Georg Herwegh, Joseph von Eichendorff und Heinrich Heine

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Georg Herwegh, Joseph von Eichendorff und Heinrich Heine
LMU München • Institut für deutsche Philologie • PD Dr. Michael Ansel • Vorlesung: Heinrich Heine
und die Literatur des Vormärz (WiSe 2009/10)
Seite 28
7. Stunde (15. Dezember)
Die Zeitgedichte der 1830/40er Jahre:
Georg Herwegh, Joseph von Eichendorff und Heinrich Heine
HH: Vorrede zur 2. Auflage des Buchs der Lieder
Diese neue Ausgabe des Buchs der Lieder kann ich dem überrheinischen Publikum nicht zuschicken, ohne sie mit freundlichen Grüßen in ehrlichster Prosa zu begleiten. Ich weiß nicht,
welches wunderliche Gefühl mich davon abhält, dergleichen Vorworte, wie es bei Gedichtesammlungen üblich ist, in schönen Rhythmen zu versifizieren. Seit einiger Zeit sträubt sich
etwas in mir gegen alle gebundene Rede, und wie ich höre, regt sich bei manchen Zeitgenossen eine ähnliche Abneigung. Es will mich bedünken, als sei in schönen Versen allzuviel gelogen worden, und die Wahrheit scheue sich in metrischen Gewanden zu erscheinen.
(S. 7)
Literatur:

Franz Dingelstedt. Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters. Studienausgabe mit
Kommentar und Einleitung von Hans-Peter Bayerdörfer, Tübingen: Niemeyer 1978

Georg Herwegh. Werke und Briefe. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe.
Band 1. Hg. von Ingrid Pepperle, Bielefeld: Aisthesis 2006
Franz Dingelstedt: XVI. In diesem Hause schläft ein Wicht
In diesem Hause schläft ein Wicht,
Daß Gott sich sein erbarme,
Mit kreideweißem Angesicht
Und klapperdürrem Arme.
Er schläft? … Er wälzt, auf seidnem Pfühl,
Die Glieder mit Fluch und Gewimmer,
Ist's ihm zu heiß, ist's ihm zu kühl,
Recht ist's dem Schächer nimmer.
Und um ihn rauscht die Gardine schwer
Von goldenen Franzen und Falten,
Der Nachttisch kann der Fläschlein Heer
Und der Tropfen Meer kaum halten.
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Warum er nicht schläft? Warum er in Wut
Die Spitzen am Hemde zerrissen?
Ein gutes Gewissen schläft überall gut
Und nirgends ein böses Gewissen.
Er hat an des Landes Mark, die Schlang',
Sich voll gefressen, gesogen,
Er hat – ein Menschenleben lang! –
Gestohlen, gelogen, betrogen.
Hei, Dir auf deinem Dunen-Bett,
Im Steinsarg deiner Paläste,
Wenn ich itzt mein altes Horn noch hätt',
Dir brächt' ich ein Ständchen aufs Beste!
Du schrecktest wie vom Tarantelstich
Aus teuererkauftem Schlafe,
Wähnend, die Posaune weckte dich
Und riefe zur endlichen Strafe!
(S. 106 f.)
Georg Herwegh (1817–1875)
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Georg Herwegh: Gegen Rom
Noch einen Fluch schlepp’ ich herbei:
Fluch über Dich, o Petri Sohn!
Fluch über Deine Clerisei!
Fluch über Deinen Sündenthron!
Nur Gift und Galle war, o Papst,
Was du vom Pol bis zu den Tropen
Der Welt mit deinem Scepter gabst,
Mit deinem Scepter von Ysopen.
Weh Dir, Europa‘s Canaan,
Das einen Brutus einst gezeugt,
Und jetzt sich vor dem Vatikan
Mit feigem Sklavengruße beugt;
Im Fleisch der Menschheit ward zum Pfahl
Die Wiege des Rienzi Cola,
Seit Luthern traf des Bannes Strahl
Und seit loyal dort nur Loyola.
Der Boden, der von Honig troff,
Nur Thränen bringt er noch hervor,
Seit Heinrich in des Pfaffen Hof,
Ein Knecht im Büßerhemde, fror;
Sein Weihrauch ist ein Grabgeruch,
Das Eden wurde zur Sahara,
Und zu Italiens Leichentuch
Die farbenglühende Tiara.
Doch spreiz’ Dich nicht, du stolzes Rom,
Dir ist ein baldig Ziel gesetzt;
Du bist ein längst versiegter Strom,
Der keines Kindes Mund mehr letzt;
Du bist ein tiefgefallen Land,
Du bist das auferstandne Babel,
Der Trug ist Deine rechte Hand,
Dein Schwert das Mährchen und die Fabel.
Und ob Du Diener Dir erkürst
In aller Welt, du mußt vergehn;
Es kann wohl ohne Kirchenfürst
Der Geist, der heilige, bestehn.
Du Autokrat im Höllenpfuhl,
Empfange noch mein letztes Zeter:
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Du Herrscher auf St. Petri Stuhl,
Fürwahr! du gleichest jenem Peter –
Dem keine Glut ins Antlitz flammt,
Wenn man ob Göttern hält Gericht,
Der, wenn man sie zum Kreuz verdammt,
Noch ruft: „Ich kenn’ die Menschen nicht!“
Der, wenn die Erde selbst sich härmt
Und tief in sich zusammenschaudert,
Am Feuer seine Hände wärmt
Und mit des Richters Mägden plaudert.
Du bist kein Fels, wie Petrus war,
Du bist nur feig und schwach, wie er;
Ein Morgenhauch bringt Dir Gefahr
Und streut Dein Reich wie Sand umher!
Du wirst erliegen, Lügenhirt,
Empören werden sich die Denker,
Das Brausen des Jahrhunderts wird
Zertrümmern seine letzten Henker!
(S. 51 f.)
Literatur:

„Freiheit überall, um jeden Preis!“ Georg Herwegh 1817–1875. Bilder und Texte zu
Leben und Werk. Bearbeitet von Heidemarie Vahl und Ingo Fellrath, Stuttgart: Metzler 1992

Heinrich Heine. Neue Gedichte. Hg. von Bernd Kortländer. Nachwort von Gerhard
Höhn, Stuttgart: Reclam 1996 [RUB 2241]

Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden. Band I. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz, Frankfurt 2006
HH: XX. Zur Beruhigung
Wir schlafen ganz wie Brutus schlief –
Doch jener erwachte und bohrte tief
In Cäsars Brust das kalte Messer;
Die Römer waren Tyrannenfresser.
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Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak.
Ein jedes Volk hat seinen Geschmack,
Ein jedes Volk hat seine Größe;
In Schwaben kocht man die besten Klöße.
Wir sind Germanen, gemütlich und brav,
Wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf,
Und wenn wir erwachen pflegt uns zu dürsten,
Doch nicht nach dem Blute unserer Fürsten.
Wir sind so treu wie Eichenholz,
Auch Lindenholz, drauf sind wir stolz;
Im Land der Eichen und der Linden
Wird niemals sich ein Brutus finden.
Und wenn auch ein Brutus unter uns wär,
Den Cäsar fänd er nimmermehr,
Vergeblich würd er den Cäsar suchen;
Wir haben gute Pfefferkuchen.
Wir haben sechsunddreißig Herrn,
(Ist nicht zu viel!) und einen Stern
Trägt jeder schützend auf seinem Herzen,
Und er braucht nicht zu fürchten die Iden des Merzen.
Wir nennen sie Väter, und Vaterland
Benennen wir dasjenige Land,
Das erbeigentümlich gehört den Fürsten;
Wir lieben auch Sauerkraut mit Würsten.
Wenn unser Vater spazieren geht,
Ziehn wir den Hut mit Pietät;
Deutschland, die fromme Kinderstube,
Ist keine römische Mördergrube.
(S. 147 f.)
HH: XVI. Der Wechselbalg
Ein Kind mit großem Kürbiskopf,
Hellblondem Schnurrbart, greisem Zopf,
Mit spinnig langen, doch starken Ärmchen,
Mit Riesenmagen, doch kurzen Gedärmchen, –
Ein Wechselbalg, den ein Korporal,
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Anstatt des Säuglings, den er stahl,
Heimlich gelegt in unsre Wiege, –
Die Mißgeburt, die mit der Lüge,
Mit seinem geliebten Windspiel vielleicht,
Der alte Sodomiter gezeugt, –
Nicht brauch' ich das Ungetüm zu nennen –
Ihr sollt es ersäufen oder verbrennen!
(S. 143)
HH: XII. Georg Herwegh
Mein Deutschland trank sich einen Zopf,
Und du, du glaubtest den Toasten!
Du glaubtest jedem Pfeifenkopf
Und seinen schwarz-rot-goldnen Quasten.
Doch als der holde Rausch entwich,
Mein teurer Freund, du warst betroffen –
Das Volk wie katzenjämmerlich,
Das eben noch so schön besoffen!
Ein schimpfender Bedientenschwarm,
Und faule Äpfel statt der Kränze –
An jeder Seite ein Gendarm,
Erreichtest endlich du die Grenze.
Dort bleibst du stehn. Wehmut ergreift
Dich bei dem Anblick jener Pfähle,
Die wie das Zebra sind gestreift,
Und Seufzer dringen aus der Seele:
„Aranjuez, in deinem Sand,
Wie schnell die schönen Tage schwanden,
Wo ich vor König Philipp stand
Und seinen uckermärkschen Granden.
Er hat mir Beifall zugenickt,
Als ich gespielt den Marquis Posa;
In Versen hab' ich ihn entzückt,
Doch ihm gefiel nicht meine Prosa.“
(S. 139 f.)
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Joseph von Eichendorff: Die Altliberalen
Die wilden Wasser, sagt man, hat entbunden
Ein Lehrling einst, vorwitzig und vermessen,
Doch hinterdrein den Zauberspruch vergessen,
Der streng die Elemente hält gebunden.
Ein tödlich Pulver, sagt man, zu erkunden
Hat einst ein Mönch sich überklug vermessen
Und als er eben recht darauf versessen,
Im Zauberdampf den eignen Tod gefunden.
So habt den Zeitgeist ihr gebraut, gemodelt,
Und wie so lustig dann der Brei gebrodelt,
Ihm eure Zaubersprüche zugejodelt.
Und da's nun gärt und schwillt und quillt – was Wunder,
Wenn platzend dieser Hexentopf jetzunder
Euch in die Lüfte sprengt mit allem Plunder!
(Werke I, S. 449)
Joseph von Eichendorff: Das Schiff der Kirche
Die alten Türme sah man längst schon wanken,
Was unsre Väter fromm gebaut, errungen,
Thron, Burg, Altar, es hat sie all’ verschlungen
Ein wilder Strom entfesselter Gedanken.
Der wühlt sich breit und breiter ohne Schranken,
Ein Meer, wo zornigbäumend aufgeschwungen
Die trüben Fluten Fels um Fels bezwungen,
Und alle Rettungsufer rings versanken.
Doch drüberhin gewölbt ein Friedensbogen,
Wohin nicht reichen die empörten Wogen,
Und unter ihm ein Schiff dahingezogen,
Das weiß nichts von der Wasser wüstem Branden,
Das macht der Stürme Wirbeltanz zuschanden –
O Herr, da laß uns alle selig landen!
(Werke I, S. 452)
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Joseph von Eichendorff: Familienähnlichkeit
Zwei Arten von Getieren,
Nach einem Schliff geschliffen:
Aufwarten, apportieren,
So wie der Herr gepfiffen.
Wo zwei zusammenlaufen,
Zaust einer dem andern die Ohren,
Und all’ zusammen raufen
Den Bruder, der verloren.
Die einen nennt man Hunde,
Die andern heißen Deutsche.
’S ist einerlei im Grunde,
Und beiden gebührt die Peitsche.
(Werke I, S. 453)
Lektüreempfehlungen:

Nikolaus Lenau. Gedichte. Hg. von Hartmut Steinecke, Stuttgart: Reclam 2005
[RUB1449]
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8. Stunde (22. Dezember)
Der weltschmerzliche Publikumsliebling
Nikolaus Lenaus Gedichte (1832) und Neue Gedichte (1838)
Literatur:

Nikolaus Lenau. Gedichte. Hg. von Hartmut Steinecke, Stuttgart: Reclam 2005 [RUB
1449]
Nikolaus Lenau: Abschied. Lied eines Auswandernden
Sei mir zum letztenmal gegrüßt,
Mein Vaterland, das, feige dumm,
Die Ferse dem Despoten küßt
Und seinem Wink gehorchet stumm.
Wohl schlief das Kind in deinem Arm;
Du gabst, was Knaben freuen kann;
Der Jüngling fand ein Liebchen warm;
Doch keine Freiheit fand der Mann.
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Im Hochland streckt der Jäger sich
Zu Boden schnell, wenn Wildesschar
Heran sich stürzet fürchterlich;
Dann schnaubt vorüber die Gefahr:
Mein Vaterland, so sinkst du hin,
Rauscht deines Herrschers Tritt heran,
Und lässest ihn vorüberziehn
Und hältst den bangen Atem an. –
Fleug, Schiff, wie Wolken durch die Luft,
Hin, wo die Götterflamme brennt!
Meer, spüle mir hinweg die Kluft,
Die von der Freiheit noch mich trennt!
Du neue Welt, du freie Welt,
An deren blütenreichem Strand
Die Flut der Tyrannei zerschellt,
Ich grüße dich, mein Vaterland!
(S. 40)
Nikolaus Lenau: Bitte
Weil’ auf mir, du dunkles Auge,
übe deine ganze Macht,
Ernste, milde, träumerische,
Unergründlich süße Nacht!
Nimm mit deinem Zauberdunkel
Diese Welt von hinnen mir,
Daß du über meinem Leben
Einsam schwebest für und für.
(S. 27)
Nikolaus Lenau: Bitte
Weil’ auf mir, du dunkles Auge,
Übe deine ganze Macht,
Ernste, milde, träumerische,
Unergründlich süße Nacht!
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Nimm mit deinem Zauberdunkel
D[ie]se Welt von hinnen mir,
Daß du über meinem Leben
Einsam schwebest füür und füür.
(S. 27)
Nikolaus Lenau: Die Wurmlinger Kapelle*
Luftig, wie ein leichter Kahn,
Auf des Hügels grüner Welle,
Schwebt sie lächelnd himmelan,
Dort die friedliche Kapelle.
Einst bei Sonnenuntergang
Schritt ich durch die öden Räume,
Priesterwort und Festgesang
Säuselten um mich wie Träume.
Und Marias schönes Bild
Schien vom Altar sich zu senken,
Schien in Trauer, heilig mild,
Alter Tage zu gedenken.
Rötlich kommt der Morgenschein,
Und es kehrt der Abendschimmer
Treulich bei dem Bilde ein;
Doch die Menschen kommen nimmer.
Leise werd ich hier umweht
Von geheimen, frohen Schauern,
Gleich als hätt ein fromm Gebet
Sich verspätet in den Mauern.
Scheidend grüßet hell und klar
Noch die Sonn in die Kapelle,
Und der Gräber stille Schar
Liegt so traulich vor der Schwelle.
Freundlich schmiegt des Herbstes Ruh
Sich an die verlaßnen Grüfte;
Dort, dem fernen Süden zu,
Wandern Vögel durch die Lüfte.
*In Württemberg bei Tübingen
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Alles schlummert, Alles schweigt,
Mancher Hügel ist versunken,
Und die Kreuze stehn geneigt
Auf den Gräbern – schlafestrunken.
Und der Baum im Abendwind
Läßt sein Laub zu Boden wallen,
Wie ein schlafergriffnes Kind
Läßt sein buntes Spielzeug fallen. –
Hier ist all mein Erdenleid
Wie ein trüber Duft zerflossen;
Süße Todesmüdigkeit
Hält die Seele hier umschlossen.
(S. 37 f.)
Nikolaus Lenau: Einsamkeit
1
Hast du schon je dich ganz allein gefunden,
Lieblos und ohne Gott auf einer Heide,
Die Wunden schnöden Mißgeschicks verbunden
Mit stolzer Stille, zornig dumpfem Leide?
War jede frohe Hoffnung dir entschwunden,
Wie einem Jäger an der Bergesscheide
Stirbt das Gebell von den verlornen Hunden,
Wie's Vöglein zieht, daß es den Winter meide?
Warst du auf einer Heide so allein,
So weißt du auch, wie's einen dann bezwingt,
Daß er umarmend stürzt an einen Stein;
Daß er, von seiner Einsamkeit erschreckt,
Entsetzt empor vom starren Felsen springt
Und bang dem Winde nach die Arme streckt.
2
Der Wind ist fremd, du kannst ihn nicht umfassen,
Der Stein ist tot, du wirst beim kalten, derben,
Umsonst um eine Trosteskunde werben,
So fühlst du auch bei Rosen dich verlassen;
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Bald siehst du sie, dein ungewahr, erblassen,
Beschäftigt nur mit ihrem eignen Sterben.
Geh weiter: überall grüßt dich Verderben
In der Geschöpfe langen dunklen Gassen.
Siehst hier und dort sie aus den Hütten schauen,
Dann schlagen sie vor dir die Fenster zu,
Die Hütten stürzen und du fühlst ein Grauen.
Lieblos und ohne Gott! der Weg ist schaurig,
Der Zugwind durch die Gassen friert; und du? –
Die ganze Welt ist zum Verzweifeln traurig.
(S. 101 f.)
Nikolaus Lenau: Aus!
Ob jeder Freude seh ich schweben
Den Geier bald, der sie bedroht.
Was ich geliebt, gesucht im Leben,
Es ist verloren, oder tot.
Fortriß der Tod in seinem Grimme
Von meinem Glück die letzte Spur:
Das Menschenherz hat keine Stimme
Im finstern Rate der Natur.
Ich will nicht länger töricht haschen
Nach trüben Fluten hellem Schaun,
Hab aus den Augen mir gewaschen
Mit Tränen scharf den letzten Traum.
(S. 62)
Nikolaus Lenau: Das Kreuz
Ich seh ein Kreuz dort ohne Heiland ragen,
Als hätte dieses kalte Herbsteswetter,
Das stürmend von den Bäumen weht die Blätter,
Das Gottesbild vom Stamme fortgetragen.
Soll ich dafür den Gram, in tausend Zügen
Rings ausgebreitet, in ein Bildnis kleiden?
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Soll die Natur ich, und ihr Todesleiden
Dort an des Kreuzes leere Stätte fügen?
(S. 111)
Nikolaus Lenau: Die Drei
Drei Reiter nach verlorner Schlacht,
Wie reiten sie so sacht, so sacht!
Aus tiefen Wunden quillt das Blut,
Es spürt das Roß die warme Flut.
Vom Sattel tropft das Blut, vom Zaum,
Und spült hinunter Staub und Schaum.
Die Rosse schreiten sanft und weich,
Sonst flöss’ das Blut zu rasch, zu reich.
Die Reiter reiten dicht gesellt,
Und einer sich am andern hält.
Sie sehn sich traurig ins Gesicht,
Und einer um den andern spricht:
„Mir blüht daheim die schönste Maid,
Drum tut mein früher Tod mir leid.“
„Hab Haus und Hof und grünen Wald,
Und sterben muß ich hier so bald!“
„Den Blick hab ich in Gottes Welt,
Sonst nichts, noch schwer mirs Sterben fällt.“
Und lauernd auf den Todesritt
Ziehn durch die Luft drei Geier mit.
Sie teilen kreischend unter sich:
„Den speisest du, den du, den ich.“
(S. 122 f.)
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Nikolaus Lenau: Schilflieder 5
Auf dem Teich, dem regungslosen,
Weilt des Mondes holder Glanz,
Flechtend seine bleichen Rosen
In des Schilfes grünen Kranz.
Hirsche wandeln dort am Hügel,
Blicken in die Nacht empor;
Manchmal regt sich das Geflügel
Träumerisch im tiefen Rohr.
Weinend muß mein Blick sich senken;
Durch die tiefste Seele geht
Mir ein süßes Deingedenken,
Wie ein stilles Nachtgebet!
(S. 37)
Niémetz Lenau Ferencz Miklos: In dos Daich, dos regungslose …
In dos Daich, dos regungslose,
Schaugt dos ungorische Mond,
Glaichsam steckend seine Nose
In ain Glos – ist so gewohnt!
Auf dem Teich, dem regungslosen,
Weilt des Mondes holder Glanz,
Flechtend seine bleichen Rosen
In des Schilfes grünen Kranz.
Wondelt Hirsch vorbai on Higerl,
Nocht ist etwos dunkel zwor,
Ober Hirsch ist stolz wie Gigerl –
Hirsch ist eben: Mogyor!
Hirsche wandeln dort am Hügel,
Blicken in die Nacht empor;
Manchmal regt sich das Geflügel
Träumerisch im tiefen Rohr.
Wann ich seh dos, muß ich sogen:
Dos is scheen: Teremtete!
Dos geht Ainem durch den Mogen
Wie ain haißer Nochtcoffee!
Weinend muß mein Blick sich senken;
Durch die tiefste Seele geht
Mir ein süßes Deingedenken,
Wie ein stilles Nachtgebet!
Lektüreempfehlungen:

Annette von Droste-Hülshoff. Gedichte. Hg. von Bernd Kortländer, Stuttgart: Reclam
2003 (2008) [RUB 18292]
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Seite 43
9. Stunde (12. Januar)
Katholische Lyrik?
Annette von Droste-Hülshoffs Gedichte (1838/44)
Literatur:

Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff. 2., vollständig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart und Weimar: Metzler 1995

Walter Gödden. Tag für Tag im Leben der Annette von Droste-Hülshoff. Daten – Texte – Dokumente, Paderborn: Schöningh 1996
Totenzettel für AvDH
Literatur:

Annette von Droste-Hülshoff. Gedichte. Hg. von Bernd Kortländer, Stuttgart: Reclam
2003 (2008) [RUB 18292]
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Seite 44
Rückseite des Totenzettels für AvDH: Christus im Garten Gethsemane
AvDH: An die Weltverbesserer
Pochest du an – poch nicht zu laut,
Eh' du geprüft des Nachhalls Dauer!
Drückst du die Hand – drück nicht zu traut!
Eh du gefragt des Herzens Schauer!
Wirfst du den Stein – bedenke wohl,
Wie weit ihn deine Hand wird treiben!
Oft schreckt ein Echo, dumpf und hohl,
Reicht goldne Hand dir den Obol,
Oft trifft ein Wurf des Nachbars Scheiben.
Höhlen gibt es am Meeresstrand,
Gewalt'ge Stalaktitendome,
Wo bläulich zuckt der Fackeln Brand,
Und Kähne gleiten wie Phantome.
Das Ruder schläft, der Schiffer legt
Die Hand dir angstvoll auf die Lippe,
Ein Räuspern nur, ein Fuß geregt,
Und donnernd überm Haupte schlägt
Zusammen dir die Riesenklippe.
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Seite 45
Und Hände gibt's im Orient,
Wie Schwäne weiß, mit blauen Malen,
In denen zwiefach Feuer brennt,
Als gelt' es Liebesglut zu zahlen;
Ein leichter Tau hat sie genäßt,
Ein leises Zittern sie umflogen,
Sie fassen krampfhaft, drücken fest –
Hinweg, hinweg! du hast die Pest
In deine Poren eingesogen!
Auch hat ein Dämon einst gesandt
Den gift'gen Pfeil zum Himmelsbogen;
Dort rührt ihn eines Gottes Hand,
Nun starrt er in den Ätherwogen.
Und läßt der Zauber nach, dann wird
Er niederprallen mit Geschmetter,
Dass das Gebirg' in Scherben klirrt,
Und durch der Erde Adern irrt
Fortan das Gift der Höllengötter.
Drum poche sacht – du weißt es nicht,
Was dir mag überm Haupte schwanken.
Drum drücke sacht – der Augen Licht
Wohl siehst du, doch nicht der Gedanken.
Wirf nicht den Stein zu jener Höh'
Wo dir gestaltlos Form und Wege,
Und schnelltest du ihn einmal je,
So fall' auf deine Knie und fleh',
Dass ihn ein Gott berühren möge.
(S. 13 f.)
AvDH: Aus: Der Graue
[…]
Es war tief in die Nacht hinein,
Und draußen heulte noch der Sturm,
Schnob zischend an dem Fensterstein
Und drillt' den Glockenstrang am Turm.
In seinem Bette Waller lag,
Und las so scharf im Ivanhoe,
Daß man gedacht, bevor es Tag
Sei Englands Königreich in Ruh.
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Seite 46
Er sah nicht, daß die Kerze tief
Sich brannte in der Flasche Rand,
Der Talg in schweren Tropfen lief,
Und drunten eine Lache stand.
Wie träumend hört' er das Geknarr
Der Fenster, vom Rouleau gedämpft,
Und wie die Türe mit Geschnarr
In ihren Angeln zuckt und kämpft.
Sehr freut er sich am Bruder Tuck,
– Die Sehne schwirrt, es rauscht der Hain –
Da plötzlich ein gewalt'ger Ruck,
Und, hui! die Scheibe klirrt hinein.
Er fuhr empor, – weg war der Traum –
Und deckte mit der Hand das Licht,
Ha! wie so wüst des Zimmers Raum!
Selbst ein romantisches Gedicht!
Der Sessel feudalistisch Gold –
Am Marmortisch die Greifenklau' –
Und überm Spiegel flatternd rollt,
Ein Banner, der Tapete Blau,
Im Zug, der durch die Lücke schnaubt;
Die Ahnenbilder leben fast
Und schütteln ihr behelmtes Haupt
Ergrimmt ob dem plebejen Gast.
Der blonde Waller machte gern
Sich selber einen kleinen Graus,
So nickt' er spöttisch gen die Herrn,
Als fordert' er sie keck heraus.
Die Glocke summt – schon Eins fürwahr!
Wie eine Boa dehnt' er sich,
Und sah nach dem Pistolenpaar,
Dann rüstet' er zum Schlafe sich.
Die Flasche hob er einmal noch
Und leuchtete die Wände an,
Ganz wie 'ne alte Halle doch
Aus einem Scottischen Roman!
Und – ist das Nebel oder Rauch,
Was durch der Türe Spalten quillt,
Und, wirbelnd in des Zuges Hauch,
Die dunstigen Paneele füllt?
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Seite 47
[…]
Er war ein hitziger Kumpan,
Wenn Wein die Lava hat geweckt.
„Qui vive?“ – und leise knackt der Hahn,
Der Waller hat den Arm gestreckt:
[…]
Am nächsten Morgen fand man kalt
Ihn im Gemache ausgestreckt;
's war eine Ohnmacht nur, und bald
Ward zum Bewußtsein er geweckt.
Nicht irre war er, nur gepreßt,
Und fragt' ob keiner ward gestört? –
Doch alle schliefen überfest,
Nicht einer hat den Schuß gehört.
So ward es denn für Traum sogleich,
Und alles für den Alb erkannt;
Doch zog man sich aus dem Bereich,
Und trollte hurtig über Land.
Sie waren alle viel zu klug,
Und vollends zu belesen gar;
Allein der blonde Waller trug
Seit dieser Nacht eisgraues Haar.
(S. 82–84 u. 86)
AvDH: Der Heidemann
„Geht, Kinder, nicht zu weit ins Bruch,
Die Sonne sinkt, schon surrt den Flug
Die Biene matter, schlafgehemmt,
Am Grunde schwimmt ein blasses Tuch,
Der Heidemann kömmt! –“
Die Knaben spielen fort am Raine,
Sie rupfen Gräser, schnellen Steine,
Sie plätschern in des Teiches Rinne,
Erhaschen die Phalän' am Ried
Und freun sich, wenn die Wasserspinne
Langbeinig in die Binsen flieht.
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Seite 48
„Ihr Kinder, legt euch nicht ins Gras! –
Seht, wo noch grad' die Biene saß,
Wie weißer Rauch die Glocken füllt.
Scheu aus dem Busche glotzt der Has,
Der Heidemann schwillt! –“
Kaum hebt ihr schweres Haupt die Schmehle
Noch aus dem Dunst, in seine Höhle
Schiebt sich der Käfer und am Halme
Die träge Motte höher kreucht,
Sich flüchtend vor dem feuchten Qualme,
Der unter ihre Flügel steigt.
„Ihr Kinder, haltet euch bei Haus!
Lauft ja nicht in das Bruch hinaus;
Seht, wie bereits der Dorn ergraut,
Die Drossel ächzt zum Nest hinaus,
Der Heidemann braut! –“
Man sieht des Hirten Pfeife glimmen,
Und vor ihm her die Herde schwimmen,
Wie Proteus seine Robbenscharen
Heimschwemmt im grauen Ozean.
Am Dach die Schwalben zwitschernd fahren
Und melancholisch kräht der Hahn.
„Ihr Kinder, bleibt am Hofe dicht!
Seht, wie die feuchte Nebelschicht
Schon an des Pförtchens Klinke reicht;
Am Grunde schwimmt ein falsches Licht,
Der Heidemann steigt! –“
Nun strecken nur der Föhren Wipfel
Noch aus dem Dunste grüne Gipfel,
Wie übern Schnee Wacholderbüsche;
Ein leises Brodeln quillt im Moor,
Ein schwaches Schrillen, ein Gezische
Dringt aus der Niederung hervor.
„Ihr Kinder kommt, kommt schnell herein!
Das Irrlicht zündet seinen Schein,
Die Kröte schwillt, die Schlang' im Ried;
Jetzt ist's unheimlich draußen sein,
Der Heidemann zieht! –“
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und die Literatur des Vormärz (WiSe 2009/10)
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Nun sinkt die letzte Nadel, rauchend
Zergeht die Fichte, langsam tauchend
Steigt Nebelschemen aus dem Moore,
Mit Hünenschritten gleitet's fort;
Ein irres Leuchten zuckt im Rohre,
Der Krötenchor beginnt am Bord.
Und plötzlich scheint ein schwaches Glühen
Des Hünen Glieder zu durchziehen;
Es siedet auf, es färbt die Wellen,
Der Nord, der Nord entzündet sich –
Glutpfeile, Feuerspeere schnellen,
Der Horizont ein Lavastrich!
„Gott gnad' uns! wie es zuckt und dräut,
Wie's schwelet an der Dünenscheid'!
Ihr Kinder, faltet eure Händ',
Das bringt uns Pest und teure Zeit –
Der Heidemann brennt! –“
(S. 45–47)
AvDH: Am Pfingtmontage
„Also hat Gott die Welt geliebt, dass er ihr seinen eingebornen Sohn gesandt hat, damit keiner der an ihn glaubt,
verlorengehe. – Wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet.“
Ist es der Glaube nur, dem du verheißen,
Dann bin ich tot.
O Glaube! wie lebend'gen Blutes Kreisen,
Er tut mir not;
Ich hab' ihn nicht.
Ach nimmst du statt des Glaubens nicht die Liebe
Und des Verlangens tränenschweren Zoll:
So weiß ich nicht, wie mir noch Hoffnung bliebe;
Gebrochen ist der Stab, das Maß ist voll
Mir zum Gericht.
Mein Heiland, der du liebst, wie niemand liebet,
Fühlst du denn kein
Erbarmen, wenn so krank und tiefbetrübet
Auf hartem Stein
Dein Ebenbild
In seiner Angst vergehend kniet und flehet?
Ist denn der Glaube nur dein Gotteshauch?
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Hast du nicht tief in unsre Brust gesäet
Mit deinem eignen Blut die Liebe auch?
O sei doch mild!
Ein hartes schweres Wort hast du gesprochen,
Daß „wer nicht glaubt,
Gerichtet ist“ – so bin ich ganz gebrochen.
Doch so beraubt
Läßt er mich nicht,
Der hingab seinen Sohn, den eingebornen,
Für Sünder wie für Fromme allzugleich.
Zu ihm ich schau', die Ärmste der Verlornen,
Nur um ein Hoffnungswort, er ist so reich
Mein Gnadenlicht!
Du Milder, der die Taufe der Begierde
So gnädiglich
Besiegelt selbst mit Sakramentes Würde,
Nicht zweifle ich,
Du hast gewiß
Den Glauben des Verlangens, Sehnens Weihe
Gesegnet auch; sonst wärst du wahrlich nicht
So groß an Milde und so stark an Treue,
Brächst du ein Zweiglein, draus die Knospe bricht
Und Frucht verhieß.
Was durch Verstandes Irren ich verbrochen,
Ich hab' es ja
Gebüßt so manchen Tag und manche Wochen;
So sei mir nah!
Nach meiner Kraft,
Die freilich ich geknickt durch eigne Schulden,
Doch einmal aufzurichten nicht vermag,
Will hoffen ich, will sehnen ich, will dulden;
Dann gibst du, Treuer, wohl den Glauben nach,
Der Hülfe schafft.
(S. 138–140)
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10. Stunde (10. Januar)
Im Auftrag des Hegelschen Weltgeistes
Heines Programm der Völkerverständigung und das dritte Zeitalter der Menschheit
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie
Kantische, fichte’sche und schelling’sche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in
der letztern Zeit in Deutschland fortgeschritten ist; ihre Folge enthält den Gang, welchen das
Denken genommen hat. An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte [...] haben nur [...]
zwei Völker Theil genommen, das deutsche und das französische Volk, so sehr sie entgegengesetzt sind, oder gerade, weil sie entgegengesetzt sind [...] In Deutschland ist dieß Prinzip als
Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die Wirklichkeit hinausgestürmt [sic!]. Was in
Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen.
(SWJ XIX, S. 534 f.)
HH: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland
Mit [der „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant ...] beginnt eine geistige Revolution
in Deutschland, die mit der materiellen Revolution in Frankreich die sonderbarsten Analogien
bietet [...] Sie entwickelt sich mit denselben Phasen, und zwischen beiden herrscht der merkwürdigste Parallelismus. Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der
Vergangenheit, der Tradition wird alle Ehrfurcht aufgekündigt; wie hier in Frankreich jedes
Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifizieren, und wie hier das Königtum, der Schlußstein der alten sozialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein
des geistigen Regimes.
(B III, S. 590)
HH: Einleitung zu: Kahldorf über den Adel …
Seltsam ist es, daß das praktische Treiben unserer Nachbaren jenseits des Rheins dennoch
eine eigene Wahlverwandtschaft hatte mit unserem philosophischen Träumen im geruhsamen
Deutschland. Man vergleiche nur die Geschichte der französischen Revolution mit der Geschichte der deutschen Philosophie, und man sollte glauben: die Franzosen, denen so viel
wirkliche Geschäfte oblagen, wobei sie durchaus wach bleiben mußten, hätten uns Deutsche
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ersucht unterdessen für sie zu schlafen und zu träumen, und unsre deutsche Philosophie sei
nichts anders als der Traum der französischen Revolution […] Bis Hegel, der Orleans der
Philosophie, ein neues Regiment begründete, oder vielmehr ordnete, ein eklektisches Regiment, worin er freilich selber wenig bedeutet, dem er aber an die Spitze gestellt ist, und
worin er den alten kantischen Jakobinern, den fichtischen Bonapartisten, den Schellingschen
Pairs und seinen eigenen Kreaturen eine feste, verfassungsmäßige Stellung anweist.
In der Philosophie hätten wir also den großen Kreislauf glücklich beschlossen, und es ist
natürlich, daß wir jetzt zur Politik übergehen.
(B II, S. 655 f.)
HH: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland
Ich werde also zu erzählen haben: was das Christentum ist, wie es römischer Katholizismus
geworden, wie aus diesem der Protestantismus und aus dem Protestantismus die deutsche Philosophie hervorging.
(B III, S. 515)
Die deutsche Philosophie ist eine wichtige[,] das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit, und erst die spätesten Enkel werden darüber entscheiden können, ob wir dafür zu
tadeln oder zu loben sind, daß wir erst unsere Philosophie und hernach unsere Revolution ausarbeiteten. Mich dünkt, ein methodisches Volk wie wir, mußte mit der Reformation beginnen,
konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen. Diese Ordnung finde ich ganz vernünftig. Die
Köpfe, welche die Philosophie zum Nachdenken benutzt hat, kann die Revolution nachher zu
beliebigen Zwecken abschlagen.
(B III, S. 638)
HH: Die Romantik
Im Altertum [...] war die Sinnlichkeit vorherrschend. Die Menschen lebten meistens in äußern
Anschauungen, und ihre Poesie hatte vorzugsweise das Äußere, das Objektive, zum Zweck
und zugleich zum Mittel der Verherrlichung. Als aber [...] die Menschen anfingen zu ahnen,
daß es noch etwas Besseres gibt als Sinnenrausch, als die unüberschwenglich beseligende
Idee des Christentums, die Liebe, die Gemüter zu durchschauern begann: da wollten auch die
Menschen diese geheimen Schauer, diese unendliche Wehmut und zugleich unendliche Wollust mit Worten aussprechen und besingen.
(B I, S. 399 f.)
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HH: Seraphine VII
Auf diesem Felsen bauen wir
Die Kirche von dem dritten,
Dem dritten neuen Testament;
Das Leid ist ausgelitten.
Vernichtet ist das Zweierlei,
Das uns so lang betöret;
Die dumme Leiberquälerei
Hat endlich aufgehöret.
Hörst du den Gott im finstern Meer?
Mit tausend Stimmen spricht er.
Und siehst du über unserm Haupt
Die tausend Gotteslichter?
Der heilge Gott der ist im Licht
Wie in den Finsternissen;
Und Gott ist alles was da ist;
Er ist in unsern Küssen.
(B IV, S. 325)
Leopold Robert: Ankunft der Schnitter in den pontinischen Sümpfen (1830)
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HH: Französische Maler
[E]in Kupferstich wird ebensowenig wie irgend eine Beschreibung den eigentlichen Zauber
des Bildes aussprechen können. Dieser besteht im Kolorit. Die Gestalten, die sämtlich dunkler
sind als der Hintergrund, werden durch den Widerschein des Himmels so himmlisch beleuchtet, so wunderbar, daß sie an und für sich in freudigst hellen Farben erglänzen, und dennoch
alle Konturen sich streng abzeichnen […] Robert hat die Gestalten, die ihm die Natur geliefert, erst in sein Gemüt aufgenommen, und wie die Seelen im Fegfeuer, die dort nicht ihre
Individualität, sondern ihre irdischen Schlacken einbüßen, ehe sie selig hinaufsteigen in den
Himmel; so wurden jene Gestalten in der glühenden Flammentiefe des Künstlergemütes so
fegfeurig gereinigt und geläutert, daß sie verklärt emporstiegen in den Himmel der Kunst, wo
ebenfalls ewiges Leben und ewige Schönheit herrscht, wo Venus und Maria niemals ihre Anbeter verlieren, wo Romeo und Julie nimmer sterben, wo Helena ewig jung bleibt und Hekuba
wenigstens nicht älter wird.
(B III, S. 55)
Robert ist ein Franzose, und er, wie die meisten seiner Landsleute, huldigt unbewußt einer
noch verhüllten Doktrin, die von einem Kampfe des Geistes mit der Materie nichts wissen
will, die dem Menschen nicht die sichern irdischen Genüsse verbietet und dagegen desto mehr
himmlische Freuden ins Blaue hinein verspricht, die den Menschen vielmehr schon auf dieser
Erde beseligen möchte, und die sinnliche Welt ebenso heilig achtet wie die geistige; ‚denn
Gott ist alles, was da ist’. Roberts Schnitter sind daher nicht nur sündenlos, sondern sie kennen keine Sünde, ihr irdisches Tagwerk ist Andacht, sie beten beständig, ohne die Lippen zu
bewegen, sie sind selig ohne Himmel, versöhnt ohne Opfer, rein ohne beständiges Abwschen,
ganz heilig.
(B III, S. 56).
HH: Deutschland. Ein Wintermärchen
Sie sang von Liebe und Liebesgram,
Aufopfrung und Wiederfinden
Dort oben, in jener besseren Welt,
Wo alle Leiden schwinden.
Sie sang vom irdischen Jammertal,
Von Freuden, die bald zerronnen,
Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt
Verklärt in ewgen Wonnen.
Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.
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Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn' auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich Euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch
Was fleißige Hände erwarben
Es wächst hienieden Brod genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.
(B IV, S. 577 f.)
Lektüreempfehlungen:

Georg Büchner. Woyzeck. Studienausgabe. Nach der Edition von Thomas Michael
Mayer. Hg von Burghard Dedner, Stuttgart: Reclam 1999 (2008) [RUB 18007]

Burghard Dedner, unter Mitarbeit von Gerald Funk und Christian Schmidt: Georg
Büchner. Woyzeck (Erläuterungen und Dokumente), Stuttgart: Reclam 2000 (2007)
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11. Stunde (26. Januar)
„Er hat […] an die Wand gepißt wie ein Hund“ oder: Der vierte Stand auf der
Bühne
Georg Büchners Woyzeck (1836/78/1913)
Literatur:

Georg Büchner. Woyzeck. Studienausgabe. Nach der Edition von Thomas Michael
Mayer. Hg von Burghard Dedner, Stuttgart: Reclam 1999 (2008) [RUB 18007]

Roland Borgards und Harald Neumeyer (Hg.): Büchner-Handbuch. Leben – Werk –
Wirkung, Stuttgart und Weimar: Metzler 2009

Georg Büchner: Dichtungen. Hg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 2006

Georg Büchner: Schriften, Briefe, Dokumente. Hg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 2006 [die
beiden Taschenbuchbände sind text- und seitenidentisch mit der Poschmann-Ausgabe
des Deutschen Klassiker Verlags von 1992]
Georg Büchner: Woyzeck
Marktschreier. Zeig‘ dein Talent! zeig deine viehische Vernünftigkeit! Beschäme die menschliche Societät! Meine Herren, dies Thier, wie Sie da sehn, Schwanz am Leib, auf seinen 4
Hufen ist Mitglied von allen gelehrten Societäten, ist Professor an mehreren Universitäten wo
die Studenten bey ihm reiten und schlagen lernen. Das war einfacher Verstand! Denk jetzt mit
der doppelten raison! Was machst du, wann du mit der doppelten Raison denkst? Ist unter der
gelehrten société da ein Esel? (Der Gaul schüttelt den Kopf) Sehn Sie jezt die doppelte Rason!
Das ist Viehsionomik. Ja das ist kein viehdummes Individuum, das ist eine Person! Ein
Mensch, ein thierischer Mensch und doch ein Vieh, eine bête, (das Pferd führt sich ungebührlich auf) So beschäme die société! Sehn Sie das Vieh ist noch Natur unverdorbene Natur!
Lernen Sie bey ihm! Fragen Sie den Arzt es ist höchst schädlich! Das hat geheißen Mensch
sey natürlich, du bist geschaffen Staub, Sand, Dreck. Willst du mehr seyn, als Staub, Sand,
Dreck? Sehn sie was Vernunft, es kann rechnen und kann doch nit an den Fingern herzählen,
warum? Kann sich nur nit ausdrücken, nur nit explicieren, ist ein verwandelter Mensch!
(S. 14)
Hauptmann. O er ist dumm, ganz abscheulich dumm. (gerührt) Woyzeck, er ist ein guter
Mensch, ein guter Mensch – aber (mit Würde) Woyzeck, er hat keine Moral! Moral das ist
wenn man moralisch ist, versteht er. Es ist ein gutes Wort. Er hat ein Kind, ohne den Segen
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der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt, ohne den Segen der Kirche, es ist nicht von mir.
Woyzeck. Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehn, ob das
Amen drüber gesagt ist, eh‘ er gemacht wurde. Der Herr sprach: lasset die Kindlein zu mir
kommen.
(S. 17 f.)
Hauptmann. Woyzeck er hat keine Tugend, er ist kein tugendhafter Mensch. Fleisch und
Blut? Wenn ich am Fenster lieg, wenn es geregnet hat und den weißen Strümpfen so nachsehe, wie sie über die Gassen springen, – verdammt Woyzeck, – da kommt mir die Liebe. Ich
hab auch Fleisch und Blut. Aber Woyzeck, die Tugend, die Tugend! Wie sollte ich dann die
Zeit herumbringen? Ich sag‘ mir immer du bist ein tugendhafter Mensch, (gerührt) ein guter
Mensch, ein guter Mensch.
Woyzeck. Ja Herr Hauptmann, die Tugend! Ich hab‘s noch nicht so aus. Sehn Sie wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär
und hätt ein Hut und eine Uhr und eine anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon
tugendhaft seyn. Es muß was Schöns seyn um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein
armer Kerl.
(S. 18 f.)
Doctor. Ich hab‘s gesehn Woyzeck; er hat auf die Straß gepißt, an die Wand gepißt wie ein
Hund. Und doch 2 Groschen täglich. Woyzeck das ist schlecht, die Welt wird schlecht, sehr
schlecht.
Woyzeck. Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt.
Doctor. Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab` ich nicht nachgewiesen, daß
der musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der
Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn nicht
halten können! (schüttelt den Kopf, legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab) Hat
er schon seine Erbsen gegessen, Woyzeck? – Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft, ich
sprenge sie in die Luft. Harnstoff, 0,10, salzsaures Ammonium, Hyperoxydul.
(S. 21)
Doctor. Woyzeck, er philosophirt wieder.
Woyzeck. (vertraulich) Herr Doctor haben sie schon was von der doppelten Natur gesehn?
Wenn die Sonn im Mittag steht und es ist, als ging die Welt im Feuer auf hat schon eine
fürchterliche Stimme zu mir geredet!
Doctor. Woyzeck, er hat eine aberratio.
Woyzeck. (legt den Finger an die Nase) Die Schwämme Herr Doctor. Da, da steckts. Haben
Sie schon gesehn in was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen
könnt!
Doctor. Woyzeck er hat die schönste aberratio mentalis partialis, die zweite Species, sehr
schön ausgeprägt, Woyzeck er kriegt Zulage. Zweite species, fixe Idee, mit allgemein vernünftigem Zustand, er thut noch Alles wie sonst, rasirt seinen Hauptmann.
Woyzeck. Ja, wohl.
Doctor. Ißt seine Erbsen?
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Woyzeck. Immer ordentlich Herr Doctor. Das Geld für die menage kriegt die Frau.
Doctor. Thut seinen Dienst.
Woyzeck. Ja wohl.
Doctor. Er ist ein interessanter casus, Subject Woyzeck er kriegt Zulage. Halt er sich brav.
Zeig er seinen Puls! Ja.
(S. 22 f.)
Die anderen [Handwerksburschen] im Chor.
Ein Jäger aus der Pfalz,
ritt einst durch einen grünen Wald,
Halli, halloh, gar lustig ist die Jägerei
Allhier auf grüner Heid
Das Jagen ist mei Freud.
(Woyzeck stellt sich an‘s Fenster. Marie und Tambourmajor tanzen vorbey, ohne ihn zu bemerken)
Marie. (im Vorbeytanzen) Immer, zu, immer zu.
Woyzeck. (erstickt) Immer zu – immer zu. (fährt heftig auf und sinkt zurück auf die Bank)
Immer zu immer zu, (schlägt die Hände in einander) dreht Euch, wälzt Euch. Warum bläst
Gott nicht die Sonn aus, daß Alles in Unzucht sich übereinanderwälzt., Mann und Weib,
Mensch und Vieh. Thut‘s am hellen Tag, thut‘s einem auf den Händen, wie die Mücken. –
Weib. – [...]
Handwerksbursch. (predigt auf dem Tisch) Jedoch wenn ein Wandrer, der [...] sich die göttliche Weisheit beantwortet und sich anredet: Warum ist der Mensch? Warum ist der Mensch?
– Aber wahrlich ich sage euch, von was hätte der Landmann, der Weißbinder, der Schuster,
der Arzt leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte? Von was hätte der
Schneider leben sollen, wenn er dem Menschen nicht die Empfindung der Scham eingepflanzt, von was der Soldat, wenn er ihn nicht mit dem Bedürfnis sich todtzuschlagen ausgerüstet hätte? Darum zweifelt nicht, ja ja, es ist lieblich und fein, aber Alles Irdische ist eitel,
selbst das Geld geht in Verwesung über. – Zum Beschluß, meine geliebten Zuhörer laßt uns
noch über‘s Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt.
(S. 28 f.)
Hauptmann. Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke. Beschäftigung, Woyzeck, Beschäftigung! ewig, das ist ewig, das ist ewig, das siehst du ein; nun ist es
aber wieder nicht ewig und das ist ein Augenblick, ja, ein Augenblick – Woyzeck, es schaudert mich, wenn ich denk, daß sich die Welt in einem Tag herumdreht, was eine Zeitverschwendung, wo soll das hinaus? Woyzeck, ich kann kein Mühlrad mehr sehn, oder ich werd‘
melancholisch.
(S. 17)
Marie. (allein, blättert in der Bibel) Und ist kein Betrug in seinem Munde erfunden. Herrgott.
Hergott! Sieh mich nicht an. (blättert weiter) Aber die Pharisäer brachten ein Weib zu ihm, im
Ehebruch begriffen und stelleten sie in`s Mittel dar. – Jesus aber sprach: so verdamme ich
dich auch nicht. Geh hin und sündige hinfort nicht mehr (schlägt die Hände zusammen).
Herrgott! Herrgott! Ich kann nicht. Herrgott gieb mir nur soviel, daß ich beten kann. (das
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Kind drängt sich an sie) Das Kind giebt mir einen Stich in‘s Herz. Fort! Das brüht sich in der
Sonne!
Narr. (liegt und erzählt sich Mährchen an den Fingern) Der hat die goldne Kron, der Herr
König. Morgen hol‘ ich der Frau Königin ihr Kind. Blutwurst sagt: komm Leberwurst (er
nimmt das Kind und wird still)
Marie. Der Franz ist nit gekommen, gestern nit, heut nit, es wird heiß hie. (sie macht das
Fenster auf) Und trat hinein zu seinen Füßen und weynete und fing an seine Füße zu netzen
mit Thränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen und küsste seine Füße und salbete
sie mit Salben. (schlägt sich auf die Brust) Alles todt! Heiland, Heiland ich möchte dir die
Füße salben.
(S. 32 f.)
Woyzeck. Das Kamisolchen Andres, ist nit zur Montour, du kannst‘s brauchen Andres. Das
Kreuz is meiner Schwester und das Ringlein, ich hab auch noch ein Heiligen, zwei Herzen
und schön Gold, es lag in meiner Mutter Bibel, und da steht:
Leiden sey all mein Gewinst,
Leiden sey mein Gottesdienst,
Herr wie dein Leib war roth und wund
So laß mein Herz seyn aller Stund.
Meine Mutter fühlt nur noch, wenn ihr die Sonn auf die Händ scheint. Das thut nix.
Andres. (ganz starr, sagt zu Allem:) Ja wohl.
(S. 33 f.)
Kind. Mariechen sing du uns.
Marie. Kommt ihr kleinen Krabben!
Ringle, ringel Rosenkranz, König Herodes.
Großmutter erzähl.
Großmutter. Es war einmal ein arm Kind und hat keinen Vater und keine Mutter, war Alles
todt, und war Niemand mehr auf der Welt. Alles todt, und es ist hingangen und hat gerrt Tag
und Nacht. Und wie auf der Erde Niemand mehr war, wollt‘s in Himmel gehn, und der Mond
guckt es so freundlich an und wie‘s endlich zum Mond kam, war‘s ein Stück faul Holz und da
ist es zur Sonn gangen und wie‘s zur Sonn kam, war‘s eine verwelkte Sonnenblume und wie‘s
zu den Sterne kam, warens kleine goldene Mücken die waren angesteckt wie der Neuntödter
sie auf die Schlehen steckt und wies wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter
Hafen und es war ganz allein und da hat sich‘s hingesetzt und gerrt und da sitzt es noch und
ist ganz allein.
Woyzeck. Marie!
Marie. (erschreckt) Was ist?
Woyzeck. Marie wir wollen gehen s‘ist Zeit.
Marie. Wohinaus?
Woyzeck. Weiß ich‘s?
(S. 35)
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12. Stunde (2. Februar)
Die Modernität des Vormärz
Karl Gotzkows Börne, Heine, Menzel und Consorten …(1835)
Literatur:

Karl Gotzkow: Börne, Heine, Menzel und Consorten …, in: Estermann, Alfred
(Hg.): Politische Avantgarde 1830–1840. Eine Dokumentation zum „Jungen
Deutschland", 2 Bände, Frankfurt/M.: Athenäum 1972. Hier: Band 1, S. IX
Karl Gutzkow: Börne, Heine, Menzel und Consorten …
Börne, Heine, Menzel und Consorten.
Schreier.
Eine Handvoll Schreier.
Völkerfrühlingsverkünder.
Sanscülotten.
Eine Handvoll Sanscülotten.
Pikante.
Zerrissene.
Journalisten.
In literarischen Unarten sich überbietende Journalisten.
Erhitzte Köpfe
Überhitzte Köpfe.
Beschränkte Köpfe.
Überhitze und beschränkte Köpfe.
Juden.
Scandaleurs.
Genie‘s.
Beutelschneider der Ehre.
Wieder Einer von denjenigen, welche –
Das junge Deutschland.
U. s. w.
Literatur:

Georg Jäger: [Art.] Montage, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft,
Band II, hg. von Harald Fricke, Berlin und New York: de Gruyter 2000, S. 631–
633
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Seite 61

Volker Klotz: Zitat und Montage in neuerer Literatur, in: Sprache im technischen
Zeitalter 60. 1976, S. 259–277
Lektüreempfehlungen:

Heinrich Heine. Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Kritisch durchgesehene
Ausgabe mit Dokumentation, Kommentar und Nachwort von Winfried Woesler,
Stuttgart: Reclam 1977 (1995) [RUB 2261]
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Seite 62
13. Stunde (9. Februar)
Rückkehr zur Autonomie der Kunst?
Heines Atta Troll (1843/47)
Literatur:

Heinrich Heine. Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Kritisch durchgesehene
Ausgabe mit Dokumentation, Kommentar und Nachwort von Winfried Woesler,
Stuttgart: Reclam 1977 (1995) [RUB 2261]
HH: Atta Troll, Vorrede
Ich habe oben mit besonderer Absicht angedeutet, in welcher Periode der „Atta Troll“ entstanden ist. Damals blühte die sogenannte politische Dichtkunst. Die Opposition, wie Ruge
sagt, verkaufte ihr Leder und ward Poesie. Die Musen bekamen die strenge Weisung, sich
hinfüro nicht mehr müßig und leichtfertig umherzutreiben, sondern in vaterländischen Dienst
zu treten, etwa als Marketenderinnen der Freiheit oder als Wäscherinnen der christlich-germanischen Nationalität. Es erhub sich im deutschen Bardenhain ganz besonders jener vage,
unfruchtbare Pathos, jener nutzlose Enthusiasmusdunst, der sich mit Todesverachtung in einen Ozean von Allgemeinheiten stürzte.
(S. 6)
Das Talent war damals eine sehr mißliche Begabung, denn es brachte in den Verdacht der
Charakterlosigkeit. Die scheelsüchtige Impotenz hatte endlich, nach tausendjährigem Nachgrübeln, ihre große Waffe gefunden gegen die Übermüten des Genius; sie fand nämlich die
Antithese von Talent und Charakter [...] Der leere Kopf pochte jetzt mit Fug auf sein volles
Herz, und die Gesinnung war Trumpf. Ich erinnere mich eines damaligen Schriftstellers, der
es sich als ein besonderes Verdienst anrechnete, daß er nicht schreiben könne; für seinen hölzernen Stil bekam er einen silbernen Ehrenbecher.
(S. 7)
Bei den ewigen Göttern! damals galt es die unveräußerlichen Rechte des Geistes zu vertreten,
zumal in der Poesie. Wie eine solche Vertretung das große Geschäft meines Lebens war, so
habe ich sie am allerwenigsten im vorliegenden Gedichte außer Augen gelassen, und sowohl
Tonart als Stoff desselben war ein Protest gegen die Plebiscita der Tagestribünen. Und in der
Tat, schon die ersten Fragmente, die vom „Atta Troll“ gedruckt wurden, erregten die Galle
meiner Charakterhelden, meiner Römer, die mich nicht bloß der literarischen, sondern auch
der gesellschaftlichen Reaktion, ja sogar der Verhöhnung heiligster Menschheits-Ideen beschuldigten. Was den ästhetischen Wert meines Poems betrifft, so gab ich ihn gern Preis, wie
ich es auch heute noch tue; ich schrieb dasselbe zu meiner eignen Lust und Freude, in der
grillenhaften Traumweise jener romantischen Schule, wo ich meine angenehmsten Jugendjah-
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re verlebt, und zuletzt den Schulmeister geprügelt habe. In dieser Beziehung ist mein Gedicht
vielleicht verwerflich. Aber du lügst, Brutus, du lügst, Cassius, und auch du lügst, Asinius,
wenn Ihr behauptet, mein Spott träfe jene Ideen, die eine kostbare Errungenschaft der
Menschheit sind und für die ich selber so viel gestritten und gelitten habe. Nein, eben weil
dem Dichter jene Ideen in herrlichster Klarheit und Größe beständig vorschweben, ergreift ihn
desto unwiderstehlicher die Lachlust, wenn er sieht wie roh, plump und täppisch von der beschränkten Zeitgenossenschaft jene Ideen aufgefaßt werden können. Er scherzt dann gleichsam über ihre temporelle Bärenhaut.
(S. 7 f.)
HH: Atta Troll, Caput III
Traum der Sommernacht! Phantastisch
Zwecklos ist mein Lied. Ja, zwecklos
Wie die Liebe, wie das Leben,
Wie der Schöpfer samt der Schöpfung!
Nur der eignen Lust gehorchend,
Galoppierend oder fliegend,
Tummelt sich im Fabelreiche
Mein geliebter Pegasus.
Ist kein nützlich tugendhafter
Karrengaul des Bürgertums,
Noch ein Schlachtpferd der Parteiwut,
Das pathetisch stampft und wiehert!
Goldbeschlagen sind die Hufen [sic!]
Meines weißen Flügelrößleins,
Perlenschnüre sind die Zügel,
Und ich laß sie lustig schießen.
Trage mich wohin du willst!
Über luftig steilen Bergpfad,
Wo Kaskaden angstvoll kreischend
Vor des Unsinns Abgrund warnen!
Trage mich durch stille Täler,
Wo die Eichen ernsthaft ragen
Und den Wurzelknorrn entrieselt
Uralt süßer Sagenquell!
(V. 1–24)
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HH: Atta Troll, Caput XX
Auch die schöne Fee Abunde
Fürchtet sich vor Nazarenern,
Und den Tag hindurch verweilt sie
In dem sichern Avalun.
Dieses Eiland liegt verborgen
Ferne, in dem stillen Meere
Der Romantik, nur erreichbar
Auf des Fabelrosses Flügeln.
Niemals ankert dort die Sorge,
Niemals landet dort ein Dampfschiff
Mit neugierigen Philistern,
Tabakspfeifen in den Mäulern.
Niemals dringt dorthin das blöde
Dumpflangweil'ge Glockenläuten,
Jene trüben Bumm-Bamm-Klänge,
Die den Feen so verhaßt.
Dort in ungestörtem Frohsinn,
Und in ew'ger Jugend blühend,
Residiert die heitre Dame,
Unsre blonde Frau Abunde.
Lachend geht sie dort spazieren
Unter hohen Sonnenblumen,
Mit dem kosenden Gefolge
Weltentrückter Paladine.
(V. 45–64)
HH: Atta Troll, Caput XXVII
(An August Varnhagen von Ense)
Wo des Himmels, Meister Ludwig,
Habt Ihr all das tolle Zeug
Aufgegabelt? Diese Worte
Rief der Kardinal von Este,
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Als er das Gedicht gelesen
Von des Rolands Rasereien,
Das Ariosto untertänig
Seiner Eminenz gewidmet.
Ja, Varnhagen, alter Freund,
Ja, ich seh um deine Lippen
Fast dieselben Worte schweben,
Mit demselben feinen Lächeln.
Manchmal lachst du gar im Lesen!
Doch mitunter mag sich ernsthaft
Deine hohe Stirne furchen,
Und Erinnrung überschleicht dich: –
„Klang das nicht wie Jugendträume,
Die ich träumte mit Chamisso
Und Brentano und Fouqué,
In den blauen Mondscheinnächten?[“]
[…]
Ja, mein Freund, es sind die Klänge
Aus der längst verschollnen Traumzeit;
Nur daß oft moderne Triller
Gaukeln durch den alten Grundton.
Trotz des Übermutes wirst du
Hie und dort Verzagnis spüren –
Deiner wohlerprobten Milde
Sei empfohlen dies Gedicht!
Ach, es ist vielleicht das letzte
Freie Waldlied der Romantik!
In des Tages Brand- und Schlachtlärm
Wird es kümmerlich verhallen.
Andre Zeiten, andre Vögel!
Andre Vögel, andre Lieder!
Welch ein Schnattern, wie von Gänsen,
Die das Kapitol gerettet!
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Welch ein Zwitschern! Das sind Spatzen,
Pfennigslichtchen in den Krallen;
Sie gebärden sich wie Jovis
Adler mit dem Donnerkeil!
Welch ein Gurren! Turteltauben,
Liebesatt, sie wollen hassen,
Und hinfüro statt der Venus
Nur Bellonas Wagen ziehen!
Welch ein Summsen, welterschütternd!
Das sind ja des Völkerfrühlings
Kolossale Maienkäfer,
Von Berserkerwut ergriffen!
Andre Zeiten! andre Vögel!
Andre Vögel, andre Lieder!
Sie gefielen mir vielleicht,
Wenn ich andre Ohren hätte!
(V. 1–64)
HH: Atta Troll, Caput XIII
In dem schwarzen Felsenkessel
Ruht der See, das tiefe Wasser.
Melancholisch bleiche Sterne
Schaun vom Himmel. Nacht und Stille.
(V. 1–4)
HH: Atta Troll, Caput VI
Doch es ist vielleicht ersprießlich
Für den Menschen, der den höhern
Viehstand bildet, daß er wisse
Was da unten raisoniert wird.
Ja, da unten in den düstern
Jammersphären der Gesellschaft,
In den niedern Tierweltschichten,
Brütet Elend, Stolz und Groll.
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Was naturgeschichtlich immer
Also auch gewohnheitsrechtlich
Seit Jahrtausenden bestanden,
Wird negiert mit frecher Schnauze.
Von den Alten wird den Jungen
Eingebrummt die böse Irrlehr,
Die auf Erden die Kultur
Und Humanität bedroht.
[…]
[„]Grundgesetz sei volle Gleichheit
Aller Gotteskreaturen,
Ohne Unterschied des Glaubens
Und des Fells und des Geruches.
Strenge Gleichheit! Jeder Esel
Sei befugt zum höchsten Staatsamt,
Und der Löwe soll dagegen
Mit dem Sack zur Mühle traben.
[…]
Ja, sogar die Juden sollen
Volles Bürgerrecht genießen,
Und gesetzlich gleichgestellt sein
Allen andern Säugetieren.
Nur das Tanzen auf den Märkten
Sei den Juden nicht gestattet;
Dies Amendement, ich mach es
Im Intresse meiner Kunst.
Denn der Sinn für Stil, für strenge
Plastik der Bewegung, fehlt
Jener Rasse, sie verdürben
Den Geschmack des Publikums.“
(V. 1–68)
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HH: Atta Troll, Caput VIII
Mancher tugendhafte Bürger
Duftet schlecht auf Erden, während
Fürstenknechte mit Lavendel
Oder Ambra parfümiert sind.
Jungfräuliche Seelen gibt es,
Die nach grüner Seife riechen,
Und das Laster hat zuweilen
Sich mit Rosenöl gewaschen.
Darum rümpfe nicht die Nase,
Teurer Leser, wenn die Höhle
Atta Trolls dich nicht erinnert
An Arabiens Spezerein.
Weile mit mir in dem Dunstkreis,
In dem trüben Mißgeruche,
Wo der Held zu seinem Sohne
Wie aus einer Wolke spricht:
[…]
[„]Selbst die Deutschen, einst die Bessern,
Selbst die Söhne Tuiskions,
Unsre Vettern aus der Urzeit,
Diese gleichfalls sind entartet.
Sind jetzt glaubenlos und gottlos,
Pred'gen gar den Atheismus –
Kind, mein Kind, nimm dich in Acht
Vor dem Feuerbach und Bauer!
Werde nur kein Atheist,
So ein Unbär ohne Ehrfurcht
Vor dem Schöpfer – ja, ein Schöpfer
Hat erschaffen dieses Weltall!
[…]
Droben in dem Sternenzelte,
Auf dem goldnen Herrscherstuhle,
Weltregierend, majestätisch,
Sitzt ein kolossaler Eisbär.
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Fleckenlos und schneeweiß glänzend
Ist sein Pelz; es schmückt sein Haupt
Eine Kron von Diamanten,
Die durch alle Himmel leuchtet.[“]
(V. 1–56)
HH: Atta Troll, Caput XVIII
Und es war die Zeit des Vollmonds,
In der Nacht vor Sankt Johannis,
Wo der Spuk der wilden Jagd
Umzieht durch den Geisterhohlweg.
Aus dem Fenster von Urakas
Hexennest konnt' ich vortrefflich
Das Gespensterheer betrachten,
Wie es durch die Gasse hinzog.
Hatte einen guten Platz,
Den Spektakel anzuschauen;
Ich genoß den vollen Anblick
Grabentstiegner Totenfreude.
Peitschenknall, Hallo und Hussa!
Roßgewiehr, Gebell von Hunden!
Jagdhorntöne und Gelächter!
Wie das jauchzend widerhallte!
(V. 1–16)
HH: Atta Troll, Caput XIX
Und das dritte Frauenbild,
Das dein Herz so tief bewegte,
War es eine Teufelinne
Wie die andern zwo Gestalten?
Ob's ein Teufel oder Engel,
Weiß ich nicht. Genau bei Weibern
Weiß man niemals wo der Engel
Aufhört und der Teufel anfängt.
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Auf dem glutenkranken Antlitz
Lag des Morgenlandes Zauber,
Auch die Kleider mahnten kostbar
An Schehezeradens Märchen.
Sanfte Lippen, wie Grenaten,
Ein gebognes Liljennäschen,
Und die Glieder schlank und kühlig
Wie die Palme der Oase.
Lehnte hoch auf weißem Zelter,
Dessen Goldzaum von zwei Mohren
Ward geleitet, die zu Fuß
An der Fürstin Seite trabten.
Wirklich eine Fürstin war sie,
War Judäas Königin,
Des Herodes schönes Weib,
Die des Täufers Haupt begehrt hat.
Dieser Blutschuld halber ward sie
Auch vermaledeit; als Nachtspuk
Muß sie bis zum Jüngsten Tage
Reiten mit der wilden Jagd.
In den Händen trägt sie immer
Jene Schüssel mit dem Haupte
Des Johannes, und sie küßt es;
Ja, sie küßt das Haupt mit Inbrunst.
Denn sie liebte einst Johannem –
In der Bibel steht es nicht,
Doch im Volke lebt die Sage
Von Herodias' blut'ger Liebe –
Anders wär' ja unerklärlich
Das Gelüste jener Dame –
Wird ein Weib das Haupt begehren
Eines Manns, den sie nicht liebt?
War vielleicht ein bißchen böse
Auf den Liebsten, ließ ihn köpfen;
Aber als sie auf der Schüssel
Das geliebte Haupt erblickte,
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Weinte sie und ward verrückt,
Und sie starb in Liebeswahnsinn.
(Liebeswahnsinn! Pleonasmus!
Liebe ist ja schon ein Wahnsinn!)
Nächtlich auferstehend trägt sie,
Wie gesagt, das blut'ge Haupt
In der Hand, auf ihrer Jagdfahrt –
Doch mit toller Weiberlaune
Schleudert sie das Haupt zuweilen
Durch die Lüfte, kindisch lachend,
Und sie fängt es sehr behende
Wieder auf, wie einen Spielball.
Als sie mir vorüberritt,
Schaute sie mich an und nickte
So kokett zugleich und schmachtend,
Daß mein tiefstes Herz erbebte.
Als der Zug bereits erblichen
Und verklungen das Getümmel,
Loderte mir im Gehirne,
Immerfort der holde Gruß.
[…]
Und ich sann: was mag bedeuten
Das geheimnisvolle Nicken?
Warum hast du mich so zärtlich
Angesehn, Herodias?
(V. 61–136)