- seit 14 Jahren dabei ist.
Mira und Jacques bilden die Neugien und ein Freiflug ins Heimatland pro
ankömmlinge im Kabinensimulator aus:
Jahr.
Die verwöhnten Töchter der wohlha- technische Pannen, Notwasserungen, Evabenden Emirater lockt der Job daher we- kuierungen. Da müssen Befehle gebrüllt
nig: Nur 51 der Stewardessen stammen aus und Leute angefasst werden, da dürfen sie
nicht zimperlich sein. „Du merkst schon im
den Vereinigten Arabischen Emiraten.
„In Dingen der Schönheit sind wir nicht Training, dass das nicht jeder leichtfällt –
religiös“, sagt Ali. Fettleibige und Mager- zumal wenn die in vielen Kulturen wichsüchtige können sich die Mühe einer Be- tige Distanz zwischen Männern und Frauwerbung sparen, räumt er ein, aber schon en fällt“, sagt Jacques und lacht. Mira
bei der Mindestgröße verweigert er jede lächelt. „Im einen Fall sind die Briten
konkrete numerische Angabe. „Sie müssen diplomatisch“, sagt Personalchef Ali, „im
Kultur
Szene
KUNST
Buntes für
Basel
eine Malerei war mal abstrakt,
seit einigen Jahren ist sie anschaulich, dabei auf eine gespenstische Art bunt – und extrem begehrt.
Die Bilder des in Hamburg und Berlin lebenden Künstlers und Malereiprofessors Daniel Richter, 43, zeigen
Geister und Skelette, sie heißen
„Brun, Baby Brun“ oder „Capitain
Jack“, und sie sind keine Schnäppchen. Auf Auktionen werden längst
sechsstellige Summen ausgegeben.
Natürlich gehört einer wie Richter
dorthin, wo der Kunstmarkt besonders heftig boomt, also jetzt gerade
nach Basel: Fast zeitgleich zur Messe
„Art Basel“ beginnt am 11. Juni im
Basler Museum für Gegenwartskunst Richter-Gemälde „Nerdon“ (2004)
eine Richter-Ausstellung. Die Stadt
will den Sammlern, die aus aller Welt anreisen, schließlich wundern. Wer will, kann sich auf der Messe nach dem aktueletwas bieten, da darf dann das Museum auch einmal zum len Preisniveau erkundigen. Einen Richter zu kaufen ist allerShowroom werden. Keines der präsentierten Gemälde wird dings schwierig – die Schlange, beziehungsweise die Warteliste,
älter als fünf Jahre sein, auch ganz Neues ist dann zu be- ist lang.
STARTRAKS / ACTION PRESS
„Politisch aufgeladen“
Der US-Künstler
Matthew Barney, 39,
über seinen neuen
Experimentalfilm
„Drawing Restraint 9“
– ein „Horror-ÖkoMusical“ („FAZ“), das
am 8. Juni in die deutschen Kinos kommt
SPIEGEL: Mr Barney, in Ihrem neuen
Film zelebrieren Sie und Ihre Ehefrau,
die isländische Popsängerin Björk, eine
Art Hochzeitsritual auf einem japanischen Walfangschiff. Was will uns der
Künstler damit sagen?
Barney: Es ist eine Liebesgeschichte.
Noch Ende der achtziger Jahre war es
tabu, in der Kunst Geschichten erzählen
zu wollen. Das hat sich mittlerweile
geändert.
SPIEGEL: Wie haben Sie die öffentlichkeitsscheuen Walfänger überredet, Sie
mit einer Kamera an Bord zu lassen?
Barney: Mein erster Antrag, auf dem
Schiff zu drehen, wurde sofort abgelehnt. Keine Chance, hieß es. Daraufhin
habe ich viel über Walfang und dessen
Verbindung zum Schintoismus gelesen
und ins Skript integriert. Ein Historiker
des Walfang-Verbands hat mir schließlich alle Türen geöffnet.
SPIEGEL: Walfang wird fast überall als
überflüssige Schlachterei angesehen.
Eine bewusste Provokation von Ihnen?
Barney: Ich bin im US-Bundesstaat
Idaho aufgewachsen; auch dort ist die
Jagd, allerdings auf andere Tiere, ein
Teil des täglichen Lebens. Auf Festivals
in Europa und Nordamerika hat sich
niemand über meinen Film aufgeregt.
SPIEGEL: Haben Sie also Ihr Ziel ver-
fehlt?
ALAMODE FILM
FILM
Björk in „Drawing Restraint 9“
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Barney: Nein, ich bin sehr zufrieden damit. Es ging mir darum, auf dem Walfangschiff, also einem politisch extrem
aufgeladenen Stück Architektur, etwas
zu inszenieren, ohne es zu bewerten.
SPIEGEL: Trotzdem eine Wertung bitte:
Wie schmeckt Walfleisch?
Barney: Wie eine Mischung aus Rind
und etwas, das im Meer lebt – also etwas verwirrend.
SPIEGEL: „Restraint“ bedeutet „Einschränkung“. Legen Sie sich absichtlich
Hindernisse in den Weg?
Barney: Ja, darum geht es immer bei
meiner Kunst. Auch ein Muskel braucht
Widerstand, um wachsen zu können.
Ich habe früher American Football gespielt; seitdem kenne ich mich mit Muskeln ein bisschen aus.
SPIEGEL: Ihre Frau Björk hatte nach
dem Krach mit Lars von Trier beim
Dreh zu „Dancer in the Dark“ geschworen, nie wieder als Schauspielerin
zu arbeiten. Wie war die Zusammenarbeit mit Ihnen?
Barney: Es gab keinen Zweikampf zwischen uns. Vielmehr geht alles einfacher, wenn man sich gut kennt. Man
muss nicht so viel reden.
127
HORT FAMILY COLLECTION
S
Szene
L I T E R AT U R
Unbegreifliches
Doppelleben
Maeve Brennan: „Mr. und Mrs. Derdon“. Aus
dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl
Verlag, Göttingen; 192 Seiten; 16 Euro.
128
Probe zum Ibsen-Stück „Baumeister Solness“ am Münchner Residenz Theater
T H E AT E R
Wankender Platzhirsch
D
er Baumeister Solness, ein alternder Titan, ist hin- und hergerissen zwischen der
Sehnsucht nach Jugendlichkeit und der Angst vor der nachdrängenden Jugend.
Mit Ehefrau Aline verbindet ihn nur noch ein düsteres Geheimnis. Die junge Hilde
verkörpert letzte Hoffnung und verstärkt doch vor allem die Ausweglosigkeit. Henrik
Ibsens Stück „Baumeister Solness“, das gerade am Münchner Residenz Theater Premiere hatte, enthält alle Ingredienzen einer 08/15-Schnulze. Doch unter der Regie
von Tina Lanik wird daraus ein dichtes Kammerspiel voller hintergründiger Anspielungen. Der wankende Platzhirsch (Lambert Hamel) ist tragisch, aber nicht lächerlich. Die Gattin (Cornelia Froboess) erstarrt reizvoll in Mädchenhaftigkeit und Unglück. Die junge Verführung (Marina Galic) kommt selbstbewusst ohne Lolita-Getue
aus. Eine Inszenierung – klassisch und trotzdem aktuell.
Märchenheldin Sheeta
zeichnet, wird er nur
alle paar Jahre mit einem neuen Werk fertig. Doch um seinen
Fans die Wartezeit
zu verkürzen, kommt
nun das 20 Jahre alte
Schloss-Märchen aus
seinem Zauberladen
in die deutschen Kinos. Die Abenteuerfabel um die kindliche Heldin Sheeta
mag schlichter sein als die Storys manch
späterer Filme des Meisters, doch seine
visuelle Fabulierlust entfaltet sich in ihrer
ganzen Virtuosität: Biedermeierliche Kulissen, bizarre Luftschiffe wie aus einem
UNIVERSUM FILM
m Jahr 1917, in dem Maeve Brennan
in Dublin auf die Welt kam, wurde ihr
Vater als einer der Rädelsführer des irischen Osteraufstands von 1916 zum Tod
verurteilt. Doch das Blatt der Geschichte wendete sich rasch. Mitte der dreißiger Jahre ging Robert Brennan, inzwischen begnadigt, mit seiner Familie als
Diplomat in die USA, von 1938 an war
er erster Botschafter des Freistaates Irland in Washington. Als die Familie später in die Heimat zurückkehrte, blieb
Maeve, ganz und gar amerikanisiert, als
Journalistin in den USA. 1949 wurde sie
in den Kreis der „New Yorker“-Autoren
aufgenommen, und das exklusive Wochenblatt blieb für gut drei Jahrzehnte
ihre eigentliche Heimat. Die stets untadelig schicke, scharfzüngige Autorin
war als Kolumnistin zuständig für Fragen der Mode und all das, was heute
„Lifestyle“ heißt – doch führte sie ein
nahezu unbegreifliches literarisches
Doppelleben und
schrieb strenge,
durch und durch irische Kurzgeschichten: Storys, die in
nur zur Käfighaltung
von Spießern geeigneten Reihenhäuschen im Dubliner
Stadtteil Ranelagh
spielen, genauer: unter der Glasglocke
eines Fatalismus, der Hoffnung und Leidenschaft erstickt. Es sind, in ihrer
Schönheit wie in ihrer Bitterkeit, sensationelle Erzählungen. Kollegen wie Paula Fox oder John Updike haben ihre Bewunderung ausgedrückt. Doch Brennans späte Jahre waren überschattet
von psychischen Problemen; sie starb
verarmt und vergessen 1993 in New
York. Ihre Wiederentdeckung, nun als
irische Schriftstellerin, begann mit der
Publikation einer nie gedruckten frühen
Novelle, „Die Besucherin“ (auf Deutsch
2003), und mit einem Sammelband, der
die verstreuten Ranelagh-Erzählungen
überzeugend zu einem romanhaften
Mikrokosmos bündelte. Sechs dieser
Kurzgeschichten, die episodisch das
Leben eines Paares über etwa 40 Jahre
umspannen, sind nun unter dem Titel
„Mr. und Mrs. Derdon“ erschienen.
Schmal und schwer und herzzerreißend.
THOMAS DASHUBER
I
„Das Schloss im Himmel“. Weil der japanische Kinomärchen-Erzähler Hayao Miyazaki, 65 („Chihiros Reise“), Computer
geringschätzt und seine phantastischen
Szenerien noch immer in Handarbeit
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Kultur
AU S ST E L L U NGE N
Ehre für einen Zeitlosen
in ganzes Jahr vergeht wie im Flug,
eine Minute zieht sich endlos hin.
E
Der schottische Videokünstler Douglas
JAN BAUER / AP
Gordon, 39, hat seine eigene Auffassung von Zeit, von der Bedeutung des
einzelnen Augenblicks, von dem, was
ewig währt. Vor 13 Jahren dehnte er
den Filmklassiker „Psycho“ zu einer 24
Stunden dauernden Projektion aus, zu
einem zeitbezogenen „Blow up“. Die
Begeisterung über die Entdeckung der
Langsamkeit, die Steigerung des Horrors, war groß. Auf der Biennale von
Venedig hat er ein paar Jahre später
einen „Text für 30 Sekunden“ auf eine
Wand projiziert – das war dieses Mal
Videokünstler Gordon
kurz und makaber, und damit genau
das Richtige fürs Biennale-Publikum,
das es stets eilig hat und rasch gelangweilt ist. Hier erfuhr es auf die Schnelle,
dass jemand, dessen Kopf abgeschlagen
wird, noch 30 Sekunden lang ansprechbar ist. Dafür erhielt Gordon den Premio 2000 der Biennale und wurde später mit vielen Ausstellungen gewürdigt.
„What have I done“ hieß eine Schau im
Jahr 2002. Und auf diese Frage, was er
getan habe, kann man antworten: viel.
Zeit hat er jedenfalls keine vergeudet.
Zu seinen neuen Werken gehört ein
Film, den er gemeinsam mit dem Franzosen Philippe Parreno drehte und der
jetzt in Cannes gezeigt wurde. Die beiden stellten 17 Kameras auf – und richteten sie auf das Gesicht des französischen Fußballgottes Zinedine Zidane
während einer Begegnung von Real
Madrid und Villarreal. Das Museum of
Modern Art in New York eröffnet am
11. Juni eine Gordon gewidmete Schau
namens „Timeline“. Dass diese Institution einem vergleichsweise jungen
Künstler die Ehre einer Einzelausstellung zuteil werden lässt, ist eine kleine
Sensation. Für ein anlässlich der Ausstellung erscheinendes Künstlerbuch hat
Gordon aus Fotos eine Art Zeitreise zusammengestellt; er dokumentiert, was
in den vergangenen 40 Jahren sonst
noch so geschah – gleich mehrmals
taucht Michael Jackson auf, der Mann,
an dem die Jahre, vor allem aber die
Schönheitschirurgie nicht spurlos vorübergingen. Der Begriff „Psycho“
erscheint auch hier naheliegend. So
schließt sich der Kreis.
Kino in Kürze
Jules-Verne-Roman und graziöse Roboter
kommen in einem unverwechselbaren
Universum zusammen, das irgendwo über
allen Wolken dahinsegelt – doch Vorsicht:
Die irdischen Kategorien von Gut
und Böse gelten dort nur bedingt.
irrt der Film zwischen Realismus und grotesker Überzeichnung hin und her und
kann den Zuschauer nur für kurze Momente berühren.
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STARDUST
„Ghetto“ setzt die Vernichtung der
jüdischen Bevölkerung durch die
Nazis im litauischen Vilnius als
bizarren Totentanz ins Bild. Basierend auf einem Bühnenstück von
Joshua Sobol, erzählt Regisseur
Audrius Juzenas von einer Theatertruppe, die im Ghetto Tag für Tag
um ihr Leben spielt, und von den
inneren Qualen eines jüdischen
Ghetto-Polizisten, der sich gezwungen sieht, sogar Kinder in den Tod
zu schicken. Etwas orientierungslos Szene aus „Ghetto“
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DEFD (R.)
Kultur
Stars Patel, Meera in „Nazar“ (2005), Shahrukh Khan in „Indian Love Story“ (2003): Bollywood sucht den Frieden mit Pakistan
FILMINDUSTRIE
Big Bang Bollywood
Sie sind produktiver als Hollywood, sie erreichen mehr als drei Milliarden Menschen, sie begeistern
in Slums wie in Vorstandsetagen: Indiens Filmemacher mit ihrer Hauptstadt Bombay erobern
die Welt – und bevorzugen Drehorte wie das Berner Oberland und Heppenheim. Von Erich Follath
130
DERMOT TATLOW / LAIF
F
ilmalaya heißt das Freilichtstudio am
Rande von Bombay. Um hierher oder
in eine der anderen Traumfabriken
zu gelangen, die sich in der unwirklichen
Brachlandschaft kilometerlang wie FataMorgana-Visionen aneinanderreihen, müssen die Stars das ganze Spektrum indischer Wirklichkeiten durchleben: Luxus
und Leid, Glamour und Grausamkeit.
Shahrukh Khan, muskelbepackter Hauptdarsteller vieler Schurkenstücke und Heldenepen, wohnt wie die meisten MegaErfolgreichen der Filmbranche in einer Villa des Nobelviertels Bandra. Eine Gegend
für Genießer, wo es boomt und blüht: Im
Restaurant Vie servieren internationale
Chefs Hummer in Olivensoße nebst ofenfrischem Korianderbrot, durch weiße, wehende Zeltplanen schimmert auf der Terrasse das Mondlicht; anschließend lässt sich
die Nacht perfekt in der Discothek Enigma
zwei Kilometer strandaufwärts mit Champagner durchfeiern – und der Superstar
feiert gern, wenn er nicht gerade seinen
Schönheitsschlaf ausschöpft.
Unterwegs zu Dreharbeiten muss „King
Khan“, wie Indiens Presse den 40-Jährigen nennt, dann allerdings die Gegend der
Reichen und Schönen verlassen. Eintauchen in das andere Indien. Die Strecke
nach Filmalaya führt durch die Slums von
Andheri. An Ampeln recken sich dem Star
im BMW-Sportwagen spindeldürre Kinder
entgegen, mit hastig zusammengebundenen Blumengirlanden oder billigem Kaubetel kratzen sie an der Windschutzschei-
CINETEXT (L.); LAURENT EMMANUEL / AP (R.)
Tanzszene aus „Paheli“ (2005), Superstar Rai in Cannes: „Die Welt dreht sich in Richtung Indien“
be – in den fiebrigen Augen Hoffnung auf
ein paar Rupien für ein Linsengericht. Zerlumpte Frauen versuchen, ihre verkrüppelten Gliedmaßen ins Blickfeld des Mannes im abgedunkelten Fond zu rücken.
Wenn Khan kommt, öffnen sich die Tore
automatisch, und die Wächter salutieren
wie einem Vier-Sterne-General. Seine
Entourage weiß immer, wo er ist, hat ihn
auf dem Studiogelände per SMS längst
angekündigt. Der Wagen gleitet durch
Filmalaya, eine Welt künstlich bewässerter Rasenflächen mit idyllischen Blumen-
beeten für die Liebesszenen und düsteren
Kneipen für die Action. Freundlich gibt
Khan den Komparsen Autogramme – ein
indischer Gott zum Anfassen. Und der Star
mit der weltweit größten Fangemeinde.
Bei Dreharbeiten in Malaysia, erzählt
sein Manager, sei Khan von Dorfbewohnern erkannt und verschleppt worden –
ins Gemeindehaus, wo seit Jahren ein
Schrein mit Räucherstäbchen und Porträts
aufgebaut ist.
Zwei pakistanische Jugendliche robbten
sich kürzlich durch die Minenfelder von
Kaschmir auf das Gebiet des Erzfeindes –
sie wurden als Terroristen verhaftet und
dann nach tagelangen Verhören freigelassen: Sie hatten glaubhaft gemacht, dass sie
die „heiße“ Grenze nicht für den Dschihad
überwinden wollten, sondern nur um einmal ihr Idol Shahrukh Khan in Bombay
zu treffen. „Er bekommt jetzt auch immer
mehr Briefe aus Los Angeles und London“, sagt einer der Khan-Betreuer.
Indiens Traumfabrikanten erobern die
Welt. Sie produzieren in Bombay, Madras
und Haiderabad jährlich gut 900 Kinofilme,
und damit weit mehr als das amerikanische Mekka. Ihr Zielpublikum sind vor allem die Menschen auf dem Subkontinent –
die Songs aus den Kinohits sind so ziemlich
das Einzige, was analphabetische nepalesische Basarhändler, muslimische Militärs
in Pakistan und indisch-hinduistische Software-Millionäre verbindet.
Aber die grellbunten Bollywood-Produktionen faszinieren bei weitem nicht nur
Menschen in Südasien, sondern auch in
Nahost und in Afrika. Sie feiern kommerzielle Erfolge in den USA und Großbritannien, Filme aus der ehemaligen Kronkolonie haben es in London mehrfach in die
Top Ten geschafft. 3,6 Milliarden Menschen
rund um den Globus sehen die Hindi-Märchen von Liebe und Laster, US-Produktionen müssten sich mit einer Milliarde weniger begnügen, errechnete kürzlich das Magazin „National Geographic“. Und auch
Filmplakate in Bombay
„Bunte Palette aller Emotionen“
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die große Politik verneigt sich vor den
Filmemachern: George W. Bush hob bei
seinem Staatsbesuch in Neu-Delhi im
März ausdrücklich die „beeindruckenden
Erfolge von Bollywood“ hervor.
Indien werde seine Kino-Vormachtstellung ausbauen, sagte der indische Finanzminister Palaniappan Chidambaram in
Berlin bei einem Vortrag im Juni 2005 –
und wagte eine kühne Behauptung: „Amerikanische Jugendliche werden in 20 Jahren glauben, dass sich der Name Hollywood von Bollywood ableitet.“ Der
Produzent Amit Khanna schrieb: „Die
Welt dreht sich jetzt in Richtung Indien,
und die ultimative Rache ist, dass wir
mit unserer kulturellen Aggression den
westlichen Geist erobern.“
Auch Deutschland hat sich nun an der
kitschigen Kunst aus dem Reich der Gurus
und Gandhis infiziert, Bollywood macht
weit über Programmkinos hinaus Furore.
RTL II nahm eine Reihe indischer Filme in
sein Programm – der Privatsender erzielt
damit einen Überraschungserfolg mit TVMarktanteilen, die weit über seinem sonstigen Publikumszuspruch liegen.
„Masala-Movies“ nennen Kenner die
Bollywood-Produkte nach einer Gewürzmischung und behaupten, es sei diese Melange aus verlässlichen Bestandteilen, die
die Zuschauer fasziniere: die Liebe, die
alle gesellschaftlichen Barrieren überwindet; der soziale Aufstieg aus niedrigsten
Verhältnissen; der Sieg des Guten im
Kampf gegen Korruption. Das „Saubere“,
das „Bürgerliche“ mache das Geheimnis
des indischen Films aus, sagen die einen.
Ganz im Gegenteil, sagen die anderen,
es sei das „Subversive“. Faszinierend sei
besonders der suggestive Sex. Gerade weil
Indiens Regisseure so wenig zeigen dürften
– Nacktszenen, aber auch oben ohne und
sogar Zungenküsse sind tabu –, seien sie
zu besonders phantasievollen Liebesszenen gezwungen. Politisch sei Bollywood
keinesfalls immer nur reaktionär, gelegentlich sogar Avantgarde: Gerade in diesen Tagen zeigten mehrere Filme, wie sich
Frauen aus ihrer von Kaste und Konven131
tion vorgeschriebenen Rolle befreien. Und
in Sachen Friedensschluss mit Pakistan sei
Bollywood ohnehin Vorreiter.
Welche Rolle spielt Indiens Kino wirklich? Wie prägt und verändert es das Reich
der über einer Milliarde Menschen, das
sich anschickt, zur nächsten politischen
und wirtschaftlichen Großmacht der Welt
zu werden? Worin liegt über die Exotik
der prallen Bilderflut hinaus der universelle Appeal dieses Big Bang Bollywood?
Szene eins. Zu Gast beim gefürchteten
Kritiker-Guru in seinem Redaktionsbüro
der Bombay-Zeitung „Mid Day“. Khalid
Mohammed scheucht einen jungen Kollegen weg wie eine lästige Fliege, bestellt
bei seinen Sekretärinnen Tee, seufzt über
die Qualität des Getränks, die ihm irgendwie symptomatisch erscheint: „Es
ist mein Schicksal, dass ich mich mit unterdurchschnittlichem Kram herumschlagen muss, mit unbegabten Regisseuren,
mit mediokren Schauspielern, für die
man nie und nimmer Zelluloid verschwenden dürfte.“
Khalid weiß alles über den indischen
Film. Dessen Ursprünge reichen weit zurück, erzählt er – bis zum Jahr 1896, als
die Brüder Lumière nur ein paar Monate
nach der ersten Präsentation des Kinematografen in Paris das Wunder der bewegten
Bilder auch in Bombay zeigten.
Ein Bombayer namens Bhatvadekar
drehte bereits 1899 kurze Unterhaltungsfilme über Zirkusaffen und Ringkämpfe.
Indische Filmemacher umgingen geschickt
die Zensur, um in den dreißiger Jahren mit
patriotischen Untertönen Politik zu machen. Später experimentierten sie auch mit
anspruchsvollem Kino; Satyajit Ray holte
in den Fünfzigern mit seinem New-Cinema-Film „Auf der Straße“ in Cannes einen
Preis und gewann später auch einen Goldenen Bären in Berlin.
Bis heute versuchen indische Regisseure, Kunstkino mit Unterhaltungselementen zu kombinieren: „Salaam Bombay!“,
ein trauriger Film über die Kids der Unterwelt, wurde ebenso wie das lustige
„Monsoon Wedding“ ein internationaler
Kritikererfolg; „Lagaan“ („Landpacht“),
ein Monumentalwerk über die britische
Kolonialzeit, schaffte 2002 sogar eine
Oscar-Nominierung. Und Indien wird jetzt
zum Vorreiter visueller Effekte. Während
Los Angeles schläft, sorgen Bombayer
Künstler dafür, dass Spiderman übermenschliche Kräfte entwickelt, machen für
„Narnia“ Pferde zu Zentauren und animieren die Comic-Katze Garfield.
Doch das Mainstream-Bollywood von
heute ist Massentraum und Musical, Ausstattungsorgie mit aufwendig choreografierten Gesangs- und Tanznummern und
schönen Menschen, die unter Schmerzen
zueinanderfinden, „die bunte Palette aller
Emotionen, ohne jede Angst vor Kitsch“,
wie Kenner Khalid sagt. Der indische Un132
WILLIAM ALBERT ALLARD / NATIONAL GEOGRAPHIC
Kultur
Zeltkino im Dorf Sangola in Maharashtra: „Zeitlose indische Werte“
terhaltungsfilm ist eine Synthese aus der
Erzählkraft der Hindu-Epen „Ramayana“
und „Mahabharata“ mit ihren schrecklich
netten, allzu menschlichen Götterfamilien
und mit Klassikern von der anderen Seite
der Welt wie „Romeo und Julia“.
Die gelungensten Bollywood-Werke
schaffen eine Atmosphäre, in der die gravierenden Alltagsunterschiede wie Kastenwesen, Religion, Sprachbarriere vergessen
werden. Solche Filme stammen aus einer
„vor-zynischen Welt“, wie der indische Autor Suketu Mehta einmal geschrieben hat:
Sie erzählen von der vollkommenen (oder
wiedergefundenen) Familie, von der reinen
Liebe, vom Mutterglück, vom Nationalstolz.
Kaum irgendwo im realen Indien sind diese angeblich „zeitlosen indischen Werte“
intakt – aber sowohl das heimische Publikum in einer von Umbrüchen geprägten
Sexszenen sind tabu – also
lassen die Regisseure
es auf enge Saris regnen.
Gesellschaft als auch die indische Diaspora
suchen und finden dieses Idealbild offensichtlich in den Bollywood-Märchen: Sie
bündeln die Sehnsüchte der Menschen, ihre
Träume von Glück und sozialem Aufstieg.
Superstar Shahrukh Khan, als Muslim
geboren, hat eine Hindu geheiratet und
nennt sich einen praktizierenden Buddhisten. Von den Schauspielerinnen ist eher
die Oberweite als die Konfession bekannt
– und das in einem Land, das täglich durch
soziale und religiöse Konflikte gefährdet
ist. Als eine Filmcrew kürzlich in der Unruheprovinz Bihar drehte, erkundigte sich
der Regisseur nach den letzten Ausschreitungen, von denen er gehört hatte. „Oh,
die sind vorbei“, sagte sein Gesprächspartner. „Aber wenn Sie wollen, können
wir jederzeit neue Krawalle veranstalten.“
Die Kinohelden sind Kult, nur noch
Kricketgrößen erreichen eine annähernd
vergleichbare Popularität. Heerscharen
d e r
s p i e g e l
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von Klatschjournalisten bei Blättern wie
„Cineblitz“ und „Filmfare“ verfolgen jeden sexuellen Fehltritt der Stars und Sternchen, beschreiben ihre neuesten Marotten:
Esha hat ihre Konkurrentin geohrfeigt! Kareena hat zugenommen – schwanger? Sanjay hat einen neuen Ferrari, aber kein
Glück in der Liebe! Jeder kann es nach
oben schaffen, suggerieren die bunten Blätter und Filmplakate, die an den Wänden
der neuen Hochhäuser ebenso kleben wie
in den Slums der indischen Vorzeigestadt,
wo nach den neuesten Statistiken über
sechs Millionen Menschen leben – fast die
Hälfte aller Bombayer.
Der Kinobesuch ist billig, manche Sitze
kosten nicht mehr als umgerechnet 15
Cent. Eine Einladung zum Film ist zudem
– bei allen Schichten – der übliche Annäherungsversuch junger Männer ans andere
Geschlecht; für viele Mädchen, von den
Eltern streng überwacht, liefert Bollywood
auch eine Art Anfängerkurs im Flirten. Gemeinsam genießen junge Leute für drei
Stunden ein Leben, aus dem die langweiligen Alltagsszenen herausgeschnitten sind.
Der scharfzüngige Kritiker Khalid, eine
Art Curry-Karasek, hat sich selbst als Regisseur versucht und vier Filme gedreht.
Beispielhafte Streifen, wie er auch im
Rückblick noch meint, „in die ich mein
ganzes Wissen um die richtige Formel gepackt habe“. Kollegen haben seine Werke
verrissen, Regisseure spuckten Gift und
Galle. Die Höchststrafe aber sprach das
Publikum aus: Indiens Kinogänger ignorierten die Filme des Filmexperten.
Szene zwei. Dreharbeiten für den
Film „Money, Money“ im Freilichtstudio
Filmistan. Regisseur Sangeeth Sivan erklärt geduldig: Es geht um den Einbruch
in eine Villa, bei dem die Verbrecher gestört werden. Der Kameramann sitzt auf
einem Kran in der Höhe der Palmenwipfel. Beleuchter hantieren unten am
Boden mit Dutzenden Kabeln. Schauspieler am Set: 4. Komparsen: 40. Ge-
CINETEXT
wickelt? Der Regisseur schüttelt den Kopf.
Allerdings ist für ihn unverkennbar, dass
Bollywood gern Vorreiter einer politischen
Friedensentwicklung wäre: der Versöhnung mit dem Erzfeind Pakistan. „Wir haben jetzt schon mehrere Filme, die das zum
Thema machten – und sogar schon Schauspieler von drüben.“
Bollywood-Produktion „Paheli“*: Träume von Glück und sozialem Aufstieg
tränkeboys, Stühlerücker, Gaffer: 140.
„Action!“, ruft Sivan, und plötzlich wird
aus dem Chaos höhere Ordnung.
In einer Pause erläutert der quirlige Regisseur mit dem schulterlangen HippieHaar: Er drehe eine „romantisch-mythologische Sexkomödie mit Thriller-Elementen“, einen „Multi-Genre-Film, wie es die
meisten Bollywood-Werke sind“. Es geht
um eine Schmuckkiste, die gestohlen wird
und deren Verbleib nur ein kleiner Hund
klären kann; bei der Jagd auf den Schatz
gibt es allerlei Verwicklungen mit Leidenschaft, Intrigen und Happy End.
Drei Szenen hat Sivan am Vormittag abgedreht, nie mehr als zwei Klappen waren
dafür nötig. Er weiß, den Erfolg seines
Films wird nicht die Handlung ausmachen,
primär geht es um die Stars. Am liebsten
hätte er Indiens Diva Nummer eins verpflichtet, Aishwarya Rai, 32, die ehemalige
Miss World. Aber die Schöne verlangt
Phantasiegagen, seit sie in HollywoodFilmen und als Cannes-Jurorin auch international beachtete Auftritte hat. An
attraktiven Frauen herrscht in Bollywood
allerdings kein Mangel: Mit der Ex-MissWorld konkurrieren eine ehemalige Miss
Universe und diverse Top-Models.
Der „Money“-Filmemacher konnte Riya
Sen an Land ziehen, die sich mit ihrem
sexy Hüftschwung und seidigem schwarzem Haar unter den Bollywood-Aficionados in letzter Zeit einen Namen gemacht
hat. Sie arbeitet an einem halben Dutzend
Filmen gleichzeitig, was in der Branche
durchaus üblich ist (den Rekord hält Shashi Kapoor mit 140 Filmverträgen in einem
Jahr). Sie wird drei der acht bis zehn Filmlieder tanzen, die das Gerüst jedes Bollywood-Films bilden.
Kein Filmemacher muss sich Sorgen machen, wie er diese Tanzszenen inhaltlich
begründet. So engstirnige Richtlinien wie
Logik gelten nicht in Bollywood – der Regisseur kann Kostüme und Orte wechseln,
* Mit Shahrukh Khan (M.).
Traumsequenzen zur Handlung dazudichten, das stört keinen. Hauptsache, Song
und Tanz zünden. Anders die Zensur, die
muss ernst genommen werden. Miniröcke,
knappe Tops sind erlaubt, Sexszenen tabu.
Die Einschränkungen machen erfinderisch,
Bollywood-Regisseure spielen gern Wettergott: Um möglichst viel Figur zu zeigen,
regnet es in fast jeder Tanzszene heftig und
unvermittelt, die nassen Saris der Schauspielerinnen kleben verführerisch.
Die Fans reagieren unterschiedlich. In
den schicken Multiplex-Kinos von Bombay und in anderen Metropolen pfeifen sie
schon mal oder rufen anzügliche Worte;
beim dörflichen Freiluftkino mit der Leinwand auf zwei Bambusstangen unterm
Sternenhimmel werfen die Zuschauer Blumen oder opfern ihren Stars andächtig
Räucherstäbchen, lachen und weinen mit
ihren Vorbildern.
Höchstens drei von zehn Filmen schaffen es im Durchschnitt, ihre Produktionskosten einzuspielen, einer wird ein Hit.
Dazu muss auch der zentrale Filmschlager
in die Charts kommen. Die Songs werden
übrigens durchgängig von Profis gesungen,
die Schauspieler bewegen nur ihre Lippen.
Hindi-Filmmusik hat einen riesigen Anteil
an Bollywoods universaler Zugkraft; sie
mixt in ihren besten Stücken HipHop und
afrikanische Trommeln, Dudelsack und Sitar zu einer eingängigen Weltmusik.
Lange Zeit galt es als offenes Geheimnis,
dass Bollywood hauptsächlich von Unterweltkreisen finanziert wurde, die so ihr
schwarzes Geld wuschen. Produzenten
machten sich abhängig von den Syndikaten, Gangster terrorisierten widerspenstige
Regisseure und erpressten Schauspieler.
Vor fünf Jahren erkannte Indiens Regierung dann die Filmbranche als förderungswürdige Industrie an und ermöglichte so
günstige Bankkredite. Seitdem ist die Abhängigkeit vom organisierten Verbrechen
stark zurückgegangen.
Sieht Sivan einen neuen Trend, wird die
Masala-Formel variiert oder weiterentd e r
s p i e g e l
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Szene drei. Die pakistanische Mimin mit
dem Künstlernamen Meera empfängt in
dem Appartement, das ihr Produzenten
für die Dreharbeiten in Bombay zur Verfügung stellen. Vier große Zimmer. Nur
das Notwendigste: Bett, Stereoanlage, ein
riesiger Schminktisch mit etwa 200 Tuben, Dosen, Sprays. Anwesend: zwei
Make-up-Artisten; der Manager, der jedes Wort mitstenografiert.
Manchmal ist Meera, 29, gar nicht so sicher, ob sie wirklich der pakistanische Vorzeigestar im indischen Bollywood sein will,
ob sie die Bestbesetzung ist für eine Friedensrolle. Das bringt zwar Kinoruhm, katapultiert die Karriere – aber es kann auch
das Leben kosten.
Sie wirkt nervös, fährt sich mit den Händen ständig in die langen, pechschwarzen
Haare, lässt die Augen zwischen Fenster
und Tür wandern, als erwarte sie in dieser
Nacht noch ungebetenen Besuch. „Meine
Eltern sind Geschäftsleute aus Lahore, religiöse, aber weltoffene Muslime wie die
meisten in dieser Stadt der Architekten
und Künstler“, erzählt sie. „Es ist auch das
traditionelle Zentrum des pakistanischen
Films – Lahore wird Lollywood genannt.“
Das hochbegabte Mädchen dreht schon
mit 15 Jahren und wird einer der größten
pakistanischen Stars. Doch Lollywood
erlebt im Vergleich zur indischen Konkurrenz im vergangenen Jahrzehnt einen
dramatischen Niedergang durch den alle
Lebensbereiche durchdringenden Islamismus und die immer schärfere Zensur.
In der großen Politik aber beginnt zwischen Islamabad und Neu-Delhi jetzt das
Tauwetter. 2004 erhält Meera ein Angebot
aus Bollywood, darf ausreisen und spielt
die Heldin in „Nazar“ („Der Anblick“). In
einer leidenschaftlichen Liebesszene umarmt sie ihren Partner, dargestellt von
Ashmit Patel, einem Inder mit HinduGlauben. Bilder vom Set finden ihren Weg
in die pakistanische Presse. Es folgt ein
Sturm der Entrüstung – die „Film-Hure“
habe den Islam geschändet, ihre Nation
verraten, das Schamgefühl verletzt. „Ich
bekam anonyme Todesdrohungen“, sagt
Meera. „Ich war plötzlich so vogelfrei wie
Salman Rushdie.“
„Nazar“ wird in Indien zum Erfolg, in Pakistan darf der Film – wie alle indischen
Streifen seit 1965 – offiziell nicht gezeigt werden. Aber er ist wie die meisten BollywoodHits auf dem Schwarzmarkt leicht erhältlich.
Meera schwört in Interviews selbstkritisch dem „leichtlebigen“ Bollywood mit
seiner „anderen Kultur“ ab. Als auch das
133
nichts nützt, fordert sie Polizeischutz.
Schließlich nimmt sich Präsident Pervez
Musharraf persönlich des Falles an, lädt
sie zum Tee ein. Von Regierungsseite ist
sie nun rehabilitiert. Aber Meera weiß:
Die militanten Islamisten hassen den USfreundlichen „Busharraf“ mindestens so
wie sie, und sie werden nie Ruhe geben.
Die Schauspielerin versucht jetzt ein Leben in zwei Welten: Sie pendelt zwischen
Pakistan und Indien. In Bombay kann sie
zwischen zahlreichen Angeboten auswählen und trifft überall auf Goodwill.
Das dürfte viel mit den beiden mächtigsten Männern im indischen Film zu tun
haben, den Bollywood-Paten Amitabh
Bachchan und Yash Chopra. Sie bereiten
gerade den Frieden mit Pakistan vor – und
könnten dabei mindestens so erfolgreich
sein wie die Top-Politiker.
Altstar Bachchan, 63, hat sich zwischenzeitlich erfolglos als Politiker versucht
und in seiner Schauspielerkarriere durchaus auch aufwiegelnde, antipakistanische
Filme gedreht. Doch heute ist er vor allem
an seinem Vermächtnis, seiner positiven
Rolle in der Geschichte interessiert. Er gibt
sich als überzeugter Versöhner und hat gerade vorgeschlagen, als Friedensgeste doch
die „Oscar“-ähnliche Veranstaltung mit der
Pakistans militante Islamisten hassen „Busharraf“ –
und die „Film-Hure“ Meera.
Übergabe der Bollywood-Preise künftig
jedes Jahr in Pakistan abzuhalten.
Ähnlich wie die Juden in der Gründerzeit Hollywoods sind auch viele der frühen
Bollywood-Filmschaffenden Flüchtlinge.
Starproduzent Chopra, 73, ist einer von
ihnen. Der Hindu ist in Lahore aufgewachsen, musste als Schuljunge miterleben, wie bei der Teilung des Subkontinents
Zigtausende niedergemetzelt wurden. „Ich
habe die Schreie der Sterbenden nie vergessen“, sagt Chopra.
Er will die Wunden heilen helfen – mit
Friedensaufrufen, mit Spenden und auch
mit Bollywood-Filmen, die Verständnis für
die „andere Seite“ wecken. Sein „Veer und
Zaara“ ist die erste indisch-pakistanische
Liebesgeschichte; der Film handelt von einem Piloten, der sich in ein schon verlobtes Mädchen jenseits der Grenze verliebt.
Weitere Annäherung: Bollywood-Kollege Akbar Khan darf am 26. April 2006 erstmals nach über 40 Jahren wieder offiziell
einen indischen Film im pakistanischen
Lahore präsentieren: „Taj Mahal“. Auch
Neu-Delhis Kulturminister ist anwesend.
Jetzt schlägt die Stunde der BollywoodGastarbeiterin. Meera fährt demnächst
nach Mauritius. Aber sie träumt von verschneiten Winterlandschaften mit verwunschenen Schlössern und märchenhaften
Marktplätzen. Ein Produzent hat ihr verlockende Prospekte aus Europa gezeigt,
134
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Bilder von Fachwerkhäusern und Ritterburgen: Heppenheim. „Ist es wirklich so
romantisch in Deutschland?“, fragt Meera
mit einem Augenaufschlag, der selbst die
kriegslüsternsten Generäle auf andere Gedanken bringen müsste.
Szene vier. Im hessischen Heppenheim
an der Bergstraße. Ein Marktplatz mit
viel Fachwerk, die Apotheke, in der Justus Liebig lernte und angeblich das Chloroform erfand, das Wohnhaus, in dem die
Oma von Grace Kelly aufwuchs. Ein Ort
mit Tradition: Heimat der FastnachtGesellschaft Bottschlorum und des Gesangsvereins Frohsinn 1912 e.V.
ROBERT FLEISCHANDERL / AGENTUR ANZENBERGER
Kultur
Bollywood-Dreharbeiten in den Tiroler Alpen
Sehnsucht nach europäischer Romantik
Landrat Matthias Wilkes, 46, ist ein
rühriger Zeitgenosse, der seiner CDU immer wieder sagt, dass die Globalisierung
nicht nur Probleme macht, sondern auch
Chancen bietet. Er hat gelesen, dass sich
Bollywood-Produzenten für ihre „exotischsten“ Szenen gern europäische Drehorte aussuchen.
Das pittoreske Bergdorf Engelberg im
Berner Oberland erwarb sich in Fachkreisen dabei schon einen legendären
Ruf: Oben auf dem eiskalten TitlisGletscher drehte so manche BollywoodCrew Sari-Soaps mit heißen Tänzen,
unten im Tal bot das Milka-Land mit seinen Kuhglocken bizarre Kulisse. Findige
Schweizer Tourveranstalter erfanden ein
„Rundum-sorglos-Paket“ für die Filmleute – mit sprachlicher Betreuung, Bussen, Hotelpauschalen und sogar einem
Curry-Koch.
Aber nicht nur die Filmwelt wurde von
der Kaschmir-Ersatzlandschaft angelockt,
sondern auch die betuchte indische Mittelschicht: Sie wollte die Originalschauplätze der Bollywood-Balz sehen und fotografieren – die Übernachtungszahlen der
Gäste vom Ganges im Berner Oberland
explodierten Anfang dieses Jahrzehnts
förmlich. Ein sattes Geschäft zur Zufriedenheit aller. Als dann auch noch ein
Schweizer Bergsee nach dem indischen
Starproduzenten „Lake Chopra“ getauft
wurde, flossen Tränen der Rührung.
Engelberg aber hat heute einen gewichtigen Nachteil: Es ist dem Inder schon zu
vertraut. Bollywood muss öfter mal etwas
Neues bieten.
Konkurrenten der Schweizer treten auf
den Plan. Das Stubaital im schönen Tirol
lockt die Filmemacher mit günstigen Allinclusive-Angeboten, auch das polnische
Zakopane in den Karpaten strengt sich
mächtig an. Warum da nicht die hessische
Bergstraße ins Spiel bringen, mit ihren romantischen Ritterburgen, den sattgrünen
Weinbergen und den märchenhaften Fachwerkhäusern?
Politiker Wilkes lud in Zusammenarbeit
mit der Hessischen Filmförderung elf Produzenten aus Bombay ins Bembel-Land.
Er brachte sie mit der Spargelkönigin von
Lampertheim zusammen und mit der Gurkenkönigin von Biblis, zeigte ihnen Klöster
wie Kneipen, bewirtete großzügig mit
Handkäs und anderen unwiderstehlichen
Hessen-Spezialitäten.
Zumindest einer biss an. Vinod Kumar
Singh entschloss sich, einige Szenen seines Films „Humraah“ („Der Verräter“) in
Heppenheim zu drehen. Der Regisseur
kam mit seiner Crew im November. Das
Landratsamt wurde für Stunden geschlossen und zu einem indischen Gerichtsgebäude umfunktioniert. Die Feuerwehr beleuchtete den historischen Marktplatz;
Hauptdarstellerin Valeria Mei schmachtete vor dem Fachwerkhotel „Goldener Engel“ von ihrer unglücklichen Liebe.
Aber zur Verblüffung der Einheimischen
wollte der Regisseur die meisten Szenen in
der eher unromantischen Fußgängerzone
drehen, in der Nähe des Tchibo-Ladens,
mit vielen Rentnern, die durchs Bild
schlendern sollten. Und das auch noch im
Nebel und bei Sprühregen. „Ich brauche
Deutschland für den traurigen Teil meines
Films“, erklärte der Regisseur der „Süddeutschen Zeitung“.
„Der Verräter“ ist in Bombay noch nicht
angelaufen. Angeblich sind noch nicht alle
lustigen indischen Szenen abgedreht, ein
zweiter Bergstraßen-Termin fürs Filmteam
ist geplant. Landrat Wilkes spricht von
„Standort-Marketing“ und träumt davon,
die Europazentrale des indischen Films an
die Bergstraße zu holen. Fürs Frühjahr in
Heppenheim angekündigt haben sich bis
jetzt allerdings nur die Studenten der Filmhochschule in Offenbach, die hier für einen
Wettbewerb drehen wollen.
Einige der jungen Deutschen haben den
Bollywood-Machern im November zugesehen, ein Stuttgarter Kameramann assistierte sogar. Beim nächsten Outsourcing
der Inder in Deutschland wären alle gern
dabei. Noch lieber hätten die meisten einen
Job in Bombay, über 900 Filme im Jahr –
was für eine Chance, sich zu beweisen.
„Aber da braucht man sicher eine indische
Green Card oder so etwas“, sagt einer. ™
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Kultur
dieser: „Ich schaute hin und sah einen
Schmetterling, der gerade die Flügel zuL I T E R AT U R
sammenfaltete; zugleich senkte Judith
die Wimpern.“ Was neben allem anderen
durchaus auch eines der schönsten Semikolons der deutschsprachigen Literatur
enthielt.
Dann gab es Zeiten, in denen Handke
Skandal mit Ansage: Die Vergabe des Heine-Preises an Peter
weniger gelesen als verehrt wurde. Zeiten,
Handke und die Wiederaberkennung ist eines der
in denen sein Verleger ein Manuskript wie
eine Monstranz vorsichtig durchs Wohnbizarrsten Spektakel der letzten Jahre. Von Matthias Matussek
zimmer trug und einer zufällig
anwesenden Schriftstellerin zuan kann den Glücksfall, den Heinhauchte: „Es ist das Neue. Von
rich Heine für die deutsche LiteHandke.“
ratur bedeutet, nicht oft genug feiSchließlich dann Zeiten, in deern. Und was ist besser, als es dadurch zu
nen Handke nicht mehr verehrt
tun, dass man einen Preis nach ihm bewurde, aber immerhin wieder
nennt. Womöglich macht dieser Einzelgelesen, allerdings nur noch
gänger dann doch Schule.
kopfschüttelnd. Das waren die
Heine war Dichter und Journalist, einer,
Tage seiner Reportagen aus dem
der genau hinschaute und recherchierte
ehemaligen Jugoslawien in den
und trotzdem sang. Heine, der Jude, der
neunziger Jahren, in denen der
Außenseiter, der an den Mächtigen vorbei
Dichter in seiner Eigenschaft als
zum Publikum sprach, frivol und witzig
„großer Eigenwilliger“ mit eiund hinreißend einzelgängerisch.
genwilligen Texten zu den KonDer Heine-Preis funkelte. Jetzt ist er tot.
flikten auf dem Balkan Stellung
Die Prozedur gelang ziemlich schnell, mit
nahm.
dem klassischen Dreischritt: Zündung, in
Er schrieb von den ernsten
Deckung gehen, rums!
serbischen Menschen und den
Unter Anführung der Kritikerin Sigrid
„andersgelben“ Nudelnestern,
Löffler hatte die Jury den Heine-Preis der
von den Landschaften, von harStadt Düsseldorf an den Dichter Peter
ter Arbeit und schließlich dem
Handke vergeben, den einigermaßen leerVernichtungskrieg gegen diese
geschriebenen Klotzfuß deutschsprachiger
Menschen durch den Rest der
Rätselhaftigkeit und Inbegriff monumenWelt. Tatsächlich aber trieben
talster Humorlosigkeit, der sich letzthin als
in jenen Tagen, Monaten und
Trauergast am Grabe des Massenmörders
Jahren serbische Soldaten und
MiloΔeviƒ ins öffentliche Bewusstsein geMilizen Tausende zusammen
schoben hat.
und ermordeten sie, erschosHandke, der Anti-Heine, der Klimasturz.
sen Oppositionelle, liquidierten
Nach einer ersten verträumten SchockNonkonformisten in den eigenen
pause hatte es die zu erwartenden Proteste
Reihen (siehe Kasten Seite 142).
gehagelt. Juror Christoph Stölzl, als PoliWer als Reporter im Kosovotiker mit Ambitionen zu blitzschnellen
Krieg im Tal des Todes stand,
opportunistischen Absetzungs- und Umnördlich von Skopje, und die von
gehungsmanövern bestens in der Lage,
serbischen Milizen Zusammendistanzierte sich öffentlichkeitswirksam.
getriebenen dort im Schlamm
Auch Historiker Julius H. Schoeps machte
sein Votum gegen Handke publik.
Autor Handke*: Eigenwillige Texte zum Balkan-Krieg sah und die Güterwaggons in der
Mitte, diese absolute Endstation
Handke, der Publikumsbeschimpfer.
Politische Irrtümer sind in der deutschen des Menschseins, der konnte und kann im
Nun wurde er vom Publikum beschimpft,
und nicht immer war es Fachpublikum, Literatur durchaus keine Seltenheit. Von sogenannten „poetischen Nonkonformisdenn wenn Politiker sich einen Reim auf der Nazi-Begeisterung Benns bis zu Brechts tenton“ Handkes nur blasiertes Gewäsch
Dichter und deren Verantwortung machen, Stalin-Verehrung gab es durchaus enorme- erkennen. Dieser Ton erfordert keinen
Mut, sondern eine ganz erhebliche Portion
dann wird es immer schlimm. Fritz Kuhn re Vorbilder.
Deshalb auch eilte Botho Strauß seinem an Kaltschnäuzigkeit und zynischer Provorief „schäbig“. Fritz Kuhn!
In das anschwellende Geprassel hinein Dichterkollegen zu Hilfe. Gegen das wüste kationslust.
Das alles war bekannt. Es war besondementierte Handke, irgendwie erschüt- Gemaule mobilisierte er noch einmal die
ternd, er habe die Massaker in den Balkan- Erinnerung – daran nämlich, dass Handke ders bekannt durch den erst ein paar WoKriegen zwischen 1991 und 1995 nie ge- durchaus als einer der großen Wortzaube- chen zurückliegenden Auftritt des Dichters
am Grabe von MiloΔeviƒ und die prompt
leugnet und habe Slobodan MiloΔeviƒ nie rer deutscher Sprache gelten kann.
Ganz sicher, es gab Zeiten, in denen erfolgte Absetzung eines Handke-Stücks
als ein Opfer bezeichnet. Die Korrektur
war insofern ergreifend, da der Preispott man Handke las. Goldene Zeiten, diese in Paris. Klar war: Die öffentliche Person
mit 50 000 Euro nicht schlecht dotiert ist siebziger und achtziger Jahre. Da erschie- Handke ist kein Dichter, sondern ein poliund Handke bereits die Hand ausgestreckt nen Bücher wie „Der kurze Brief zum lan- tischer Fall.
Natürlich ist es eine Versuchung für jede
hatte, obwohl er zuvor versichert hatte, nie gen Abschied“, in denen Sätze standen wie
Kulturbetriebsnudel, so einen zu nomiwieder einen Preis anzunehmen. Wie war
nun diese Geste wieder zu deuten? Reuig? * Bei der Trauerfeier für Slobodan MiloΔeviƒ in Po¢arevac nieren. Der Skandal ist garantiert, und jede Menge Geschnatter und Bohei gleich
Oder doch nur finanziell bedürftig?
am 18. März.
Der Preis ist heiß
PETAR PAVLOVIC / AP
M
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Kultur
Die Freunde von MiloΔeviƒ
Die serbische Dramatikerin Biljana Srbljanoviƒ über die Handke-Affäre
142
Erde in Sicherheit war, während wir
Übrigen, jeder für sich allein, Schutz im
eigenen Schlaf- oder Badezimmer oder
sonst wo suchten.
Hätte Handke an dem Tag auch bei
uns vorbeigeschaut, wäre er der Familie und den Freunden eines anderen
„zensierten“ politisch Andersdenkenden begegnet, der am helllichten Tag
und vor Zeugen, während er im Wald
nahe seinem Haus joggte, gekidnappt,
später getötet und aufrecht begraben
wurde. Ja, aufrecht, mit Kalk übergossen, der ihn auffraß, so dass man einige Jahre später nur noch einen Oberschenkelknochen und einen Turnschuh
von ihm fand.
Es war ein Nike-Turnschuh, und der
Antiglobalisierungsekel gegen dieses
kapitalistische Symbol mag Handke
und seine Freunde davon abgehalten
haben, auch dieser Beisetzung beizuwohnen, vielleicht eine Rose auf den
Sarg mit dem übrig gebliebenen Schenkelknochen zu legen und sich da, über
diesem Sarg, die Frage nach MiloΔeviƒ,
nach dem Sinn des Lebens oder in diesem Fall des Todes zu stellen.
Ich könnte mit meiner Aufzählung
lange fortfahren, aber ich begreife, dass
dies keinen Sinn hat oder nicht wichtig
ist. Denn das einzig Wichtige in dieser
ganzen Geschichte ist, dass die Öffentlichkeit endlich aufhört, den Begriff
„proserbisch“ zu gebrauchen, wenn
diejenigen gemeint sind, die MiloΔeviƒ,
Kriegsverbrecher, Gefangene des Haager Tribunals, Mörder und Vergewaltiger in Schutz nehmen.
Ich möchte daran erinnern, dass
MiloΔeviƒ, bevor er starb, mit Willen
des serbischen Volkes entmachtet wurde, wenn man schon von Volk und Na-
d e r
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ZELJKO SAFAR / AP
W
enn das, was Handke jetzt geschieht, Zensur ist, dann blieb
ihm zumindest die nach MiloΔeviƒs Art erspart. Jedes Mal nämlich, wenn sein nun toter Freund jemandem den Mund verbieten wollte,
tat er das effizient und mit viel weniger
Aufsehen – ein Genickschuss, meistens
an der Haustür oder am Rand einer zuvor im Wald ausgehobenen Grube, in
die der Zensierte nach der Zensur hineinfiel, damit er verschwand.
Und noch etwas. An dem Tag, den
Handke mit Trauer und mit Ratlosigkeit im Herzen bei der Beisetzung in
Po¢arevac verbrachte, war ich zusammen mit einigen tausend Gleichgesinnten auf dem Hauptplatz Belgrads, wo
wir mit einem symbolischen Spaziergang zeigen wollten, dass Serbien nicht
trauerte. Wir hatten uns selbst organisiert, jeder hatte wie einst per SMS,
E-Mail oder Telefon jemanden benachrichtigt, und so kamen wir zusammen,
voller Bedauern, dass Handke nicht bei
uns war.
Wäre er gekommen, hätte er zum
Beispiel die Witwe eines „zensierten“
Journalisten, eines Gegners von MiloΔeviƒ getroffen, der ermordet wurde,
als er mit seiner Frau von einem Spaziergang nach Hause kam. Ein Genickschuss, und er fiel zu Boden, ohne die
Hand seiner Frau loszulassen, die in
den langen Minuten, die dann folgten,
nicht begriff, dass sie die Hand einer
Leiche drückte.
Handke hätte diese Frau treffen und
sie fragen können, wie es ist, wenn einem so etwas passiert, und zwar gerade zu Zeiten der Nato-Bombardierung,
als die Monate vergingen und wir voller Angst in unseren Himmel starrten
und jeder nur daran dachte, seinen
Kopf zu retten, wohl wissend, dass der
„große Präsident“ zur gleichen Zeit
in seinem Bunker 20 Meter unter der
tionalität sprechen muss. Er wurde später von der legal gewählten serbischen
Regierung an das Haager Tribunal ausgeliefert und war nur einer in einer
ganzen Reihe von Angeklagten, die
von den Serben festgenommen und
dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal übergeben wurden.
Für MiloΔeviƒ zu sein bedeutete nie
und heute erst recht nicht, für Serbien zu
sein. Für MiloΔeviƒ zu sein bedeutete
nicht nur, seine Verbrechen außerhalb
Serbiens zu ignorieren. Diese Verbrechen gehen ins Unermessliche, sie sind
grauenvoll, nicht zu leugnen, aber sie
sind nicht die einzigen, denn zu MiloΔeviƒs Opfern zählen auch die Serben
selbst. Auch sein Volk hat schwer gelitten
unter der Herrschaft einer Ideologie,
eines irren und grausamen Regimes.
Ich habe nie etwas von nationalen
Unterschieden gehalten, Patrioten mit
der Waffe in der Hand waren für mich
stets der größte Gräuel, ich werde mich
ewig für die in meinem Namen verübten Verbrechen schämen, werde bis zu
meinem Lebensende schwer tragen an
den Gedanken an Vukovar, Sarajevo,
Srebrenica, aber ich bin eine Serbin.
Und wenn jemand ein Freund MiloΔeviƒs ist, ist er noch lange kein Freund
Serbiens. Ich verlange nur, dass man
mir, dass man uns allen das Recht auf
unseren Namen wiedergibt.
ART ZAMUR / GAMMA / STUDIO X
Srbljanoviƒ, 35, wurde mit ihrer „Belgrader Trilogie“ 1998 über Serbien
hinaus bekannt. In ihrem Stück „Der
Sturz“ nahm sie den Fall des jugoslawischen Präsidenten vorweg. Die
Kriegsgegnerin setzte sich immer dafür ein, im Ausland das von Slobodan MiloΔeviƒ geprägte Bild der „blutrünstigen Serben“ zurechtzurücken.
CONTRAST / ACTION PRESS
NETZHAUT
ROLAND HOLSCHNEIDER / PICTURE-ALLIANCE / DPA
mit. Sigrid Löffler war zu schwach, um zu
widerstehen; sie und weitere.
Natürlich ist der Fall Handke in erster
Linie ein Fall Sigrid Löffler und dann ein
weiterer Fall in einer Reihe von JurorenMissgriffen, die ja bekanntermaßen selbst
den Nobelpreis nicht auslassen.
Kritikerin Löffler also, die einst als eingeschnappte Handtasche im „Literarischen
Quartett“ der Gestalt gewordene Vorwurf
gegen Altmeister Marcel Reich-Ranicki
und Hellmuth Karasek und deren literarischen „Populismus“ war, favorisiert eine
Literatur der Schwerfälligkeit, der Abwesenheit von Witz, der Langeweile, und besonders gern, wenn sie aus Österreich
kommt. Mit einem Wort: Jelinek.
Seit dem Eklat im „Quartett“, als sie
Reich-Ranicki Sexismus vorwarf und er ihr
Prüderie, leitet Löffler das Magazin „Literaturen“ und sitzt überdies in diversen
Jurys. Sie ist einflussreich. Ihre Vorstellung von Mut ist der literarische Skandal,
und damit war Handke die logische Wahl.
Ihr Kulturbegriff ist eine pure Betriebsnudel-Vorstellung, die nichts mit Mut zu tun
hat, sondern immer nur mit der Provokation. Es ist immer die gleiche Falle. Der erste
Impuls ist natürlich der, dem Nonkonformisten beizuspringen, so lange und ausdauernd, bis er kein Nonkonformist mehr
ist, weil er mittlerweile die Mehrheit hinter
sich hat. Das Ergebnis dieses Prozesses ist
dann der „bejubelte Nonkonformist“, der
bisweilen auch „Querdenker“ genannt wird.
Kabarettisten schwärmen für solche
Leute. Oder Wiglaf Droste, der gute alte
„taz“-Haudegen, der meistens mit hochrotem Kopf an seinem Stammtisch steht
und schwankend rauszukriegen versucht,
was nun das Gegenteil zu allem ist, was er
bisher gelesen hat.
Das Prinzip Droste ist heute das Mehrheitsprinzip im Kulturbetrieb. In diesem
Preisträger Jelinek (o. r., 2004), Jünger (1982), Walser (1998): Den Betrieb aufmischen
Fall fordert die antizyklische Peilung: für
Handke sein, kann auch gern grob sein.
Droste also, so wie er, verschwommen, den
Fall Handke sieht: „Handke aber fuhr nach
Serbien, schrieb nicht die allseits verlangten Gräuelgeschichten, und nach dem Tod
von MiloΔeviƒ sprach er an dessen Grab.
Na und?“ Platsch.
So ist das mit diesen Preisvergaben. Jeder darf sich erleichtern und riskiert überhaupt nichts dabei. Preisvergaben sind
hübsche Gelegenheiten, den Betrieb aufzumischen mit seinem Brimborium aus Ordensketten, Interviews, Festansprachen
und möglichen Aberkennungen, Minderheitenvoten, Skandalen. Sie messen die
Temperatur. Sie sind Stichworte des nationalen Selbstgesprächs.
Im Büchner-Preis für Benn 1951 wurde
der große Dichter in seinen politischen
Irrtümern und seinen Halbheiten exkulpiert. In Benn klopfte sich die demoralisierte Nachkriegsgesellschaft selbst auf die
Schulter.
Ein erster großer Skandal dann die Zuerkennung und anschließende Wiederaberkennung des Bremer Literaturpreises 1960
an Günter Grass. Der „Blechtrommel“-Autor war beim zweiten Hingucken zu pornografisch, und alle Welt wusste: Dies ist kein
Grass-Problem, sondern ein Bremen-Problem. Stürmisch das Toben anlässlich der
Verleihung des Goethepreises an Ernst Jünger 1982. Die Konservativen von der CDU
fanden Jünger einen jugendverderbenden
Kiffer, und die Grünen um Jutta Ditfurth sahen in ihm einen „Träger des Nationalsozialismus“. Für alle aber war er ein herrlicher Anlass, politisch Krach zu schlagen.
So was geschieht auch gern mit Verzögerung, denn es dauert bisweilen, bis die
Demonstranten vor Parlament in Belgrad (2000)
Kesseltreiben in den eigenen Reihen
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Skandalsucht Betriebstemperatur hat. Martin Walsers Friedenspreisrede 1998, in der
er von der Instrumentalisierung Auschwitz’
als „Moralkeule“ sprach, war von Rhetorik-Professor Walter Jens in Aufbau und
argumentativem Ebenmaß bewundert worden, bevor sie allgemeine Empörungsstürme auslöste.
Das Totaldesaster des Heine-Preises
2006 ist immerhin ein guter Anlass, ein
paar Fragen zu stellen.
Erstens: Warum hat man den Preis nicht
an eine Person verliehen, die, wie Heine,
nicht nur als brillante Erzählerin bekannt
ist, sondern auch als Journalistin, die recherchieren kann und im Prinzip eher auf
der Seite der Unterdrückten zu finden ist –
nämlich an die Jüdin Irene Dische?
Zweitens: Wann endlich werden die
Durchstechereien und Schiebungen unserer Betriebsnudel-Jurys mal ganz aufgedeckt und transparent gemacht, welche
Kritiker welchen Freunden welche Preise
zugeschoben haben, durchaus unter Einbeziehung Österreichs samt Löffler, Jelinek und Handke?
Drittens: Warum kann wahrscheinlich
wieder mal kaum einer aus der Jury ein
Heine-Gedicht auswendig?
Jetzt aber muss nach vorn gedacht werden. Der Heine-Preis ist nicht durch Handke beschädigt worden, sondern durch jene,
die ihn benutzten, um sich selbst zu profilieren, entweder als Königsmacher oder als
Königsmörder.
Nicht der Dichter hat hier Schiffbruch
erlitten, sondern die Betriebsnudeln. Als
Wiedergutmachung sollten sie schweigen.
Für mindestens ein Jahr. Und keinen Jurys
beisitzen. Und das ist für sie die wohl härteste Bestrafung, die es nur geben kann.
Und das Geld? Wie wäre es mit einer
Spende für die Opfer des MiloΔeviƒ-Regimes?
™
143
TV-Serien-Familie „Die Simpsons“
TOBIAS RÜCKER / NEON (L.); BIG PICTURES (U.K.) / ACTION PRESS (R.)
Ein Blitz surrealer Überraschung
S AT I R E
Voltaire und Starbucks
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann über
die Fernsehserie „Die Simpsons“, die er zu den intelligentesten
und vitalsten Kunstwerken unserer Zeit rechnet
Kehlmann, 31, gebürtiger Münchner, lebt in Wien. Sein Roman
„Die Vermessung der Welt“ (Rowohlt Verlag) steht seit 35 Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, zurzeit auf Platz zwei.
W
ürde Thomas Pynchon jemals im
Fernsehen auftreten? Natürlich
nicht, würden die meisten seiner
Bewunderer ausrufen – und erstaunlich
wenige wissen, dass er es bereits getan hat.
Und zwar nicht in einer Literatursendung,
nicht in einer Podiumsdiskussion oder gar
bei Oprah Winfrey, sondern in Folge zehn
der 15. Staffel der Zeichentrickserie „Die
Simpsons“.
Natürlich wurde Pynchon von einer gemalten Figur dargestellt, die auch noch zur
Wahrung der Anonymität eine Papiertüte
mit Sehlöchern über dem Kopf trug. Aber
die Stimme war Pynchons eigene. Der
enigmatischste Autor der Gegenwart war
wirklich aus der Verborgenheit aufgetaucht, um im Studio seine Rolle mit der
enthusiastischen Verve eines Laienschauspielers aufzunehmen. „Thomas Pynchon
144
liebt dieses Buch“, sagt er da zu Marge
Simpson, die sich als Schriftstellerin versucht hat und nun werbetaugliche Sätze
für den Umschlag braucht, „fast so sehr,
wie er Kameras liebt!“
Was hat es zu bedeuten, dass Pynchon,
dessen Leitthemen die Medienkonzerne
und die zerstörerische Macht der Kulturindustrie sind, ausgerechnet in den „Simpsons“ sein 40-jähriges Schweigen brach?
Es bedeutet wohl, dass er Humor hat, es
bedeutet aber auch einen intellektuellen
Ritterschlag für eine Serie, die vom Magazin „Time“ zur besten aller Zeiten gewählt
wurde und die die Anziehung auf ein Massenpublikum mit Niveau, satirischer Kompromisslosigkeit und einem verstörend harten Weltbild vereint.
Im Springfield der Familie Simpson ist
das Dasein so absurd, wie es nun einmal
ist: Die Guten verlieren, die Dummen haben Erfolg und die Klugen das Nachsehen,
alles, was schiefgehen kann, geht schief,
Religion ist ein schlechter Witz, Gott ungerecht und das Leben ein Unternehmen,
das nicht gelingen kann – aber all das noch
lange kein Grund, den Humor zu verlieren.
d e r
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Ein Plädoyer für die Simpsons? Heute
noch? Rennt man damit nicht offene Türen
ein, gibt es Figuren, die verbreiteter, die
eher allgegenwärtig sind als die Mitglieder
von Matt Groenings disfunktionaler gelber Familie? Doch gerade deshalb, weil
Homer, Marge, Bart und Lisa überall zu
sein scheinen, übersieht man leicht, dass es
sich trotz des ärgerlichen Merchandising,
trotz der Simpsons-Tassen und SimpsonsToilettenpapierrollen, trotz all der schlechten Comics und dummen Poster um ein
Medienphänomen handelt, das mit keinem
anderen vergleichbar ist. Die „Simpsons“
haben nicht nur weltweit das Fernsehen
verändert und intellektualisiert, sie haben
unsere Sehgewohnheiten, ja die Kultur des
Humors selbst geprägt.
Politische Kabarettisten, die man einst
faszinierend originell fand, wirken heute
nicht selten mittelmäßig; Komödien,
die brillant geschrieben schienen, machen
sich beim Wiedersehen schleppend und
verstaubt aus. Könnte das daran liegen,
dass man seit nun schon 15 Jahren Tag
für Tag im Fernsehen mit solch brillantem Witz konfrontiert ist, wie man
ihn zuvor nur in seltenen Ausnahmefällen
erlebt hatte?
Das vom legendären George Meyer angeführte Autorenteam (darin, so der britische „Observer“, zehn Schriftsteller mit
Harvard-Abschluss) hat uns an eine Dichte von Pointen, einen tänzerischen Rhythmus der Höhepunkte gewöhnt, der uns für
die meisten anderen satirischen Unternehmungen verdorben hat. Wenn der klassische Witz der Aufklärung, der Geist der
Erzählungen von Voltaire und Diderot
heute noch fortlebt, dann wohl in der trügerischen grafischen Einfachheit und dem
souverän heiteren Pessimismus von Matt
Groenings Serie.
Der typische „Simpsons“-Humor lebt
von einer spezifischen Abfolge von Vorbereitung, Pointe, neuer Wendung und
dem Sprung in eine verblüffende Erfüllung. Eine gute, aber noch nicht sensationelle Pointe wird zur Basis einer unwahrscheinlichen Entwicklung, die wiederum
als Ausgangspunkt für eine bessere Pointe
dient: Das Ergebnis ist ein Blitz surrealer
Überraschung. So ist es etwa schon ziemlich lustig, wenn Marge einem Polizisten
eine falsche Adresse nennen will, unter
Druck natürlich keine Idee hat, etwas von
„123 – Fake Street“ stottert und der Beamte ihr das tatsächlich glaubt. Dann aber
fährt dieser los, um die Adresse zu überprüfen, und natürlich existiert sie, und es
findet dort tatsächlich gerade ein Verbrechen statt.
Oder: Mister Burns, Homers böser Chef,
fordert ihn auf, ihm ins Gesicht zu sehen,
damit er ihn anschreien und bestrafen
kann. Homer aber, einem klassischen Kin-
Kultur
derreflex folgend, schließt die Augen, denn in der Schule verspottet, daheim unverwenn Burns ihn nicht sehen könne, so standen – hat es je im Fernsehen ein trauglaubt er, könne ihm dieser auch nichts rigeres Kinderschicksal gegeben als das
tun. Die „Simpsons“-typische Wendung der kleinen Lisa? Man könnte noch Barbesteht nun darin, dass Homer absurder- ney Gumble nennen, einst ein junger
weise völlig recht hat. Da sein Opfer ihn Mann von vielfältigen Talenten, den sein
nicht sieht, ist Burns machtlos und gibt Jugendfreund Homer zum Alkohol geden Disziplinierungsversuch entnervt auf.
Oder: Aus purem Übermut zerstört Homer die gesamte Einrichtung im Zimmer
seiner Tochter. Zu dem entsetzten Kind
sagt er, es solle das positiv sehen, fröhlich
Belletristik
sein und sich vorstellen, es wäre sein
1 (2) Donna Leon Blutige Steine
Geburtstag. „Aber heute ist mein GeDiogenes; 19,90 Euro
burtstag!“, schreit Lisa. „Das“, lobt Homer, „ist die richtige Einstellung.“
2 (1) Daniel Kehlmann Die Vermessung
Das ist nun wirklich kein freundlicher
der Welt Rowohlt; 19,90 Euro
Scherz. Es gibt in den „Simpsons“ ein
Element der Brutalität, ja der Düster3 (5) Nicholas Sparks Das Wunder eines
nis, das weniger aus speziellen SituatioAugenblicks Heyne; 19,95 Euro
nen als dem zugrundeliegenden Welt4 (7) Dan Brown Diabolus
bild entsteht.
Die „Simpsons“ sind, wie viele Kinder
Lübbe; 19,90 Euro
auch immer regelmäßig zusehen mögen,
5 (4) Iny Lorentz Das Vermächtnis der
definitiv keine Kindersendung. Bei genauWanderhure Knaur; 16,90 Euro
em Hinsehen erweist sich die Serie als weit
schärfer und härter als etwa „South Park“,
6 (3) Dan Brown Sakrileg
wo die grelle Drastik letztlich Selbstzweck
Lübbe; 19,90 Euro
bleibt. Die „Simpsons“ aber, das ist die Decouvrierung der ursprünglichen Absurdität
7 (8) Tommy Jaud Resturlaub
des Lebens, eine Satire im Sinne von Swift
Scherz; 12,90 Euro
und Ambrose Bierce, eine Anklage weniger
des politischen und sozialen Status quo
8 (6) François Lelord Hectors Reise
als der missratenen Schöpfung selbst. Was
Piper; 16,90 Euro
ist denn am Ende schonungsloser? Wenn
9 (9) Leonie Swann Glennkill
in „South Park“ Jesus, Buddha und Mohammed als karikaturhaft überzeichnete
Goldmann; 17,90 Euro
Superhelden umherfliegen oder wenn in
10 (10) Bernhard Schlink Die Heimkehr
einer „Simpsons“-Episode die halbe Stadt
Diogenes; 19,90 Euro
Springfield von einem Wirbelsturm zerstört
wird und danach vor der Kirche ein zum
11 (12) Ingrid Noll Ladylike
Gottesdienst einladendes Schild verkündet
Diogenes; 19,90 Euro
„Gott begrüßt seine Opfer“?
Und dennoch: Die Kunst der „Simp12 (11) Cecelia Ahern Zwischen Himmel
sons“-Autoren erschöpft sich nicht in solund Liebe W. Krüger; 16,90 Euro
chen Attacken. Es ist ihnen gelungen, aus
den wohl über hundert wiederkehrenden
13 (15) Hera Lind Die Champagner-Diät
Mitspielern runde, psychologisch reiche
Diana; 16,95 Euro
Charaktere zu machen, die man, ohne zu
14 (13) Henning Mankell Kennedys Hirn
zögern, so manchen Figuren der Weltliteratur an die Seite stellen kann. Die wichZsolnay; 24,90 Euro
tigste Entscheidung bestand darin, dass
15 (16) Stephen King Puls
man sich nach den ersten, vor allem dem
Heyne; 19,95 Euro
kleinen Bart und seinem Anarchismus gewidmeten Folgen immer
16 (20) Joanne K. Rowling Harry Potter
stärker auf Homer konzenund der Halbblutprinz
trierte. Zu Anfang ein vulgäCarlsen; 22,50 Euro
rer Primitivling, wuchs er
nach und nach zu einem
17 (–) Simon Beckett Die Chemie des
poetisch-dümmlichen EnthuTodes Wunderlich; 19,90 Euro
siasten, einem in Phantasiegebilden verlorenen großen
18 (17) John Irving Bis ich dich finde
Kind heran, zum vielleicht
Diogenes; 24,90 Euro
komplexesten Faulpelz seit
Gontscharows „Oblomow“.
19 (–) Wolfgang Hohlbein
Bewegender
Immer mehr ausgestaltet
Bericht von
Das Paulus-Evangelium VGS; 19,90 Euro
einer deutschwurde auch das Drama des
indischen Liebe
hochbegabten Kindes, geim Schatten des 20 (–) Vikram Seth Zwei Leben
boren in die falsche Familie,
Dritten Reichs
S. Fischer; 22,90 Euro
Bestseller
146
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Sie alle kennt der „Simpsons“-Seher inzwischen besser, sie beschäftigen ihn mehr
und sind ihm präsenter als so manche
Freunde und Familienmitglieder. Ein Effekt, den man von großen Romanen kennt,
der aber für ein Produkt der Populärkultur
völlig einzigartig ist. Die „Simpsons“, das
ist die Synthese von Disneyscher Buntheit
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom
und Tolstoischer Charakterzeichnung, von
Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und AuswahlVoltaires Schärfe und der massenkompakriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
tiblen Präsenz von Pepsi, Starbucks und
Burger King. Was das deutsche Theater
Sachbücher
seit Jahren so hektisch wie glücklos ver1 (18) Hape Kerkeling Ich bin dann mal
sucht, nämlich literarische Kunst auf die
weg Malik; 19,90 Euro
Höhe modernen Lebensgefühls zu heben,
klassisches Drama so in Szene zu setzen,
2 (1) Frank Schätzing Nachrichten
dass die Welt von Marken, Pop und Techaus einem unbekannten Universum
nologie darin aufgefangen und enthalten
Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro
ist, das haben die „Simpsons“ ganz unauf3 (7) Peter Hahne Schluss mit lustig
fällig und ohne Kunstprätention spielend
Johannis; 9,95 Euro
vollbracht.
Bald wird in den USA die 400. Folge auf
4 (4) Eva-Maria Zurhorst
Sendung gehen, und trotz mancher HöheLiebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro
punkte in der letzten Staffel häufen sich
5 (3) Senta Berger Ich habe ja gewußt,
nicht nur in den Internet-Foren die Klagen,
daß ich fliegen kann
dass es allmählich abwärtsgehe. Auch die
Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro
Nachricht, dass an einem abendfüllenden
Kinofilm gearbeitet wird, lässt Schlimmes
6 (5) Albrecht Müller Machtwahn
ahnen. Die besten Folgen sind schließlich
Droemer; 19,90 Euro
die am wenigsten plotlastigen, und die Notwendigkeit, einen Hand7 (6) Frank Schirrmacher Minimum
lungsbogen über zwei StunBlessing; 16 Euro
den hinweg zu spannen,
8 (–) Matthias Matussek
kann dem Unterfangen nicht
Wir Deutschen S. Fischer; 18,90 Euro
zuträglich sein. Und auch
George Meyer, der am Ge9 (2) Jürgen Roth Der Deutschland-Clan
lingen der Serie mindestens
Eichborn; 19,90 Euro
so viel Anteil haben dürfte
10 (8) Thomas Leif Beraten und verkauft
wie Matt Groening selbst, ist
C. Bertelsmann; 19,95 Euro
nur noch selten unter den
Autoren. Der Höhepunkt
11 (9) Corinne Hofmann Wiedersehen
Witziges und
dürfte überschritten sein.
kluges Plädoyer
in Barsaloi A 1; 19,80 Euro
für einen
Das ist enttäuschend, aber
modernen
12 (16) Eduard Augustin / Philipp von
nicht wirklich traurig. Bald,
Patriotismus
spätestens wohl nach dem
Keisenberg / Christian Zaschke
programmierten Misserfolg
Fußball Unser Süddeutsche Zeitung; 18 Euro
des Films, werden die „Simpsons“ ihre
13 (–) Ben Schott Schotts Sammelsurium
Existenz als mitlaufender Kommentar zu
– Sport, Spiel & Müßiggang
unseren Tagesereignissen beendet haben
Bloomsbury Berlin; 16 Euro
und ihr Dasein als Klassiker beginnen. Vermutlich wird man dann erst, wenn man
14 (13) Werner Bartens Das neue
sämtliche Staffeln auf Silberscheiben ins
Lexikon der Medizin-Irrtümer
Regal stellen kann, all die kleinen Details
Eichborn; 19,90 Euro
erkennen und würdigen können. Man wird
15 (10) John Dickie Cosa Nostra – Die
bei jener Folge, die eine akribisch durchkomponierte Parodie auf „Lola rennt“ ist,
Geschichte der Mafia S. Fischer; 19,90 Euro
die Wiedergabe anhalten und Szene für
16 (15) Lars Brandt Andenken
Szene zurückspringen oder sich eine AufHanser; 15,90 Euro
nahme von Gilbert und Sullivans Oper
„The Pirates of Penzance“ besorgen, um
17 (11) Dietrich Grönemeyer Der kleine
die von Bart und Sideshow Bob gesungeMedicus Rowohlt; 22,90 Euro
ne Kurzversion besser verstehen zu kön18 (–) Roger Willemsen Afghanische
nen. Man wird die schwächeren Folgen
Reise S. Fischer; 16,90 Euro
überspringen, die besseren mehrmals sehen und bei den stärksten das wohl un19 (19) Michael Baigent
wiederholbare Phänomen bestaunen, dass
Die Gottes-Macher Lübbe; 19,90 Euro
unsere Zeit eines ihrer intelligentesten und
20 (12) Shirin Ebadi Mein Iran
vitalsten Kunstwerke in einer von MillioPendo; 19,90 Euro
nen geliebten Fernsehserie hatte.
™
bracht hat und der seither ein Dasein als
rülpsendes Monster fristet, oder den
Atomkraftwerksbesitzer Burns, die wahre
Weiterentwicklung von Dagobert Duck,
dessen Bosheit und Gier eine Vitalität ausstrahlen, der man sich schwer entziehen kann.
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Togoische Fußballfans beim Africa Cup of Nations 2006 in Kairo: „Idee von Freundschaft und Versöhnung“
ULMER / IMAGO
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Egal, wen wir schlagen“
Die internationalen Erfolgsschriftsteller Tim Parks (England), Henning Mankell (Schweden) und
Thomas Brussig (Deutschland) über afrikanische Hoffnungen
auf die Fußball-WM, italienische Korruption und die Magie von Direktübertragungen
SPIEGEL: Mr Parks, Mr Mankell, Herr Brus-
sig, pünktlich zu jedem großen Fußballturnier rüsten auch die Journalisten der
Tagespresse martialisch auf. Ist die WM
ein gigantisches Kriegsspiel?
Brussig: Für 90 Minuten ist Fußball eine
Schlacht. Und verglichen mit der Aufregung und den Leidenschaften, die jedes
Mal losgetreten werden, ist es ein kleines
Wunder, dass Fußball bis jetzt tatsächlich
erst zu einem Krieg geführt hat, nämlich
1969 zwischen El Salvador und Honduras.
Parks: Wenn britische Zeitungen die großen Schlagzeilen veröffentlichen, die diesen bizarren Weltkriegshumor haben, versteht doch wohl jeder, dass sich dahinter ein parodistisches Element versteckt.
Aber natürlich geht es bei einem Fußballspiel immer um Gemeinschaften, die das
Gefühl haben, miteinander kämpfen zu
müssen.
Mankell: In erster Linie ist Fußball doch, so
wie im Leben überhaupt, Kooperation.
Man wird nicht erfolgreich spielen, wenn
die Mannschaft nicht untereinander kooperiert. Wenn ich ein wirklich schlechtes
Spiel sehe, ahne ich, dass diese Gesell148
schaft wahrscheinlich nicht sehr gut funktionieren kann.
SPIEGEL: Herr Mankell, Sie sehen das Spiel
also eher von seiner sozialen Seite?
Mankell: Ja. In Afrika ist die Idee von Fußball viel häufiger die von Freundschaft und
Versöhnung. Ich erinnere an den Bürgerkrieg in Mosambik. Eines Tages stand dann
Versöhnung an, und man dachte darüber
nach, wie man die Kontrahenten einander
wieder näherbringen könnte. Das Erste,
worauf sie kamen, war Fußball. Wenn
Menschen Fußball spielen, gehen sie normalerweise hinterher nicht los, um sich die
Kehle durchzuschneiden.
SPIEGEL: Ist es reizvoll, sich für Fußball zu
interessieren, ohne leidenschaftlich dabei
zu sein, einfach nur als ästhetisches Spiel?
Brussig: Nein, man muss Partei ergreifen,
sonst langweilt man sich. Aber zu einem
Spiel gehört auch, dass es vorbei ist, und
dann gehen die meisten Fanatiker friedlich nach Hause und rufen ihre Mutti oder
so an.
Parks: Für mich besteht ein Spannungsfeld
zwischen Regeln und Gewalt. Die Regeln
des Spiels sind sehr präzise, und ein wund e r
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dervolles Beispiel dafür ist der florentinische Fußball im 15. Jahrhundert: Zwei
Gruppen von Männern kämpfen ohne
Waffen in einem Rechteck um Ehre – unbewaffnet ist hier das Schlüsselwort –, und
sie benutzen einen Ball. Ich finde, Fußball, bei dem es keine Gefühle eines angespannten Verhältnisses, also Aggressionen
gibt, wäre extrem langweilig. Aber ich
kann mir vorstellen, dass jedes Land das
Spiel anders interpretiert.
SPIEGEL: Wir leben in einer Welt, die sehr
international geworden ist. Und fortschrittliche Intellektuelle möchten am liebsten
gar keine Nationalismen mehr. Ist es im
Fußball erlaubt, für 90 Minuten Nationalist
zu sein?
Brussig: Ja, für 90 Minuten. Ich will Deutschland gewinnen sehen. Aber deshalb verweigere ich den Gegnern der deutschen
Mannschaft nicht den Respekt.
SPIEGEL: Gibt es für Sie, weil wir über Nationen sprechen, Schwierigkeiten, sich mit
dem deutschen Team zu identifizieren? Sie
sind ja eigentlich Ostdeutscher.
Brussig: Die Schwierigkeiten habe ich nicht
mehr. Aber es hat eine Weile gedauert.
Kultur
Gekünsteltes. Aber es ist eine Schande für
Deutschland, dass Menschen mit dunkler
Hautfarbe vielerorts nicht sicher sind.
SPIEGEL: Es gehört zum Zauber des Fußballs, dass ein Triumph die Hoffnungen der
Menschen steigern kann. Wie wichtig ist
der Gewinn einer Weltmeisterschaft für
die Psyche einer Nation?
Parks: Man muss sagen, dass Fußball ganz
eindeutig ein Vehikel zur Schaffung von
Gemeinsamkeit in der modernen Welt ist.
Der gemeine Fußballfan wird da für ein
Wochenende zum Fundamentalisten –
aber eben auch nicht länger. Unter der Woche geht er ins Büro oder in die Schule.
Und bei der Weltmeisterschaft wird dieser
lustige Rausch über einen längeren Zeitraum gestreckt, aber danach ist dann eben
auch Schluss.
SPIEGEL: Günter Grass hat kürzlich gesagt,
dass Fußball letztendlich kein Volkssport
mehr sei.
Parks: Das sehe ich genauso. Das Problem
fängt doch damit an, dass sich das gemeine Volk im Stadion nicht so aufführt, wie
es die Verbände möchten. Englische Stadien sind längst so teuer geworden, dass
Brussig: Das erweitert ja auch unseren
HOLGER JACOBY
JÖRGEN HILDEBRANDT / PANOS PICTURES
Begriff vom Deutschen oder Schweden.
Wenn ein Spieler wie Asamoah in der
deutschen Nationalmannschaft spielt oder
ein Spieler wie Ibrahimoviƒ in der schwedischen, dann müsste doch jedem Nationalisten klar werden, dass die Deutschen
heute nicht mehr die sind, die sie vor 50
Jahren waren. Dass ein Deutscher heute
nicht unbedingt eine weiße Hautfarbe
hat und ein Schwede nicht unbedingt Johansson, Svensson oder Pettersson heißen
muss, das lehrt uns der Fußball.
SPIEGEL: Ganz so harmlos, wie Sie, Mr
Parks, die Fußballfanatiker in Ihrem Buch
„Eine Saison mit Verona“ schildern, sind
sie wohl doch nicht. Für Wirbel sorgte der
Spieler Paolo di Canio von Lazio Rom mit
einem „Römischen Gruß“ auf dem Rasen.
Wo hört für Sie der Spaß auf?
Parks: Geschockt hat mich das, ehrlich gesagt, nicht. Das ist eben ein Element von
großem Theater und aggressiven Gesten.
Sicher schlimm, aber man darf es auch
nicht überbewerten. Allerdings, kein Zweifel, in Italien ist ein Migrant eindeutig in einer unterlegenen Position, und das auf eine
BERND SCHULLER
Genauer gesagt: bis zu diesem Viertelfinale 1998, in dem Deutschland ausgeschieden ist. Als es da gegen Kroatien ging,
dachte ich, dass eine Niederlage mir doch
die Laune verderben würde. Man will
sich von den Kroaten ja nicht jahrzehntelang eine Niederlage unter die Nase reiben
lassen (lacht). Zum Glück ist es heute
nichts Besonderes mehr, wenn Deutschland verliert.
SPIEGEL: Mr. Parks, Sie sind in England geboren und leben seit Jahren in Italien. Haben Sie da ein Identitätsproblem, für welche Mannschaft Ihr Herz bei einem Turnier schlägt?
Parks: Ich bin sicherlich eher ein Experte
für italienischen Fußball, aber Sie können
davon ausgehen, dass ich eher zu England
halte. Je länger man im Ausland lebt, desto
mehr liebt man die Heimatmannschaft.
Aber natürlich schlägt mein Herz auch für
das italienische Team – wobei es sicher
anstrengend wäre, wenn die Italiener Weltmeister würden. Fußball ist voller gefährlicher Emotionen. Fußball wurde im späten
19. Jahrhundert ein Massenvergnügen, es
schafft Gemeinsamkeiten.
Thomas Brussig
Henning Mankell
Tim Parks
wurde 1965 in Ost-Berlin geboren, wuchs
am Prenzlauer Berg auf und reagierte auf
die Erfahrung der Wende mit seinem international erfolgreichen Roman „Helden
wie wir“ (1995), der verfilmt und für die
Bühne bearbeitet wurde. Er schrieb auch
Theaterstücke, darunter den „Monolog eines Fußballtrainers“ (2000). Zuletzt erschien Brussigs Roman „Wie es leuchtet“
(2004).
ist derzeit der meistgelesene Erzähler aus
Skandinavien. Der 1948 in Stockholm geborene Krimi-Autor stellte den grüblerischmürrischen Kommissar Kurt Wallander ins
Zentrum von acht Romanen, die sich weltweit millionenfach verkauften. Auch Jugendbücher und Afrika-Romane hat der häufig
in Mosambik arbeitende Autor veröffentlicht, zuletzt erschien auf Deutsch der
Roman „Kennedys Hirn“.
kam 1954 in Manchester zur Welt, wuchs
in England auf und lebt seit 1981 mit Familie in Verona. Der fußballbegeisterte Brite ist mit Romanen wie „Gute Menschen“
und „Doppelleben“ bekannt geworden, hat
aber auch Autobiografisches und Essays
veröffentlicht („Mein Leben im Veneto“,
„Ehebruch und andere Zerstreuungen“).
Sein neuer Roman „Cleaver“ soll im August auf Deutsch erscheinen („Stille“).
SPIEGEL: Herr Mankell, als Schwede, der
zeitweise in Afrika lebt, interessieren Sie
sich für das Team Ihrer skandinavischen
Heimat?
Mankell: Eher weniger. Ich bin zwar an den
Spielen interessiert, aber eben wohl doch
ein sehr schlechter Fan. Aber die utopischen Gehalte der Spiele faszinieren mich.
Man kann nicht von der Hand weisen,
was der Fußball für viele junge Migrantenkinder wie etwa Zinedine Zidane und
viele andere bedeutet. Fußball bietet eine
Dimension, wo Menschen zeigen, dass sie
sehr gut miteinander arbeiten können,
ganz egal, ob man schwarz, braun oder
weiß ist.
Art und Weise, wie es meines Wissens im
Vereinigten Königreich nicht möglich wäre.
SPIEGEL: Deutsche Politiker haben sich mit
dem Gedanken befasst, ob man Broschüren an die WM-Besucher verteilen sollte,
um vor potentiell gefährlichen Orten im
Osten des Landes zu warnen. Halten Sie
das für angemessen?
Mankell: Ich halte es für eine ausgesprochen widerliche Idee, so etwas zu tun. Dadurch werden weitere Probleme dieser Art
doch geradezu provoziert. Wir haben in
Schweden auch solche Probleme, aber auf
so eine Idee käme dort keiner.
Brussig: Im Zusammenhang mit der Fußball-WM hat die Warnung natürlich etwas
die Kids da nicht mehr hingehen können.
Man muss zwischen knapp 400 und mehr
als 1600 Euro für eine Saisonkarte in Chelsea zahlen. Das Ergebnis ist, dass die Stadien sauber bleiben. Aber das führt nun zu
einer Menge von Bandenkämpfen unter
Kindern aus der Arbeiterklasse und Problemen mit ethnischen Gruppen in Nordlondon. So verprügeln sich in England die
bösen Jungs nun gegenseitig außerhalb der
Stadien, und die Veranstalter haben diese
Art von langweiligen Spielen, die das Fernsehen zu einem risikofreien Vergnügen
machen sollen.
SPIEGEL: Also, die Fußballverbände wollen Ihrer Meinung nach zwar Fans in
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149
FRANK AUGSTEIN / AP (L.); BUZZI / IMAGO (R.)
Kultur
Fußballbegeisterte in Leverkusen, italienischer Spieler di Canio (2005): „Element von großem Theater und aggressiven Gesten“
150
tuation im heutigen Angola vergleichen
kann. Aber in beiden Ländern hat allein
die Tatsache, dass sie sich qualifiziert haben, das Selbstbewusstsein enorm gefördert. Und die Tatsache, dass Deutschland
1954 Weltmeister wurde, hatte doch einen
gewaltigen Einfluss auf die Zufriedenheit
der ganzen Nation.
SPIEGEL: Also sollte nicht die beste Mannschaft gewinnen, sondern die bedürftigste?
Brussig: Es gehört zu den Eigenarten vom
Fußball, dass eben nicht immer der Bessere gewinnt. Und nur darin liegt die Chance
der deutschen Mannschaft.
Parks: Es sollte sowieso nicht die beste
Mannschaft gewinnen, sondern die englische.
SPIEGEL: Für die richtigen Skandale sorgen
seit geraumer Zeit immer wieder die Italiener. Juventus Turin hat offenbar Schiedsrichteransetzungen manipuliert. In der
„Saison mit Verona“ beschreiben Sie die
Mauscheleien und Praktiken in der italienischen Serie A sehr offen.
Parks: Und viele Menschen haben mir dazu
gesagt, ich sei komplett paranoid, aber wie
sich jetzt herausstellte, ist alles noch viel
schlimmer. Beispiele von Schiedsrichtermanipulationen gibt es doch immer wieder
auf der ganzen Welt.
SPIEGEL: Aber fühlen sich die Engländer
nicht immer betrogen, wenn sie ein wichtiges Spiel verloren haben?
DER SPIEGEL
den Stadien, aber eben nicht die ungehobelten?
Parks: Exakt; schauen Sie sich nur die
Ticket-Vergabe für diese Weltmeisterschaft
an, die geradezu klassisch dafür ist, was
sich im Fußball abspielt. Wenn die Fifa
richtige Fußballfans in den Stadien haben
wollte, müsste sie ehrlich genug sein und
zu allen großen deutschen Fußballvereinen gehen und sagen: „Ihre Saison-Dauerkarte verschafft Ihnen Vorrechte.“ Das
wäre das Beste, was dem Fußball passieren
könnte. Deutsche Fans zuerst.
SPIEGEL: Es war mal bei früheren Weltmeisterschaften unter deutschen Intellektuellen, die normalerweise nichts mit Fußball
zu tun hatten, in Mode, aus politisch korrekten Gründen für Kamerun oder Jamaika zu sein, um die Dritte Welt zu beflügeln.
Ist so was nicht langweilig, Herr Mankell?
Mankell: Es wäre phantastisch für den Fußball in der Welt, wenn eine UnderdogMannschaft vom afrikanischen Kontinent
wie Angola wirklich beweisen könnte, was
sie draufhat.
Brussig: Ich war zu Beginn dieses Jahres
während des Afrika-Cups in Ägypten und
glaube nicht, dass irgendeine der afrikanischen Mannschaften die Vorrunde übersteht, schon weil die Torhüter einfach zu
schlecht waren. Gut war nur der ägyptische, und dessen Mannschaft hat sich für
die WM nicht qualifiziert.
Mankell: Ich hoffe dennoch auf ein afrikanisches Team. Bei Weltmeisterschaften haben wir immer wieder Mannschaften erlebt, die uns alle überrascht haben.
SPIEGEL: Sollte eine afrikanische Nationalmannschaft gewinnen, wäre das doch lediglich eine Stärkung für den einen oder
anderen herrschenden Autokraten.
Mankell: Fußball ist in jeder Beziehung
ein politisches Spiel. Während ich auf dem
Weg hierher im Flugzeug saß, habe ich an
1954 gedacht, als Deutschland gewann. Ich
glaube, dass man die damaligen Bedingungen in Deutschland nicht mit der Si-
Parks (2. v. l.), Mankell (M.), Brussig (r.)*
„Es sollten nicht die Besten gewinnen“
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Parks: Nicht immer, aber es ist sicherlich
schon vorgekommen. Tore der Engländer
in Verlängerungen werden doch nie anerkannt …
SPIEGEL: … Sie unterschlagen das Wembley-Tor von 1966.
Parks: Unser Problem mag ja auch sein,
dass die englischen Fans oft am Tag vorher
die Niederlage durch ihre Pöbeleien vorwegnehmen. Da wollen dann alle, dass
England verliert. Und genauso könnte es
bei dieser WM laufen: Wenn die englischen
Fans eine deutsche Stadt zerstören, wird
England ganz bestimmt das nächste Spiel
verlieren. Das versichere ich Ihnen.
SPIEGEL: Sie suchen offensichtlich bereits
nach einem Grund für die Niederlage der
englischen Mannschaft?
Parks: So können Sie es sehen. Ich glaube
nicht, dass man da so weit vorausschauen
muss. Aber meiner Meinung nach ist die
Fifa sowieso keine saubere Organisation.
Ich habe zum Beispiel nicht das geringste
Vertrauen in die ersten Runden dieses
Wettbewerbs.
SPIEGEL: Was halten Sie von der deutschen
Mannschaft?
Parks: Ich habe sie schon öfter gesehen –
schrecklich. Aber ich bin sicher, dass sie bei
der Weltmeisterschaft besser sein wird als
jetzt.
SPIEGEL: Popkultur und Fußball sind längst
miteinander verschmolzen. Es gibt TVSerien um Fußballerfrauen, und die Beckhams spielen sowieso längst in ihrer eigenen Glamour-Liga, im Londoner Wachsfigurenkabinett posierten sie vorletztes
Weihnachten als Maria und Josef. Nutzt
solcher Wirbel dem Sport, oder schadet er?
Parks: Auf hohem Niveau Fußball zu spielen ist auf Dauer schon sehr anstrengend.
Und wenn man dann noch sehr berühmt
wird, ist es für viele kaum noch zu ertra* Mit den SPIEGEL-Redakteuren Christoph Dallach (l.)
und Matthias Matussek (2. v. r.) im SPIEGEL-Haus in
Hamburg.
gen. Die Beckhams sind doch großartig.
Ihre Berühmtheit hat sich längst von der
Realität abgekoppelt. Viele ihrer Gesten
sind zutiefst ironisch. Sogar David Beckham selbst versteht die Unwirklichkeit dieser Welt.
SPIEGEL: Haben Sie als Junge jemals davon
geträumt, Fußballstar zu werden?
Parks: Ich glaube, ich habe immer gewusst,
dass daraus nichts werden würde. Eine
Menge davon hat mit der Familie und Familienvorbildern zu tun. Mein Vater war
ein Mann der Kirche, und sein einziges Interesse am Fußball war Blackpool, als wir
dort lebten. Er verfolgte die Fußballergebnisse aus einem einzigen Grund: Er wusste,
wenn Blackpool verlor, gäbe es Gewalt und
Trunkenheit in der Gemeinde. Und viele
Frauen würden am Abend mit ihren Kindern im Gemeindehaus bleiben und nicht
nach Hause gehen. Mein Vater war also
tatsächlich besorgt, wenn Blackpool ein
Heimspiel verlor. Aber er hat in seinem
ganzen Leben nie einen Ball getreten.
SPIEGEL: Wo liegt der Unterschied zwischen
einem dramatisch guten Fußballspiel und
einem Roman?
Mankell: Der Unterschied besteht darin,
dass man eine Geschichte nicht 1:0 gewinnen kann. Das Einzige, was der Fußball mir
geben kann, ist das Gefühl, ob es ein gutes
oder ein schlechtes Spiel war. In der Literatur gibt es da einige Möglichkeiten mehr.
Brussig: Die Dramatik des Fußballs ist unverwechselbar und auch außerhalb des Fußballs nicht herzustellen. Nicht im Theater,
nicht im Film und auch nicht im Roman. Ein
Fußballspiel entsteht, indem es stattfindet. Es ist offen, der Ausgang nicht gelenkt.
Wenn man ein Buch zu lesen beginnt, dann
weiß man, die Handlung hat keine Freiheit
mehr, sich so oder so zu entwickeln.
SPIEGEL: Der italienische Schiedsrichterskandal belegt das Gegenteil.
Brussig: Deshalb ist die Aufregung auch so
berechtigt. Der Schiedsrichterskandal tastet das an, was wir am Fußball lieben. Aber
man könnte mal folgendes Experiment
machen: Die ARD zeigt das legendäre 4:3Halbfinale der WM 1970, Italien gegen
Deutschland, eines der schönsten und dramatischsten Spiele, die es im Fußball je
gegeben hat. Und im ZDF zeigt man zeitgleich ein relativ bedeutungsloses DFBPokal-Achtelfinale, aber live. Ich wette, die
Mehrheit wird das Pokalspiel sehen.
SPIEGEL: Was wäre Ihr ideales Finale?
Brussig: Deutschland im Finale zu sehen
wäre schon schön. Egal, wen wir schlagen.
Mankell: Ich drücke Angola die Daumen,
aber ich bin nicht sentimental, sie werden
nicht gewinnen.
Parks: England trifft auf Deutschland. Es
wird eine Verlängerung geben, und wir gewinnen 4:3. Aber das ist ein Traumfinale.
Letztendlich ist es wahrscheinlich, dass die
Brasilianer am Ende wieder abräumen.
SPIEGEL: Mr Parks, Mr Mankell, Herr Brussig, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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151
Kultur
„Ich will nicht gehn“
Nahaufnahme: Der türkische Sänger Muhabbet ist bei seinen
Landsleuten in Deutschland ein Superstar.
152
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len Erfolg entfernt. Im Tourbus sitzt Ünal
Yüksel, er ist 37 und Musikproduzent. Vor
einem Jahr nahm er mit seinem Partner
Jochen Kühling den Sänger Muhabbet unter Vertrag. Yüksel hält eine CD hoch, Muhabbets erstes und einziges Album, darauf
die Hits aus dem Internet, neu eingespielt,
auch mit traditionellen Instrumenten, Saz,
Kanun, Daburka. Dann legt Yüksel die CD
weg und zeigt auf einen Laptop, „das ist
das Problem“.
Die jungen Türken gehen nicht in Plattenläden, sie leben, mehr noch als die jungen Deutschen, an ihren Computern; nur
im Netz konnte einer wie
Muhabbet, der Einwanderersohn aus Köln-Bocklemünd, mit seiner neuartigen
Musik so schnell berühmt
werden.
„Wir müssen diese Welt
erweitern“, sagt Yüksel, und
man weiß nicht genau,
meint er jetzt die Parallelwelt des Internet oder die
Parallelwelt der Einwanderer, wahrscheinlich beides,
das hängt ja zusammen.
Deswegen hat er Muhabbet dieses Album aufnehmen lassen, und deswegen
schickt er ihn jetzt auf eine
große Tour durch die Musikclubs des Landes.
Es ist der Versuch, den Fans klarzumachen, dass der „Türk Günü“ auf Dauer
zu wenig ist für einen Sänger, der alle
Fähigkeiten hat, ein Star in Deutschland
zu werden.
Abends, beim Tourauftakt in Berlin, ist
der Columbiaclub dann leider ziemlich
leer. Vielleicht haben die Plakate an den
falschen Stellen gehangen. Oder 20 Euro
Eintritt sind zu viel. Möglicherweise dürfen
die jungen Mädchen so spät nicht aus dem
Haus. Egal, ein paar türkische Familien
sind da, Jungs mit ihren Freundinnen, sogar Groupies, das ist doch nicht schlecht,
und es wird ein schönes Konzert, unter anderem mit einer hinreißenden ArabeskVersion von „Alle meine Entchen“.
Seine Truppe glaubt an ihn. Alle zusammen sind sie Kämpfer, Aufsteiger, sie wollen es schaffen. Die Manager haben neue
R’nBesk-Sänger unter Vertrag genommen.
Und Murat Ersen, Künstlername Muhabbet, wird jetzt erst mal die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen.
Malte Henk
PA / INTER-TOPICS (O.); BERND FRIEDEL / IMAGO (U.)
E
in Bus fährt durch Berlin, die Schei- sen und die Geschäftsleute im Anzug, sie
ben dunkel getönt, er kommt aus alle wollen etwas von Muhabbet, Fotos,
Neukölln und fährt nach Mitte, ins Autogramme, Interviews, dann schieben
Zentrum. Der Bus hält am Brandenburger sie ihn auf die Bühne, ihn, der ihrer Jugend
Tor, und heraus hüpft dieser Junge in Jeans ein Vorbild ist.
Da steht er nun und singt, seine Stimme
und Turnschuhen, 21 Jahre alt, glattes, kantiges Gesicht, Erfinder eines west-östlichen klettert über zwei, drei Oktaven, und MuMusikstils und der unbekannteste Super- habbet schlägt sich die Hand aufs Herz. Er
hat sie alle drauf, die Posen des Arabesk;
star Deutschlands.
Er nennt sich Muhabbet, er ist aufge- so heißt diese Musik, die vor vierzig Jahren
wachsen in Köln-Bocklemünd, der Vater entstand und die türkische Landflucht rekommt aus der Nähe von Ankara. Mit 17 flektierte, den Umzug der Bauern in die
zog Muhabbet zu Hause aus, nahm einen großen Städte und die Sehnsucht danach,
Kredit auf, stellte sich ein Tonstudio in dort eine Heimat zu finden. „R’nBesk“
die Wohnung und produzierte Songs, einen nach
dem anderen. Er sang wie
die großen türkischen Sänger, wie Orhan Gencebay
und Müslüm Gürses, traurige Liebeslieder mit klagender Stimme; nur dass
Muhabbet seine Lieder mit
Beats unterlegte, R’n’B und
HipHop, und dass er auf
Deutsch sang. Seine Songs
stellte er ins Internet, wo sie
millionenfach heruntergeladen wurden, fast alle Türken in Deutschland kennen
Muhabbet.
Sie verehren ihn, besonders die Teenager der dritten Musiker Muhabbet beim „Türk Günü“: Vorbild der Jugend
Generation. Weil er in den
türkischen TV-Shows, die sie per Satellit nennt Muhabbet seine deutsche Version.
empfangen, seine deutschen Lieder singt Er singt, auf der Bühne am Brandenburger
und als erfolgreicher „Almanci“ gefeiert Tor, seinen Hit „Ich will nicht gehn“, der
wird. Und weil er so smart ist und so höf- von der Liebe handelt, auch von der Lielich und in die Schulen kommt und ihnen be des Einwandererkindes zu Deutschland:
sagt, dass sie ihre Hausaufgaben machen „Ich strebe, lebe nur nach dir / Ich gehör
und ordentlich Deutsch lernen sollen. Sei- zu dir / Bleib bei mir, steh zu mir und sage
ne Fans schreiben ihm jeden Tag 300 mir: Ich fehle dir“.
Im Video dazu wird vor der deutschen
Beiträge im Internet-Forum. Hallo muhabbet ich bin azize und ich bin ein Flagge getanzt, „Die Tür steht auf / Ich
grozre fan von dir. Ich bin eine Türken kann hinaus / Doch ich bleib hier stehn /
ich habe dich im Türkische kanal geshn Verdammt, ich will nicht gehn“, es ist ein
und in Deutsche. ICH LLLIIEBE DICH. Bekenntnis zum Angekommensein, und
Sie hätte es sich auch leicht machen und die Tausenden Teenager am Brandenburger Tor singen das alles mit, auf Deutsch,
auf Türkisch schreiben können!
Muhabbet ist alles, was nicht Rütli ist, dann schwenken sie ihre türkischen Fahund nirgendwo lässt sich das besser beob- nen und jubeln dazu. Und man sieht, wie
achten als beim „Türk Günü“, dem türki- sehr diese Jugend nach einem Vorbild giert
schen Kulturfest am Brandenburger Tor. für ihre letztlich bürgerlichen Träume von
Es ist der Samstag vergangener Woche, Aufstieg, Erfolg und Sicherheit, nach jeMuhabbet und sein Bodyguard springen mandem, der die Werte ihrer Eltern vereint
hinter der Bühne aus dem Bus, mitten hin- mit denen des Landes, in dem sie leben.
Das Absurde ist, trotz solcher Auftritte
ein in den Wahnsinn, die türkischen Kamerateams, die übermotivierten Hostes- ist Muhabbet noch weit vom kommerziel-
Wissenschaft · Technik
Prisma
OKAPIA
Ostsee-Ringelrobbe
KLIMA
Erwärmung bedroht Ostsee-Robben
F
ür die Ostsee-Ringelrobbe könnte der Klimawandel den
Garaus bedeuten, warnte ein internationales Forscherteam
auf der Klimakonferenz des Baltic Sea Experiment (Baltex) in
Göteborg. Denn die Erwärmung lässt das Eis auf der Ostsee
immer früher im Jahr schmelzen. Da aber Ostsee-Ringelrobben,
anders als andere Robben, ihre Jungen ausschließlich auf dem
Eis aufziehen, sind sie darauf angewiesen, dass die Eisbedeckung im Winter mindestens zwei Monate anhält. Ein Forscherteam um Markus Meier vom Rossby Centre am Swedish
Meteorological and Hydrological Institute in Norrköping hat
deshalb anhand verschiedener Klimamodelle berechnet, wie
die mittlere Eisbedeckung der Ostsee in den Jahren 2071 bis 2100
aussehen wird. Ergebnis: Große Teile des Bottnischen Meerbusens werden häufig nur noch drei bis sechs Wochen lang von Eis
bedeckt sein – zu kurz für die Robbenaufzucht. „Was das für die
Ringelrobben bedeutet, ist schwer abzuschätzen“, sagt Meier,
zumal Umweltverschmutzung und Jagd die Bestände ohnehin
stark dezimiert haben: Lebten Anfang des 20. Jahrhunderts
über 180 000 Ringelrobben in der Ostsee, waren es bei der letzten Schätzung vor zehn Jahren gerade noch 5500 Tiere.
R AU M FA H R T
BIOLOGIE
Ost-Kost für den Weltraum
Zellkulturen in 3D
W
U
SCHULZ / IMAGO
issenschaftler um Byun Myung Woo
vom südkoreanischen Atomforschungsinstitut in Daejeon haben Astronautennahrung auf der Basis des Nationalgerichts Kimchi entwickelt. Die traditionelle
Beilage, die bei kaum einem koreanischen
Essen fehlt, besteht meist aus eingelegtem
Chinakohl mit verschiedenen Gewürzen.
Byun und seine Kollegen benutzten Gammastrahlung, um das „Space-Kimchi“ zu
sterilisieren. Gefriergetrocknet und vakuumverpackt könnte es künftig den Speiseplan im All um eine fernöstliche Note bereichern. „Bislang gibt es ausschließlich westliche Gerichte als Astronautenkost“, erklärt
Byun, „Kimchi ist außerdem gut für die
Verdauung, weil es sehr faserreich ist.“
Wenn im Jahr 2008 der erste koreanische
Astronaut zur internationalen Raumstation
ISS aufbricht, soll er Kimchi-Beutel als Mitbringsel im Gepäck haben. Zuvor muss der
Astronauten-Snack aber noch als offizielle
Weltraumnahrung anerkannt werden.
Nationalgericht Kimchi im Lokal (in Seoul)
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m Zellen im Labor unter lebensnahen Bedingungen untersuchen
zu können, haben Wissenschaftler vom
MIT bei Boston eine Methode zur Herstellung dreidimensionaler Zellkulturen
entwickelt. Im Nährmedium einer flachen Petrischale gedeihen die meisten
Zellen zwar prächtig, reagieren jedoch
nicht immer so wie in komplexeren
Anordnungen. Den Forschern um Sangeeta Bhatia ist es nun gelungen, Zellen
in einer Gelmatrix ähnlich anzuordnen
wie in lebendem Gewebe. Bislang standen der Wissenschaft nur 3-D-Kulturen
zur Verfügung, in denen die Zellen
spontan zusammenklumpten. Mit Hilfe
eines elektrischen Feldes können die
MIT-Forscher die Zellen nun auch in
genau definierte Anordnungen lotsen
und dann fixieren. Mit den neuartigen Kulturen sollen jetzt Tumor- oder
Stammzellen unter realistischen Bedingungen erforscht werden. Auch für
die Nachzucht von Gewebe könnte
sich die Methode eines Tages eignen.
155
Prisma
ROBOTER
PSYCHOLOGIE
Erotik ist Männersache
E
ine halbnackte Frau, die sich verführerisch im Sand rekelt, ein Paar in eindeutiger Pose – bei solchen Bildern beginnen männliche Betrachter zu schwitzen.
Sie blinzeln seltener, und ihr Blutdruck schnellt in die Höhe. Frauen hingegen
bleiben offenbar ungerührt: Zwar bewerten sie erotische Aufnahmen des anderen
Geschlechts ebenfalls als erregend, doch ihre körperlichen Reaktionen sind deutlich weniger ausgeprägt. Auf einen ähnlichen Geschlechterunterschied stießen
Schweizer Forscher um Patrick Gomez vom Institut de Santé au Travail in Lausanne
auch, als sie ihre Probanden mit erotischen Bildern des jeweils gleichen Geschlechts
konfrontierten: Die Männer bewerteten Fotos von nackten Männern zwar als nicht
erregend, ihr Blutdruck aber stieg dennoch sprunghaft an. Frauen indes beurteilten erotische Bilder von Geschlechtsgenossinnen zwar als relativ erregend, zeigten
aber wiederum kaum körperliche Reaktionen. „Männer reagieren offenbar stärker
und undifferenzierter auf jegliche Art erotischer Stimuli“, konstatiert Gomez.
kann Menschen oder Lasten auch in unebenem Gelände transportieren. „Rollstühle sind nützlich, aber sie können
keine Stufen überwinden“, erläutert
Roboter-Spezialist Atsuo Takanishi,
„daher beschränken
sie die Mobilität ihrer
Nutzer.“ Für „Waseda Leg 16RIII“ (WL16RIII) dagegen sind
weder Treppen noch
holprige Pisten ein
Problem. Die Laufmaschine ist die erste
kommerzielle Entwicklung aus Takanishis Labor. Bisher
schuf er eher zweckfreies Gerät wie
Roboter-Ratten oder
Humanoide, die
Querflöte spielen
oder den menschlichen Stimmapparat
imitieren können.
Laufroboter
WL-16RIII dagegen
soll es in drei bis fünf Jahren zur Marktreife bringen. Gemeinsam mit dem
japanischen Unternehmen Tmsuk, das
bereits einen Wach-Roboter im Angebot hat, will Takanishi die Technik nun
perfektionieren.
ATSUO TAKANISHI
ONDREA BARBE / CORBIS
Rollstuhl ohne Rollen
er zweibeinige Laufroboter, den
Wissenschaftler der Waseda-UniD
versität in Tokio konstruiert haben,
RECYCLING
Treibstoff vom Autofriedhof
S
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WALTRAUD GRUBITZSCH / DPA
tatt auf der Müllhalde könnten sich Überbleibsel
von Schrottautos künftig im Öltank wiederfinden: Unterstützt von der Autoindustrie, will die
US-Firma Changing World Technologies (CWT)
demnächst Autositze, Gummi- und Schaumstoffteile in Öl und andere Rohstoffe verwandeln. Zwar
werden auch heute schon große Teile ausrangierter
Autos recycelt, rund ein Viertel der Materialien
aber landet bislang auf Mülldeponien. Die CWTGründer haben ein Verfahren ersonnen, bei dem
Abfälle unter hohem Druck zu den kurzen Kohlenwasserstoffketten von Erdöl und Erdgas zerfallen.
Derzeit landen vor allem Schlachtabfälle in der
Recycling-Fabrik in Missouri. Laut einer Studie, die
CWT gemeinsam mit DaimlerChrysler, Ford und
General Motors im April in Detroit vorstellte, eignen
sich Autoreste ebenso für den „thermal conversion“-Prozess. Die Forscher haben auch den europäischen Markt im Visier: Ab dem Jahr 2015
müssen in der EU 95 Prozent eines Autos wiederverwertet werden.
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Titel
Wegweiser ins Paradies
Archäologen haben in der Osttürkei Spuren einer 11 000 Jahre alten „goldenen
Epoche“ der Steinzeit entdeckt. Gazellenjäger schufen dort mächtige
Schlangentempel und lebten wie im Garten Eden. Der Verdacht: Adam gab es
wirklich, im Gleichnis vom Sündenfall steckt ein wahrer Kern.
Schafhirte am Berg Ararat: Verbirgt sich hinter der Geschichte aus der Genesis eine historische Botschaft?
U
nd Gott der Herr pflanzte einen
Garten in Eden, gegen Osten hin
und setzte den Menschen hinein.“
So harmlos beginnt die Geschichte. Lauschig sitzen Adam und Eva in einem Park,
umgeben von Bäumen, „verlockend anzusehen“. Es ist der Anbeginn aller Tage.
„Garten der Freude“ hat das Mittelalter
die Heimstatt der ersten Menschen genannt. Bei Dürer und Rubens turnen sie
nackt und proper durch blumiges Gelände
„und schämten sich nicht“.
Ungeheure Wirkung erzielte die Schöpfungsgeschichte, es ist ein Kerntext der
Christenheit. Die Kelten hatten Avalon,
den Apfelgarten, die Griechen die Inseln
der Seligen. Aber nur in Eden sind Sexualität und Geist so schuldhaft verstrickt.
158
Denn die Sache geht schlimm aus: Verführt durch die Schlange, greift die „Männin“ (Luther) zur verbotenen Frucht vom
Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.
Das Obst macht die Esser „klug“ und neugierig („und beiden wurden die Augen aufgetan“) – aber auch lüstern.
Als Gott die Fehltat bemerkt, wirft er
die beiden Sünder hinaus. So ungeheuerlich ist ihr Verbrechen, dass es sich wie
eine ansteckende Krankheit auf alle Nachkommen überträgt. Der Mensch ist für immer unrein geworden – so jedenfalls sah es
der Apostel Paulus, der um 50 nach Christus die Theorie der Erbsünde entwarf.
Nur 50 Zeilen umfasst der gleichnishafte Bericht über das Paradies. Trotz
abnehmender Bibelfestigkeit kennt ihn
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immer noch jedes Kind. Doch was bedeutet er?
Philosophen haben ihn als Mythos vom
Erwachen des menschlichen Bewusstseins
gedeutet. Sigmund Freud sah darin eine
„Massenphantasie von der Kindheit des
Einzelnen“. Der Tabubruch symbolisiere jenen Entwicklungspunkt des Vierjährigen, an dem „die Scham und die Angst
erwachen“.
Oder ist alles ganz anders? Verbirgt sich
hinter der Geschichte aus der Genesis eine
historische Botschaft? Enthält sie einen
steinzeitlichen Faktenkern?
Eine erstaunliche Debatte ist da im
Gange. Geologen und Klimaexperten, die
sich vom Offenbarungscharakter der „Urkunde Gottes“ nicht schrecken lassen,
REZA / WEBISTAN / CORBIS (GR.); BPK (KL.)
glauben: Das Paradies hat Koordinaten, es
war ein realer Ort, und das Alte Testament
enthält den Wegweiser dorthin.
Vor allem die Erforscher der Jungsteinzeit (12 000 bis 4000 vor Christus) hegen
den Verdacht, dass die Erzählung aus dem
Ersten Buch Mose („Genesis“) eine reale
Basis hat.
Der Grund: Leitmotivisch zieht sich
das Thema Feldbau durch die biblische
Urgeschichte. Aus „Erde vom Acker“
formt Gott den ersten Menschen. Nach der
Vertreibung aus Eden muss Adam im
Schweiße seines Angesichts „das Kraut auf
dem Felde“ essen. Sein Sohn Kain wird
Bauer, Abel ist der erste Viehzüchter.
Deren tödlicher Streit spiegelt Probleme
einer neuen Daseinsform, die vor über
Darstellung des Sündenfalls*
Nackt und proper durchs Gelände
10 000 Jahren wirklich den Orient erschütterten: Der Mensch wurde damals sesshaft,
er hatte Besitz und Eigentum erfunden.
Die Folge: Krieg. Schon die erste Hochkultur der Sumerer war geprägt von blutigen Territorialkämpfen und Sklaverei.
Dass die Heilige Schrift wahre Einsprengsel enthält, ist zudem lange bekannt.
* Altarbild von Michiel Coxcie, 16. Jahrhundert.
** David Rohl: „Legend. The Genesis of Civilisation“.
Random House, London; 456 Seiten; 20 Pfund.
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Der Ararat, an dem die Arche Noah strandet, ist ein Berg in der Türkei. Die Mauern
von Jericho gab es ebenso wie den Turm
zu Babel.
Doch gab es auch das Paradies? Auf den
Seychellen wurde es schon vermutet und
im Industal. Elmar Buchner, Geologe an
der Universität Stuttgart, brachte die Legende jüngst mit dem Klimaumschwung
am Ende der letzten Eiszeit zusammen.
Eden sei infolge des vielen Schmelzwassers im Persischen Golf versunken.
Weit spannender ist der Vorschlag, den
der Brite David Rohl vorgelegt hat. In seinem Bestseller „Legend“ (eine deutsche
Ausgabe liegt nicht vor) verortet er Adams
Wonneland in Nordiran in der Nähe
des Urmiasees**. Sumerische Keilschrift159
Wo lebten Adam und Eva?
Das biblische Paradies, gedeutet im geschichtlichen Umfeld
1
WURZELN DES ACKERBAUS
Die Sesshaftwerdung begann neuesten Erkenntnissen
zufolge bereits etwa um 10 000 v. Chr.:
Nacheiszeitliche Jäger, die an den Euphrat-Furten erfolgreich ganze Tierherden erlegten, errichteten feste
Vorratsbauten. Zugleich begannen sie mit dem Sammeln von Wildgetreide, was den paradiesischen
Nahrungsüberfluss in der Region noch steigerte. Als
sich das Biotop erschöpfte, wurde die stark angewachsene Bevölkerung im Vorderen Orient zur Ausweitung
der Versorgungswirtschaft gezwungen. Es entstan-
Schwarzes Meer
Vulkan
Karacadag
den die ersten reinen Bauerndörfer, Ackerbau
und Viehzucht. Kerngebiet dieser Entwicklung war
Çayönü
KERNGEBIET
DES ACKERBAUS
das Vorland des Taurus- und des Zagrosgebirges.
Tig ris
Nevali Çori
Ta
ge
urus
birg
e
Urfa
Göbekli Tepe
Harran
Abu Hureira
Eu ph rat
Mittelmeer
Byblos
Kerngebiet der
Sesshaftwerdung
Panorama-Ausschnitt
Proto-Siedlungen
von Jägern
früheste
Bauerndörfer
Jericho
Jawa
Städte
Jerusalem
archive hat der Mann aus London durchstöbert. Er prüfte geografische Hinweise
aus der Bibel und fuhr mit dem Jeep bis
nach Kurdistan.
Rohl stützt sich bei seiner Fahndung auf
die Kapitel zwei und drei der Genesis, die
den Garten Eden fast wie ein irdisches
Ferienziel behandeln. Himmelsrichtungen
werden genannt und umliegende Gebiete.
Vier Flüsse entspringen im Paradies. Zwei
davon sind Euphrat und Tigris. Sie stecken
Rohls Zielkorridor ab.
Und er scheint auf einer heißen Spur zu
sein: Ausgerechnet am Oberlauf von Euphrat und Tigris, wo Adam laut Bibel erstmals sein Korn drosch, wurde tatsächlich
der Ursprung der Landwirtschaft ausgemacht. Erst in jüngster Zeit haben die Forscher neue entscheidende Einblicke in diese „neolithische Revolution“ gewonnen.
160
TÜRKEI
SYRIEN
ISRAEL
IRAN
IRAK
Tempelanlage
Es war das sanft ansteigende Vorland
des Taurus- und Zagrosgebirges, im Grenzgebiet zwischen Iran, dem Irak und der
Türkei, wo sich vor rund 11 000 Jahren der
kulturelle Umsturz vollzog. Homo sapiens,
bis dahin Nomade und Wildbeuter, legte
die Jagdwaffen weg.
Über eine Million Jahre lang hatte der
Mensch bis dahin Großwild, vor allem
Waldelefanten und Flusspferde, getötet
und sich von deren Fleisch ernährt. Er
lauerte im Unterholz, ein Nomade – und
Raubtier.
Nun plötzlich begann er damit, Schafe
und Ziegen in Pferche zu sperren (um 8400
vor Christus) und Schweine zu züchten. Er
erfand Bett und Hütte, den Kochtopf aus
Keramik (um 7000 vor Christus) und aß
zum ersten Mal Schleim aus selbstgeerntetem Getreide.
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Wo genau dieser Wandel einsetzte, wo
mithin die erste Kornkammer der Menschheit lag, konnten Biologen vom MaxPlanck-Institut für Züchtungsforschung
in Köln ermitteln. Sie verglichen das Erbgut von 68 modernen Einkornsorten und
führten es auf einen gemeinsamen Urhalm
zurück.
Die Wildpflanze, gleichsam der Ahnherr allen Getreides, wächst noch heute an
den Hängen des erloschenen Vulkans
Karacadag (siehe Karte). Wenn Adam
wirklich als Erster Mehlspeisen aß, dann
also hier.
Aber auch im Detail stimmt die Geschichte vom Sündenfall gut mit den wahren Geschehnissen überein. Erst die neuen
Grabungen in Syrien und der Türkei zeigen, in welchen Schritten sich die Sesshaftwerdung vollzog:
2
Berg
Ararat
WO LAG DAS PARADIES?
„Und es ging aus von Eden ein Strom, den
Garten zu bewässern, und teilte sich von da
in vier Hauptarme. Der erste heißt Pischon,
der fließt um das ganze Land Hawila, und
dort findet man Gold ... Der zweite Strom
heißt Gihon ... Der dritte Strom heißt Tigris,
der fließt östlich von Assyrien. Der vierte
Strom ist der Euphrat.“
Der Brite David Rohl hat die Angaben der
Genesis mit altislamischen Schriftquellen
und modernen Landschaftsnamen in Iran
und in der Türkei verglichen. Seiner Analyse
zufolge stehen die rätselhaften Paradiesströme der Bibel „Gihon“ und „Pischon“ für
den Grenzfluss Araks und den goldhaltigen iranischen Kisil Usen. All diese
„Edenflüsse“ liegen im neolithischen Kerngebiet des Ackerbaus.
(Genesis 2, 10 bis 14)
Vansee
Ara ks
Urmiasee
Tig ris
Zag
Ninive
3
ros
geb
irg
e
ZWISCHENSTATION SUMER
Im 7. und 6. Jahrtausend zogen die ersten
Ackerbauern aus den Bergen zum Persischen
Golf hinab und gründeten die erste Hochkultur: Sumer. Das Sagengut dieses Volkes
enthält Hinweise auf einen paradiesischen Urhügel Du-ku, wo der Ackerbau erfunden wurde.
Auch erwähnen die Keilschriften der Sumerer
die Motive „Sintflut“, „erstes Menschenpaar“
und „Schöpfung des Menschen aus Erde“.
4 REISE NACH JERUSALEM
Der Patriarch Abraham wird in
Ur geboren.
Einer anderen Lesart der hebräischen Originalbibel zufolge könnte
er auch aus Urfa stammen. Von
dort zieht er nach Harran. Angeblich um 1800 v. Chr. bricht er dann
ins Gelobte Land auf.
Auf diesem Weg könnte das
Gleichnis von Adam und Eva den
Weg in die Bibel gefunden haben.
Kaspisches
Meer
Kisi l Use n
T ig r is
Babylon
Ali Kosch
Uruk
Ur
Euph
rat
Eridu
Satellitenbild: Nasa
THE BRITISH MUSEUM
Mit Feuersteinsicheln, deren
• Noch um 10 000 vor Christus
Griff mit Asphalt verklebt war,
lebten die Wildbeuter des
kappten die Bauern die Halme
„Fruchtbaren Halbmonds“ in
und droschen die Körner aus
einer reichgesegneten Natur.
den Ähren. Frauen zerraspelÜppig wucherte das Gras, es
ten auf Knien hockend das
gab riesige Tierherden.
Korn auf Mahlsteinen. Die
• Um 7500 vor Christus erArbeit war so anstrengend,
schöpften sich jäh die Wilddass sich dabei ihr Skelett debestände. Danach erst schlosformierte.
sen sich die Menschen, vom
Auch die Viehzucht lief anHunger gezwungen, in Dörfangs schlecht. Zwar ließen sich
fern zusammen und begannen die harte Fron des „Adam-und-Eva-Siegel“ (um 2200 v. Chr.): Legende aus dem Morgenland Schafe und Ziegen leicht einfangen, doch die Wildtiere reaFeldbaus.
Vor allem in dieser Übergangszeit kam zum Backen sind rund 40 Arbeitsschritte gierten auf die Gefangenschaft mit einem
Schock. Fast alle wurden unfruchtbar. Wer
es offenbar zu Nahrungskrisen und Hun- nötig.
Alles musste erlernt, erfunden, aus- sich dennoch vermehrte, brachte mickrigen
gersnöten. Die Leute mussten ihren Alltag
komplett umstellen. Überall taten sich getüftelt werden. Mit knurrendem Ma- Nachwuchs zur Welt.
Der Vergleich der Skelette von steindabei Probleme auf. Brot zum Beispiel ist gen begann ein Zeitalter der Innovazeitlichen Jägern und ersten Bauern bezwar nahrhaft, doch von der Aussaat bis tionen.
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Ausgrabung eines Tempels am Göbekli Tepe: Als hier geopfert wurde, gab es auf Erden noch kein einziges Bauerndorf
IRMGARD WAGNER / DAI
weist: Die frühen Farmer schufteten härter,
Solch ein Leben, zwischen Grill und
sie litten häufiger an Krankheiten und Grasbett, hätte der Mensch nie freiwillig
starben jünger.
aufgegeben. Doch er musste.
Die Bauern aus dem Urdorf Nevali Çori
Etwa um 7500 vor Christus war in
(um 8500 vor Christus) zeugen von der Obermesopotamien das Biotop erschöpft.
Mühsal der neuen Lebensform. Ihr Zahn- Nun wurde der Auerochse nicht mehr geschmelz war schlecht, sie litten an Blähun- jagt, sondern domestiziert. Er schrumpfte
gen. Denn weil es bei ihnen mit der sich zum Hausrind mit kaum 1,30 Meter
Getreideernte noch haperte, aßen sie vor Schulterhöhe klein.
allem Erbsen und Linsen.
Einen ähnlich krassen Abstieg schildert
Wie schön war da doch das alte Jägerle- auch das Alte Testament. Nach der Verben gewesen! Frei, ungebunden und voller treibung aus dem Garten Eden muss Adam
Abenteuer. Gazellen und Wildesel waren Schwerarbeit leisten. Gott nämlich hat den
einst durch die grünende Flur Obermeso- Acker verflucht: „Dornen und Disteln lässt
potamiens gestreift. „Die Herden bestan- er dir wachsen.“
den aus 100 000 und mehr Tieren“, sagt
Gleichwohl mögen viele Kollegen den
der Münchner Paläozoologe Joris Peters.
Bibel-Detektiven nicht folgen. Sie lehnen
Wenn die riesigen Rudel die flachen derlei Indiziensuche schon aus prinziFurten des Euphrat überquerten, traten die piellen Erwägungen ab. „Heute wirst du
Steinzeithorden zum großen Schlachten mit mir im Paradies sein“, ruft Jesus einem
an. Die neuen Befunde zeigen, dass die reuigen Mitgekreuzigten zu. Er meinte das
Nomaden bereits um 12 000 vor
Himmelreich, den Ort der ErChristus feste Siedlungen erlösung und des ewigen Heils, wo
richteten – als Depots für die
alle Qualen enden.
erbeuteten Fleischmassen, die
Solch einen „Ort des Geissie dörrten und einsalzten.
tes“ auf der Landkarte zu suEin Leben wie im Paradies.
chen, entrüstet sich der SchweiAuch an die wehrhaften Auzer Alttestamentler Othmar
erochsen wagten sich die MänKeel, sei schlicht albern und
ner heran. Bis zu tausend Kilo
zeuge von den materialistischen
wogen die Bullen, deren HörVerwirrungen der Gegenwart.
ner wie Flintsteinmesser alles
„Genauso gut könnten Sie veraufschlitzten. Wer sich an solch
suchen, den Stein der Weisen
ein Ungetüm heranpirschte,
mineralogisch zu bestimmen.“
schwamm in Adrenalin. Umso
Sehnsucht nach Ruhe und
größer war hernach das Gefühl Archäologe Schmidt ewiger Jugend, heißt es, spredes Triumphs.
Vatikan der Vorzeit che aus dem biblischen Bericht.
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C. GERBER/DAI
Luther zufolge kriegte Adam im Paradies
„keine Falten“. Seinem Leib entströmte
ein herrlicher Wohlgeruch.
Auch andere Kulturen kannten solche
Orte des Glücks. In Hesiods „goldenem
Zeitalter“ leben die Menschen „fern von
Mühen und Leid“. Homer erzählt vom
Land der Phäaken. Die Bäume dort, „voll
balsamischer Birnen, Granaten und grüner
Oliven“, trugen rund ums Jahr Früchte.
In der Tat heißt es aufpassen: Jede Menge Krypto-Wissenschaftler und „Die Bibel
hat doch recht“-Spinner tummeln sich in
der Szene. Unverzagt stöbern sie nach den
Planken der Arche Noah. Der Spökenkieker Erich von Däniken hält die Bundeslade für einen Elektroakku.
Doch diesmal liegt der Fall womöglich
anders. Denn im bergigen Obermesopotamien, der Getreidewiege, wo auch der
Zielkorridor von Rohl liegt, sind weitere
Entdeckungen gemacht worden. Das Gebiet enthält die ältesten Tempel der Welt.
Es sind megalithische Wunderbauten und
Zeugnisse einer bislang kaum bekannten
„goldenen Epoche“ der Steinzeit.
Objekt des Staunens ist ein kahler Hügel nahe Urfa. Auf seiner Kuppe standen
einst dicht an dicht Tempel. 4 davon sind
ausgegraben, weitere 16 wurden mit Magnetometern erfasst. Steinpfeiler ragen empor, verziert mit Spinnen, Löwen und
Hundertfüßern. Im Schutt liegen die Statue
eines Wildschweins und ein großer Menschenkopf.
Der Chefausgräber des monumentalen
Göbekli Tepe (deutsch: Nabelberg), der
Titel
Berliner Klaus Schmidt, nennt die Anlage
ein „Unikat“ mit der „architektonischen
Wucht von Stonehenge“. Der schwerste
Pfeiler, 50 Tonnen, liegt noch gefesselt in
einem nahen Steinbruch.
„Weltruhm“, glaubt Schmidt, werde die
Stätte bald erlangen. Denn das eigentlich
Erstaunliche ist ihr Alter: Der Sakralplatz
wurde vor rund 11 000 Jahren errichtet –
von Jägern und Sammlern. Es ist ein Ort
des Ursprungs wie das Paradies.
„Bisher dachte man, dass erst die sesshaften Bauern Tempel und feste Siedlungen bauten“, erklärt der Experte. Und
nun das: 300 bis 500 Steinmetze waren
nötig, um diesen düsteren Vatikan zu errichten.
Stelen und Totempfähle schlugen die Arbeiter aus dem Fels. Priester in Tierfellen
lebten dort, grell bemalt. In den Rundtempeln loderten Feuer. Als dort die Opferkulte abliefen, gab es auf dem Planeten
Erde noch kein einziges Bauerndorf.
In einem Buch hat Schmidt nun Details
über die geheimnisvolle Jägerkultur vom
Göbekli Tepe vorgelegt*. Die Leute lebten wie im Schlaraffenland, es könnten die
Paten von Adam und Eva sein.
Um 9000 vor Christus, als das Heiligtum
entstand, wehten in Eurasien nach über
100 000 Jahren Eiszeit endlich wieder milde Winde. Tauwetter war angesagt. Obermesopotamien erwachte aus dem Spätglazial, alles keimte auf, große landschaftliche
Gebiete begannen aufzublühen.
Das Volk vom Göbekli jagte vor allem
Gazellen; in gutorganisierten Gruppen von
* Klaus Schmidt: „Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger“. Verlag C. H. Beck,
München; 284 Seiten; 24,90 Euro.
Hunderten Personen trieb es ganze Herden
der flinken Paarhufer in die Euphrat-Furten oder in kilometerlange V-förmige Fallen. Tonnen an Fleisch und Fellen wurden
so auf einen Schlag erbeutet: genug Nahrung für viele Monate, die die Menschen in
großen Fleischhäusern horteten und bewachten – die Urform der Sesshaftigkeit.
Zugleich ersannen die findigen Wildbeuter das erste Kraftmüsli. Begünstigt
vom milderen Klima der Nacheiszeit,
wuchsen in dem Gebiet große Felder mit
Wildgetreide. Geübt in der „weiträumigen
von Fleisch horteten die
Tonnen
in großen Vorratshäusern.
Kontrolle der Landschaft“, so Schmidt,
hätten die Jäger diese Körnerwiesen einfach abgesperrt und gegen „Tierverbiss“
geschützt.
Hernach brauchten sie die Felder nur
noch abzuernten. Ohne viel Mühe spross
dem Steinzeitvolk das Getreide gleichsam
in den Mund.
Dieses neolithische Land des Lächelns
ähnelt verblüffend der Heimat von Adam
und Eva. Zwar haben Dichter und Maler
den Garten Eden gern als Urwald und wilde Natur gedeutet, in dem die ersten Menschen nur auf der faulen Haut lagen.
Doch auch im Gottespark wurde gearbeitet, allerdings locker. Ausdrücklich
hält Genesis 2,15 fest, dass Adam den Auftrag erhält, Eden „zu bebauen und zu bewahren“. Er muss Bäume und Gräser hüten
– wie die Getreidepioniere vom Göbekli
Tepe.
Hallt da ein Echo nach? Ist das Gleichnis der Bibel eine verschwommene Kunde
aus der „goldenen Epoche“ der Steinzeit?
Stutzig macht vor allem ein Plättchen aus
Speckstein, das im Geröll des Bergheiligtums lag. Es ist etwa vier Zentimeter hoch
und sieht aus wie eine Erkennungsmarke.
Eingraviert sind darauf zwei Symbole:
Baum und Schlange.
Und es gibt weitere Parallelen. Bei der
Suche nach dem Garten Eden weisen
viele Spuren nach Obermesopotamien:
• Im Paradies der Bibel sprudeln Wasserquellen – auch im Taurusgebirge entspringen über ein Dutzend Flüsse.
• Laut Hesekiel 28,14
liegt der Garten Eden
Wildbeuter
auf einem „heiligen
Berg“ – wie der Göbekli
Tepe.
• Die „Geburtsgrotte“ Abrahams befindet sich in der Stadt Urfa – kaum zwei
Kilometer von dem prähistorischen Sakralberg entfernt.
Immer deutlicher tritt hervor, dass die
Landschaft um Urfa ein religiöses Kraftfeld
„mit großem mythologischen Gewicht“
(Schmidt) war, ein zentrales Gebiet in der
Entwicklung der menschlichen Zivilisation.
Schon in der vorkeramischen Phase der
Jungsteinzeit wurde die Abrahamgrotte als
heilige Quelle verehrt. Dort kam die älteste Großstatue der Welt zutage. Sie ist knapp
zwei Meter groß und stammt wahrscheinlich aus dem 10. Jahrtausend vor Christus.
An dieses glanzvolle Urzentrum des
Fortschritts, an dem sich das Schicksal der
Menschheit einst in neue Bahnen lenkte,
hatten die Juden womöglich noch Jahrtausende später eine vage Erinnerung, als sie
die Schöpfungsgeschichte in Worte fassten.
Das biblische Wonneland enthielte demnach eine Erinnerung an die goldene Ära
IRMGARD WAGNER / DAI (L.); DAI (M.); MUSEUM SANLIURFA / DAI (R.)
Zeugnisse aus Adams Atelier
Urfa-Statue
Wildschweinplastik
Paradiesplakette
Fundstücke aus Göbekli Tepe und Urfa: Urzentrum des Fortschritts, an dem sich das Schicksal der Menschheit in neue Bahnen lenkte
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SCALA (L.); JOSEPH MARTIN / AKG (R.)
Titel
Bibelmythen Turm zu Babel, Arche Noah*: Poetische Nabelschnur zur frühesten Hochkultur der Erde
der letzten Wildbeuter – und deren Abstieg in die Niederungen einer korngestützten Breikultur. Von Barden und
Musikanten mündlich überliefert, geriet
die Sage nach Sumer und von dort schließlich in die Bibel.
Mit diesem Ansatz, so gewagt er erscheinen mag, eröffnet sich ein frischer
Blick auf den wohl wirkmächtigsten
Abschnitt des Alten Testaments, oft
gerühmt wegen seiner Klarheit, Tiefe und
Schönheit.
„Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm
den Odem des Lebens in seine Nase“,
berichtet der Erzähler. Der magische
Vorgang steht in deutlicher Analogie zum
Tonkneten. In großer Zahl tauchten Lehmfiguren erstmals um 8500 vor Christus in
Nevali Çori auf, nur 50 Kilometer vom
Göbekli Tepe entfernt.
Anfangs ist Adam solo. „Es ist nicht gut,
dass der Mensch allein sei“, befindet der
Allmächtige und lässt sein Ebenbild in
Schlaf fallen. Er entnimmt ihm eine Rippe,
Baustoff für Eva. Als Adam die Frau zum
ersten Mal sieht, stimmt er ein kleines
Freudengedicht an: „Das ist doch Bein von
meinem Bein und Fleisch von meinem
Fleisch.“
Tiefer Sinn für Liebe und die Zugehörigkeit der Geschlechter spricht aus
diesen Zeilen. Der modernen Frauenbewegung gehen sie gleichwohl auf die
Nerven. Anders als im ersten Schöpfungsbericht der Bibel („Gott schuf den Men* Links: niederländisches Gemälde aus dem 16. Jahrhundert; rechts: Buchmalerei aus dem Stundenbuch Ludwigs
von Orléans, um 1490.
164
schen zu seinem Bilde und schuf sie als
Mann und Weib“) ist Eva hier nur ein
nachträglicher Einfall Gottes.
Gierig griff der (wegen seiner Lustfeindlichkeit berüchtigte) Apostel Paulus
den Gedanken auf. Er nannte die Frau im
1. Korintherbrief „Abglanz“ des Mannes,
die auch sonst wenig zu melden habe.
Der Verfasser der Genesis ist da viel
vorsichtiger: Mit 16 Worten beschreibt er
im hebräischen Original die Erschaffung
Adams – genauso viele wie bei Eva. Fast
scheint es, als hätte der Erzähler einen
Lehrgang in „political correctness“ absolviert.
Doch leider spielt das Weib auch beim
Sündenfall keine rühmliche Rolle. Die Frau
ist es, die den Einflüsterungen der listigen
Natter erliegt und die verbotene Frucht
verspeist. Eine kognitive Explosion ist die
hielt den Orinoco für
Columbus
vier Paradiesbäche.
Folge: Schlagartig wird der Mensch sich
seiner selbst bewusst. Er empfindet Scham
und kann jäh moralisch urteilen. Die
Frucht, heißt es im Alten Testament,
schafft Erkenntnis.
Einige Verirrte haben versucht, das Rätselobst mit der psychedelisch wirkenden
Hanfpflanze in Verbindung zu bringen. Das
Kifferszenario dürfte ebenso falsch sein
wie die Annahme, bei dem Gewächs handele es sich um einen Apfel. Dieses Missverständnis ergab sich erst, als Mönche die
lateinische Bibel ins Deutsche übertrugen.
Das Wort „malus“ kann beides bedeuten:
„schlecht“ und „Apfelbaum“.
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Als Gott, der gerade in der Abendkühle durch Eden schlendert, den Tabubruch
bemerkt, ist sein Zorn groß. Umgehend
wirft er die Schuldigen aus dem Paradies.
Dabei handelt er nicht ganz uneigennützig.
Er will verhindern, dass seine Geschöpfe
auch noch vom anderen verbotenen
Stamm, dem „Baum des Lebens“, essen.
Dieser verleiht Unsterblichkeit.
Edens Pforten schließen sich. Den Eingang bewachen fortan Cherubim mit dem
„flammenden, blitzenden Schwert“.
Niedergeschrieben hat all dies ein gelehrter Jude, der angeblich um 950 vor
Christus als Schreiber am Hof von König
Salomo lebte. Der Heidelberger Bibelkundler Bernd-Jörg Diebner dagegen vermutet: „Der geschliffene Text ist die Arbeit
eines jüdischen Rabbiners aus dem 2. Jahrhundert vor Christus.“
Nur, wo hatte der die Geschichte her? Dass er einen
einen der uralten Sagenstrang anzapfte, wird seit langem vermutet. Schnörkellos, wie mit
dem Meißel, schreibt er die Eckdaten auf.
Phantastisches drängt er zurück, ihm geht
es um Schuld und Sühne, um Fragen der
Sittlichkeit.
Nur bei den Ortsangaben entwickelt er
eine seltsame Detailversessenheit. Der Garten liege im „Osten“, berichtet der Autor,
und zwar in Eden, womit er eine bestimmte Landschaft meint. Daran grenze ein Gebiet namens „Nod“. Vier Flüsse entspringen in Eden. Den Verlauf des Tigris („fließt
östlich von Assyrien“) gibt er exakt an.
Auch der Euphrat ist bekannt. Doch bei
den beiden anderen Strömen, die das liebliche Urland umfließen, gibt es Probleme:
10 000 v. Chr.
• „Der erste heißt Pischon, der
„Goldenes Zeitalter“
fließt um das ganze Land Hader neolithischen Jäger
wila, und dort findet man
Göbekli Tepe:
Gold.“
erste steinerne
Die Sesshaftwerdung
• „Der zweite Strom heißt
Bauten
des
Menschen
in
Gihon, der fließt um das ganze
Ende der letzten
Vorderasien
Land Kusch.“
Eiszeit
9000
Schon im Altertum wurde verBeginn von Ackerbau und Viehzucht
sucht, den Sinn dieser Bibelworte
zu fassen. Einen ersten Versuch
Anbau von ...
Domestikation
unternahm der Geschichtsschreivon ...
... Einkorn
ber Flavius Josephus im 1. Jahr... Emmer
hundert. Er deutete den Pischon
... Ziege
als Ganges und den Gihon als Nil.
... Schaf
Eine klare Zuordnung des Para... Linsen,
8000
dieses ergab sich daraus allerdings
Flachs
nicht.
... Schwein
Früheste
Gleichwohl malten frühe KarBauerndörfer
tografen das biblische Utopia in
ihre Atlanten. Sie glaubten fest
ans irdische Paradies. Auf der
Ebstorfer Weltkarte etwa prangt Eden als
... Rind
ummauerter Bezirk ganz im Osten. Ir7000
gendwo in Richtung Indien oder noch viel
Keramisches Zeitalter
weiter sollte das Glücksland liegen.
Dafür gab es vermeintlich gute Gründe.
Eigentum
Ausbreitung
Eine um 1150 verfasste Handschrift war(Stempelsiegel auf
des Ackertete mit folgender Geschichte auf: Als
Tongefäßen zeigen
baus nach
Alexander der Große bei seinem antiken
Besitz an)
MesopotaKriegszug einst den Ganges erreichte, verKünstliche
mien und
6000
sperrte eine gigantische Mauer das andere
Bewässerung
Südeuropa
Ufer. Drei Tage ruderte der König stromGöttin aus
aufwärts, bis sich in dem Bollwerk endlich
SintflutTon (4500
ein Fenster auftat. Daraus blickte ein urartige Überv. Chr.)
schwemunalter Mann – und ließ den Feldherrn nicht
gen des
hinein.
Euphrat
Dass es sich bei dem Pergament, das
in Abschriften bald in ganz Europa um5000 Großer Temlief, um eine Fälschung handelte, kam
pel von Eridu
den Bürgern des Mittelalters nicht in den
(für den Gott
Sinn.
Enki, dem man
Selbst Columbus war noch von der Exiszuschreibt, den
Menschen aus
tenz des Paradieses überzeugt. Bei seiner
Erfindung
Ton geformt zu
dritten Reise erkundete er im August 1498
des Pflugs
haben)
die Mündung des Orinoco. Als er dort InBrauen
4000
dios mit Goldschmuck herumpaddeln sah,
von Bier
hielt er den Regenwaldstrom für den goldFrüheste Städte in Mesopotamien
führenden Pischon aus Eden.
Dann brach die Suche ab. Zwar brachten
Wissenschaftler auch die Peene und die
Uruk hat
Donau als Paradiesbäche ins Spiel. Doch
50 000
Keilschrift
das bewies nur: Die Fahndung war auf den
Einwohner
Hund gekommen.
Verwendung
3000
Erst im 19. Jahrhundert wendete sich
von Bronze
das Blatt. Mit Elan waren damals die ersten
König
Gilgamesch
Archäologen ins Zweistromland eingerückt
und auf Zeugnisse einer glänzenden alten
Kultur gestoßen. In den Ruinen von BabySumerische
Legenden
lon, Ninive und Assur, den frühen Kapitaberichten von
len des Morgenlandes, taten sich die wahErste
Gesetzestexte
ren Wurzeln der Bibel auf.
2000 dem paradiesischen Land
Die Ausgräber stießen auf steinerne
Dilmun und
Stiermenschen, die „Karibu“. Auf Plaketvon der Sintten sind sie als Wächter des „Lebensflut
baums“ dargestellt – wie die Cherubim aus
der Bibel. Selbst ein Urengel kam zutage.
Es ist ein bärtiges Männlein mit vier Flügeln, das auf einem 3500 Jahre alten Zy1000
lindersiegel prangt.
Niederschrift der Geschichte vom
166
Garten Eden in der Bibel
AKG
Vom Jäger
zum Städter
Beim Durchforsten der erbeuteten Keilschriften ging es dann
Schlag auf Schlag weiter. Schon
die Zauberwelt des Alten Orients
kannte
• einen Gott Enki, der den Menschen aus Ton formen lässt;
• eine Sintflut, die der Held im
selbstgebastelten Schiff überlebt;
• das Wort Edin (= Steppe), von
dem sich wahrscheinlich das
hebräische Wort Eden ableitet.
Geballt treten die Motive im
Keilschrift-Epos von König Gilgamesch auf, dessen Ursprünge ins
3. Jahrtausend zurückreichen. Auf
der Suche nach dem ewigen Leben erreicht der Held nach langer
Fahrt einen wunderschönen Park.
Danach erfährt er, wo die Pflanze
der Unsterblichkeit wächst. Kaum hat er
das Kraut in seinen Besitz gebracht, entwindet es ihm – die Schlange.
Viele Christen empfanden diese Entdeckungen als Schock. Das Alte Testament
hatte seinen Offenbarungscharakter verloren. Es war gar kein durch die Wolken gereichtes Gotteswort, wie im Jahr 1902 der
Assyrologe Friedrich Delitzsch in einer
Rede vortrug. Mose sei vielmehr nur ein
„eifriger Kopist“ gewesen.
Sogar die Vorbilder von Adam und Eva
schienen aus den Trümmern des Orients
aufzutauchen. Ein 4000 Jahre altes Rollsiegel (das heute im British Museum von
London liegt) zeigt zwei Personen, die
neben dem siebenzweigigen Lebensbaum
sitzen. Hinter der Frau windet sich eine
Schlange. Delitzsch hielt sie für die beiden
Pioniere aus der Genesis.
Heute weiß man zwar, dass das „Adamund-Eva-Siegel“ ein Heroenpaar darstellt.
Gleichwohl gibt es gute Hinweise, dass
auch die Legende vom ersten Menschenpaar aus dem Morgenland stammt:
• Das sumerische Wort „ti“ bedeutet zugleich Rippe und Leben. Die Erschaffung Evas könnte auf einem Wortspiel in
der Urfassung beruhen, die bereits in
Israel verlorengegangen war.
• Evas hebräischer Name („chawwa“)
heißt übersetzt: „Leben“. Diesen Titel
trug auch eine Muttergottheit der Sumerer.
Damit stand fest: Die Juden, Mitglieder
der semitischen Sprachfamilie, hatten ihre
religiösen Stoffe im Zweistromland abgekupfert und – neu gemischt – in ihr Altes
Testament eingespeist. Sie waren über eine
poetische Nabelschnur mit der frühesten
Hochkultur der Erde verbunden. Und deren Wurzeln ragen tief.
Schon um 4000 vor Christus, das wissen die Forscher heute, entstanden am Unterlauf des Euphrat die ersten Städte. Bald
gab es über 20 große Siedlungen, bewohnt
von kräuselhaarigen Königen, Priestern
und Astronomen, die auf hohen Stu-
Titel
Nachhall aus dem Paradies
Gilgamesch-Keilschrift
Siegel mit engelartigem Wesen
Betender
fentürmen das Sternenzelt vermaßen. Hier
wurde das Bier erfunden, die Schrift, das
Rad, das erste Abführmittel.
Mit diesen quirligen Urmetropolen standen die Juden in Verbindung. Hier lebte
einst Abraham, bevor er ins Gelobte Land
zog. Der israelitische Stamm Benjamin siedelte lange am Oberlauf des Euphrat.
Moritate und Sagen erklangen damals
in den engen Gassen der mesopotamischen
Lehmstädte. Zu Leiern und langen quäkenden Holzflöten trugen Bänkelsänger
ihre Geschichten vor. Viele davon waren
schlicht Tatsachen-Storys. Gilgamesch hat
wirklich gelebt, Enmerkar, ein anderer
Heros, ebenfalls.
Und immer wieder besangen die Sumerer auch ihre alte Heimat. Völlig geklärt ist
die Herkunft dieses Gründervolks zwar
nicht. Sicher aber ist, dass die Leute aus
dem bergigen Norden eingewandert waren. Sie stammten aus dem alten Kerngebiet des Ackerbaus.
In diese Bergwelt hielten sie auch Handelskontakte. Von den frühen Herrschern
der einst größten Stadt des Erdenrunds,
Uruk, ist bekannt, dass sie um 3000 vor
Christus Eselkarawanen mit Nahrungsmitteln Richtung Zagros schickten. Im Gegenzug erhielten sie Metalle und Edelsteine.
Wer hinter die „sieben Berge“ zog, wie
es in den Keilschriften heißt, gelangte in
ein Land mit grünen Tälern, das sich zu
immer zackigeren Gipfeln auftürmte. Der
schneebedeckte Ararat galt schon in der
Steinzeit als Götterthron.
Auch die Sintflut-Sage beruht vielleicht
auf einer realen Naturkatastrophe, die sich
hoch im Norden ereignete, wo sich der Euphrat zum Teil durch enge Felsschluchten
und Canyons windet.
168
„Ausgelöst durch Erdbeben“ sei das Flussbett vor rund 7000 Jahren mehrfach durch
Geröll verstopft worden, erklärt der Archäologe Andreas Schachner. Das Wasser
staute sich, bis es die Barriere durchbrach.
„Flutwellen von 30 Meter Höhe“ türmten
sich auf. Solche Unglücke fanden – vom
Volksmund verbrämt und ausgeschmückt –
Eingang ins Schrifttum des Orients.
Aber später erinnerten sich die Sumerer
(und mit ihnen die Juden) auch an das
längst versunkene Getreide-Dorado vom
Göbekli Tepe? Wussten sie noch etwas von
ihren Ahnen aus dem zehnten vorchristlichen Jahrtausend, die mutmaßlich Pate
standen für Adam und Eva?
Um das zu belegen, bedürfte es festerer
Beweisketten: Ortsnamen zum Beispiel
und klarer geografischer Indizien.
Bibelforscher Rohl
Mit dem Jeep bis nach Kurdistan
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Aber auch hier tut sich eine spannende
Fährte auf. Der britische Paradiesfahnder
Rohl konnte zeigen, dass der iranisch-aserbaidschanische Grenzfluss Araks noch in
frühislamischer Zeit „Gyhun“ hieß – wie
der Paradiesfluss Gihon. Und selbst den
letzten unbekannten Eden-Strom glaubt
der Forscher enttarnt zu haben (siehe Grafik Seite 160).
Schlagartig steht so ein klarumgrenztes
Gebiet im Fadenkreuz. Der Bibelspion aus
England jedenfalls ist sicher: „paradise
found“.
Verblüffend daran: Rohls Kompass weist
nun noch stärker nach Norden – mitten
hinein in die einst von goldenen Ähren
strotzenden Hochtäler Kurdistans.
Damit rückt erneut der seltsame Göbekli Tepe in den Brennpunkt der Betrachtung, dieser gewaltige staubige Götterhügel und Ort einer bislang nicht entschlüsselten Religion. Erst fünf Prozent
des Heiligtums sind freigelegt. Im September wird der Ausgräber Schmidt mit
der nächsten Kampagne beginnen. Vorher
ist es zu heiß.
Wer heute die kahlen Bergkuppen der
Südosttürkei besucht, mag kaum glauben,
dass dort einst Auwälder und Pistazienbäume sprossen. Doch die Jäger vom Göbekli Tepe lebten vor 11 000 Jahren in einer
sanften, von Grasland durchzogenen Parklandschaft. Erst Abholzung und Überbeanspruchung des Bodens durch den
Feldbau haben das Gelände in eine trostlose Staubhölle verwandelt.
Schmidt ist mittlerweile sicher, dass die
Tempel einem Totenkult dienten. Er hält
die bis zu sieben Meter hohen T-Kopfpfeiler für stilisierte Darstellungen steinerner
menschengestaltiger Wesen. „Auf einigen
der Stelen sind Arme eingemeißelt“, er-
AKG (L. + R.); UNIVERSITÄT FREIBURG (R.)
Bronzezeit-Funde aus dem Orient: Das kulturelle Gedächtnis der Menschheit reicht Jahrtausende zurück
klärt er. Die hammerartige Verdickung
oben sei der Kopf.
Fettlampen, in denen kleine Feuer loderten, belegen, dass der Platz auch nachts
in Betrieb war. Zum Klang dumpfer Trommeln, umtanzt von Schamanen, so mag
man sich den gespenstischen Ritualplatz
vorstellen. Seltsame Zeichen, Halbmonde
und umgestürzte H sind in die Steine geritzt. Überall prangt bösartiges Getier.
Darunter immer wieder Schlangen. Als
Zickzack sind sie eingeritzt. Fast jeder
zweite Quader zeigt im Hochrelief das
kriechende Reptil. Im Schlangentempel sehen die Tiere wie Blitze aus.
Sicher ist, dass der Kultplatz vom Anbeginn der Zivilisation große Strahlkraft
hatte. Wie Stonehenge oder Angkor Vat
besaß er ein riesiges Einzugsgebiet. Ähnliche T-Pfeiler, nur kleiner, fanden die Forscher in einem 200 Kilometer großen Umkreis des Heiligtums.
Um all die Schamanen, Steinmetze und
herbeiströmenden Wallfahrer verköstigen
zu können, experimentierten die Betreiber der religiösen Stätte offenbar mit einer
neuen Nahrungsquelle. Sie ernteten im
großen Stil wildes Getreide.
Dass die Urfarmer zuerst bescheidene
Gärtchen anlegten, wie bislang vermutet,
glaubt Schmidt nicht. Vielmehr hätten die
Leute von Anbeginn „riesige, von Horizont zu Horizont reichende Flächen ihrer
ERICH LESSING / AKG
Assyrische Stiermensch-Statuen
Planung unterworfen“ und sie hernach
streng bewacht, damit die Halme nicht Opfer grasender Herdentiere wurden.
Vielleicht mit Rasseln und Waffen bewehrt, standen die Aufpasser im Gras.
Möglich, dass sie auch Zäune bauten, um
Auerochsen, Gazellen oder Wildesel auszusperren. Wie gut das gelang, beweisen
Hunderte Reibschalen, die in den Ruinen
des Heiligtums lagen. Damit steht fest: Die
Jäger vom „Nabelberg“ lebten in einer
Zwitterstellung zwischen aneignender und
produzierender Lebensweise – genau wie
Adam und Eva im Garten Eden.
Und der Göbekli Tepe wurde jäh verlassen – ebenso wie das Paradies. Etwa um
wurden die Tempel verlassen
JähErdreich
verfüllt.
7500 vor Christus räumten die Jäger den
Hügel und verfüllten die Tempel mit Erdreich. Schmidt spricht von einer „geordneten Bestattung“ der Gebäude – als hätte
man den Kultplatz für ewig im Gedächtnis
behalten wollen. Es war ein Abschied für
immer. Eine ganze Menschheitsepoche
wurde damals zu Grabe getragen. Die
Jäger hatten das Biotop leergeschossen. Es
begann der Aufstieg der Bauern.
Zeugnis von den nun einsetzenden dramatischen Umbrüchen legt auch die Siedd e r
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lung Abu Hureira in Syrien ab. Dort ging
die Zahl der erlegten Gazellen um 7500
vor Christus drastisch zurück. An ihre Stelle traten männliche Ziegen und Schafe –
ihr Geschlecht ist ein Indiz dafür, dass die
Viehzucht begonnen hatte, denn dabei
müssen die weiblichen Tiere für den Nachwuchs geschont werden.
Nun erst zwang die Not den Menschen
in die Niederungen von Stall und Schweinetrog. In Ali Kosch in Westiran lebten um
7200 vor Christus rund hundert Landwirte
in einem schäbigen Hüttendorf und bauten
Emmer an. Die Saat für die Felder besorgten sie sich bereits aus der Ferne.
120 Generationen lang, etwa von 9000
bis 6000 vor Christus, dauerte diese brutalste Veränderung, die der Homo sapiens
bis dahin durchlaufen hatte. Es wäre ein
Wunder, wenn sie in der Bibel kein Echo
gefunden hätte.
Denn auch dort sind die Plagen von
Aussaat und Ernte drastisch geschildert.
„Verflucht sei der Acker um deinetwillen“,
ruft Gottvater dem gefallenen Adam zu,
„mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren
dein Leben lang.“
Gleichwohl hatten die Bauern am Ende
die Nase vorn. Ihr Siegeszug war unaufhaltsam. Denn Getreide ist sehr kalorienreich. Wer sesshaft lebt, kann sein Leben
auf ein viel breiteres Fundament stellen.
Bereits im siebten Jahrtausend vor Christus zogen die frühen Bauern hinab in die
fruchtbaren Ebenen am Persischen Golf.
Dort erlernten sie die künstliche Bewässerung und leiteten mit Stichkanälen
Euphrat-Schlamm auf ihre Felder.
Nun boomte es wirklich. In kurzer Zeit
stieg die Bevölkerung rapide an. Das Volk
Sumers ballte und staute sich geradezu.
Ummauerte Städte entstanden, Rechtssysteme und die Gier nach Besitz und
Eigentum.
Der Mensch, eben noch ein sorgloser
Naturgesell, hatte seine Unschuld verloren. Er verkam zum Fiesling, der beim
Handel betrog und mit dem Nachbarn
stritt. Nun waren Gesetze nötig, um Mord
und Vergewaltigungen einzudämmen. Die
Leute Sumers lebten bereits drangvoll
beengt – über sich Könige, die unentwegt
grausame Territorialkriege
ausfochten.
und mit
Schöne neue Zivilisation!
Und wieder scheint die Bibel die Sachlage zu spiegeln.
„Als aber der Herr sah, dass der Menschen
Bosheit groß war auf Erden“, heißt es im
Alten Testament, sinnt er auf Rache und
ertränkt alles. Er schickt die Sintflut.
Auch die beiden Strafen, mit der Gott
die Sünderin Eva belegt, passen gut zu den
wahren historischen Vorgängen.
Zum einen zwingt er dem Weib Geburtsschmerzen auf – den auch die sumerischen Frauen nun verstärkt erleiden
mussten. Sesshaft geworden und gut versorgt, konnten sie fünf und mehr Babys
169
REUTERS / ULLSTEIN BILDERDIENST
Oberlauf des Tigris (bei der türkischen Stadt Hasankeyf): Wenn Adam wirklich als Erster Mehlspeisen aß, dann war es hier
durchbringen. Sie wurden zu Gebärmaschinen – und starben häufig am Kindbettfieber.
Der andere Fluch des Himmelsvaters
(„Dein Verlangen soll nach deinem Manne
sein, aber er soll dein Herr sein“) fügt sich
ebenfalls ins Bild. Mit dem Aufstieg des –
von Männern getragenen – Bauerntums
verlor das alte Mutterrecht seine Kraft. In
der Architektur siegte der rechte Winkel
über die bauchige Form. Selbst die Kinder
wurden nun nach dem Vater benannt.
Aus dieser Sicht wirkt die Genesis fast
wie ein verschwommenes Stenogramm, als
wäre sie eine Flaschenpost von den fernen
Gestaden der Zeit.
Doch Unbehagen bleibt. Rund 5000
Jahre Schriftlosigkeit hätte die Erinnerung
an das alte Feuerstein-Paradies, die
Adams und Evas vom Göbekli Tepe,
überwinden müssen, bevor sumerische
Schreiber sie frühestens hätten aufzeichnen können.
Der renommierte Religionsforscher und
Ägyptologe Jan Assmann aus Heidelberg
hält genau das für möglich. Das „kulturelle Gedächtnis“ der Menschheit, davon ist
er überzeugt, könne nahezu unverändert
„über Jahrtausende hinweg“ Stoffe speichern und weiterreichen.
Außerordentliche Personen, Helden,
großes Leid, Kriege oder Umweltkatastrophen ätzen sich demnach tief in die kollektive Festplatte der Menschheit ein.
In der Tat enthalten die Tontafeln aus
dem Zweistromland auch eine Sage, die
verdächtige Kunde enthält und womöglich
bis ins zehnte Jahrtausend vor Christus
zurückreicht. Es ist das Märchen vom heiligen Berg Du-ku, der Heimat von Schaf
und Getreide.
Ackerbau, Viehzucht und Webkunst seien auf dem fernen Gipfel erfunden wor170
Ist der „Baum der Erkenntnis“ also nur
ein Symbol für den Getreidehalm, von dessen Frucht der Mensch am Ende der Eiszeit
zu essen lernte und so den Weg ebnete für
einen bis heute nicht beendeten Siegeslauf
seiner Spezies?
So gesehen wäre auch das Schuldgefühl
erklärbar, das Adam und Eva plagt. Wie
die Leute vom Göbekli Tepe pfuschten sie
dem Herrn ins Handwerk – und entthronten ihn ein Stück weit. Deshalb das
schlechte Gewissen.
„Ihr werdet sein wie Gott“, hatte die
Schlange den Einwohnern Edens geweissagt. In der Realität begann dieser
Prozess vor über 10 000 Jahren, als der
Mensch zum Agrartechniker und Pflanzenzüchter aufstieg, zum Macher und
Schöpfer von Dingen, der sein Schicksal
nun selbst in die Hand
nahm.
st der „Baum der Erkenntnis“ nur ein
Keine Frage: Im Puzzle
Symbol für den Getreidehalm?
vom Adam aus Obermesopotamien passen einige SteiDoch der Verdacht ist in der Welt und ne zusammen. Zwischen dem Irak, der
eine Brücke über die Jahrtausende zumin- Türkei und den Steppen des heute für
Archäologen schwer zugänglichen Norddest gedanklich geschlagen.
Klar ist: Die Leute vom „Nabelberg“ wa- iran wurden einst die Triebfedern für
ren echte Titanen und Welterschütterer. In eine gewaltige Entwicklung gespannt. Eine
ihrer Bedeutung ist die Erfindung des „unbekannte Welt von Skulpturen“ habe
Ackerbaus nur mit der Nutzbarmachung sich dort aufgetan, erklärt der Ausgräber
des Feuers vergleichbar. Das zivilisatori- Schmidt.
Noch liegt eine Decke aus Staub und
sche Beben, das die Helden der Getreidezucht auslösten, könnte als Echo bis ins Je- Geröll auf dieser vergessenen Wiege der
Zivilisation. Viele verwitterte Ruinenhürusalem der biblischen Zeit gerollt sein.
Selbstbewusst pochten die Adams aus gel ziehen sich von Anatolien bis zum KasKurdistan vor 11000 Jahren ans Himmelstor. pischen Meer. Die meisten sind noch unSie modelten Pflanzen um und begannen berührt.
Immerhin: Einen Zipfel des Schleiers
damit, Tiere einzusperren und sie auf mehr
Milch- und Fleischertrag zu trimmen. Damit haben die Archäologen jetzt gelüftet. Ganz
begannen sie eine technische Entwicklung, aufgedeckt, könnte er den Blick auf eine
an deren Ende die totale Unterjochung und phantastische Fährte freigeben: den Weg
zum Garten Eden.
Verfügbarmachung der Natur stand.
Matthias Schulz
den, erzählt die Legende. Dass die Geschichte uralt ist, folgern die Experten aus
der Tatsache, dass die dort lebenden Anuna-Götter noch keine individuellen Namen
haben. Im 5000 Jahre alten Pantheon der
Sumerer stehen sie wie Fremdkörper da,
als wären es Götzen aus einer noch weit
älteren Epoche.
Der Ausgräber Schmidt, der beim Deutschen Archäologischen Institut in Berlin
angestellt ist, wagt viel, wenn er die Du-kuSage in seinem neuen Buch nun direkt mit
dem türkischen Tempelberg in Verbindung
bringt. „Greift das kulturelle Gedächtnis
des Alten Orients unerwartet konkret und
weit zurück in die neolithische Vergangenheit dieses Raums?“, fragt er zögernd.
Eine Antwort mag er einstweilen noch
nicht geben.
I
d e r
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Wissenschaft
MEDIZIN
Mast durch
Mikroben
Für das grassierende Übergewicht
haben Mediziner einen neuen
Schuldigen im Visier: Entscheidet
die Darmflora darüber,
ob ein Mensch fettleibig wird?
A
zusätzlichen Kalorien aus der Nahrung
versorgen. Gordons Gruppe entdeckte,
dass die Winzlinge zusätzlich auch biochemische Regelkreise in Darmzellen des
Wirts manipulieren und auf diese Weise
das Anlegen von Fettpolstern begünstigen.
Eine Entkeimung der rund 250 Millionen
fettsüchtigen Menschen kommt jedoch
nicht in Frage. Nicht nur für die Verdauung, sondern auch für die Immunabwehr
sind die Mikroben unverzichtbar.
Möglich wäre allerdings, nur dickmachende Keime aus dem Darm zu vertreiben, räsonierten die Forscher. Dazu untersuchten sie, inwiefern sich dünne Mäuse in
ihrer Bakterienflora von fettsüchtigen Artgenossen unterscheiden.
Und siehe da: In den Därmen der dünnen Tiere gediehen hauptsächlich Exemplare der Gattung „Bacteroides“, in denen
SPL / AGENTUR FOCUS
MARK RICHARDS / ZUMA PRESS
n wenigen Orten geht es so bunt zu
wie im menschlichen Dickdarm. An
die hundert Billionen Bakterien, zu
mehr als tausend verschiedenen Arten
gehörig, drängen sich in dieser Finsternis.
wicht führt vielleicht nicht nur über Diät
und Bewegung, sondern auch über eine
Veränderung der Darmflora.
Allerdings bedeutet dies nicht, dass füllige Menschen ab sofort Bazillen für ihre
Hüftpolster verantwortlich machen können. Zwar wird ein jeder direkt nach der
Geburt ohne eigenes Zutun von jenen
Mikroben besiedelt, die sich gerade auf der
Hebammenhand, am Mutterbusen und in
der sonstigen Umwelt finden.
Gordon und seine Kollegen vermuten
jedoch, dass eine falsche Diät unerwünschte Keime regelrecht heranzüchtet:
Besonders fettreiche Nahrung lässt demnach im Gedärm Bakterienarten gedeihen,
welche die Nahrung optimal verwerten
und ihren Wirt dick und dicker machen.
Dass die Darmflora eine gewichtige
Rolle bei der Fettleibigkeit spielt, steht
Dicke in den USA, Darmbakterien: Jeder schleppt anderthalb Kilo an Mikroben mit sich herum
Die Winzlinge haben freie Kost und Logis, im Gegenzug regeln sie die Nahrungsverwertung und versorgen den Menschen
mit Vitaminen und Zucker. Doch mitunter
gerät das Gleichgewicht aus den Fugen,
glauben US-Mikrobiologen erkannt zu haben: Manche Bakterienarten erfüllen ihre
Aufgaben allzu gewissenhaft – und lassen
so den Wanst ihres Wirtes anschwellen.
Die Idee von der Mast durch Mikroben
geht zurück auf Jeffrey Gordon von der
Washington University School of Medicine
in St. Louis, der seit Jahren den Zusammenhang zwischen Darmbewohnern und
Körpergewicht erforscht. Er sagt: „Ob wir
bestimmte Arten in der Bakteriengemeinschaft unseres Darms haben oder nicht,
könnte einen profunden Einfluss darauf
haben, wie wirkungsvoll wir Energie aus
der Nahrung gewinnen und speichern.“
Das würde heißen: Eine Schar unsichtbar kleiner Bakterien entscheidet darüber,
warum der eine Pfund um Pfund anhäuft,
während der andere dünn bleibt, egal was
er auch isst. Und der Weg zum Normalge172
auch für Jeremy Nicholson, Lebensmittelchemiker vom Imperial College in London, außer Frage. Ein bis anderthalb
Kilogramm an Darmbakterien schleppe
schließlich jeder mit sich herum. „Da überrascht es nicht, dass sie einen großen Beitrag im Stoffwechsel leisten.“
Wie genau dieser Beitrag aussieht, erforschen die Wissenschaftler um den Mikrobiologen Gordon an Mäusen, in deren
Körper keine Bakterien leben. Durch zwei
Luftschleusen von der schmutzigen Außenwelt abgeschirmt, leben diese „gnotobiologischen“ Tiere in einem Plastikzelt. Zu fressen bekommen sie nur entkeimte Nahrung.
Obwohl die keimfreien Mäuse 29 Prozent mehr Futter fraßen als normal besiedelte Artgenossen, hatten sie nach acht bis
zehn Wochen 42 Prozent weniger Fett unterm Fell. Wurden diese mageren Mäuse
jedoch mit Darmbakterien besiedelt, waren
sie schon nach zwei Wochen genauso fett
wie die Vergleichstiere.
Die rapide Gewichtszunahme liegt nicht
nur daran, dass die Bakterien den Wirt mit
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der schwergewichtigen Nager breitete sich
indessen der Stamm der „Firmicutes“ aus.
Auf dem Jahrestreffen der American Society for Microbiology in Florida haben die
Forscher den Kreis der Verdächtigen jetzt
weiter eingeengt. Einer der möglichen
Missetäter heißt „Methanobrevibacter
smithii“ und fungiert als Müllschlucker in
den Gedärmen. Erst dieser Sauberkeim,
so offenbaren aktuelle Mäusestudien, verwandelt den Darm in ein attraktives Biotop
für viele andere Bakterienarten. Diese angelockten Siedler wiederum verbessern
dann die Futterverwertung.
Ob Müllmännchen Methanobrevibacter
oder andere Keime tatsächlich die Fettsucht des Menschen befördern, sollen
künftige Analysen von Stuhlproben zeigen. Die Fahndung in dieser Flora dient
am Ende möglicherweise nicht nur feisten Wohlstandsbürgern, sondern auch
Hungernden in armen Ländern: Ausgestattet mit Dickmachern im Darm, könnten sie ihre knappe Nahrung optimal verwerten.
Jörg Blech
Weingut im französischen Burgund
GÜNTER BEER / VISUM
W E I N BAU
Rasterfahndung unter der Erde
Was ist es, das große Weine einzigartig – und teuer – macht?
Mit Spähsatelliten, Radarsonden und Analysetraktoren wagen sich Geologen und
Mikrobiologen an das größte Rätsel der Feinschmeckerei.
E
s kam der Tag, da wurde dem kalifornischen Winzer Randall Grahm
die Mühsal im Weinberg zu dumm.
Er warf einfach ein paar zerklopfte Steine
in seine Fässer – Granit ins erste, Sandstein
ins zweite, Schwarzschiefer ins dritte. Dann
ließ er den Wein neun Monate ziehen.
Das Ergebnis war wenig begeisternd.
Noch immer wollte die ersehnte Steinigkeit
im Geschmack sich nicht so recht einstellen. Mit Nachwürzen, so erkannte Grahm,
geht es also auch nicht.
Ein Zauberwort hat den wunderlichen
Mann behext: Mineralität. Unter Winzern
und Weinfreunden ist es groß in Mode
gekommen. Die besten Weine dünsten
im Glas oft rätselhafte Aromen aus, die
an nasse Kiesel oder Schiefer erinnern.
Manchmal spitzen auch salzige oder metallische Töne hervor. Sie verwandeln das
übliche Tuttifrutti aus Brombeer-, Pflaumen- oder Pfirsicharomen in ein schier
unergründliches Spiel von Gaumenreizen. Kenner erschlürfen im Mineralischen
gar den Nachgeschmack ferner Erdzeitalter.
Ganz abwegig ist das nicht. Die Rebstöcke wurzeln oft metertief in verwittertem Schiefer, Feuerstein oder Tuffgeröll.
Sie ernähren sich aus den Sedimenten
174
längst verdunsteter Urmeere, aus dem Auswurf längst erloschener Vulkane. „Was Sie
in einer Flasche Wein schmecken, sind
hundert Millionen Jahre Erdgeschichte“,
behauptet der kalifornische Feierabendwinzer David Jones, im Hauptberuf Geologe an der Berkeley-Universität.
Jones ist einer von vielen Gesteinskundlern, die sich neuerdings für den geologischen Unterbau der Rebenkultur interessieren. Überall werden inzwischen
Weinberge angebohrt, Bodenproben entnommen, Sensoren postiert. Das Rätsel der
Weine, die von einzigartigen Böden irgendwie geadelt scheinen, hat einen starken Reiz: Nicht nur, dass solche Tropfen in
Blindproben oft Aufsehen erregen, sie erzielen auch höchste Preise. „Nehmen Sie
nur das Burgund“, sagt der US-Geologe
Larry Meinert. „Die Lage von PulignyMontrachet bringt sagenhaft teure Gewächse hervor, und gleich nebenan gedeihen nur billige Massenweine.“
Wo Klima und Weinbaumethoden sich
gleichen, muss der Unterschied offenbar
unter der Erde liegen. Ist es das Angebot
an Mineralien? Oder eher die Art, wie der
Boden Wasser und Wärme speichert?
An der kalifornischen Wein-Universität
von Davis haben sich die Forscher dieser
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Fragen im Großmaßstab angenommen.
Zum Einsatz kommt alles, was die neueste
Technik hergibt: von diversen Spähsatelliten bis hin zum Bodenradar, einem staubsaugerartigen Gerät, das gerade in den ersten Weingütern erprobt wurde.
Die Beratungsfirma Terra Spase bietet
ihren Kunden einen futuristischen Analysetraktor. In kurzen Abständen senkt sich
eine Art Riesenstocher metertief in den
Boden und entnimmt Proben für die chemische Analyse. Sonden am Stocher messen zugleich Feuchte und Beschaffenheit
des Untergrunds. Eine Live-Kamera späht
die Architektur der Porenräume im meist
steinigen Erdreich aus – wichtig für die
heikle Wasserversorgung der Rebstöcke.
Was die unterirdische Rasterfahndung
erbracht hat, erscheint sogleich auf digitalen Bodenkarten, die der Computer mittels
GPS-Ortung erstellt. „Wir fanden enorme
Unterschiede, oft binnen wenigen Metern“, sagt Firmengründer Paul Skinner.
Unterhalb der obersten, eher gleichförmigen Krume geht es offenbar erstaunlich
abwechslungsreich zu. Mehr als hundert
verschiedene Bodenformationen ergaben
Wühlarbeiten im berühmten Napa Valley
nördlich von San Francisco. Und je nach
Untergrund können Aromen, Gerbstoffe
Wissenschaft
Gottes Werk und Winzers Beitrag
Was das Weinaroma beeinflusst
1 Mikroorganismen Auf den Beeren
leben Hefepilze verschiedener Stämme.
Sie beeinflussen später bei der Gärung
das Aroma des Weins. Jeder Hefestamm
benötigt dabei
bestimmte
Bodenmineralien
als Co-Enzyme.
1
2 Beschnitt Der Winzer kann die
Aromakonzentration erhöhen, indem
er die Sonneneinstrahlung durch Laubbeschnitt dosiert oder einen Teil der
Trauben vor der Reife entfernt.
3
3 Boden Die Wasserzufuhr ist
der wichtigste Faktor. Günstig sind
steinige oder sandige Böden, in
denen die Rebe öfter darben muss.
4 Nährstoffe Über die Wurzeln
nimmt die Rebe Stickstoff, Mineralien
und Spurenelemente (zum Beispiel Zink
und Eisen) auf. Die Nährstoffe gelangen
teilweise in die Beeren. Ihr direkter 4
Beitrag zum Aroma ist noch unklar.
erlebt gerade weltweit eine
Renaissance“, sagt HansReiner Schultz, Weinbauexperte an der hessischen Forschungsanstalt Geisenheim.
Speziell kleine Weingüter
bringen Weine aus Einzellagen auf den Markt, die sich
mit Lokalität und Bodenkolorit hervortun. Aber auch
die deutsche Großkellerei
Reh Kendermann, bekannt
für schlichte Massenweine
für den Export („Black Tower“), bietet inzwischen
„Terroirweine“ an („Riesling Kalkstein“, „Roter
Hang“), die irgendwie nach
Boden schmecken sollen.
Die Branche spekuliert
auf den abenteuerlustigen
Kunden, den die übliche
Fruchtigkeit der verbraucherfreundlichen Weine nur
noch langweilt. Während
der deutsche Durchschnittszecher 2,71 Euro für die Weinforscher Schultz: „Weltweite Renaissance des ,Terroir‘“
Flasche ausgibt, 20 Cent
Vor allem die filigraneren Rebsorten, der
weniger als vor fünf Jahren, zahlt der Premiumkunde für seine Sehnsucht nach weiße Riesling und der rote Pinot Noir,
„Somewhereness“, wie die Amerikaner können je nach Boden und Klima ganz
verschieden ausfallen. Mancherorts wechdas nennen, gern 20 Euro und mehr.
Das Verlangen nach Herkunft macht sich seln die Charaktere sogar in einem einziauch bei anderen Genussmitteln bemerk- gen Weinberg. Der Winninger Uhlen an
bar. Mit dem Erfolg dunkler Edelschoko- der unteren Mosel zum Beispiel ist ein
laden zum Beispiel kam der Kakao, ehe- schwindelnd steiler Felshang, an dem windem ein ortloses Schüttgut, zu unverhoff- zige Terrassen übereinandergestaffelt sind
tem Ansehen. Nun steigt die Nachfrage wie die Chöre einer Basilika. Drei Schiefernach Bohnen aus besonderen Lagen oder formationen treten hier zutage, und jede
gar einzelnen Plantagen – begehrt ist et- bringt ihren eigenen Riesling hervor.
Winzer Reinhard Löwenstein, Anstifter
wa die Variante Criollo aus der venezolanischen Ocumare-Region, der deutschen Terroirbewegung, erzielt mit
der man betörende Aro- seinen drei Weinen aus dem Uhlen Traummen von Mandeln und noten: Kühl, pikant und etwas salzig kommen die Weine aus der Lage „Blaufüsser
Kirschen nachsagt.
Die höhere Kaffee- Lay“ daher, wo die Reben in blauem
kultur kennt die Ver- Schiefer wurzeln. Im „Laubach“ dagegen,
lockungen der Terroir wo die Schiefer grau und kalkreich sind,
schon länger. Spitzen- entsteht ein tiefgründiger, samtiger Rieslagen wie das Nyeri-Tal ling, der ein wenig nach überreifem Stein2
in Kenia, wo winzige obst schmeckt. Die „Roth Lay“ schließlich
Farmen auf vulkani- mit ihrem roten, eisenhaltigen Emsquarzit
schen Lehmböden wirt- liefert einen Wein von fast mysteriöser,
schaften, werden unter mineralreicher Würze.
Kann es sein, dass sich uraltes Gestein
Feinschmeckern verehrt. Selbst bei
Grünkohl und Pinkel soll hie und da im Wein irgendwie ausdrückt? Den weitaus
die Herkunft nicht mehr gleichgültig sein größten Einfluss auf die Aromen scheint
– schon machen die ersten Restaurants mit der Boden als Wasserspeicher zu haben. Je
nachdem, wie über Jahr und Tag die Ver„Terroirküche“ auf sich aufmerksam.
Alles nur eine Mode? Im Weinbau kann- sorgung schwankt, ändert die Pflanze ihren
te jedenfalls schon die Antike den Zauber Stoffwechsel. Als günstig erweisen sich dades Ortes, der sich dem Trinker mitteilt. bei immer wieder karge Böden, die das
Aus der Grabkammer Tutanchamuns sind Wasser nicht lange halten. Zu den besten
26 Weinkrüge erhalten, auf denen zur Trauben bequemt sich die Rebe in einer
Orientierung des Entschlafenen im Jenseits Art kontrolliertem Dahinkümmern.
Eine Fraktion der Weinforscher begenau das Weingut, oft sogar die Parzelle
der Herkunft verzeichnet ist. Krug Nr. 571 hauptet, damit sei das Rätsel des Bodens
etwa verheißt „Süßwein des Hauses Aton auch schon fast gelöst. Die Rebe mache
ihre Früchte eben aus Wasser, Licht, Luft
aus Karet, Kellermeister Ramose“.
MARTIN LEISSL / VISUM
und Farbpigmente stark schwanken, mitunter um das Zehnfache.
Die neuen Daten sollen die Winzer nun
in die Lage versetzen, jedem Bodentyp den
bestmöglichen Wein zu entringen: von der
messgenauen Tropfbewässerung der Reben bis hin zum Laubschnitt, mit dem sich
das Sonnenlicht dosieren lässt, das auf die
Trauben fällt. „Das ist natürlich auch für
die sonstige Landwirtschaft interessant“,
sagt Skinner.
Im sonnigen Westen der USA haben Bodenkundler bereits ganze Weinbaugebiete
großflächig inspiziert. Auch in Südafrika,
Australien und Chile kommt die Erkundung der Bodenfrage in Gang. Dabei hätten die Winzer dort noch vor wenigen Jahren einmütig bestritten, dass sie überhaupt
existiert.
Die Bodenverehrung galt als nationale
Schrulle der Franzosen. Diese sprechen
seit je vom „Terroir“, von der Herkunft
des Weines, die ihm etwas Unverwechselbares verleihe. Weinmacher anderswo bespöttelten das gern als Marotte altmodischer Bodentümler, die mit der Technik
nicht mehr mitkommen. Die Neue Welt
setzte auf gentechnisch optimierte Designerhefen und auf computergesteuerte
Vergärungsanlagen, die aussehen wie kleine Ölraffinerien. Sie feierte die Machbarkeit jederlei Geschmacks.
Umso erstaunlicher nun die Besinnung
auf die Eigenarten der Natur. „Das Terroir
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175
Wissenschaft
TERRA SPASE
und einigen Nährstoffen, die aber fast
überall reichlich vorhanden sind. Der Rebstock ist aus dieser Sicht eine Art Computer, der aus der jeweiligen Abfolge von
Wasserzufuhr und Sonnenschein bis zur
Lese das jährliche Aromenprofil seiner
Beeren errechnet. Nur kennt noch niemand die Software, die in der Pflanze am
Werk ist.
Die andere Fraktion geht von einem verzwickteren Zusammenspiel aus, in dem
auch die Spurenelemente des Untergrunds
wichtig sind: Mangan, Zink, vor allem
Eisen, das in roten Böden reichlich vorkommt. Von den verfügbaren Nährstoffen hänge es zum Beispiel ab, welche Gene beim Pflanzenwachstum angeschaltet
werden, sagt der Molekularbiologe Brian
Forde von der Universität Lancaster: „Es
wäre nicht eben erstaunlich, wenn dadurch
auch der Geschmack mitgeformt würde.“
Analysetraktor der Firma Terra Spase
Riesenstocher mit Live-Kamera
Die Bodenchemie spielt, wie man heute
weiß, sogar noch nach der Weinlese eine
Rolle. „Die Hefepilze, die den Zucker der
Beeren in Alkohol vergären, brauchen
diverse Mineralien als Co-Enzyme“, sagt
der Geisenheimer Weinforscher Schultz.
In manchen Gärkellern ist eine wahre
Multikultur verschiedener Hefen am Werk.
Moselwinzer Löwenstein ließ seine Moste
während der Gärung von einem Mikrobiologen untersuchen; darin fanden sich
insgesamt 56 Hefestämme. Und ein jeder
davon trägt seine höchsteigenen Aromen
zum Geschmack des Weines bei.
Löwenstein gehört zu der wachsenden
Gruppe von Winzern, die sich zugunsten
des Terroir mit der Technik zurückhalten.
Sie arbeiten nicht mit Designerhefen,
sondern mit den riskanteren Gärhelfern,
die von selbst auf den Trauben und im
Keller hausen. Es sind also die eingeborenen Uhlen-Hefen, die in den Rieslingen
von den Uhlen-Böden vor sich hin blubbern – Löwenstein sieht sich eher als
Talentförderer, der den Wein halb lenkt
und halb lässt.
Anders als die Kartoffel, die unverdrossen überall knollt, dankt der Wein erfahrungsgemäß jede Art von Aufmerksam176
keit. Deshalb begrüßt Winzer Löwenstein
auch die Datensammelei der Bodenkundler. Er hat seine Winzerkollegen aufgerufen, einen Atlas deutscher Spitzenlagen zu
erstellen – vom Dorsheimer Pittermännchen bis zum Heppenheimer Centgericht.
Alles Wissen über Gestein, Boden, Mikrobiologie soll darin erfasst werden.
Die Neue Welt denkt unterdessen schon
wieder ungescheut darüber nach, ob man
die Terroirs nicht auch technisch ein bisschen frisieren könnte. Das kalifornische
Edelweingut Opus One zum Beispiel war
nicht ganz zufrieden mit seinem einzigen
Wein (knapp 200 Dollar pro Flasche); es
mangelte dem Monument noch an französischem Mundgefühl.
Was tun? Weinmacher Michael Silacci
besorgte sich kurzerhand aus dem französischen Médoc, wo die größten Bordeaux-Weine wachsen, die Wetterdaten
von 1961 bis 1998. Nun simuliert Opus One
die französischen Schwankungen im Niederschlag mit kalifornischen Bewässerungsanlagen: Der Wein wird gereizt durch
lebensechte Trockenzeiten und Pseudowolkenbrüche. Und schon fallen die Gerbstoffe, sagt Silacci, deutlich „samtiger und
eleganter“ aus.
Der Australier Richard Smart macht es
andersherum: Er speist die Profile großer
Terroirs in seinen Computer und sucht
dann vergleichbare Gebiete in Gegenden,
wo noch gar kein Wein angebaut wird.
Wenn alles passt – Klima, Bodendaten,
Gelände –, können die Pflanzversuche beginnen. So hat Smart nun ein neues Terroir
in Tasmanien abgesteckt, das weitgehend
dem Vorbild der neuseeländischen Spitzenlage Marlborough entspricht.
Die Suche nach neuen Lagen, die für
betörende Charakterweine talentiert sind,
dürfte an Dringlichkeit bald zunehmen.
Denn den Winzern wird langsam bange
vor der globalen Erwärmung. In Deutschland zum Beispiel, dem klassischen Rieslingland, könnte es für die empfindliche
weiße Rebsorte südlich der Mosel bald zu
warm werden.
Steigen die Temperaturen weiter, wird
also vermutlich eine globale Wanderung
der Rebstöcke in Gang kommen. Die einen
müssen dann ausweichen nach Norden
oder in höhere Lagen, während andere an
ihre Stelle treten. Ob aber den jeweiligen
Neusiedlern auch die vorgefundenen Böden behagen, ist fraglich. Dann braucht
man das Wissen, das jetzt zusammengetragen wird.
So bereitet die Wissenschaft von Klima
und Boden nebenher schon die Neuaufteilung der Weinwelt vor. Niemand weiß, wo
die großen Lagen der Zukunft zu finden
sein werden. Sicher ist nur: Für Versuch
und Irrtum nach alter Winzertradition bleibt
kaum mehr Zeit. „Wenn es dumm läuft“,
sagt Hans Schultz, „gehen die Erfahrungen
von zwei Jahrtausenden in 50 Jahren den
Bach runter.“
Manfred Dworschak
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M AT H E M AT I K
Arithmetik von
al-Qaida
Der britische Stochastiker Gordon
Woo berechnet die
Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen – für die
Fußball-WM ist sie erfreulich gering.
G
elegentlich fragen ihn Freunde, wie
denn das zusammenpasse: Mathematik, die reinste aller Wissenschaften, die in Zahlen gegossene Vernunft
– und diese bärtigen Verrückten, diese irrlichternden Hassprediger, die Menschen
dazu verführten, sich als lebende Bomben
in die Luft zu sprengen?
Gordon Woo sieht da keinen Gegensatz:
„Alles, was al-Qaida tut, folgt einer klaren
Rationalität“, verkündet er. „Nichts spricht
dagegen, dass sich das Verhalten von Terroristen berechnen ließe.“
Woo ist „Katastrophist“, so die offizielle Berufsbezeichnung. Er berechnet die
Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen,
er spielt Szenarien möglicher Angriffe
durch, er kartografiert deren voraussichtliche Zerstörungskraft.
Sein Zahlenwerk dient Versicherungen,
die im Fall von Katastrophen – Hurrikanen, Überschwemmungen oder eben
Terroranschlägen – einspringen. Die harte
Währung dieser Institutionen heißt Risiko, und Woo errechnet es auf Punkt und
Komma.
Für die Fußballweltmeisterschaft etwa
lautet sein Ergebnis: 0,38 Prozent.
Diese Zahl steht für die Wahrscheinlichkeit, dass das Großsportereignis in Deutschland wegen eines Terroranschlags abgebrochen oder abgesagt wird. 0,38 Prozent, das
Leitstand des Stadions in Kaiserslautern
RONALD WITTEK / DPA
Absage der WM bei mehr als hundert Toten
In seinem Bücherregal stehen mathematische Fachbücher neben Bin-LadenBiografien. „Ich muss mich in die Köpfe
der Qaida-Führung hineindenken“, erklärt
Woo, und das ist nicht leicht. Denn sein
Büro mitten in einem Glasgebäude im
Bankenviertel, einen Block hinter dem
Themse-Ufer, hat wenig gemein mit den
Höhlenverstecken in den afghanischen
Bergen.
Doch bis zu diesen staubigen Orten,
meint Woo, könne die Mathematik vordringen, genauer gesagt die Stochastik. Jener Zweig der Mathematik also, der aus
dem Griechischen übersetzt „Kunst des
Mutmaßens“ heißt.
Oft scheitere ein Großanschlag schon
bei der Organisation, erklärt Woo: „Je
größer die Tat, desto mehr Menschen erfordert deren Planung. Je mehr Menschen
aber involviert sind, desto größer das Risiko aufzufliegen.“ Mit einem roten Filzschreiber malt er dabei Punkte auf, die er
mit Strichen verbindet – sie sollen eine
Terrorzelle darstellen, wie sie etwa Ende
2001 einen Anschlag auf mehrere Botschaften in Singapur geplant hatte.
Immer mehr Attentäter wurden eingeweiht. Doch irgendwann war das Netzwerk
zu weit geknüpft, die Behörden kamen den
Terroristen auf die Schliche. „Es gibt eine
kritische Grenze, die sich mathematisch
berechnen lässt“, sagt Woo und krakelt
eine komplizierte Formel an die Wand.
disziplin der Spieltheorie ganz gut zu
bewältigen. Al-Qaida konzentriere sich auf
Objekte, die ihr unter den Gläubigen die
meiste Zustimmung einbringen. „Jeder
Anschlag dient schließlich vor allem dazu,
neue Anhänger zu rekrutieren“, so Woo.
Das World Trade Center zum Beispiel
stand ganz oben auf der Liste.
Doch der maximale Propagandagewinn
verringert sich durch andere Einflussgrößen. Wie bei Wasser, das stets den
Weg des geringsten Widerstands gehe,
würden weniger attraktive Ziele bevorzugt, die dafür aber weniger stark gesichert sind. „Bei den Anschlägen in Istanbul zum Beispiel sollte eigentlich das
US-Konsulat getroffen werden“, sagt Woo.
„Die Attentäter entschieden sich dann
aber für das britische, weil es leichter
zugänglich war.“
Für die Fußball-WM in Deutschland gelte: Warum die hoch abgesicherte Allianz
Arena in München angreifen, wenn der
Marienplatz viel einfacher zu attackieren
ist? „Wer Terror abwehren will, muss stets
bessere Sicherheitsmaßnahmen haben als
der Nachbar“, konstatiert Woo nüchtern.
In Deutschland hat er eine ganze Menge Alternativorte für Anschläge ausfindig
gemacht – genug, um die Wahrscheinlichkeit für eine WM-Absage nach unten zu
drücken. Außerdem müssten die Terroristen schon gleichzeitig Bomben in mehreren
Stadien zünden, um den Fußballzauber zu
stoppen. Erst ab hundert Toten, so seine
Berechnungsgrundlage, würde eine Absage wahrscheinlich.
HORST A. FRIEDRICHS (L.); REUTERS (R.)
sei, so der Brite chinesischer Abstammung,
glücklicherweise ziemlich gering.
Es entspricht etwa der Wahrscheinlichkeit, dass ein 47-jähriger Mann in den
nächsten zwölf Monaten verstirbt. Es ist
geringer als das Risiko eines Deutschen,
irgendwann einen tödlichen Autounfall zu
erleiden, doch wesentlich größer als dasjenige, mit dem Flugzeug abzustürzen.
Der Weltfußballverband Fifa hat auf Basis dieser Zahl 0,38 ein Versicherungswerk
ersonnen, das sein finanzielles Risiko bei
einer WM-Absage abdecken soll. Die FifaTochter Golden Goal Finance Ltd. arbeitet
dazu mit einer Anleihe: 260 Millionen Euro
zahlten Banken und andere
institutionelle Anleger in den
Fifa-Fonds ein. Dort liegt das
Geld jetzt.
Sprengt al-Qaida das Turnier, deckt es die von der Fifa
zu zahlenden Entschädigungen, und die Investoren verlieren ihr Geld. Trifft ein solches Unglück nicht ein – und
die Arithmetik des Herrn
Woo spricht dafür –, dann
wird den Anlegern ihr Geld
wieder ausgezahlt, mit etwa
vierprozentiger Verzinsung.
Woo arbeitet als Mathematiker für die Londoner
Niederlassung der Bera- Mathematiker Woo, Terrorchef Bin Laden: „Alles, was al-Qaida tut, folgt einer klaren Rationalität“
tungsfirma Risk Management
Vieles in seinem Laptop trägt die SignaSolutions (RMS). Sie gehört zu einem „Das ist so wie Wasser, das man abkühlt,
tur „vertraulich“. Die Risikobewertung für
winzigen Zirkel von verschwiegenen und plötzlich gefriert es.“
Die entscheidende Schwelle liege bei einzelne deutsche Städte etwa oder die
Unternehmen, die sich auf die Kalkulation
50 Mitwissern. „Dann hat auch eine mit Wahrscheinlichkeit für einen kleineren
des Terrors spezialisiert haben.
Unmittelbar nach den Anschlägen auf den dümmsten Ermittlern geschlagene Selbstmordanschlag bei der WM. Für amedas World Trade Center schien ein solches Behörde eine hohe Wahrscheinlichkeit, die rikanische Städte, allen voran New York,
Risiko unberechenbar. Ende 2001 kün- Zelle zu zerschlagen.“ Woo malt dazu eine kann RMS sogar das Risikoprofil einzeldigte der Axa-Konzern eine Ausfallpolice grafische Darstellung an die Tafel, deren ner Gebäude angeben.
Insgesamt fallen die Prognosen der Mafür die WM in Südkorea und Japan. Doch Kurve bei 50 Personen steil anschnellt.
Auch die Auswahl des Anschlagsziels thematiker für die USA viel schlechter aus
heute boomt das Geschäft. „Kein Unternehmen kann es sich noch leisten, nicht und der Waffen, so ist Woo überzeugt, fol- als für die WM: Das Risiko eines großen
gegen einen solchen Anschlag versichert ge klaren Gesetzmäßigkeiten. Sie sei mit Anschlags schätzen sie dort in diesem Jahr
Hilfe der exotischen mathematischen Teil- auf 40 Prozent.
zu sein“, sagt Woo.
Gerald Traufetter
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Technik
sekretär aus Berlin, zu sehr in einem der
Haltenetze festgekrallt. Als die Schwerkraft
R AU M FA H R T
wieder einsetzt, schneidet ihm die Schnur
ins Fleisch – typischer Anfängerfehler.
Ungerührt wickelt Adamowitsch sich einen Verband um den blutigen Finger. „Ihre
Männer machen hier einen tollen Job“,
ruft er und klopft Wittig gönnerhaft auf
Schwebende Staatssekretäre, taumelnde Professoren – in einem
die Schulter. Der Staatssekretär hat etwas
Experimentalflug proben Promis die Schwerelosigkeit.
von einem preußischen General.
Nach den ersten zwei, drei Parabeln haie Frisur sitzt. Sogar in der Schwe- umher, um seinen Gästen all die Experi- ben sich die meisten Erstflieger an den
rauschhaften Schwebezustand gewöhnt.
relosigkeit. Während ihre Mitrei- mente an Bord schmackhaft zu machen.
Doch den Erstfliegern in ihren blauen Einige wirken so entrückt wie Sektensenden unkontrolliert durchs Flugzeug trudeln, hebt Dagmar Wöhrl, 52, im Overalls fällt es schwer, sich für irgend- mitglieder, und Sigmar Wittig ist ihr Guru.
perfekten Schneidersitz vom Kabinenbo- welche Versuche zu begeistern. Anfänger Ausgelassen wie ein kleiner Junge stramden ab – als wäre sie eine Schülerin von haben genug damit zu tun, das Abenteuer pelt ein Börsenchef in der Luft. Skispringer
ohne Erbrechen und blaue Flecken zu Jens Weißflog („Man fliegt immer nur so
Jedi-Meister Yoda.
Nach der Landung auf dem Köln-Bon- überstehen – ein Trip in die Schwerelosig- weit, wie man im Kopf schon ist“) dreht
Salti. Einem betagten Hochschulgelehrten
ner Flughafen klettert sie bemüht lässig die keit ist keine Kaffeefahrt.
Als die Maschine das Testgebiet über gelingt ein perfekter Fallrückzieher; in
Gangway herab. Zusammen mit den anderen Helden des Tages stellt sich die CSU- der Nordsee erreicht hat, gibt der franzö- Zeitlupe segelt der Fußball davon.
Insgesamt zwölfmal schleuPolitikerin zum Gruppenfodert Kapitän Le Barzic seine
to auf. Ist ihr schlecht geworPassagiere in den Schwebeden? „Nein, mir ging’s gut“,
zustand. Trotz der verabversichert Wöhrl. Und lächelt
reichten Medikamente gegen
routiniert in die Kamera.
Übelkeit versagt beim HimGelernt ist gelernt. In
melsrodeo gern mal der Maihrem früheren Leben war
gen. „Kotzbomber“ nennen
die blonde Fränkin mal Miss
die Amis die ParabelflugzeuGermany. Später wurde sie
ge, mit denen sie ihre AstroBundestagsabgeordnete. Und
nauten trainieren.
seit dem Machtwechsel reDenn selbst echten Astrogiert sie mit in Deutschland,
nauten wird manchmal übel.
als Parlamentarische StaatsVor sechs Jahren umkreiste
sekretärin im WirtschaftsGerhard Thiele, 52, mit eiministerium, das sich neuernem US-Shuttle die Erde.
dings auch um die Raumfahrt
Nun steigt der hagere Mann
kümmert – der Ausflug in die
blass aus dem Zero-G-AirSchwerelosigkeit ist für Dagbus. „Bei der letzten Parabel
mar Wöhrl so etwas wie eine
hat’s mich erwischt – die
Dienstreise.
schnellen Wechsel zwischen
Offiziell befindet sich der
Überschwerkraft und SchweAirbus A300 (Modell „Zerorelosigkeit sind schlimmer als
G“) auf einer Forschungs- Staatssekretärin Wöhrl beim DLR-Parabelflug: Wie Jedi-Meister Yoda
ein Raketenstart.“
mission. Während der SchweWarum es den einen trifft und den anrelosigkeit, die durch waghalsige Parabel- sische Kapitän Gilles Le Barzic, ein eheflugmanöver erzeugt wird, experimentieren maliger Kampfpilot, das Startkommando: deren nicht, ist ein Rätsel. Die Weltraumdie Wissenschaftler mit Metalllegierungen, „Pull up!“ Dann rast das Flugzeug mit mediziner können bis heute kein System
testen eine faltbare Satellitenantenne und vollem Schub steil nach oben. Die Passa- erkennen. Es trifft Dünne wie Dicke, Fraumessen, wie Pflanzen in der Schwerelosig- giere werden auf den Boden gepresst. Jetzt en wie Männer. Einige fühlen sich nur bei
wiegen sie fast doppelt so viel wie normal. den ersten Parabeln unwohl, dann komkeit wachsen.
Kaum hat der Steilflug einen Winkel von men sie immer besser klar; andere zerDiesmal dient der Experimentalflug des
Deutschen Zentrums für Luft- und Raum- 47 Grad erreicht, nimmt der Pilot den mürbt jede weitere Parabel mehr. Nur die
fahrt (DLR) aber auch als Werbetour. Ent- Schub extrem zurück – und die Passagiere Alten verkraften den Trip offenbar besser
scheidungsträger und Promis sollen am ei- beginnen zu schweben. Wie ein Stein rast als die Jungen.
„Leider können wir bislang nicht vorgenen Leib spüren, wie aufregend Wissen- der Airbus auf die Erde zu. Noch eine Mischaft sein kann; vielleicht hilft’s ja bei den nute, und er würde zerschellen. Rechtzei- hersagen, wie jemand auf die Belastung
tig zieht Le Barzic die Maschine wieder eines Parabelflugs reagiert“, sagt der DLRnächsten Etatverhandlungen.
Es ist der Tag des Sigmar Wittig. Am hoch, nach 22 Sekunden endet die Schwe- Raumfahrtmediziner Bernd Johannes. Der
Boden wirkt der 66-jährige DLR-Leiter relosigkeit – Bundestagsabgeordnete und Forscher hat einige Erstflieger verkabelt,
meist nüchtern, wie man es von langjähri- Uni-Rektoren plumpsen unsanft zu Boden. um während der Mission EKG zu erstellen.
Um Verletzungen zu vermeiden, ist der Auch Dagmar Wöhrl hat sich in den Dienst
gen Universitätsprofessoren kennt. Doch
in der Luft ist der deutsche Raumfahrtchef Spezial-Airbus entkernt. Weiche Matten der Wissenschaft gestellt.
Doch als Versuchskaninchen ist sie unso aufgekratzt, als hätte er ein Aufputsch- an Boden, Wand und Decke erinnern an
mittel genommen: „Ich bin schon viermal eine Gummizelle. Dennoch geht es nicht ergiebig. Für die Mediziner wären die Mesmitgeflogen, und es macht mir jedes Mal ohne Blessuren ab. Während einer Schwe- sungen aufschlussreicher gewesen, wenn
mehr Spaß; ich glaube, ich bin süchtig ge- bephase hat sich Georg Wilhelm Adamo- sich die Frau Staatssekretärin übergeben
worden.“ Aufgeregt läuft er im Flugzeug witsch, 58, der zweite Wirtschaftsstaats- hätte.
Olaf Stampf
Dienstreise im freien Fall
DLR
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Chronik
27. Mai bis 1. Juni
SPIEGEL TV
DONNERSTAG, 8. 6.
22.05 – 23.00 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
Irgendwas ist immer –
Leben in einer Großfamilie
Dreißig Unterhosen in der Waschmaschine, bergeweise dreckiges Geschirr und
die ständig knappe Haushaltskasse – die
Organisation des Alltags ist eine logistische Meisterleistung. SPIEGEL TV Extra über das Kleinunternehmen Großfamilie.
Der deutsche Papst besucht
den Ort der Vernichtung:
Benedikt XVI. am vergangenen
Sonntag in Auschwitz.
S A M S T A G , 2 7. 5 .
KATASTROPHEN Ein Erdbeben der Stärke
6,2 auf der Richter-Skala erschüttert
die indonesische Insel Java. Nach Angaben der Behörden kamen rund 6000
Menschen ums Leben, Tausende wurden
verletzt, rund 200 000 obdachlos.
RECHTSEXTREME Der grüne Bundestags-
abgeordnete Volker Beck wird in Moskau
als Teilnehmer einer HomosexuellenKundgebung angegriffen und erleidet
eine Platzwunde am Auge. Beck wirft
der Polizei Versagen vor.
S O N N TA G , 2 8 . 5 .
STAATSOBERHAUPT Bei der zentralen Trau-
erfeier für Paul Spiegel, den verstorbenen
Präsidenten des Zentralrats der Juden
in Deutschland, ruft Bundespräsident
Horst Köhler zu mehr Zivilcourage gegen
rechte Gewalt auf. Die Gesellschaft dürfe
nicht länger dulden, dass Menschen mancherorts aufgrund ihrer Herkunft oder
Religion um ihr Leben fürchten müssen.
M O N TA G , 2 9 . 5 .
AFGHANISTAN Nach dem Zusammenstoß
den Schriftsteller Peter Handke mit dem
Heinrich-Heine-Preis zu ehren. Handke
habe sich durch seine Sympathie für den
früheren serbischen Diktator Slobodan
MiloΔeviƒ diskreditiert.
KONZERNE Nach einem monatelangen Ab-
wehrkampf akzeptiert der amerikanische
Spezialchemie- und Katalysatorenhersteller Engelhard die Übernahme durch
den deutschen Konzern BASF. Das
Angebot liegt bei 5,1 Milliarden Dollar.
FAMILIENPOLITIK Der Mainzer Minister-
präsident und SPD-Bundesvorsitzende
Kurt Beck kündigt an, dass der Kindergartenbesuch in Rheinland-Pfalz bis 2010
schrittweise gebührenfrei werden soll.
MITTWOCH, 31. 5.
VERFASSUNGSGERICHT Die Karlsruher Richter üben in einem Grundsatzurteil scharfe
Kritik am bestehenden Jugendstrafvollzug. Bis Ende 2007 müsse eine gesetzliche
Grundlage geschaffen werden, die den
besonderen Umständen der Inhaftierung
von Jugendlichen gerecht werde.
ARBEITSMARKT Die Arbeitslosenzahl sank
eines US-Militärlastwagens mit Zivilfahrzeugen in Kabul kommt es zu den
schwersten Ausschreitungen seit dem
Sturz des Taliban-Regimes 2001. Mindestens 20 Menschen werden getötet.
im Mai deutlich, und zwar um 255 000 im
Vergleich zum April. Das ist der stärkste
Rückgang in einem Mai seit 1990.
HIGHTECH Der amerikanische Chiphersteller
AMD will in den Ausbau seines deutschen
Standorts Dresden 2,5 Milliarden Dollar
investieren. Es handelt sich um eines
der größten ausländischen Investitionsvorhaben in den neuen Bundesländern.
MILITÄREINSATZ Die Bundeswehr über-
D I E N S TA G , 3 0 . 5 .
KULTURPOLITIK Der Stadtrat von Düssel-
dorf stellt sich gegen die Entscheidung,
SPIEGEL TV
THEMA
Mode, Marken und Marotten –
Die Deutschen und ihre Garderobe
Ob Schuhwerk, Hosen oder Unterwäsche
– auch wenn für einige Menschen Kleidung nur eine unwichtige Äußerlichkeit
ist, den meisten gilt sie doch als ein wesentlicher Bestandteil der Persönlichkeit.
SPIEGEL TV Thema über die Vielfalt in
der Bekleidungsindustrie.
SAMSTAG, 10. 6.
22.10 – 0.10 UHR VOX
SPIEGEL TV
SPECIAL
Vom Skagerrak bis zum Nordkap –
Mit Kreuzfahrtschiffen unterwegs an
Norwegens Küste
Schwer passierbare Fjorde und verschneite Bergketten machen die Reise mit
dem Postschiff „Trollfjord“ entlang der
Küste Norwegens zu einem einmaligen
Naturerlebnis. Bis über den Polarkreis
fahren die Passagiere in der Hoffnung,
Zeuge eines spektakulären Phänomens
zu werden: In sternenklaren Nächten
beginnt der Himmel zu leuchten.
SONNTAG, 11. 6.
23.45 – 0.35 UHR RTL
SPIEGEL TV
MAGAZIN
Wir sind Fußball! – von Fans, Ordnungshütern und leichten Mädchen; Tatmotiv: MP3-Player – 14-Jähriger erschlägt
13-Jährige; Parkplatz-Krieg in Manhattan –
das seltsame Fahrverhalten der New
Yorker.
D O N N E R S TA G , 1 . 6 .
nimmt das Kommando über die internationale Schutztruppe Isaf in ganz Nordafghanistan.
URTEIL Die Mutter der neun toten Babys
von Brieskow-Finkenheerd in Brandenburg wird wegen Totschlags zu 15 Jahren
Haft verurteilt. Die 40-jährige Frau erhält
damit die Höchststrafe, die im Regelfall
auf Totschlag steht.
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BERND WEIßBROD / DPA
PAWEL KOPCZYNSKI / REUTERS
FREITAG, 9. 6.
22.00 – 0.00 UHR VOX
Weibliche Fußballfans
181
Register
32 Teams, ein Ziel: Erleben Sie das
Fußballfest im großen SPIEGEL-ONLINESpecial – mit Live-Ticker, Interviews,
Analysen, Reportagen und Carsten van
Ryssens Videokolumne.
왘왘
POLITIK
Nervöse Fahnder: Mit nie gekanntem
Aufwand soll die WM vor Terror
gesichert werden. SPIEGEL ONLINE
analysiert die Schwachstellen im
Sicherheitskonzept.
왘왘
WIRTSCHAFT
WM-Wetten: Normalerweise schätzen
sie, wie die Konjunktur läuft –
aber verstehen sie auch was von
Fußball? Führende Volkswirte
erklären, wer Weltmeister wird.
왘왘
KULTUR
Fußballkunst: SPIEGEL ONLINE
forscht nach, was nach der
Eröffnungsfeierpleite vom WMKulturprogramm übrig geblieben ist.
왘왘
UNISPIEGEL
Klappcouch: Die Welt zu Gast bei
Deutschlands Studenten. SPIEGEL
ONLINE berichtet aus WM-WGs und
über geldgierige Zimmervermieter.
왘왘 Dazu täglich mehr als 100 weitere
aktuelle Nachrichten, Reportagen und
Hintergründe bei SPIEGEL ONLINE.
Jeden Tag.
24 Stunden.
www.spiegel.de
Schneller wissen, was wichtig ist.
Shohei Imamura, 79. Als Rebell gegen
den gepflegten Studio-Stil hat er von den
späten fünfziger Jahren an im japanischen
Kino Furore gemacht: mit scharfen, zupackend-aggressiven Filmen, die den Blick
auf die Schattenseiten und Tabuzonen der
großstädtischen Nachkriegsgesellschaft
richteten – auf Korruption, Organisierte
Kriminalität und Prostitution – oder auf die
archaische Rückständigkeit und Grausamkeit des ländlichen Alltags. Fast immer
standen misshandelte,
leidende, um ihre Würde und ihr Überleben
kämpfende Frauen im
Zentrum seiner Filme.
Auf europäischen Festivals hat Imamuras
strenge, meist düstere
Expressivität erst spät
die gebührende Aufmerksamkeit gefunden, 1983 mit der bäuerlichen „Ballade von Narayama“, 1989 mit
dem Hiroshima-Film „Schwarzer Regen“,
1997 mit dem Schuld-und-Sühne-Drama
„Der Aal“. Zweimal (1983 und 1997) wurde er in Cannes mit der Goldenen Palme
gefeiert, doch dem westlichen Publikum
blieb er fremd. Shohei Imamura starb am
30. Mai in Tokio.
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DB CENTRAL PRESS / PICTURE-ALLIANCE / DPA
ner alten Tradition des Hauses drei Monate lang inkognito als einfacher Lehrling
im Familienunternehmen und heute weltgrößten Reifenhersteller Michelin arbeiten. Doch die frappierende Ähnlichkeit
mit dem Vater und langjährigen Firmenchef François Michelin entlarvte den
jungen Edouard prompt. Später machte
sich der studierte Ingenieur und illustre
Erbe als neuer Michelin-Chef seinen
eigenen Namen. Er begann allerdings mit
Negativschlagzeilen, als er im September
1999 trotz steigender Gewinne den Abbau
von 7500 Stellen ankündigte. Doch der
sechsfache Familienvater mit der Vorliebe
für schnelle Autos und gregorianische
Gesänge zog Konsequenzen aus der „Jugendsünde“, wie er
später sagte. Er erneuerte die Produktion,
sorgte für mehr Transparenz und beteiligte
seine Mitarbeiter am
Gewinn des Unternehmens, das seit der
Gründung 1889 fast
ohne Unterbrechung von einem Familienmitglied geführt wurde. Michelin erzeugt
heute rund 200 Millionen Reifen jährlich
und beschäftigt 130 000 Mitarbeiter weltweit. Edouard Michelin ist am 26. Mai
aus bisher ungeklärten Gründen beim
Angeln vor der bretonischen Küste ertrunken.
Henry Bumstead, 91. Mit Holz und Pappmaché verwirklichte der im kalifornischen
Ontario geborene Filmarchitekt die kühnsten Visionen von Hollywoods größten Regisseuren: Für Alfred
Hitchcock baute er
den schwindelerregenden Kirchturm, von
dem Kim Novak in
„Vertigo“ (1958) in die
Tiefe stürzt, für George
Roy Hill ließ er in „Der
Clou“ (1973) das Chicago der Depressionszeit wiederauferstehen, für Clint Eastwood schuf er in
„Space Cowboys“ (2000) einen Satelliten
im All. Bumsteads liebevoll-detailgenaue
Dekors ermöglichten den Regisseuren
wagemutige Kamerafahrten und wuchtige
Totalen, eröffneten Stars wie Cary Grant,
James Stewart oder Robert Redford ungeahnte Spielräume und erzählten ihre eigene Geschichte: Wer die Boxhalle sieht, die
der zweifache Oscar-Gewinner Bumstead
mit fast 90 Jahren für Eastwoods „Million
Dollar Baby“ (2005) entwarf, glaubt den
Schweiß und das Blut von Jahrzehnten zu
riechen. Henry Bumstead starb am 24. Mai
in Pasadena bei Los Angeles.
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ARUN NEVADER / WIREIMAGE.COM
WM-FIEBER
Der aus einer alteingesessenen niedersächsischen Adelsfamilie stammende ehemalige
Nato-Befehlshaber diente als Offizier in
drei deutschen Armeen: Die Reichswehr
der Weimarer Republik
bildete den Kavalleristen noch an der Lanze
aus. Unter Hitler war
er im Oberkommando
des Heeres tätig. Nach
dem Attentat vom 20.
Juli 1944 nahm ihn die
Gestapo fest. Kielmansegg wurde aber schon
bald als Regimentskommandeur auf Bewährung an die Front entlassen. In der
Militärpolitischen Abteilung der Bonner
Dienststelle Blank, dem späteren Verteidigungsministerium, war Kielmansegg als
Leiter maßgeblich am Aufbau der Bundeswehr beteiligt. Er gilt als einer der geistigen
Väter des Prinzips der „Inneren Führung“,
das mit dem Begriff des Staatsbürgers in
Uniform zum Markenzeichen der Bundeswehr wurde. 1965 wurde Kielmansegg
dafür mit dem Freiherr-vom-Stein-Preis
ausgezeichnet. 1968 beendete er seine militärische Karriere als Oberbefehlshaber
Alliierte Landstreitkräfte Mitteleuropa.
Johann Adolf Graf von Kielmansegg starb
am 26. Mai in Bonn.
KOJI SASAHARA / AP
KIMIMASA MAYAMA / REUTERS
Johann Adolf Graf von Kielmansegg, 99.
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STAN HONDA / AFP
Edouard Michelin, 42. Er sollte nach ei-
gestorben
Personalien
Marie Gillain, 30, belgische
BENAINOUS-CATARINA-LEGRAND / GAMMA / LAIF
Schauspielerin („Mein Vater,
der Held“, „Der Lockvogel“),
muss für ihre Vertrauensseligkeit büßen: Sie fiel dem Millionenbetrug ihres Finanzberaters zum Opfer. Die Schöne
hatte davon jahrelang nichts
bemerkt, bis jetzt eine beträchtliche Steuernachzahlung
fällig wurde, die sie sich nicht
erklären konnte. Nun fordert
sie von ihrem ehemaligen „Vertrauensmann“ insgesamt 1,5
Millionen Euro zurück, mit denen der „Freund der Familie“
sich peu à peu über die Jahre
sein Gehalt aufgebessert hatte,
bis nichts mehr für die Steuerbehörde übrig blieb. Unmittelbare Not muss die Belgierin allerdings kaum leiden: Sie ist
das neue Gesicht der internationalen Werbekampagne des
Juweliers „Piaget“ und dreht
gerade einen neuen Film nach
einem Bestseller von KrimiAutorin Fred Vargas.
Gillain
NEIL HANNA / TSPL
Gordon Brown, 55, britischer Schatzkanzler und Möchtegernnachfolger von
Tony Blair, machte sich in seiner schotti-
Brown, Jugendspieler des Raith Rovers FC
schen Heimat unbeliebt mit Bemerkungen
zur Fußballweltmeisterschaft. Der „Sunday Telegraph“ hatte einigen schottischstämmigen Kabinettsmitgliedern Fragen
zum World Cup gestellt. Die meisten von
Browns Kollegen verweigerten sich diskret,
etwa der Staatsminister im Außenministerium Ian McCartney, der sich entschuldigte: „Ich bin Schotte und Anhänger des
Rugby, deshalb möchte ich nichts zum englischen Fußballteam sagen.“ Nur Brown
beantwortete geradeheraus alle Fragen. So
sei seine schönste Fußballerinnerung das
Europameisterschaftsspiel gegen Schottland 1996, das Paul Gascoigne mit seinem
„großartigen Tor“ für England entschied.
Den World-Cup-Gewinn 1966 habe er
am Fernseher im heimischen Schottland
miterlebt, „natürlich“ unterstütze er England, sagt der Schotte Brown, „zwei Drit-
tel aller Schotten“ täten das,
er selbst werde in „Köln dabei sein beim Gruppenspielfinale England gegen Schweden“. In Browns Heimatgemeinde Kirkcaldy ist man
sauer. Der ehemalige Vorsitzende von Browns geliebtem
Raith Rovers Football Club
äußerte „absolute Verachtung“ für des Schatzkanzlers
Haltung. Ein ehemaliger Schulkamerad, jetzt Lehrer, erinnerte sich an die „Enttäuschung“, als Deutschland 1966
gegen England im WembleyStadion verlor. Kenn McLeod:
„Wir waren alle fanatische
Fans von Schottland und nicht
im Entferntesten erfreut, den
alten Feind siegen zu sehen.“
José Manuel Barroso, 50,
Kommissionspräsident der Europäischen Union, erhielt einen Nasenstüber von aufgebrachten Umweltschützern.
Der Europa-Chef hatte eine
Liste von Energiespartipps veröffentlichen lassen, mit denen deutlich
werden sollte, was der „Einzelne“ tun
könne, um die Bedrohung durch den Klimawandel „in Grenzen zu halten“. Den
Sitz der Europäischen Kommission in
Brüssel schmückt derzeit ein großes Poster
mit der Ermahnung: „Du kontrollierst den
Klimawandel. Schalte runter. Schalte aus.
Recycle. Gehe“. Letztlich, so Barroso, sei
„jeder für sein Verhalten selbst verantwortlich“. Umweltschützer bescheinigten
nun dem Kommissionspräsidenten Scheinheiligkeit und verlangten, er möge selbst
erst mal seine Forderungen befolgen. Seinen privat genutzten VW Touareg solle er
stilllegen. Das allradangetriebene Fahrzeug
verpeste die Luft Brüssels mit einem Abgasausstoß, der doppelt so hoch sei wie
die ursprünglich von der EU angepeilte
Obergrenze für Neuwagen.
gute Idee, sich für eine Fotoreportage als treusorgender Vater vor seinem Amsterdamer Haus mit einem Kinderwagen fotografieren zu lassen. Das Bild hat nur einen
unsichtbaren Fehler: Das Gefährt ist leer. Iris, die kleine Tochter von Bos und seiner
Ehefrau Barbara, schlief, wie das Magazin „HP/De Tijd“ jetzt herausfand, zu jenem
Zeitpunkt in ihrem Bett. Fotograf Edwin Smulders, der das Bild bereits im Februar
vor zwei Jahren für die Frauenzeitschrift „Privé“ gemacht hatte, auf die Frage, ob er
damit nicht die 2,5 Millionen Leser des Blattes betrogen habe: „Privé wollte ein Foto
von Bos hinter dem Kinderwagen, und das habe ich gemacht.“ Der frühere ShellManager Bos, der Hollands Jan Peter Balkenende nach den Parlamentswahlen 2007
als Premier ablösen will, wurde nach Bekanntwerden des Coups mit dem leeren
Kinderwagen von den Holländern abgestraft. Balkenende legte in der Wählergunst um
7 Punkte auf 33 Prozent zu. Und nur noch 42 Prozent der Niederländer setzen ihr
Vertrauen in Bos – statt vorher 48.
Bos
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PETER SMULDERS
Wouter Bos, 42, Chef der niederländischen Arbeitspartei (PvdA), glaubte, es sei eine
Jacques Chirac, 73, französischer Staats-
konsequent jene, die ihren Job nicht gut
genug erledigten – jedes Jahr rund 6,5 Prozent. Der Versammlung der Chefs der
größten Unternehmen Großbritanniens
empfahl der Amerikaner dieselbe Politik
des radikalen Schnitts: Die „eigentliche
Frage“ sei nie: Sind die Leute gut genug?
Die einzig wahre Frage sei: Kann es einer
besser? Ballmer ging sogar einen Schritt
weiter und warb für seine Methode als ein gewinnbringendes
Geschäftsprinzip für alle Unternehmen. Zum Beweis, dass es
funktioniert, nannte er die eigene Firma. Vor 26 Jahren habe er
sich mit Bill Gates zusammengetan, da gab es bei Microsoft
nur 30 Angestellte – „die meisten
von ihnen waren nicht sehr gut“.
präsident, sorgte ungewollt und indirekt
für eine bilaterale Medienzensur in Brasilien, wo er sich vorige Woche zu einem
Staatsbesuch aufhielt. Der Elysée-Herr
überbrachte in einer Begrüßungszeremonie im Präsidentenpalast in Brasília seinem
Gastgeber Luiz Inácio „Lula“ da Silva, 60,
neben den Grüßen der Grande Nation eine
Stanislaw Dziwisz, 67, Kardinal
SIPA PRESS
und Erzbischof von Krakau, hat
Verständnis für alles Irdische.
Kaum hatte Papst Benedikt Sonntagabend um 20.00 Uhr vom
Flughafen Krakau-Balice aus
Polen in Richtung Rom verlassen,
ließ er eine zünftige Grillparty
steigen. Mit Bier, Wein und den
Honoratioren der Stadt feierte er den erfolgreichen Papstbesuch im Innenhof der
Residenz der Krakauer Bischöfe. Seine
Landsleute außerhalb der heiligen Mauern,
die zwei Tage lang den deutschen Papst
umjubelt hatten, mussten derweil mit Wasser anstoßen. Das aus Anlass des hohen
Besuchs verhängte strikte Alkoholverbot
galt noch bis Mitternacht.
Chirac, Ehepaar da Silva
Steve Ballmer, 50,
auf ein Vermögen
von 14 Milliarden
Dollar geschätzter
Chef der SoftwareFirma Microsoft, gab
sich jüngst in Großbritannien als ungebändigter Kapitalist
zu erkennen, als er
sein Hire-and-fireModell propagierte.
Microsoft entlasse
von seinen weltweit
61 000 Mitarbeitern Ballmer
d e r
BRUNO VINCENT / GETTY IMAGES
Originalzeichnung des Architekten Le Corbusier. Als der grauhaarige „Lula“ dem
Franzosen seine neben ihm höchst jugendlich wirkende Ehefrau Marisa Letícia, 56, vorstellte mit den erklärenden
Worten „Sie ist jünger als ich …“, entfuhr
dem Pariser Charmeur ein fröhliches „Ah,
das war also eine Verführung einer Minderjährigen“. Während Chiracs Entourage
erstarrte und die Schuhspitzen betrachtete,
reagierten die Brasilianer, denen die Dolmetscherin offenbar eine abgemilderte
Version gegeben hatte, zunächst erheitert
wie auf ein Kompliment. Kurz darauf jedoch stürzten sich brasilianische und französische Diplomaten auf die Fernsehleute
mit der klaren Order: Das sei eine private
Begegnung gewesen, die dürfe nicht im
Fernsehen gezeigt werden. Die TV-Menschen beider Nationen hielten sich an die
Weisung und sendeten Chiracs charmanten
Schnitzer nicht.
Kay Nehm, 65, seit vergangenem Donnerstag Generalbundesanwalt a. D., reagierte bei seiner Verabschiedung in Karlsruhe geradezu schroff auf die versöhnliche
Rede von Bundesjustizministerin Brigitte
Zypries (SPD). Zypries hatte ausdrücklich
Nehms „rechtsstaatliche Prinzipientreue“
gelobt. Doch ihr „lieber Herr Nehm“ begrüßte Zypries förmlich mit „Frau Bundesministerin“ ohne Namensnennung.
Dafür setzte Opernfreund Nehm immer
wieder feine Spitzen Richtung Berlin, etwa
die, dass es auch im richtigen Leben immer
wieder „machtversessene Frauen“ gebe,
die „schwächliche Verehrer und Subalterne zu bösem Tun verleiten“. Wen er
damit besonders gemeint haben könnte,
wurde deutlich, als er sich zwar bei zahllosen Weggefährten namentlich bedankte,
Zypries, ihre Amtsvorgängerin Herta
Däubler-Gmelin und den ehemaligen Justizstaatssekretär Hansjörg Geiger aber
unerwähnt ließ, unter Verweis auf „zu
widersprüchliche“ Signale und „genüsslich
publizierte Nörgeleien“ aus seinem „vorgesetzten Ministerium“. Trotz – oder gerade wegen – der harschen Worte bekam
Nehm minutenlang stehenden Applaus.
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus der „Hockenheimer Tageszeitung“:
„Die Frau soll im Zustand erheblich verminderter Schuldunfähigkeit gehandelt
haben.“
Zitate
Aus einem Prospekt der Firma Sziols
Aus einer Konzertkritik im „Bergsträßer
Anzeiger“: „Wichtig ist allein, dass man
sich entspannt, die Ohren auf Durchzug
stellt und ihn genießt, den warmen Sound
der ,Members Only Group‘.“
Aus der „Leipziger Volkszeitung“
Aus der „Bild“: „Als die Richterin seine
widerlichen Sex-Botschaften verlas, stöhnten die Zuschauer in Saal 223 des Rostocker Amtsgerichts.“
Aus einer Anzeige im „SaarSpiegel“
Aus einer Anzeige von „KarstadtQuelle
Versicherungen“ im „rtv-Magazin“: „Wenn
ich schon in Deutschland lebe, dann
will ich wenigstens sterben wie Gott in
Frankreich.“
Aus der „Kreiszeitung Wesermarsch“
Aus der „Hannoverschen Allgemeinen
Zeitung“: „Eine hohe Dichte von Geflügel sei erst bei mehr als 20 000 Tieren pro
Quadratmeter erreicht.“
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Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGELGespräch mit Irans Präsident
Mahmud Ahmadinedschad „‚Wir sind
entschlossen‘“ über den Holocaust,
die Zukunft des Staates Israel und
Teherans Anspruch auf Nuklearenergie
(Nr. 22/2006):
Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad
im O-Ton zu lesen, ist immer aufschlussreich. Egal, ob er einen 18-Seiten-Brief an
George W. Bush schreibt oder dem SPIEGEL ein sechsseitiges Interview gibt. Dort
verdreht er munter die Fakten seines
Atomprogramms, zweifelt wie stets den
Holocaust an, sieht den Westen von einer
zionistischen Meinungsmafia beherrscht
und will den Deutschen ihren Schuldkomplex austreiben. Es ist kein Wunder, dass
unsere Neonazis Ahmadinedschad zur
WM willkommen heißen. Mit seinen Thesen ist er problemlos anschlussfähig an die
hiesige Szene.
Die israelische Tageszeitung „Maariv“
über die SPIEGEL-Edition
der besten Romane und Sachbücher:
Das Buch „Liebesleben“ von Zeruya Shalev ist vom deutschen Magazin DER SPIEGEL als einer der besten 20 Romane der
Weltliteratur der letzten vier Jahrzehnte
ausgezeichnet worden. Shalev ist die einzige Israelin und eine der wenigen weiblichen Schriftsteller auf der Liste. An ihrer
Seite befinden sich hochgeschätzte Schriftsteller und Werke, darunter Gewinner des
Literaturnobelpreises wie Günter Grass mit
„Das Treffen in Telgte“, „Herzog“ von
Saul Bellow, „Schande“ von J. M. Coetzee
und „Der menschliche Makel“ von Philip
Roth. Die Kulturredaktion des Blattes
wählte sie aus den SPIEGEL-BestsellerListen aus. Im Laufe des Jahres werden
die 20 ausgesuchten Romane in einer
SPIEGEL-Sonderedition herausgegeben.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ zum SPIEGEL-Gespräch mit der brasilianischen
Fußballlegende Sócrates über weltweite
Geschäfte mit Talenten (Nr. 18/2006):
Kostproben seines stupenden Könnens hat
der Weltmeister Brasilien immer wieder
aufblitzen lassen. Am meisten beeindruckte seine Fähigkeit, das Schwierige
leicht und beschwingt aussehen zu lassen … Im Heimatland des Weltmeisters
machen sich allerdings kritische Beobachter zu diesem Thema – was die Zukunft betrifft – einige Gedanken. So sagte kürzlich Sócrates, ein Mitglied der legendären
Seleção von 1982, in einem Interview im
SPIEGEL spöttisch, die brasilianischen
Spieler würden heute praktisch für den europäischen Markt „geboren“. Kaum einer,
der noch wirklich „brasilianisch“ spiele.
d e r
s p i e g e l
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