deutschlandsaga fanzine

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deutschlandsaga fanzine
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LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
am 1. März 2008 – also vor gut zwei Wochen – schloss sangund klanglos ein Kapitel in der Geschichte moderner Informationstechnologie: Der Netscape-Browser wurde eingestellt. Die
Navigations-Software, die für viele das problemlose Surfen im
Netz ermöglichte – ab 1994 verfügbar, stellte sie auch Grafiken dar –, erhält keinen Support mehr.
Das Internet ist uns heute selbstverständlich und nirgends
zeichnet sich in der 1990er Dekade der Abschied aus dem
zwanzigsten Jahrhundert deutlicher ab als in der Entwicklung
dieses Informations- und Kommunikationsmittels.
Seine Möglichkeiten als unkontrollierter, öffentlicher Raum
wurden früh erkannt. In unserem »Fanzine« zu den 90er Jahren
geht die Kuratorin Inke Arns daher der Frage nach, ob und wie
Netzkunst außerhalb des World Wide Web zu präsentieren sei.
Mit der endgültigen Auflösung des Ostblocks und der Erosion
und Neubildung staatlicher Strukturen und Substrukturen nicht
nur in Europa, sondern vor allem in Afrika, gibt es auf der politischen Ebene die nachhaltigste Veränderung in diesem Jahrzehnt. Die Kriege und Gräuel, die damit auch verbunden waren,
sind heute nahezu vergessen: Die Bilder des gelynchten rumänischen Staatspräsidenten und seiner Frau haben noch viele im
Gedächtnis. Sie fallen allerdings in die Tage zwischen den Jahren 1989/90. Danach sah man vor allem Videobilder aus den
Kameras zielgenau einfliegender Cruise Missiles im Kuwaitkrieg. Die Nato hatte diese Unterhaltung bei ihren Luft-Performances in Belgrad nicht zu bieten. Das Massaker in Srebrenica,
bei dem 1995 8.000 muslimische Bosnier ermordet wurden,
ging ohne Zuschauer über die Bühne, ebenso der Völkermord
in Ruanda, dem bis zu eine Millionen Menschen zum Opfer fielen. Unter diesem Horizont sei hier an die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr in dieser Dekade erinnert und die
damals erbittert geführten Debatten darüber, welche Verantwortung das seit dem 3. Oktober 1990 vereinigte Deutschland
aus seiner Vergangenheit ableiten will.
Das »Deutschlandsaga«-Fanzine konnte auch diesmal einen bildenden Künstler als Ideengeber und Gestalter gewinnen. Der
Maler Tim Eitel hat mit seinen privaten Fotos aus den 90er Jahren den Bildteil gestaltet, der sich durch das gesamte Heft zieht
und den Texten neben dem Fan-Magazin Format nicht nur einen
Rahmen gegeben, sondern eine ganz persönliche Bilderzählung hinzugefügt. Spotlightartig finden Sie in den Texten verschiedene Perspektiven und Aspekte des Jahrzehnts beleuchtet: Beiträge zu den Mythen von Lady Di und Kurt Cobain finden
Sie ebenso wie zu Künstlern, Theaterleuten und Aktivisten und
ganz persönliche Berichte und Essays zu der Zeit. Ganz besonders freut mich, dass sich in der 90er Ausgabe alle drei Autoren der Deutschlandsaga-Uraufführungswerkstatt der Schaubühne, Nina Ender, Ewald Palmetshofer und Anne Rabe,
beteiligen konnten. Allen sei herzlich für den Einsatz und fruchtbare Diskussionen gedankt.
Überraschung und viel Vergnügen beim Lesen wünscht Ihnen
Ihr Max Glauner
Chefredakteur »Deutschlandsaga«-Fanzine,
[email protected]
Das Theaterprojekt »Deutschlandsaga«
wird gefördert durch die
Impressum – Herausgeber: Friedrich Barner, Christof Belka, Jens Hillje, Andreas Seyffert, Irina Szodruch – Herstellungsleitung: Andreas Seyffert
Chefredakteur: Max Glauner – Redaktionsassistenz: Nadja Grabsch, Tim Holtorf – Gestaltung: Heinrich Kreyenberg – Druck: Tastomat Druck GmbH
Schaubühne am Lehniner Platz, Spielzeit 2007/08, Kurfürstendamm 153, 10709 Berlin, www.schaubuehne.de
EWALD PALMETSHOFER
KLASSENBEWUSSTSEIN BEGREIFEN
Damen und Herren. Es ist eine theoretische und politisch praktische Notwendigkeit den Begriff der gesellschaftlichen Klasse,
und das ist natürlich ein leerer Begriff, aber trotzdem oder gerade deswegen die dringende Notwendigkeit, den Begriff der
Klasse in seiner begrifflichen Leerheit politisch neu zu füllen und
ihm ein reales Korrelat zuzuschreiben, also ein reales Faktum,
eine reale Gegebenheit, also eine reale Trägersubstanz des
Klassenbegriffes, wie wir ihn hier heute jetzt notwendigerweise
zu denken haben. Und darum nehmen wir den Begriff, den
Begriff der Klasse, und weil dieser als Begriff nicht mehr taugt,
die soziale, also die soziale Spannung, nicht dass hier eine
soziale Spannung der Fall, aber brauchen hier trotzdem einen
Begriff, für den Fall, dass eine auftritt, eine Spannung, eine
soziale Spannung und dann tritt die auf und kein Klassenbegriff
bereitgestellt, um die Spannung zu benennen und einer Analyse, weil wir natürlich politisch umgehend bemüht wären die
Spannung, die soziale, einer Analyse zuzuführen, allerdings mit
einem begrifflichen Instrumentarium, das wir hier jetzt heute
erfinden müssen. Und das tun wir auch und erfinden die Klasse neu und doch ist hier Vorsicht angebracht. Die Klasse neu
zu erfinden fordert eine Vorsicht und eine Weitsicht, und was
für eine Weitsicht das fordert. Und man muss einen Begriff erfinden, der das Reale der Klasse ausfindig macht und in der Mitte unserer Gesellschaft aufspürt und dem öffentlichen Blick
preisgibt und eine öffentliche Begriffsbildung muss hier angeregt werden, aber man muss den Begriff vorerst im Geheimen
halten und zunächst das Reale des Begriffes, muss die Klasse,
muss, nennen wir sie die Unterschicht, muss sie, also die Unterschicht, in ein Bewusstsein, in ein Bewusstsein der Öffentlichkeit muss man die Unterschicht hineinbekommen und dann
einen Begriff, denselben, den man vorher geheim gehalten hat,
und der aufgrund politischer Bewegungen, auf die wir nicht
näher eingehen, aufgrund von Zeitmangel hier jetzt heute, muss
man den Begriff dann auf das Öffentlich-Sichtbar-Gemachte
langsam anwenden, aber nicht von außen, sondern muss die
Verhältnisse dergestalt bewegen, dass sich quasi wie von
selbst die Klasse aus dem Bewusstsein herausschält als Unterschicht und muss dann das Reale des Begriffes, hat man es erst
einmal öffentlich sichtbar gemacht und in der Mitte der Gesellschaft aufgespürt, muss man es dann von der Mitte hinaustragen und die Selbstauflösung des Realen des Begriffes vorantreiben, muss der öffentlichen Selbstdemütigung eben selbiger
neu erfundenen Klasse nichts entgegenstellen, viel mehr noch,
muss diese Selbstdarstellung dem freien Markt und dessen
Gesetzen überantworten und auf das Selbstdemütigungsregulativ des Marktes vertrauen und die Denunziation der Klasse
nach ökonomischen Prinzipien voranschreiten lassen, ohne einzugreifen und das Reale der Klasse, die Neubefüllung der Klasse, muss dies schleichend gestalten und im öffentlichen
Bewusstsein ein Bewusstsein für die legitime Angestammtheit
der Unterschicht am Rand, nachdem man sie aus der Mitte der
Gesellschaft gesammelt, muss man nach dem öffentlichen Blick
den öffentlichen Ort als angestammten Ort etablieren und
damit, im Falle einer Spannung, einer sozialen Spannung, die
Spannung aus der Mitte der Gesellschaft hinaus an den Rand
und diesem Rand später die öffentliche Wahrnehmung entziehen. Wir verlassen uns auf das Gesetz des Marktes und befördern die mediale Bewirtschaftung des Realen des Begriffes der
Klasse und warten, bis die Bewirtschaftung ein Ende gefunden
und die Subjekte der Unterschicht vom Markt verlassen und die
Bewirtschaftung der Unterklassenschicht zum Stillstand
kommt, wie es die Gesetze des Marktes vorsehen, und ein
anderes Produkt an dessen Stelle tritt und das Reale der Unterklasse wird von der Mitte an den Rand transferiert worden sein
und die Spannung als soziale Spannung wird gemeinsam mit
den Subjekten der entsprechenden Schicht nicht länger der
öffentlichen Wahrnehmung von Interesse sein. Gleichzeitig werden wir dieser Klasse, die sich medial selbst verraten haben
wird, durch die maßgeschneiderte Auferlegung gesetzlicher
Bestimmungen eine Rückkehr in die Mitte aus der Aussicht hinaus nehmen und werden auf keine Gegenstimmen stoßen, weil
das Produkt nach den Gesetzen des Marktes und der medialen Exzessivbewirtschaftung bereits woanders ist und die
Unterklasse vom öffentlichen Bewusstsein nicht länger konsumiert werden wird.
Ewald Palmetshofer, 1978 in Linz geboren, Studium in Wien,
Retzhofer Literaturpreis für junges Drama 2005, 2007 mit
»helden« Einladung zum »hotINK International Play Reading
Festival« in New York, seit der Spielzeit 2007/08 Hausautor
am Schauspielhaus Wien.
CONSTANTIN RAUER
DIANA, PRINCESS OF WALES
VOM MYTHOS EINER GEJAGTEN JÄGERIN
Am 31. August 1997 verstarb Lady Di unter bis heute ungeklärten Umständen bei einem Autounfall in einer Pariser Unterführung. Es folgte ein Meer von Blumen sowie ein Medienhype, der
die Princess of Wales zur Prinzessin der Herzen erklärte – post
mortem freilich, denn zu ihren Lebzeiten war von einem solchen
– übrigens Elisabeth Stuart entlehnten – Beinamen nichts zu
hören.
Seinerzeit war ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Religionswissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin,
zuständig unter anderem für die so genannten versteckten Religionen sowie für die Untersuchung von modernen Alltagsmythen mit religiösem Hintergrund. So sehr schien das Lady-DiPhänomen zu meinen Themen zu passen, dass manche sogar
scherzhaft behaupteten, ich hätte die Prinzessin umbringen lassen, um neuen Seminarstoff zu erhalten. Also kam es zu einem
Lady-Di-Seminar, in dem ich mir mit den Studenten und Studentinnen vorgenommen hatte, den Diana-Mythos semiologisch zu
entschlüsseln. Zu diesem Zweck analysierten wir das DianaImago anhand der zu Lebzeiten publizierten Diana-Fotos, welche nach ihrem Tod von der Boulevardpresse in Sonderheften
nochmals reproduziert worden waren: tausende und abertausende von Bildern. Unsere Recherche wurde damals von F.
Gerbert ausführlich im »Focus« besprochen (siehe: Focus
47/1997, S. 270-275, www.focus.de/kultur/leben/hochschulen_aid_167950.html); hier seien einige der Überlegungen von
damals erinnert.
Sprechend war bereits das erste von Diana in den Printmedien
veröffentlichte Foto: Man sieht sie nicht direkt, denn sie steht
hinter einem Baum und beobachtet durch einen Handspiegel,
den sie am Baum vorbei hält, eine Meute von Paparazzi. Ein
Paparazzo erwischt ihr Gesicht in eben ihrem Spiegel. Das Bild
ist sinnbildlich: Von Anfang an verstand es die Prinzessin ihr
öffentliches Image zu reflektieren und zu produzieren. Sie, die
von den Paparazzi gejagte, war eigentlich von vorneherein die
Jägerin: Ganze Presseabteilungen waren mit nichts anderem
beschäftigt, als mit der Produktion ihres öffentlichen Bildes,
wobei die Paparazzi nur part of the game waren.
Trägt man einen solch bedeutungsschwangeren Namen wie
Diana, wird man sich schon früh nach dessen Signifikation
erkundigt haben: Artemis, die altgriechische Fruchtbarkeitsgöttin, der zuliebe die Bürger von Ephesos um ein Haar den Apostel Paulus ermordet hätten; Diana, die römische Göttin der
Jagd, eine bewaffnete Frau, deren Hunde den Akteion, der sie
nackt gesehen hatte, in Stücke zerrissen. In dem Schloss der
Spencers, in dem Lady Diana aufgewachsen war, befand sich
auch ein Gemälde der Diane de Poitiers (1499-1566). Letztere war die Maitresse des zwanzig Jahre jüngeren Henri II. und
damit Rivalin von dessen Frau, Catherine de Medici. Da sie auf
der politischen Bühne mit der Medici nicht konkurrieren konnte, flüchtete sie sich ins Ästhetische: Sie ließ sich Jagdschlösser bauen und auf unzähligen Portraits in der Pose und mit den
Emblemen der Jagdgöttin, mit Pfeil und Bogen, Mondsichel und
den Hunden, abbilden. Da ihre Wiederbelebung des DianaMythos Schule machte, transformierte sie so – im Zuge der
Gegenreformation – das Selbstbild der Frau: Sowohl dem
Marien-Bild des Mittelalters als auch dem Nonnen-Bild der
Reformations-Frau stellte sie das selbstbewusste Frauenbild
der handelnden Jägerin entgegen.
1981 heiratete Lady Diana Prinz Charles, wurde Princess of
Wales und Mitglied des Königshauses. Noch in der Hochzeitsnacht wurde ihr offenbart, dass ihre Ehe rein repräsentativen
Charakter habe, da Prinz Charles bereits anderweitig, nämlich
mit Frau Camilla Parker Bowles liiert sei. Aus der Ehe gingen
hervor: zwei Kinder, Prinz William 1982 und Prinz Harry 1984,
sowie ein entsetzlicher Rosenkrieg. Dieser begann lange bevor
Diana 1992 in dem Skandalbuch von A. Morton »Diana – Her
True Story« die Details ihrer Ehe preisgab (worauf sofort die
öffentliche Trennung folgte) und lange bevor sie 1996 in einem
Fernsehinterview mit M. Bashir das Königshaus direkt angriff
(worauf Königin Elisabeth II. die Scheidung forderte). Auch wurde dieser Rosenkrieg von Dianas Seite aus mit ganz anderen
Mitteln geführt, als alleine mit den eher konventionellen einer
Fernseh- oder Buchpublikation. Was Diana in ihrem Rosenkrieg
gegen Prinz Charles – und zwar von Anfang an, seit dem
Beginn ihrer Ehe – einsetzte, war das von ihr öffentlich produzierte Frauenbild – das Bild der Diana eben.
Ob man nun die Gala-Bilder, die Reise-Bilder, die Sport-Bilder oder die Bilder des politischen Engagements der Princess
of Wales betrachtet, auf allen ihren Bildern wird eines deutlich
in den Vordergrund gestellt – nämlich: ihre Beine sowie ihr
Gang. Bei weitem treffender als »Prinzessin der Herzen« wäre
daher der Beiname »Prinzessin der Beine« gewesen. Offensichtlich ging es der Prinzessin darum, ein neues Frauenbild auf
die Beine zu stellen und zwar auch über die Art und Weise der
Darstellung. Frei nach den antiken Frauenfiguren läuft Diana
frontal auf den Betrachter zu, mit einem dynamischen, nach vorne gerichteten Gang. (Diese dynamischen Dianafiguren der
Antike verschwanden ab dem 3. Jahrhundert zugunsten der
Marien- und Venusfiguren, welche beide einerseits statisch sind
und andererseits für den Betrachter ins Bild zurückgehen.) Ob
alleine joggend oder tanzend mit John Travolta, ob beim
Schwimmen mit Dodi Al-Fayed oder beim Skifahren mit ihren
Söhnen – immer (und selbst noch bei den Minenopfern, für die
sie sich einsetzte) ging es um Beine und Bewegung. Diese
Bewegungsmetapher des inszenierten Diana-Bildes war freilich
gegen die sprichwörtliche Steifheit der Windsors gerichtet;
dem klassischen Bild der Macht, also dem des unbewegten
Bewegers (einem Bild, dem noch Königin Elisabeth II. entspricht) stellte Diana das Bild einer bewegten Bewegerin entgegen – formal wie inhaltlich.
Da konnte man beispielsweise im Fernsehen und späterhin
auf Video folgende Szene mitverfolgen: Bei einem offiziellen
Anlass spielt Prinz Charles in einem Streichquartett klassische
Musik. Urplötzlich begibt sich auch Diana auf die Bühne, setzt
sich an das sich ebenfalls dort befindende Klavier und spielt –
der Klassik ins Wort fallend – Jazz. Das Streichquartett befindet sich rechts, das Klavier links auf der Bühne. Die Kameras
schwenken von der rechten Seite zur linken; derart, dass das
Quartett sich nicht mehr im Bilde befindet. Charles und seinen
Mitstreichern blieb nichts anderes übrig, als ihr Konzert abzubrechen und die Bühne zu verlassen; die Kameras hatten sich
ausnahmslos auf das Bild der Diana focusiert. Szenen dieser
Art, in denen Charles öffentlich bloßgestellt und blamiert und
zudem die Protokolle feierlicher Veranstaltungen aus der Fassung gebracht wurden, gab es unzählige – und es war wohl diese permanente Imagezerstörung, die das Königshaus und insbesondere die Queen zur Weisglut brachten. Nach ihrer
offiziellen Trennung ließ sich Diana vor dem Taj Mahal fotographieren, sitzend dieses Mal und alleine – vor dem Palast der Liebe. Als sie sich dann noch im Tiger-Bikini, anscheinend schwanger mit einem Araber ablichten ließ, war genug; ebenso prompt
wie 1992 auf ihr Buch die Trennung und ebenso prompt wie
1996 auf ihr Fernsehinterview die Scheidung folgte, so folgte
nun 1997 auf diese Bilder ihr Tod.
Epilog. Es soll Zeiten gegeben haben, da sich die Bühne
(Opernsängerinnen und Schauspielerinnen, wie die Mode überhaupt) an Prinzessinnen orientiert hatte; in der zweiten Hälfte des
20en Jahrhunderts spätestens hatte sich dieses Verhältnis
längst umgekehrt. Prinzessin Diana wollte so sein wie Marilyn
Monroe (ein Star!) und imitierte doch eine andere – nämlich die
zeitgleich mit ihr aufkommende Madonna. In dieser Rivalität freilich hatte sie keine Chance: Es war Madonna, die den Ton, das
Trendsetting, die neuen Werte und Bilder vorgab – und im Vergleich zur Sängerin schien die Prinzessin erstaunlich antiquiert.
Diana aber wirkte (wie das Negativ von Madonna) auf einer
anderen Bühne: Indem sie die Bilder der repräsentativen Macht
dekonstruierte (und beispielsweise zeigte, dass selbst das englische Königshaus schon längst nicht mehr zu unterscheiden
war, etwa von der Fernsehserie einer Kleinbürgerehe), stellte sie
aufs Neue die Frage nach der Vorbild-Funktion der Repräsentation. In diesem Punkt und nur in diesem war sie Madonna voraus: Madonna war Idol (und vergaß gerade darum die Frage,
was sie als Vorbild bewirken wolle) – Diana war Vorbild (und
stellte genau darum die Frage, wie Idole heute aussehen sollten).
Constantin Rauer war zuletzt Gastprofessor für Philosophie
an der Universidade Federal de Santa Catarina in Florianópolis, Brasilien. Im Oktober 2007 erschien von ihm im Akademie
Verlag: »Wahn und Wahrheit. Kants Auseinandersetzung mit
dem Irrationalen«. Derzeit arbeitet er an einem von der Gerda
Henkel Stiftung geförderten Projekt mit dem Titel »Homo
cultus. Die Geburt des Menschen – mit Religion, Kunst und
Geschichte – während der jüngeren Altsteinzeit«.
NADJA GRABSCH
A TRIBUTE TO KURT COBAIN
Das erste Mal wunderte ich mich zur jährlichen Faschingsparty. Die bunten Kostüme wurden mehrheitlich gegen schwarze
Fummel eingetauscht, Tanz- gegen Depri-Mucke-Stimmung.
Auch die Rauchereckenjungs aus der Klasse drüber hatten
offensichtlich nicht zufällig alle den letzten Friseurtermin
geschmissen und ich kombinierte, dass die »Nevermind«-Shirts
auf den gleichen Grund zurückzuführen waren: die Band Nirvana, die offensichtlich mein gesamtes Umfeld infiziert hatte. Nach
Gerüchten, die Band-AG hätte Rasierklingen im Proberaum
gebunkert, kam der absolute Höhepunkt nach den Osterferien,
kurz vor meinem elften Geburtstag, als die Hälfte der Mädchen
tränenüberströmt vor der völlig überforderten Mathereferendarin standen. Man könne heute unmöglich die Matheprüfung
machen, denn Kurt Cobain habe sich gestern das Leben
genommen. Die Mathearbeit wurde verschoben und auf einmal
konnte selbst ich, deren kleines Universum durch Nirvana bisher kaum irritiert wurde, der Sache etwas abgewinnen.
Wo andernorts Techno-Paraden stattfanden, trat hier eine
Band auf die Bühne, die vor allem eines vermitteln wollte:
Authentizität. Und das Image funktionierte. Binnen kürzester
Zeit wuchsen die drei Kleinbühnenrocker Kurt Cobain, Dave
Grohl und Krist Novoselic´ zu Musikstars der Megaklasse heran. Nevermind, ihre zweite Platte mit Baby Spencer Elden unter
Wasser auf dem Cover, wurde zu einem der meistverkauften
Rockalben der Musikgeschichte, Songs wie »All Apologies«,
»Come As You Are« und »Smells Like Teen Spirit« zu den meistgespielten der 90er Jahre und letzterer schließlich zur Hymne
einer ganzen Jugend: »Hello, hello, hello….With the lights out
it's less dang'rous. Here we are now, entertain us…«. Nirvana
sammelte Music Awards und ihre Videos liefen bei MTV rauf
und runter. Ihre Wirkung bestand einerseits im unverkennbaren
Grunge-Sound und Cobains rauer Stimme, andererseits aber
auch in ihrer zur Schau getragenen Distanz zum Musikgeschäft,
auch wenn ihr kommerzieller Erfolg nicht unbedingt mit der Rolle der Antihelden kompatibel war. Der eigentliche Schlüssel und
damit zugleich Anfang und Ende jeder Nirvana-Geschichte, ist
die Figur Kurt Cobains. Kurt Cobain war Nirvana. Wie kaum ein
anderer hat er es verstanden, das Leiden am Leben zur Kunst
zu erheben und zu verkörpern.
Wenn Cobain die Bühne betrat und Einblick in die Seele
eines ewig Gestrauchelten gewährte, dann wurde einem überwiegend pubertierenden Publikum die Erfahrung emotionaler
Tragik zuteil. Und alle in dieser Zeit nicht mit dem messianischen
Cobain-Syndrom Infizierten konnten eigentlich nur als Aussätzige bedauert oder für ihre Immunität bewundert werden. Denn
zur Cobain-Syndrom-Ausstattung gehörten nicht nur Kerzen
und Räucherzeugs, akribisch gesammelte Bravo-Schnipsel und
Nirvana-Buttons auf jedem verfügbaren Kleidungsstück, dazu
gehörte in erster Linie der Freifahrtschein zum Unglücklichsein,
zur Depression im ganz großen Stil. Dass Cobain, der wie
Robert Schumann, Britney Spears und unzählige Größen des
ShowBiz an einer Bipolaren Störung litt, an seiner Rolle zerbrach, war dabei lediglich der Ausdruck eines wohl tragischen,
aber gekonnt vermarkteten »Schicksals«. Seine Geschichte
liest sich wie aus einem psychiatrischen Handbuch klassischer
Musikerkarrieren. Der Junge aus dem US-Westküstennest
Aberdeen, der früh mit dem Selbstmord naher Verwandter konfrontiert wird, aus dem zerrütteten Elternhaus ausbricht und
schließlich kein anderes Ziel mehr kennt, als Musik zu machen.
Die Stationen gehen von der Freundschaft zu Krist Novoselic´,
über einige gescheiterte Bandprojekte, zum großen Griff, der
Gründung von Nirvana. Es folgen 1989 das Debut-Album
Bleach, der Plattenvertrag mit Geffen Records und schließlich
das über 10 Millionen Mal verkaufte Album Nevermind. Cobains
Magenprobleme und depressive Zustände wurden dadurch
nicht geringer, nur der Drogenkonsum heftiger und die Entzugsversuche häufiger. Seine Musik transportierte dafür inbrünstige
Hoffnungslosigkeit, quälend zur Schau gestellte Sehnsucht
nach Ruhe der Seele im Vollkommenen, wie es der Bandname
prophezeit. Kurt Cobain hätte nicht so erfolgreich sein können,
wären all diese aus dem Arsenal der Romantik gegriffenen Motive nicht bitterernst gewesen. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere und dem Tiefpunkt seines Lebens gibt es für den 27-Jährigen nichts mehr zu sagen. Kurt Cobain nimmt sich am 5. April
1994 nach einer Überdosis Heroin durch einen Kopfschuss das
Leben.
Nadja Grabsch, geboren 1983 in Berlin, studiert Germanistik
und Medienwissenschaft und arbeitet als Redaktionsassistentin für das »Deutschlandsaga«-Fanzine.
JACEK SLASKI
NAZIMUSIK
Politische Ansichten und Überzeugungen haben in der Popmusik spätestens in den 1990er Jahren nichts mehr verloren. Doch
sie lebten in dieser Dekade in einer radikalen Nische umso mehr
auf – unter rechten Vorzeichen.
Die Rechtsrockszene in Deutschland erlebte in den 80er Jahren ihren Anfang. Die Böhsen Onkelz wurden bereits 1980
gegründet und erlebten ihre ersten Erfolge. Doch erst in den
90ern gab es einen wirklichen Aufstieg der Szene. Rassistisches, ausländerfeindliches und antisemitisches Gedankengut
fand zunehmenden Eingang in die Musik von Liedermachern
wie Frank Rennicke, bei Oi!, Punk- und Metal-Bands wie Störkraft, Endstufe, Landser und Kahlschlag. Oft verbinden diese
Bands ultrarechte Slogans, sie bedienen sich teilweise der germanischen Mythologie und schrecken auch nicht vor Gewaltverherrlichung, Nazi-Propaganda und der Verleugnung des
Holocaust zurück. Diejenigen, die sich nach der Wiedervereinigung stärker in Richtung rechts orientiert haben, suchten nach
musikalischen Sprachrohren. Die alten Neonazis haben sich
vielleicht noch mit Heimat- und Soldatenliedern oder Marschmusik abgefunden. Doch die junge Generation von Skinheads
und anderen rechten Subkulturen wollte eine eigene Musik, mit
der sie sich identifizieren konnte.
Zu der Zeit hatte sich in England bereits eine lange Tradition
der Skinhead-Musik etabliert. Skinheads hörten unter anderem
Ska, das wie die britische Skinhead-Kultur seine Wurzeln in der
jamaikanischen Musik hatte und eher unpolitisch war. Doch
Bands wie die neofaschistisch motivierten Skrewdriver des
1993 verstorbenen Sängers Ian Donaldson hatten mittlerweile
einen Kultstatus erreicht und ihre Sympathien für die rechtsradikale englische Partei National Front nie verheimlicht.
Ähnlich wie in England funktionierte ab den frühen 90er Jahren die rechte Musikszene auch in Deutschland. 1992 gründete sich die Hardcoreband Landser, die Rassenmischung als Völkermord bezeichnete und sich offen zur Nazi-Ideologie
bekannte. Zwar wurden Landser schon früh vom Verfassungsschutz beobachtet und nahezu alle Tonträger der Gruppe indiziert, dennoch brachte sie es bis 2003 auf ein gutes Dutzend
Platten. Die rechte Musikszene ist sehr gut organisiert, sowohl
im Internet wie auch in der realen Welt. Daher ist eine Indizierung, die an sich nur den Verkauf durch offizielle Kanäle, wie
etwa große Plattenläden untersagt, meist unwirksam. So konnten innerhalb der rechten Szene eigene, unabhängige Vertriebswege etabliert werden und Konzerttourneen stattfinden – trotz
Indizierung und Verfahren gegen die Verwendung verfassungswidriger Parolen und Symbole. Erst 2005 hat der Bundesgerichtshof Landser als kriminelle Vereinigung eingestuft und
damit das weitere Fortbestehen von Landser erheblich
erschwert. Viele andere der Gruppen aus den 90er Jahren existieren heute ebenfalls nicht mehr, zumindest nicht unter ihren
Originalnamen. Dennoch finden sich weiterhin Videos von
Rechtsrockgruppen zum Beispiel auf dem Videoportal YouTube
und wenn man etwas tiefer surft, stößt man ohne größere Probleme auf die musikalischen Hinterlassenschaften der Rechten.
Immer wieder tauchen Rechtsrockbands in den Schlagzeilen
auf, wenn etwa das Bundeskriminalamt mal wieder CDs oder
Computer in irgendwelchen Hinterhofstudios oder Privatwohnungen beschlagnahmt hat, oder – wie zuletzt 2004 durch die
Verteilaktion der so genannten »Schulhof-CD« mit Songs verschiedener Rechtsrock-Bands – in der Nähe von Schulen und
Jugendzentren. Ein Ende der Szene ist nicht abzusehen.
Mittlerweile wird die Zahl der rechten Bands auf mehrere hundert geschätzt. Sie veröffentlichen jährlich an die 100 neue Platten. Dazu kommen einige dutzend Firmen, die sich um die Produktion und den Vertrieb des Rechtsrock kümmern.
Perle: »Tick« von Surrogat
Der deutschsprachige Noise-Pop der Berliner Band Surrogat
war derart stilprägend, dass zwar außer einem enthusiastischen
Kreis von Fans kaum jemand die Band kennt, doch den Sound,
den Surrogat in die deutsche Musiklandschaft holten, hört man
heute bei vielen Bands. Als der Sänger Patrick Wagner, beeinflusst vom legendären US-Produzenten Steve Albini, Surrogat
gründete und kein Label für das Debüt fand, gründete er
gemeinsam mit dem Radio-DJ Raik Hölzel einfach ein eigenes.
Es hieß kitty-yo und gehörte in den 90er Jahren zu den einflussreichsten Labels Deutschlands. Surrogats Single Tick von
1994 war die erste Veröffentlichung auf kitty-yo, es folgten
Elektro-Pop und Post-Rock-Gruppen wie Jeans Team, To Rococo Rot und Tarwater, die an den Grenzen von Elektronik, Minimalismus und schrägem Pop einen Sound für das wiedervereinigte Berlin erfanden. Surrogat machten den Anfang.
Guru: Helge Schneider
Helge Schneider ist selbstverständlich hinlänglich bekannt. Er
spielt für Millionen, vom Hochschulprofessor bis zum Schulkind
hat sich die deutsche Nation auf das dadaistische Multitalent
aus Mülheim an der Ruhr geeinigt. Der Erfolg des 1955 geborenen Helge Schneider hat in den 90er Jahren mit den Filmen
begonnen. Zuvor sah man den Kauz durchaus auch mal auf der
Straße spielen. Es war die Musik, speziell der Jazz seiner Helden von Thelonious Monk bis Dave Brubeck, mit der er berühmt
werden wollte. Dann entdeckte er auch seine humoristische
Seite. Neben dem Klavier beherrscht der Sänger und Songschreiber Schneider auch noch folgende Instrumente: Saxophon, Vibraphon, Akkordeon, Gitarre, Geige, Hawaiigitarre,
Blockflöte, Schlagzeug, Trompete, Hammond-Orgel und Cello.
1990 erschien sein Album New York, I’m Coming, später gründete er neben seinen diversen Jazzensembles, in denen unter
anderem der legendäre englische Schlagzeuger Pete York
spielt, auch die Hardrocktruppe Helge and the Firefuckers, mit
der er 1999 das gleichnamige Album veröffentlichte.
Jacek Slaski ist Redakteur beim Stadtmagazin ›tip Berlin‹.
UTE BÜSING
AMANDA KARTOFFEL: RÜCKBLICK AUF DIE 90ER JAHRE
Im Januar 1990 sendete zitty-Radio Berlin Glossen der Kulturjournalistin Ute Büsing. Wir drucken hier achtzehn Jahre nach
der Sendung erstmals ihre zum Entstehungszeitpunkt weitsichtige Glosse »Amanda Kartoffel: Rückblick auf die 90er Jahre«.
Hallo. Ich bin die Amanda Kartoffel. Altes Adelsgeschlecht: in
gerader Linie zurück bis zu unserem Entdecker, dem Preußenkönig. Als Erdfrucht mit ehrbarem Stammbaum gehöre ich zu
den ganz wenigen, die noch im Jahr 2000 unverbrüchlich dazugehören. Unkraut vergeht eben nicht. So schnell kriegt uns keiner klein. Unsereins hat seine Augen überall.
War doch klar, dass meinesgleichen die Null-Diäten der »Me«Generation überleben würde. Der Mensch lebt nicht von Tofu,
Vierkornknäcke oder auf frischem Lauch gebetteter Wachtel
allein. Zum aufgewärmten Kohl, von dem plötzlich alle nicht
genug kriegen konnten, gehörten Kartoffeln. Kartoffelpuffer,
Kartoffelklöße, Bratkartoffeln, Kartoffelsuppe – mit uns im
Magen wurde schließlich so mancher Krieg überlebt. Selbst in
unseren Schalen steckt noch Nährwert. Wir passen uns auch
gerne wechselnden Gepflogenheiten und Moden an. Lassen
uns als »Amanda Salat« servieren oder als Party Snack schwarzrot-golden anmalen. Von Natur aus sind wir eher braun.
Die Schollen-Verbundenen neuen deutschen Menschen, die
seit der Zwangsvereinigung von BRD und DDR anno 1991 brüderlich und schwesterlich zusammen fanden, wussten uns
jedenfalls zu schätzen. Wir kochten auf kleiner Flamme weiter
und taten als so genannte »Pommes« große Dienste bei der
Osterweiterung der Fast Food Filialen. Allerdings wurde auch
keine Kreuzberger Koordinationsdelegation zur Projektbesprechung am Prenzlauer Berg je ohne kollektives Kartoffelsalatspeisen empfangen.
Seit der Einführung der so genannten »Bananensteuer«,
1993, die den übermäßigen Verzehr von Südfrüchten reglementiert, sind wir noch schwerer im Kommen. Die Kampagne »Fresh
Food for Fresh People« haben wir den aussterbenden Ökoläden
wie »Sun Reis« gern überlassen. Reis? Wer isst schon so was,
wo doch noch jenseits der Westgrenze Kartoffeln wachsen.
1995, als das Hahn-Meitner-Institut sich in einer Pilzwolke auflöste, waren wir kurzfristig in der Gefahr vom Markt genommen
zu werden. Doch dann hat uns ein von Gorbi geschickter Entsorgungstrupp zum unbedenklichen Verzehr freigegeben.
Etwas peinlich war uns die Observation durch die überlebenden Tschernobyl-Spezialisten schon, denn wir sind durch die
Bestrahlung noch ein bisschen brauner geworden. 1996 haben
wir uns ratlos von unten angeguckt. Da hatte die unermüdliche
Kampagne des Sozialdemokratischen Reiches Deutscher
Nation »Gib ATZE keine Chance!« voll gegriffen. Die Filialen des
Megakonzerns »Condomi« verzeichneten vom Mars bis an die
Memel durchschlagenden Erfolg. Die Geilheit nach schwarz-rotgoldenen Präsern hatte so sehr gegriffen, dass die Geburtenrate
auf nahe Null absackte. Der Bundesverband der Großdeutschen Rüstungsindustrie wurde wild vor lauter prognostizierten
Facharbeitermangel.
Bundeskanzler Lafontaine traf sich im Krisenzentrum Wandlitzer Kreisel zu einer eilig anberaumten Sondersitzung mit dem
greisen Weisen und Ersten Ehrenvorsitzenden der Weltweiten
New-Age-Bewegung, Woytila. Es gab, unverzeihlich, keine Kartoffeln.
Bei Krimsekt, Marke Gorbatschow, und Kaviar aus der Spezialstörzüchtung des Fischhändlers Noriega im Panamakanal,
einigte man sich auf ein Rettungskonzept für das vom Aussterben bedrohte sozialdemokratische Sozialwesen: 1. Die unfruchtbare Kampagne »Gib ATZE keine Chance!« wird unverzüglich durch »Neue ATZES braucht das Land!« ersetzt. 2. Der
Megakonzern »Condomi« wird ohne Duldung von Nachfolgebetrieben verboten. 3. In den durch das Abschmelzen der Pole
entstandenen Sümpfen bei Spree und Ruhr werden unverzüglich Fabriken zur Spermien-Zucht angelegt. 4. Das urdeutsche
Nahrungsmittel Kartoffel wird zur Triebsteigerung Grundlage
aller Schulspeisepläne.
1998 wurde der so genannte »Lafontaine-Woytila-Pakt«
Gesetz. Die Proteste der »Liga zur Gleichstellung der Männer«
verhallten nach der Selbstauflösung der Grünen ohne Gehör.
Auch Generalbundesanwalt Schily vermochte seinen Einspruch
nicht mehr zu artikulieren. Von jahrzehntelanger kartoffelarmer
Ernährung in Szenelokalen geschwächt, versank er in der
zwecks Besserung bestellten Riesen-Portion Kartoffemus. Ich,
Amanda Kartoffel, kann das bezeugen. Meine Augen waren
dabei.
Ute Büsing lebt als freie Autorin, vorwiegend für das rbb-inforadio, in Berlin.
CHRISTINA ZOPPEL
DER MIKROWELLENSURFER
In der Mikrowelle mit Tomaten Splatterwave zu spielen oder Mutters Goldrandgeschirr zum Funkensprühen zu bringen, hat ihn
nicht interessiert. Er spielte lieber PING am Commodore 64. Die
Mikrowelle überließ er seiner Mutter. Nun steht das aussortierte
Ding, sorgfältig in Luftblasenfolie verpackt in der eigenen Bude,
etwas verloren wie er selbst. Zum Aufwärmen gibt es nichts. Niemand kocht, keine Zeit. Er muss lernen. Das erklärt er der Mutter,
wenn sie sonntags anruft. Dabei hat er lauter neue Spielzeuge:
Die Welt hat sich an seinen Computer angedockt, und er surft.
Das erklärt er Mutter nicht, es wäre zu kompliziert. Sie hatte schon
Schwierigkeiten mit BTX. Von Myst schweigt man ohnehin besser, ebenso von Magenkrämpfen und Schwindelgefühl.
Der Hunger treibt ihn hinaus in die Stadt. Bislang kannte er
im Supermarkt nur die Regale für Softdrinks und Knabberzeug.
Jetzt entdeckt er bei Penny und Spar die endlosen Weidegründe der Fertignahrung. Die dargebotene Fülle in Dosen, Tüten,
fix und fertig eingeschweißt in Kunststoff, schockgefrostet oder
vierzig Jahre haltbar gemacht durch Dehydration ist beeindruckend. Italienisches, chinesisches, thailändisches, deutsches,
französisches oder schweizerisches Essen, das er großteils nur
vom Hörensagen kennt. Lediglich mit Tiefkühlpizza und Dosenravioli hat er schon Kontakt gehabt. Verstohlen beobachtet er
die zielstrebigen Einkäufer um sich und stapelt rasch die selben
Kartonpackungen in seine Armbeuge. Er hat sich keine Blöße
als Instant-Neuling gegeben.
Zu Hause packt er die Mikrowelle aus und stellt sie auf den
unnützen Küchentisch. Ein entspanntes Verhältnis mit ihr aufzubauen, ist schwieriger als gedacht. Auch wenn er gleich beim
ersten Versuch festgestellt hat, dass man den Aludeckel vom
Singlemenü abziehen muss. Er weiß, dass elektromagnetische
Wellen die Wassermoleküle in schnelle Bewegung versetzen
und so erwärmen. Aber er weiß nicht, wieso er sich an einem
Löffel serbischen Bohneneintopfs aus der Ecke der Plastikschale böse die Zunge verbrennt und das Zeug in der Mitte der
Schale noch fast kalt ist. Er stellt fest, dass Würstchen sofort
platzen und verbrüht sich mehrfach die Hand und einmal die
Nase, als Wasserdampfblasen aus dem Gericht explodieren.
Die Mikrowelle und er haben sich arrangiert. Während sein
Essen rotiert, geht er noch auf ein kurzes Spiel oder eine Nachricht an den Computer. Erst ein paar Minuten nach dem »Ping!«
des Geräts holt er sich sein lauwarmes Schälchen.
Die erste Frage der Mutter, ob er auch richtig esse, kann er
nun mit gutem Gewissen beantworten. Es gibt Chili con Carne, Königsberger Klopse mit Kapernsauce, Paprikagulasch mit
Eiernocken, Zürcher Geschnetzeltes mit Reis, Kasseler mit
Rahmgemüse, Bockwurst mit Sauerkraut oder Burgunderbraten mit Spätzle. Inzwischen weiß er auch, warum die versierten
Fertiggericht-Konsumenten so schnell beim Einkaufen sind.
Sollte es ihn interessieren, was er eben gegessen hat, liest er
das auf der Verpackung nach. Letztendlich lernt man, die
Gerichte an der Farbe zu unterscheiden. Die zweite Frage der
Mutter, ob er denn auch mal an die Luft gehe, kann er zumindest bejahen. Der nächste Supermarkt ist zwei Straßen weiter,
dorthin geht er montags und donnerstags. An den anderen
Tagen ist mehr als genug Bewegung in seiner Kleinstwohnung.
In der Mikrowelle schwingen die Wasser- und Fettmoleküle und
er kommt bei Tomb Raider regelmäßig ins Schwitzen.
Die dritte Frage hat sie sich diesmal verkniffen. Es ist die nach
den Mädchen und sie hängt eng mit der zweiten Frage zusammen. Zwar seltener als der Mutter, aber doch hin und wieder,
kommt ihm der Gedanke nie eine kennen zu lernen, wenn er nicht
öfter unter Leute geht. Deshalb ist er jetzt nervös. Lisa aus dem
Seminar hat sich bei ihm zum Abendessen eingeladen. Er hat
zwei Burgunderbraten gekauft und ein paar Bier. Als sie endlich
kommt, besteht sie darauf sich die Spätzle in einer Pfanne zu braten, weil Mikrowellen schädlich seien. Den Braten überlässt sie
ihm, weil sie Vegetarierin ist und Bier mag sie nicht. Sie erzählt
von ihrer Yogalehrerin und wie teuer Flüge nach Indien sind. Sie
wärmt sich noch das Rahmgemüse vom Kasselergericht und isst
drei Gabeln davon, bevor sie geht. Sie muss zu einer Party. Sie
fragt nicht, ob er mitkommt. Er hätte wohl ohnehin abgelehnt, er
will in Ruhe ein Bier trinken, mit Tetris.
Christina Zoppel, Autorin, geboren 1971 in Bregenz, Österreich, lebt in Berlin.
ANDREAS SEYFFERT
»LECK MICH AM ARSCH, MARIE!«
EINE MARKTGESCHICHTE
Wir waren berauscht. Niemals zuvor hatten wir so viel Geld in so
kurzer Zeit mit so wenig Aufwand verdient. Wir fuhren wie die
Henker auf der Transitstrecke Richtung Heimat, Richtung
Westen. Nirgendwo irgendwer, der einem blöd von der Seite
kommen konnte oder wollte – Radarkontrollen, lächerlich. Es
herrschte ein nie zuvor und nie mehr danach empfundener
Zustand von Anarchie. Zumindest auf den Autobahnen der DDR.
Drei Wochen lang, von Mitte Juli bis Anfang August 1990, eroberten wir wie auf Droge die DDR-Wochenmärkte, genauer gesagt,
die Märkte entlang der Ostseeküste. Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, Wolgast oder Sassnitz auf Rügen hießen unsere Stationen. Wir schliefen in ehemaligen Nazibunkern, DDR-Pionierheimen, zerfallenen Gründerzeitvillen oder einfach im Auto.
Als wir uns eine Woche nach der Währungsunion in den Großen Ferien nach dem zwölften Schuljahr aufmachten, hatten wir
keinen blassen Schimmer von dem Land, das einige in Anführungszeichen schrieben. Natürlich saßen wir keine sieben
Monate zuvor staunend im fernen, behüteten Hamburg mit den
Eltern vor den Fernsehgeräten und staunten Bauklötze, was da
»drüben« passierte. Aber wie das Land, so war auch dieses
Ereignis für uns nicht fassbar. Keiner von uns hatte DDR-Verwandte, geschweige denn ein DDR-Verhältnis, eine DDRGeschichte. Meine Oma in West-Berlin, die diesen Deutschen
Wahnsinn von 1989 nicht mehr erlebte, hasste alles, was politischer Ostimport war, war sie doch selbst eine Vertriebene,
eine Heimatlose, die in der Frontstadt noch gut und gerne
1.000 Jahre mit der Mauer hätte leben können. Und so standen
wir oft mit meinem Papa in diesem miefigen, viel zu engen
Museum am Checkpoint Charlie, gafften von einer wackligen
Aussichtsplattform auf den Todesstreifen und waren froh auf
der anderen Seite zu stehen. Aber in dem besagten Sommer
1990, als die zerbröselte Mauer ein lächerliches Requisit für
Andenkenshops wurde, nagte an uns dann doch die Neugierde die »andere Seite« kennen zu lernen, eine Neugierde wie sie
wohl nur Teenager oder Bauspekulanten haben. Außerdem
wollten wir unser Taschengeld aufbessern.
Wismar. Gleich der erste Wochenmarkt war ein Volltreffer. Wir
verkauften Musikkassetten. Aus einem ziemlich alten Kassettenspieler dröhnte unsere Ware – eigentlich nur ein einziges Lied,
das wie zur Strafe an das »Eldorado« der ersten Wendemonate nie mehr aus meinen Ohren wich: »Leck mich am Arsch,
Marie!« Diese eine Zeile war wie das Mantra der »tollen Tage«,
die in meiner Zeitrechnung mit dem Fall der Mauer begannen,
im Gewinn der Fußballweltmeisterschaft am 8. Juli in Rom ihren
kollektiven Superhype fanden und im Staatsvertrag am 3. Oktober 1990 ihren rustikalen Endpunkt erlebten. »Mein Geld
bekommst Du nie«, lautet die zweite feinsinnige Zeile dieses frivolen Schlagers, die eigentlich hätte schon andeuten müssen,
was die Währungsreform in vielen Haushalten wirklich auslösen
sollte. Mit: »Alles Scheiße, deine Ellie« endete unser Verkaufsschlager, um sogleich wieder auf Stopp gedrückt, zurückgespult und abermals abgespielt zu werden – ein Dauer-ScheißeLoop. Das braun gehaltene Cover zierte eine blonde Schönheit,
die dem Betrachter ihren Po so zuschiebt, als ob sie ihn mit der
Verführung zugleich warnen wollte: »Ich komme aus einer anderen Zeit – den 70er Jahren – und einem fernen Land – der BRD.
Lass Dich ruhig mit mir ein, aber nichts ist umsonst!« Die Menschen auf dem Marktplatz in Wismar waren aus dem Häuschen,
lachten sich halb zu Tode, sangen das Lied nach und kauften
unsere Kassetten wie Besessene. Wir waren alles andere als
Kenner oder gar Liebhaber dieser Musik, aber das mussten wir
gar nicht sein. Nicht wir machten die Geschäfte, sondern die
Geschäfte machten uns. Welche Anmaßung, Infantilität, Spießbürgerlichkeit in dieser einen Zeile steckte, aber nicht zuletzt
auch Anarchie und Schadenfreude über den Zusammenbruch
eines Systems, das wir nicht kannten, gepaart mit einer unbestimmten Sehnsucht des Neuanfangs, dämmerte uns erst jetzt.
Und mit Sicherheit spielte das frische Westgeld in den Händen
der Menschen eine gewaltige Rolle. Noch waren die Bauspekulanten und Vermögensberater nicht flächendeckend in das
»Neue Land« eingedrungen. Noch waren es die kleinen Händler wie wir, die die Vorhut der Warenwelt bildeten und auf dem
überfüllten Marktplatz um den Verkauf von Produkten wie Bananen, Autoreiniger, Nagellackentferner, Dessous oder aber
Musik konkurrierten. Und unsere Musik ging am besten. Wir
waren fiebrig von dem Glück, das auf den Gesichtern unserer
Käufer lag, von dem Geruch des frisch gedruckten Geldes und
von uns selbst, die noch vor kurzem nicht wussten, wo Wismar
liegt.
Als die Sonne wie in »High Noon« stechend über uns stand,
packten wir unseren Tapeziertisch ein. Wir waren ausverkauft.
An einem Vormittag! So rasten wir zurück nach Hamburg und
expandierten. Wir mieteten uns einen Transporter, luden ihn voll
mit unseren Kassetten und legten eine Wochenmarktroute fest,
die angelehnt an das »Wismarer Wirtschaftswunder« der ultimative Schlachtplan für weitere Geschäfte sein sollte. Dabei verließen wir nie das spätere Mecklenburg-Vorpommern. Warum,
weiß ich heute nicht mehr so recht. Vermutlich hat es etwas mit
dem Wasser zu tun, das Hamburger nie ganz aus den Augen
verlieren wollen.
Die Gier nach Geld erlosch allerdings schon bald. Wir verdienten es einfach zu leicht; und so interessierten wir uns von Mal
zu Mal, von Markt zu Markt mehr für Land und Leute. Es war ein
gastfreundliches Land, und das kindliche Staunen auf den
Gesichtern seiner Einwohner schien uns sagen zu wollen: Alles
ist neu, ich darf es erleben und gestalten. Und vor nahezu jedem
Eigenheim war ein handgeschriebenes Schild: Zimmer frei. Wir
selbst noch bis zum Anschlag grün hinter den Ohren, wurden
wie »echte« Erwachsene in den intimen Orten privater Wohnstuben und Schlafzimmer, manchmal auch Garagen empfangen. Wir fühlten uns nicht als Fremde, sondern als Handlungsreisende: überall und nirgends zu Hause. Wo wir einkehrten
oder übernachteten bezahlten wir nie mit Geld, sondern stets
mit unseren Kassetten. Naturalienhandel pur! Als ob es sich wie
ein Lauffeuer herumgesprochen hatte, das in unserem Laster
die frivolen Kassetten lagerten, wollten alle nur dieses eine
Lied, »Ihr wisst schon, das mit der blonden Frau auf dem Cover.«
Nach drei Wochen hatten wir soviel Geld verdient, dass wir
monatelang um die Welt hätten jetten können. Ich aber entschied mich für eine andere Weltreise und begann Philosophie
zu studieren. Und aus dem Händler wurde ein Grübler.
Noch einmal nach den »tollen Tagen« machte ich im April 1992
abermals eine Tour über die Wochenmärkte des nun offiziell als
Mecklenburg-Vorpommern titulierten Bundeslands. Doch nichts
war mehr so wie damals. Die Euphorie wie weggeblasen, die
Anarchie reguliert: Tempolimitschilder auf der Autobahn, nur
halb zu Ende restaurierte Eigenheime am Straßenrand, wie Pilze aus dem Boden geschossene Discounterketten und deutlich
weniger Kauffieber in den Augen der Wochenmarktmenschen.
Sie waren zu vergleichenden Besuchern geworden, die schnell
gelernt hatten, nicht alles für Gold zu halten. Vielleicht aber war
es auch profaner: Unser sexy Covergirl war zwei unglaublich
dicken Männern in hässlichen Trachtenkostümen gewichen.
Und auf unserem moderneren CD-Spieler, der trotzdem nicht
gegen die Wucht von »Aal-Willy’s« 1000-Watt-Stimme am
Stand nebenan ankam, lief »Herzilein«. Und wie den SchmollMoll der kommenden Jahre vorwegnehmend weiter: »Du musst
nicht traurig sein, schuld war doch nur der Wein.«
Andreas Seyffert, geboren in Hamburg, Leiter der Abteilung
Presse / Öffentlichkeitsarbeit / Marketing der Schaubühne am
Lehniner Platz, Herausgeber der »Deutschlandsaga«-Fanzines, ein großer Fan von Paralleluniversen und Manager des 1.
FC Energie Schaubühne.
NINA ENDER
DAS KIND UND DAS GELD
Das Kind und das Geld. Die beiden gründen eine Bande. Das
Kind schreibt ein Regelwerk. Erstens: Wir sind eine Bande.
Zweitens: Keiner ist der Bestimmer. Drittens: Wir brauchen
einen Schatz.
Ich will der Bandenchef sein, brüllte das Geld.
Im Kopf des Kindes hat die Stimme der Mutter des Kindes ein
Zimmer. Es ist eine kleine Kammer. Keine Fenster. Rotweißkarierte Tapete blauweißkarierte Tapete rotblaukarierte Tapete.
Die vierte Wand ist ganz weiß an ihr prallt die Stimme ab ewiggleiches Gerede mit Dellen und Beulen im Kopf des Kindes: Du
sollst nicht mit Geld spielen. Du musst dir das Geld einteilen.
Du musst der Herr sein über dein Geld.
Und das Kind dachte an einen schwarzen Zylinder und einen
aufgemalten Schnurrbart. Es geht nicht, sagte das Kind zu dem
Geld, du darfst nicht bestimmen. Ich muss dein Herr sein jetzt
und immerdar.
Da faucht das Geld die Raubkatze der bluthungrige Jäger ein
Stinkmorchelkobold mit fauligem Gebiss. Über Geld redet man
nicht über Geld redet man nicht über Geld redet man nicht. Die
Stimme der Mutter des Kindes rennt rasend über die rotweißblauweißrotblaukarierten Wände der Kammer.
Das Kind:
Mein Taschengeld ist gekürzt worden. Das war eine Maßnahme
die sein musste. Papa war Schreiner. Papa ist nicht mehr
Schreiner. Papa bekam keine Abfindung. Mama musste sich
damit abfinden. Ich muss mich damit abfinden und stecke mir
Superman unter die Jacke und gehe mit Superman unter der
Jacke aus dem Laden auf der Straße lass ich ihn laufen ich sage
erhebe dich in die Lüfte flieg ins Krematorium und hole Papa da
fort das ist ein Ort an dem die Gestorbenen verbrannt werden
die nicht unter die Erde wollen und von Würmern gefressen es
bleibt nichts übrig bis auf die Metallteile aus ihren Knien die
muss Papa aus der Asche klauben. Das ist eine Maßnahme die
sein muss. Sonst wird ihm das Geld gestrichen weil Papa ist
arbeitslos und darf nicht faul auf der Haut rumliegen. Jetzt kann
Papa nicht mehr schlafen und seine Stimme wird immer höher
ein Piepsen Papa die Sirene Superman flieg hol ihn da fort.
Die Stimme der Mutter des Kindes liegt erschöpft verbeult und
zerdellt in einer Ecke der Kammer ohne Fenster ob ein Baum
draußen blüht weiß man nicht. Die Stimme ist arg gealtert
gebrochen das ewiggleiche Gerede: Geld stinkt, denk daran.
Geld stinkt Geld stinkt Geld
stinkt.
Das Kind:
Es riecht nicht Superman weißt du alles ganz klinisch. Papa
drückt einen Knopf und das Fließband fährt den geschlossenen
Sarg in den vorgeheizten Ofen Papa muss warten während der
Verbrennung es ist Mittag und er kann nicht essen jetzt ist Mittag Superman ich schenk dir die Freiheit und du rettest Papa
bevor der Ofen piepst und ich klau die Zigaretten.
Das Geld greift den Bandengedanken erneut auf. Immer zusammenhalten, fragt das Kind.
Immer zusammenhalten, bekräftigt das Geld. Und das Kind
kann beruhigt sein in seiner Hand
eine warme Münze.
Dem Geld wuchsen Augen, die ein Loch durch den Körper des
Kindes durchstarren konnten, das es dann als leere Stelle spür-
te. Dem Kind wuchsen tausend Arme die andauernd nach den
leeren Stellen tasteten und sie doch nicht ertasten konnten.
Das Kind:
Papa will ein Gutachten erstellen lassen. Das Gutachten wird
Geld kosten. Das Geld werden wir vorschießen müssen. Ich
schieße mein Geldstück in den Nachthimmel und treffe ins
Schwarze und Papa weint wieder. Aber wenn das Geld morgen
früh mit den Sonnenstrahlen aus dem Himmel zurückfällt wird
es so viel sein dass ich davon ein Schloss kaufen kann mit hundert Zimmern und für jedes Zimmer schreinert Papa ein Bett
und dann kann er schlafen in einem Bett nach dem andern hundert Nächte lang und dann wieder von vorn.
Die Stimme der Mutter des Kindes in der karierten Kammer im
Kopf des Kindes wie in einem Kerker an dessen Wänden sie
sich wund reibt und von den Wänden der heisere Widerhall:
Wenn dus zu was bringen willst in deim Leben dann musst dus
zu Geld bringen. Dann musst du’s zu Geld bringen. Dann musst
dus zu Geld bringen wenn dus zu was bringen willst in deim
Leben. Du musst mit deim Geld umgehen mit Geld muss man
umgehen können.
Dem Kind war der Umgang mit dem Geld durchaus gestattet.
Und so traf sich das Kind am Nachmittag nach dem Sportunterricht in den Hecken hinter dem Weitsprungbecken mit dem
Geld und sie sprachen über Sachen, über Sex. Keine Geheimnisse! Dem Kind klafft der Mund offen ein Schober in den man
alles einfahrn kann hell ausgestrahlt gierig in Erwartung auf die
Erträge der Ernte.
Das Geld lässt nicht locker, ich will der Bandenchef sein. Das
Kind, den Tränen nahe: Es gibt keinen Bestimmer in unserer
Bande. Wir beschützen einander. Aber einer muss bestimmen,
sagt das Geld, sonst geht es drunter und drüber. Der Atem
gefriert. Im Kopf des Kindes in ihrer Kammer wütet die Stimme
der Mutter. Dann muss ich bestimmen, sagt das Kind, ich muss
der Herr sein über das Geld. Das Geld die meuternde Masse
die eisige bleischwere Rüstung mit Glasscherbenkrone kreischt
auf und es ist Hohn.
Das Kind:
Papa hat in den letzten sechs Wochen zwei Stunden durchgeschlafen und die auf dem Sofa während im Fernsehen erst eine
Talkshow lief in der über Piercings geredet wurde oder schlampiges Anziehen und dann eine Talkshow über Brustoperationen
oder schlimme Haarschnitte so genau weiß ich das nicht mehr.
In seinem Brief steht, ich möchte bitte als ganzer Mensch begraben werden. Und bitte keine Kränze kaufen sondern Spenden
auf das Konto meiner Frau. Und Mama redet mit den Polizisten
über Lieblingsplätze oder wo man Papa noch finden könnte
bevor… Und ein Polizist lächelt Mama an und Mama lächelt
zurück und lässt ihren Finger länger zwischen den Lippen liegen aber ohne Nägel zu kauen.
Das Geld legt seine Klaue auf die Stirn des Kindes und fährt die
Krallen aus. Dann soll der Stärkere Chef sein. Das Kind will
zurückweichen kann nicht weil die Krallen in seiner Haut haften
es schüttelt sich windet sich bohrt die Krallen mit Widerhaken
dran dadurch nur tiefer in seine Stirn rein über die Augen des
Kindes fließen kleine Blutbäche die Augen verkleben das Geld
geifert gibt grunzende Laute von sich und blind geht das Kind
dem Geld an die Gurgel. Die beiden fallen im Kampf und kämpfend ineinander verschlungen rollen sie über eine breite
abschüssige Straße es zappelt es spritzt das Knäuel verliert
Flüssigkeit lässt eine sabbrige Spur hinter sich aus Blut Eiter
Speichel Schweiß Pisse die morgen ein orangener, stinkender
Fluss sein wird an dessen Ufer Ausflügler verweilen.
Nina Ender, geboren 1980 in Erlangen, Publikumspreis beim
DRAMA KÖLN 2005 für das Kurzdrama »Der Katze den
Kuchen reichen«, UA 2006, Einladungen zum FORUM JUNGER AUTOREN EUROPAS der Theaterbiennale Wiesbaden
2006 und den Werkstatttagen am Burgtheater Wien 2006,
mit dem WS 2007/08 Abschluss des Studiengangs Szenisches Schreiben an der UdK Berlin, Uraufführung von »Beta«
zur »Deutschlandsaga« 90er Jahre.
ANDREAS KREMERS
»CORPORATE WORLD« VON ERNST-WILHELM HÄNDLER
Die neunziger Jahre waren für mich die Zeit, in der ich als
Jobeinsteiger bei einem deutschen Konzern an ersten »Meetings« teilnahm. Schnell stellte ich fest, dass es dabei weniger
um die Arbeit an Sachfragen als um politische Positionierungen
ging. Als Medium der Wahl traf Powerpoint genau den Bedarf
der Anwender. Mit seiner Hilfe konnten komplexe Zusammenhänge eingängig visualisiert werden. Bulletpoints und Pfeile
simulierten argumentative Zusammenhänge zwischen angesagten Schlagworten und halfen, bloße Spiegelungen der aktuellen Meinungslage wie tiefe Analysen aussehen zu lassen. Das
Corporate Design und die Dramaturgie der Animationen verliehen den Auftritten Glanz und Professionalität.
Die erfolgreichsten Präsentationen funktionierten als kurze,
emblematisch verdichtete Chartfolgen. Sie beruhten auf der
Verschränkung unternehmenspolitischer Diskurse mit vertrauten betriebswirtschaftlichen Argumentationen. Fortschritt als
allgemeine Bewegung in eine offene Zukunft war hier nicht
gefragt. Stattdessen äußerste Betriebsamkeit bei der Einverleibung neuer Felder in das wirtschaftsliberale Gedankengebäude. Ich fand mich in einer prachtvoll von Beamern illuminierten
Schneekugel wieder, in der Irritationen von außen nicht vorkamen. Drinnen war das leidenschaftliche Engagement aller
Angestellten oberstes Gebot. Es wurde gerne in die eigene Karriere investiert und das zahlte sich aus. Meine Suche nach literarischen Auseinandersetzungen mit diesem aggressiv expandierenden Gesellschaftsmodell verlief weitgehend ergebnislos.
Im kulturellen Umfeld wurde der Einbruch der Ökonomie in das
Leben mehr oder weniger durchgängig als Okkupation des
Richtigen durch das Falsche, als eine Art Invasion feindlicher
Aliens interpretiert, die ausschließlich entfremdete Verlierer produzierte.
Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen war diese Sicht der
Dinge antiquiert, hoffnungslos unterkomplex und irreführend.
Mehr Blick für die Realität enthielt Ernst-Wilhelm Händlers
1997 erschienener Roman Fall. Der Autor, selbst Geschäftsfüh-
rer des familieneigenen Unternehmens, schildert darin die »Corporate world« der Vorstandsetagen und Beratungsfirmen als
strukturelles Phänomen.
Im Roman ist die »Corporate world« das Gravitationszentrum,
dessen Gesetze sämtliche anderen im Text geschilderten
Lebensbereiche ebenso subtil wie effizient durchdringen. Sie
fasziniert, weil sie dem Einzelnen ein immerwährendes Karriereversprechen gibt, das es ihm vernünftig erscheinen lässt, sein
Leben immer auf das nächste Karriereziel hin zu entwerfen.
Denn »in Corporate world geht es nur bergauf«. Indem sie die
Idee immerwährenden Fortschritts in die systemimmanent kontrollierten Erwerbsbiografien der Angestellten verlegt, etabliert
sich »Corporate world« selbst als quasi naturgesetzliches Universum, ohne Überlebensalternativen außerhalb seiner selbst.
Das erzählerische Rückgrat des Romans sind die Texte aus
der Binnenperspektive des Geschäftslebens. Neben der Darstellung einer »Firm« genannten Beratungsgesellschaft ist dies
vor allem die in Form von Aktenvermerken und Geschäftsbriefen dokumentierte Geschichte des Industriellensohns Georg
Voigtländer. Voigtländer erbt die Hälfte eines Familienbetriebes,
engagiert sich für die Unternehmensziele, betreibt im Streit mit
den übrigen Anteilseignern die notwendige Umwandlung der
Firma in eine GmbH, versucht Transparenz in die internen
Abläufe zu bringen und wird zum Schluss durch eine Intrige aus
der Geschäftsführung gedrängt. Demgegenüber hat sich die
»Firm« trendgerecht mit Unternehmenswerten ausgestattet, die
sie flexibel genug halten, um zum Marktführer aufzusteigen. In
ihnen verpflichtet sich die »Firm«, sich den Zielen ihrer Kunden
gegenüber gänzlich indifferent zu verhalten. Ihre Beratungsleistung beschränkt sich auf reines Prozessmanagement zur Erreichung der Kundenziele, worin immer sie bestehen mögen.
Daneben bietet Händlers Roman eine Fülle weiterer Erzählund Reflexionsstränge: einen Schriftsteller, dessen Buchveröffentlichung am Konkurs des Verlages scheitert, Figuren, die aus
Romanen Thomas Bernhardts Die Auslöschung und Gert Hofmanns Auf dem Turm übernommen und variiert werden, oder
Rückgriffe auf Wittgensteins Sprachphilosophie und Paul
Wührs Das falsche Buch. Händler wurde für diesen hohen
Grad an Komplexität kritisiert, ebenso für den sprachphilosophischen Aufwand.
In der Tat ist Fall kein Wohlfühlbuch für das literarische Fernsehfeuilleton. Keine Zeile überflüssig, der Ansatz ist folgerichtig und eine adäquate Auseinandersetzung mit unserer Zeit
einfach nicht billiger zu haben. Der Text experimentiert mit der
Frage, wie wir die Inszenierungen, in denen wir leben, begreifen und zu unserer Identität vordringen können. Literarisch
bezieht sich Händler auf die großen Vorbilder des Diskursromans: Joyce, Döblin, Dos Passos. Formal bietet der Text eine
Vielzahl unterschiedlichster Textsorten und gibt nur die notwendigsten narrativen Stützen. Wer an traditionellere Schreibweisen gewöhnt ist, kann sich mit Konrad Bayers Der Kopf des
Vitus Bering für die Lektüre warmlaufen. Heiße Empfehlung.
Andreas Kremers, geboren 1964, Betreiber der Buchhandlung Shakespeare and Company, Berlin.
ASTRID HACKEL
MAGDEBURGER BÜNDNISSE
Anfang der 90er Jahre: Die DDR ist gerade zusammengebrochen, die Mauer ist offen, die Menschen finden sich nur mühsam in der neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
zurecht. Gleichzeitig haben die nationale Begeisterung über
die Vereinigung, Hass auf »rote Bonzen« und die von BILD und
CDU geschürte Angst vor der »Asylantenschwemme« ein Klima entstehen lassen, in dem sich ein gewalttätiger Rechtsradikalismus Bahn brechen kann, wie er seit Kriegsende nicht
mehr vorstellbar war. Rechte Schlägerbanden marodieren
durch ostdeutsche Städte, greifen Asylbewerberheime und
alternative Treffpunkte an, erschlagen Obdachlose, Schwarze
und Punks. Innerhalb nur eines Jahrzehnts werden etwa einhundert Menschen von Neonazis umgebracht. Es gibt allerdings auch Widerstand, nur wird er zu dieser Zeit fast ausschließlich von kleinen linken Antifa-Initiativen getragen.
Philipp Stein war in den 90er Jahren in der Magdeburger Antifa engagiert. Er ist heute 35 Jahre alt und arbeitet als Grafiker
in Berlin.
In Magdeburg wurden 1992 und 1997 Punks von rechtsradikalen Schlägern ermordet. 1995 hetzten am Himmelfahrtstag Hooligans Ausländer durch die Innenstadt. Wie war das
Leben in einer Stadt, in der offenbar Nazi-Gewalt zum Alltag
gehörte?
Anfang der 90er Jahre empfand ich die Situation als besonders
schlimm, unter anderem weil ich selbst mehrfach Opfer von
Rechten wurde. So versuchte eine Gruppe von Nazi-Skins mich
nachmittags im Stadtzentrum vor eine Straßenbahn zu werfen,
was durch das Eingreifen eines betrunkenen Polen verhindert
wurde. Der war so groß und so wütend, dass sich die Nazis
nicht an ihn heran trauten und von mir abließen.
Damals konnten diese Banden beinahe machen, was sie
wollten: Niemand stellte sich ihnen entgegen. Die Polizei hielt
sich in Magdeburg meist heraus und wurde dabei von dem aus
Hamburg importierten Innenminister Perschau gedeckt. Der
hatte sein Feindbild – die Hafenstraße – mitgebracht, sodass
für ihn ein paar Hausbesetzer allemal problematischer waren als
die ständigen Überfälle durch Nazis.
Aber waren nicht die Polizeibeamten zu dieser Zeit auch sehr
verunsichert, immerhin gehörten sie ja alle vorher zur DDRVolkspolizei? Schließlich war ihr politisches Koordinatensystem zusammengebrochen, ihr Ansehen in der Bevölkerung
miserabel und ihre Ausstattung unzureichend.
Das stimmt alles, trotzdem gibt es keine Entschuldigung dafür,
dass Polizisten so oft bei Nazi-Attacken wegschauten und die
anschließenden Ermittlungen in vielen Fällen im Sande verliefen.
Viele werden sich noch an die Pogrome 1992 in Rostock erinnern. Ein rassistischer Mob konnte sich tagelang in einer Großstadt austoben, ohne dass die Polizei ihm Einhalt gebot. Wir leiteten daraus unsere Verpflichtung ab, Nazis auch militant
entgegenzutreten. Uns ging es dabei nicht nur um uns selbst:
1992 und 1993 zum Beispiel bemühten wir uns um den Schutz
von Flüchtlingsheimen, quasi mit dem Knüppel in der Hand. Statt
schweigend zuzusehen, wollten wir eingreifen. Und angreifen.
Also »Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft«? Begibt man
sich so nicht auf das Niveau seiner Gegner? Was ist mit Werten wie Toleranz und Gewaltfreiheit?
Toleranz ist natürlich ein Wert, aber kein abstrakter. Eine Ideologie der Intoleranz und der Ungleichheit kann und darf nicht
hingenommen werden. Das Problem besteht bei Nazis ja nicht
darin, dass sie eine andere Meinung haben, sondern dass sie
ihre Feinde im wörtlichen Sinn ausrotten wollen. Ihre Bezugnahme auf das »Dritte Reich«, ihr ungebrochener Antisemitismus,
die zahlreichen Toten der letzten 18 Jahre beweisen, dass sie
es ernst meinen. Auf »Gewaltfreiheit« lassen sich solche Leute
nicht verpflichten, denn Gewalt ist Hauptbestandteil ihrer Identität. Die Antifa reflektiert und diskutiert dagegen seit 20 Jahren
über ihre Militanz. Mit dem »Niveau seiner Gegner« hat diese
Militanz wenig zu tun. Es ist schon ein riesiger Unterschied, ob
man Nazis aus seinem Stadtteil verjagt, weil man Ausländer,
Schwule und alternative Lebensformen schützen möchte, oder
ob Schwarze abends in der Straßenbahn halbtot geprügelt
werden. Die formale Gleichstellung von »linker und rechter
Gewalt«, häufig ergänzt durch Worte wie Bandenkrieg, Revierstreitigkeiten und Jugendkriminalität, empfanden wir als Beleidigung. Noch dazu kam sie oft genug von Politikern, Journalisten und Amtspersonen, denen in der Regel kein Wort der
Solidarität mit Opfern rassistischer Angriffe über die Lippen
kam und die zum Teil bis heute die Augen vor der Gefahr von
Rechts fest verschlossen halten.
Fühltet ihr Euch von der Zivilgesellschaft im Stich gelassen?
Abgesehen davon, dass sie ziemlich schwach entwickelt war,
ging uns der Paternalismus ihrer Vertreter auf die Nerven. Die
Zivilgesellschaft war in Magdeburg lange Zeit ein kleiner Kreis
aus ehemaligen Bürgerbewegten, provinziellen Sozialdemokraten, ein paar Grünen, wenigen Kulturschaffenden und drei Pfarrern. Als selbsterklärte Erben der DDR-Opposition fühlten sie
sich als Vertreter des Volkes und behandelten uns wie ungezogene Kinder. Das ärgerte uns sehr, denn wir mobilisierten zu
großen Demonstrationen tausende Menschen aus der alternativen Subkultur, die entschlossen gegen Neonazis auftraten,
während die sogenannte Zivilgesellschaft beispielsweise nach
dem Mord an einem 17-jährigen Punker 1997 lediglich 150 Bürger auf die Beine brachte. Mit der PDS kamen wir besser
zurecht, vielleicht weil uns die Genossen als Kampfreserve
betrachteten. Als sie allerdings endlich eine PDS-Jugendgruppe mit karriereorientierten Schlaftabletten aufgebaut hatten,
kühlte sich das Verhältnis ab. Ende der 90er Jahre wurde die
Situation besser. Couragierte Gewerkschafter, einige PDSLandtagsabgeordnete, der Ausländerbeauftragte und andere
Leute erkannten unsere Arbeit an und waren zu einer fairen
Zusammenarbeit bereit. Aber auch wir hatten uns weiterentwikkelt. Wir wurden Bündnispartner, weil wir kontinuierlich arbeiteten, über die Neonazi-Szene besser Bescheid wussten als die
Polizei und als politische Akteure in der Stadt nicht zu ignorieren waren.
Noch einmal zu Eurer Antifa-Gruppe. Wie sah Euer Engagement aus?
Mit den bescheidenen Mitteln, die uns zur Verfügung standen,
versuchten wir Öffentlichkeit für das Problem Rechtsradikalismus zu schaffen. Und gleichzeitig kämpften wir auf der Straße
gegen Nazis. Wir haben Demonstrationen organisiert, bei Infoständen in der Magdeburger Innenstadt Flugblätter verteilt, Veranstaltungen durchgeführt und die Strukturen der Nazi-Szene
recherchiert und so weiter. Wir unterhielten Kontakte zu anderen Antifa-Gruppen in Berlin, Halle, Braunschweig, arbeiteten
im Magdeburger »Bündnis gegen Rechts« und unterstützten, so
gut es ging, AntifaschistInnen im Umland. Diese Arbeit war
allerdings nur möglich, weil wir uns einen Freiraum erkämpft hatten, denn Anfang der 90er »befreiten« wir unseren Stadtteil von
Neonazis. Das mag heute seltsam, albern oder anmaßend klingen, aber die Schaffung eines Areals, in dem man ohne Angst
vor rechten Übergriffen leben konnte, wäre für viele Brandenburger Kleinstädte heute ein traumhaftes Ziel. Unsere »Befreiung« bestand darin, dass wir den Rechten zeigten, dass wir uns
wehren können. Wir nahmen ihnen und ihrem gewaltbereiten
Anhang das Gefühl, die Herren der Straße zu sein und sich alles
erlauben zu können. Mit Notrufketten alarmierten wir uns gegenseitig bei Übergriffen und gelegentlich übergaben wir rechte
Schläger auch der Polizei. Abends gingen wir manchmal sogar
auf »Streife«, verwarnten rechte Mitläufer und griffen SkinheadCliquen an.
Das klingt auch nach einem gewissen Abenteuer-Faktor.
Bestimmt war dieser Aspekt eine wesentliche Triebfeder und für
viele junge Leute, die sich nur zwei, drei Jahre engagierten, war
er das erst recht. Doch wird deshalb unser Bemühen schlechter? Aus heutiger Sicht würde ich zwar auch sagen, dass wir
viele Fehler gemacht haben, weil wir uns stark an der Subkultur der westdeutschen Autonomen-Szene orientierten. Doch
wo waren die Alternativen? Die parteinahen Jugendverbände
mit ihrer bürokratischen Strukturierung fand ich todlangweilig
und mit Punk konnte ich nichts anfangen. Die Autonomen strahlten Entschlossenheit und Konsequenz aus und sie hatten Antworten auf meine Fragen. Klar, ich registrierte bald, dass es
auch hier Borniertheit und Dogmatismus gab, doch trotzdem
möchte ich die vielen Diskussionen und vor allem die Erfahrungen, die ich in dieser Zeit gesammelt habe, nicht missen.
Text und Interview: Astrid Hackel, geboren 1980, leitet das
Ressort für Literatur und Theater der Zeitschrift »goon«.
ANNE RABE
WIR 1997 – SKIZZE EINER HELDENZEIT.
Als Jan Ullrich 1997 als erster Deutscher die Tour de France
gewann, hatte der von der Wiedervereinigung überrumpelte
Volkskörper seine Erfüllung gefunden. Ein rotschopfiger Aufsteiger aus der Lichtenhagener Platte, getrimmt durch den Staatssportapparat der DDR und diesem gerade noch rechtzeitig entkommen, um ein gesamtdeutscher Held zu werden, hatte das
Potenzial, all unsere Sehnsüchte in einer Sportart zu bündeln,
in der man keine Fahne zu schwenken braucht. Die trillerpfeifende Jugend versammelte sich nicht mehr zur Loveparade,
sondern feuerte ihren Jan an. Die Mütter schickten ihre Jüngsten
in den örtlichen Radclub und es war endlich wieder »deutsch
ein Stolzer« zu sein – ganz ohne Problemdiskurs folgender
»Sommermärchen«. Jan Ullrich war nicht irgendwer, irgendeiner,
der von irgendwoher das Trikot hatte, das wir im örtlichen Fanshop kaufen konnten. Jan Ullrich war unser großer Bruder, unser
Enkel, unser Schwiegersohn. Wir waren Jan Ullrich, hätten Jan
Ullrich sein können, denn wir hätten genauso schön auf dem
Siegerpodest gelächelt wie er. Wie damals, als wir das erste
Mal bei sternTV auftraten und unsere traurige Lebensgeschichte erzählten, wie uns die Oderflut die Häuser zerstört hat, wie
unser Sohn zu den Nazis übergelaufen ist oder wie man die örtliche Salzstangenfabrik, in der wir seit Jahrzehnten ungelernt
arbeiteten, einfach dicht gemacht hat. Die Ausgelassenheit
überkam uns nach den »Mühen der Ebene« am 28. Juli 1997
auf der Champs-Elysées. Da war es. Wir haben es geschafft.
Wir haben es geschafft. Wir sind ganz oben gelandet. Wir
haben trainiert über Jahre, sind in die Auswahl gerutscht. Nicht
zufällig. Wir haben morgens ein bisschen Tee und eine große
Portion Nudeln gegessen. Damit sie uns nicht zum Halse heraushängt, haben wir uns sofort auf das Rad gesetzt und sind
die Berge der mecklenburgischen Endmoränen abgefahren.
Stunden um Stunden. Tausende Kilometer waren wir dem Wind
und uns selbst ausgeliefert. Einem Selbst, das den Erfolg nur
vor sich selbst kennt, das seine Waffen nur in sich selbst findet,
nur sich selbst zu überlisten braucht. Wer nicht positiv getestet
wird, ist nicht positiv, ist nicht gedopt, tut nichts Verbotenes.
Danach werden wir auch nicht gefragt. Wir loten die Grenzen
unseres Körpers aus. Wenn unser Körper nicht mehr kann, helfen wir ihm. Wir helfen ihm wieder zu genesen, schnell zu genesen. Wir müssen trainieren! Ein unsägliches Wort. Wie ein zu
lang gekautes Kaugummi zieht es am Kiefer.
Aus unseren wortkargen Mündern kommt keines zu viel. Wir
müssen nicht reden, wir müssen Rad fahren. Wir sind die Helden unserer Zeit. Blindes Vertrauen in den Trainer, blindes in
unseren Leibarzt. Wir haben einen Leibarzt! Das hat es früher
nicht gegeben. Mit zehn Jahren fuhren wir ohne Gangschaltung
auf der größten deutschen – jetzt gesamtdeutschen – Insel herum, schoben auf den letzten Metern zum Ziel die viel zu großen
Reifen im klapprigen Stahlgestell. Weit weg von zu Hause treten wir unser Heimweh in die Pedale und denken dabei an Mutti, die mit ihrem Klapprad über die Landstraße holpert. Einmal,
wenn die Mauer gefallen sein wird, wenn wir unsere Freiheit erst
erlangt haben werden, ja, dann wird sie ein eigenes Haus
bekommen. Wir werden es ihr kaufen.
Wir werden es ihr kaufen. Jetzt können wir es ihr kaufen.
Ohne Kredit, im Gegensatz zu den Eltern unserer Klassenkameraden, die sich schinden müssen ohne Job. Unsere Mutti
braucht sich nur im Garten zu schinden. In einem großen Garten, vielleicht so groß, dass sie einen Gärtner anstellen kann,
denn mit den Füßen vom Boden heben wir nicht ab. »Natürlich,
Mutti, bekommst du einen Gärtner.« Das ist gar kein Problem.
Es gibt überhaupt keine Probleme, wenn wir den Kindern
unsere Namen auf ihre Trikots malen. Allez! Allez! Henry Maske, der Gentleman aus Frankfurt Oder, hat seinen letzten Kampf
verloren. Wir aber haben bereits von Anfang an gewonnen. Wir
geben uns diese Blöße nicht. Wir überholen einen Richard
Virenque im Zeitfahren und schenken ihm ein Lächeln, wenn er
nach Atem japst. Wir haben es von ganz unten nach ganz oben
geschafft, sind angekommen in einem Land, an einem Fleck,
den die Bewohner des Landes selbst noch nicht kennen. Wo
wir jetzt sind, da wird die Luft knapp.
Unser Vater war Alkoholiker, unsere Mutter hat uns ganz allein
durch die Platte gebracht, die nur dadurch berühmt wurde,
dass sie eines Tages zum Kurzurlaubsziel andersdeutscher
Neonazis wurde, die Vietnamesen die Köpfe einschlugen. Wir
sind der einzige Lichtblick von hier. Mit uns identifiziert sich die
ganze Nation. Wer an uns denkt, denkt nicht an Ost oder West.
Wir sind der erste deutsche Tour-de-France-Sieger. Als Kinder
haben wir von der »Friedensfahrt« geträumt. Jetzt wissen wir,
wie lächerlich das war. Jetzt, da wir wissen, wo wir international
stehen, wissen wir, wie selbstbewusst wir sein dürfen, sein müssen. Das ist keine Arroganz. Ein Held muss tun, was er tun muss
und noch redet niemand darüber. Altmeister Rudi Altig leiht uns
seine Moderatorenstimme. Er ist es, der die Fernsehnation den
Berg hoch peitscht. Er weiß, was das heißt und er hat Verständnis. Er weiß, von nix kommt nix, dass sich bestimmte Dinge in
den Ohren der Zuschauer ganz anders anhören, als sie in unserer Wirklichkeit aussehen. Deshalb verklärt er nicht die Realität.
Aber nicht jeder muss alles wissen. Wenn jemand keine Ahnung
von etwas hat, kann er sich kein Bild machen nach ein, zwei Fakten. Wir haben die Tour de France gewonnen. Das kann uns keiner mehr nehmen. Wir haben niemals irgendwen betrogen.
Uns wird man betrügen, wenn man uns die Nostalgie auf der
Mattscheibe um die Ohren haut, ohne dass wir dazu Ja und
Amen sagen dürfen, weil wir dabei waren. Wir sollen dann
erstaunt tun, über die alten und neuen Verhältnisse und wieder
weinen und hoffen, dass man uns noch einmal zu sternTV einlädt und uns verzeiht. Es kommt auf das Timing an, aber das ist
schon in einem ganz anderen Jahrtausend, von dem man sich
einmal gewünscht haben wird, dass an seiner Schwelle durch
den winzigen Fehler eines unbedeutenden Programmierers alle
Lichter auf der Welt erloschen worden wären.
Anne Rabe, 1986 in Wismar geboren, Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der FU, seit 2006 Szenisches Schreiben an der UdK, Autorin der Uraufführungswerkstatt »Deutschlandsaga«, veröffentlicht seit 2006 in
verschiedenen Zeitschriften. Im März dieses Jahres kommt
ihr Stück »Achtzehn Einhundertneun – Lichtenhagen« am
Maxim-Gorki-Theater Berlin als Werkstattinszenierung heraus.
RONALD KADUK
VOKUHILA IN ROM – DER DEUTSCHE FUSSBALL
Da standen sie und jubelten. Zweiundzwanzig Fußballer und
vier Trainer. Eigentlich ein perfektes Bild: eine laue Sommernacht in Rom. Ein tobendes Stadion. Lothar Matthäus mit dem
Weltpokal in der Hand. Pierre Littbarski reckt die Faust in den
Himmel. Überall Freude. Deutschland wurde gerade zum dritten Mal Weltmeister. Und zwar hoch verdient und begleitet von
den Sympathien der Welt. Nur acht Monate nach der Maueröffnung und drei Monate vor der offiziellen Wiedervereinigung
schien es Fortuna mit den Deutschen besonders gut zu meinen.
Umso bedauerlicher, dass diese auf unzähligen Fotografien
und Videobändern festgehaltene Zeit zu den ästhetisch armseligsten in der Geschichte des Landes gehört. Konnte man im
November 1989 über die Anoraks und Vokuhila-Frisuren der
sich vor den Kameras der Welt in den Armen liegenden Ost-
deutschen noch mit Freudentränen in den Augen hinwegsehen,
reichte nun selbst eine esslöffelgroße Portion Glückshormone
nicht mehr aus, die ästhetischen Sünden dieser Jahre zu ignorieren. Knapp die Hälfte der auf dem römischen Rasen versammelten Nationalspieler jubelte jedenfalls mit einer mehr oder
weniger kühnen Spielart jener vorne kurz und hinten lang gehaltenen Frisur. Sieben davon strahlten die Weltöffentlichkeit
zudem als Oberlippenbartträger an. Der 8. Juli 1990 mochte für
die Fußballnation ein Höhepunkt gewesen sein, in Fragen des
guten Geschmacks war es ein Tiefpunkt. Das Schlimmste
waren die Trikots. Jenes gezackte, die Brust unruhig umschwirrende, schwarz-rot-goldene Band zeigte deutlicher als alles
andere die damalige provinzielle Rückständigkeit des Designs
»Made in Gemany«. Nach einer weiteren Geschmacksverirrung
bei der WM 1994 in den USA ging es in der zweiten Hälfte der
Dekade zumindest ästhetisch wieder aufwärts. Nun schien es
sich auch bis ins fränkische Herzogenaurach herumgesprochen zu haben, dass weniger manchmal mehr ist.
Jenseits der Wahl des richtigen Trikots stand der deutsche
Fußball in den neunziger Jahren noch vor weiteren Herausforderungen. Galt es doch, ein aufgelöstes Land samt seiner Fußballer, Vereine und Fans zu integrieren. Die optimistische Prognose des scheidenden Teamchefs Beckenbauer, der deutsche
Fußball werde dank der Verstärkungen aus dem Osten auf Jahre hinaus unschlagbar sein, erwies sich als grobe Fehleinschätzung. Vielmehr zeigte sich auch im Fußball, was die Politik jener
Jahre prägte: eine arrogante Selbstzufriedenheit, die nicht
bereit war, das wiedervereinigte Deutschland als Chance für
Reformen und Verbesserungen zu begreifen. Die Quittung folgte auf dem Fuß. Im Gleichschritt mit der Politik Helmut Kohls
marschierte auch der Fußball in den Stillstand und damit im
internationalen Vergleich ins Hintertreffen. Die ostdeutschen
Vereine wurden von den etablierten Bundesligisten zu Talentschuppen degradiert oder zum Spielball windiger Unternehmer.
Allerdings gab es immer wieder Lichtblicke. Viele davon sind
untrennbar mit dem Namen Matthias Sammer verbunden. Der
gebürtige Dresdner dominierte dank seines Könnens und seiner Persönlichkeit wie kaum ein anderer die Jahre zwischen
1992 und 1997. Als Abwehrchef, Mittelfeldmotor und – wenn
es sein musste – auch Torschütze führte er den VfB Stuttgart
und Borussia Dortmund zu Meistertiteln, gewann mit Dortmund
die Champions-League und mit der deutschen Nationalmannschaft 1996 die Europameisterschaft in England. Wie kein
Spieler seit Beckenbauer dachte und agierte er auf dem Platz
wie ein Trainer. Seine sächsische Herkunft machte ihn zu einer
wichtigen Integrationsfigur zwischen Ost und West und zum
ersten gesamtdeutschen Fußballstar. Nach mehreren Knieoperationen musste er seine Karriere bereits 1998 beenden.
Ronald Kaduk, Berlin, Metropolenforscher und Sportjournalist
THOMAS IRMER
NEUE AUTOREN IM THEATER
Er war der Shooting-Star aus der Steiermark und für die erste
Hälfte des Jahrzehnts musste Werner Schwab auch dafür stehen, dass sich deutsche Bühnen überhaupt noch für neue Auto-
ren interessierten. Ansonsten sah sich das Theater mit Peter
Handke, Botho Strauss oder Peter Turrini, Heiner Müller und
Elfriede Jelinek für die Gegenwart gut eingerichtet. Die kurze,
heftige Schwab-Welle – daneben der ebenfalls früh verstorbene Thomas Strittmatter – ist als Sonderfall zugleich auch der
Beleg dafür, wie schwer es junge Dramatiker in diesen Jahren
hatten. Uraufführungen unbekannter Autoren fanden am Katzentisch statt, schwach besetzte Regieassistenten-Projekte auf
der Studiobühne. Das Feuilleton gierte nach dem nächsten
Zadek-Tschechow oder staunte über den postsozialistischen
Furor der Volksbühne.
Lebenslange Theaterfreundschaften wie die zwischen Peymann und Handke oder Bondy und Strauss besetzen eben
auch die Definition von Gegenwart im Theater. Selbst in der nun
erweiterten, wiedervereinten Theaterlandschaft Deutschlands
ist höchstens für ein Dutzend lebender Autoren wirklich Platz
zur Entfaltung. Das heißt, ihre neuen Stücke werden nachgespielt und bilden den Kanon aktueller Dramatik. Am Katzentisch
dagegen ist Versenkung vorprogrammiert. Es ist auch die Zeit,
da der Beruf des Dramaturgen sich allgemein wandelt: vom
Theaterphilosophen zum hastigen Dienstleister zwischen Bühne und Öffentlichkeit. Die durchgesetzten Autoren brauchen
eigentlich beide nicht. Den unbekannten steht indes keiner der
beiden zur Verfügung.
Andererseits wurde händeringend nach dem Zeitstück
gesucht, in dem das neue Deutschland zur Sprache kommt.
Schwab, der Österreicher mit dem Credo »Die Sprache hat sich
nichts zu sagen«, konnte es nicht sein. Sicher, es gab Klaus
Pohl, der den Stasi-Ibsen-Thriller »Karate-Billi kehrt zurück«
schrieb und in »Die schöne Fremde« das Thema Fremdenhass
aufgriff. Der studierte Soziologe Oliver Bukowski tastete sich
mit überraschenden »Hardcore-Schwänken« an die Nöte ostdeutscher Wendeverlierer heran. Und Dea Loher, Absolventin
eines neuen Studiengangs für szenisches Schreiben an der
Hochschule der Künste in Berlin, versprach schon mit ihren
ersten Stücken noch mehr. Aber das war es auch fast schon im
Theater der letzten Kohl-Jahre mit ihrem zunehmend schlechter
gelaunten Konsens. Während am Katzentisch trotz aller miesen
Aussichten noch reichlich Talente auf den Durchbruch hofften.
Es bedurfte einer Initialzündung aus England, wo die Besten
einer unter Thatcher verlorenen Jugend sich inzwischen ins
Theater geschrieben hatten und vom legendären Royal Court
ausgezeichnet betreut wurden. Mark Ravenhills »Shoppen &
Ficken« und Sarah Kanes »Zerbombt« stießen 1998 die Türen
auf für eine regelrechte Welle durch das deutsche Theater.
Gewiss, diese beiden krass den entfesselten Neoliberalismus
beklagenden Stücke wurden gar nicht so flächendeckend
gespielt, wie es von heute aus scheint. Sie trugen jedoch zu
einer Neubewertung neuester Dramatik bei, mit der sich vieles
änderte. Sozialkritisch grundierte Geschichten aus der derangierten Gegenwart, unpathetisch in einer Art coolem Nihilismus
schnell erzählt – so ging die Tür zur Wirklichkeit auf. Auf die British Invasion folgte die sofortige Auflösung des deutschen Katzentischs, und wer von dort mit frischen Stücken aufstand, war
plötzlich gefragt. Innerhalb von nur zwei oder drei Spielzeiten
war am Ende der neunziger Jahre eine so große Anzahl zwischen 1967 und 1972 geborener Autoren etabliert, wie es sie
in dieser Stärke zuletzt ausgerechnet in den späten sechziger
und frühen siebziger Jahren gegeben hatte.
Gesine Danckwart, David Gieselmann, Marius von Mayenburg,
Albert Ostermaier, Falk Richter, Moritz Rinke, Roland Schimmelpfennig und Theresia Walser – ihre Stücke waren das, womit
das Theater »Ja, wir spielen Gegenwart!« rief. Es waren natürlich noch viele andere, und bis zu 100 Uraufführungen (Tanzabende, Kindergeburtstage und Filmadaptionen nicht gerechnet) wurden in diesen Jahren der neuen deutschen Welle
gezählt. Schwab war passé, Müller vorerst vergessen – und der
inzwischen umstrittene Strauss eine heimliche Orientierungsfigur, dem beispielsweise einige von Rinkes und Schimmelpfennigs Stücken nicht wenig verdanken. Der Boom entblößte aber
auch den Uraufführungs-Hype der Theater mit ihrem Wahn, nur
der Erste könnte etwas bemerkenswert Auffälliges in die Landschaft stellen. Nachinszenierungen von neuen Stücken – und
hier zeigt sich das Aufmerksamkeitsheischende über dem literarisch-dramaturgischen Wirkungsinteresse – galten als so
unattraktiv wie wenige Jahre zuvor noch der Autor am Katzentisch. Der wird inzwischen mit fetten Auftragshonoraren geködert – um das Recht der ersten Nacht zu sichern. Was naturgemäß keinen Qualitätsschub bedeutet und die eventuell
kanonbildende Nachspielprüfung erst recht behindert. In einem
dritten Schritt wird die junge Dramatik ab 2000 im deutschen
Theater schließlich internationalisiert: Jon Fosse, Neil LaBute,
Fausto Paravidino, dazu auch weniger beachtete Entdeckungen
wie die Stücke des Esten Jaan Tätte oder der zuvor schon
durch Armin Petras aufgeführte Katalane Sergi Belbel.
Paradoxerweise tritt die neue Welle in dem Moment hervor,
als die Theatertheorie des Postdramatischen den originären
Stückautor und seinen Text als zentrales Element einer Aufführung verabschiedet. Hans-Thies Lehmanns »Postdramatisches
Theater« von 1999, inzwischen in mehr als zehn Sprachen übersetzt, wird an allen Theaterschulen zwischen Lissabon und
Moskau studiert. Sein Verleger Karl-Heinz Braun, Verlag der
Autoren, bemerkte damals, es wäre auch gleich ein Gegenbuch
fällig, mit all den vielen neuen Dramatikern, die wiederum von
Lehmanns früheren Beobachtungen zum Postdramatischen
auch selbst schon beeinflusst waren. Theater ringt, gerade
wenn es authentisch nach draußen wirkt, mit sich selbst – als
Bastard vieler Einflüsse und Selbstverständnisse. Ihre Themen
und Schreibweisen sind sehr, sehr verschieden, aber was die
neuen Autoren gemeinsam schaffen, ist ein Gespür für ein im
Theater noch unbekanntes Jetzt. Nicht Thesenstücke, sondern
Themenstücke. Versuche an der unübersichtlichen Gegenwart.
Manchmal zu klein, oft überraschend.
Der Meteoriteneinschlag von Kane und Ravenhill hätte weniger bedeutet, wenn es hier nicht geeignete Orte für einen produktiven Krater gegeben hätte. Der wichtigste war wohl die
Baracke am Deutschen Theater, ein 99-Plätze-Container, der
einst für Bauarbeiter stehen geblieben war und dann mehr oder
weniger nebenbei für kleine, ja »Katzentisch«-Projekte bespielt
wurde. Bis 1996 Thomas Ostermeier und seine Truppe kamen
mit der Idee: eigentlich nur Gegenwart. Vor allem mit »Shoppen
& Ficken« am 17. Januar 1998 war dies ein Volltreffer – und nur
ein Jahr später die Keimzelle der neuen Schaubühne.
Thomas Irmer, lehrt als Amerikanist Theatergeschichte an der
FU Berlin, Autor und Ko-Regisseur von »Die Bühnenrepublik.
Theater in der DDR«, 3sat / Alexander Verlag, Berlin 2003.
FELIX RÖMER
G’SCHICHTEN AUS DEM WIENER WIRTSHAUS
5 – Nicht viel los in den österreichischen Neunzigern. Zeit für
ein paar Privatismen.
In den Neunzigern ist ja nicht allzuviel los in Österreich – also
im Land selber. An seinen südlichen Grenzen dafür umso mehr:
Da herrscht Krieg. Innerhalb von zehn Tagen erkämpfen sich die
Slowenen ihre Unabhängigkeit. Wie eine Wolke zieht der Krieg
nach Kroatien weiter und dehnt sich über zehn Jahre lang über
das ganze Land aus. Dennoch mache ich im Sommer 1992
Urlaub in Istrien. Weil es hier so schön ist. Die Strände sind jetzt
leer und die Kuchentheken voll und noch nie hat sich ein kroatischer Kellner so gefreut, mich zu bedienen.
Bei uns zuhause alles ruhig und wenig Skandale. Die 80er
waren ja voll davon. Vom gepantschen Wein geht auch keine
Gefahr mehr aus. Glykol wird wieder als reines Frostschutzmittel verwendet. Auch der bekannte und angeblich vielfache Prostituiertenmörder Jack Unterweger, der das Land monatelang in
Atem gehalten hatte, sitzt im Gefängnis. Selbst an Kurt Waldheim, unserem SA-Präsidenten, hat sich die Bevölkerung
gewöhnt. Er sitzt seine letzten Tage in den gefängnisdicken
Mauern der Wiener Hofburg ab und wartet auf seine Ablösung.
Unterweger konnte vor allem wunderbar dichten, weshalb er
später auch als Häfenpoet, wie bei uns die Gefängnisdichter
heißen, in die österreichische Literaturgeschichte eingegangen
ist. Nach manch mörderischem Tag hatte er abends seine
Lesungen am liebsten in der Nähe des jüngsten Tatortes veranstaltet – wie man später ermittelte. Er war ein fescher Bursch
und seine Lesungen immer ausverkauft. Zahlreiche österreichische Künstler und Intellektuelle glauben den Unschuldsbeteuerungen Unterwegers und schreiben eine landesweit Aufsehen
erregende Petition, in der sie Waldheim um Unterwegers Freilassung bitten.
Gleichsam als letzte Amtshandlung begnadigt Waldheim
Unterweger, gewissermaßen von Mörder zu Mörder. Unterweger wird freigesprochen. Leider nützte er seine Freiheit nicht nur
zum Dichten. Er geht abermals auf den Wiener Gürtelstrich, wo
er etlichen Huren mit seinem wunderbar Wiener Schmäh den
Kopf verdreht; bevor er ihnen den Hals umdreht. Angeblich.
Lesungen macht er danach keine mehr. Er bekommt lebenslänglich und erhängt sich kurz nach der Urteilsverkündigung an
der Verstrebung seiner Toilette mit einem Schnürsenkel. Die
Frage war er’s oder nicht nimmt er mit ins Grab.
Währenddessen bin ich in Deutschland und bekomme mit
einer deutschen Frau zwei Kinder. Einen Buben und ein Mädel.
Ich bin jetzt in den Dreißigern und es ist höchste Zeit für eine
Therapie. Immer am Montag um acht Uhr morgens habe ich meine Stunde. Ich muss mit dem Fahrrad einen kleinen Berg hochfahren. Anfangs brauche ich dafür über zwanzig Minuten. Nach
der dritten Stunde nur noch zehn. Ich bin noch nie so gerne aufgestanden. Meine Therapeutin ist äußerst langbeinig, trägt kurze und schwarze Röcke und sieht Juliette Binoche zum Verwechseln ähnlich. Und sie ist eine Theaternärrin. Nach einem
Jahr gestehe ich ihr meine Liebe, worauf sie die Therapie
abbricht. Wenigstens auf einen Kaffee hätte sie sich mit ihrem
Patienten aus der Geburtsstadt Freuds einlassen können. Dar-
aufhin beginne ich mehrere Theaterstücke zu schreiben, die zu
meiner großen Freude alle aufgeführt werden. Eines handelt von
der äußerst schwierigen Beziehung zu meiner Mutter; ein anderes über meine noch schwierigere Beziehung zur Mutter meiner
Kinder, das dritte über die Liebe im Allgemeinen und im Besonderen. Um die Stücke nicht mit mir in Verbindung zu bringen,
wähle ich als Pseudonym kurzerhand den Namen meines Großvaters selig. Sein Gasthaus ist ja in den 80ern verkauft worden
und ich war der Alleinerbe. Weil aber Großvater selig zu Lebzeiten den weißen und roten Wein immer so billig an seine
Stammgäste ausgeschenkt hat – warum verschenkst du ihn
nicht gleich, hat meine Großmutter mehrmals am Tag schimpfend zu Großvater gesagt – war ich lediglich ein Alleinerbe mit
Schulden. Das wenige Geld, das mir blieb, verspielte ich in
diversen Kasinos. Zeitweilig fühlte mich als junger Dostojewskij.
Nur dass ich halt nicht so gut schreiben konnte wie er. Und leider auch nicht so viel Geld hatte zum Verspielen. Spätestens
jetzt hätte ich wieder eine Therapie gebraucht; aber zu einem
männlichen Therapeuten wollte ich auch nicht.
Einmal im Jahr fahre ich nach Wien und besuche das Gasthaus meines verstorbenen Großvaters. »Vorübergehend geschlossen« steht jedes Mal an der Tür. Der neue Wirt war nämlich gar kein Wirt, sondern lediglich ein Servierer. Und Schmäh
hatte er auch Nullkommajosef. Deshalb ist er eingegangen. Wie
auch sein Nachfolger. Mein Großvater hinterlässt eine stattliche
Riege von lauter gescheiterten Wirten. Vielleicht sollte ich ja
doch das Gasthaus übernehmen, denk ich mir manchmal,
wenn’s mit dem Theater bergab gehen sollte. Aber in den Nullerjahren komme ich ja an die Schaubühne. Und das Gasthaus
meines Großvaters bekommt endlich einen ordentlichen Wirt.
Ganz schön viel los dann wieder!
Felix Römer, geboren 1960 in Wien, Schauspieler und Autor,
Ensemblemitglied der Schaubühne.
PETRA REICHENSPERGER
LOTS OF PEOPLE
DIE FORM DER EINLADUNG BEI RIRKRIT TIRAVANIJA
Damien Hirsts Tigerhai in Formalin musste längst durch einen
neuen ersetzt werden und die Sexgeschichten aus Tracy Emins
Campingzelt mag heute keiner mehr so recht hören. Gab es
neben diesem Sensation-Hype noch etwas, das den Kunstdiskurs über die 90er Jahre hinweg maßgeblich geprägt hat? Matthew Barneys kinematografische Materialschlachten vielleicht,
die intimen Szene-Fotografien von Wolfgang Tillmanns auf
jeden Fall. Für mich ist es aber vor allem die Arbeit des Künstlers Rirkrit Tiravanija. Er zählt zu denjenigen, die überzeugend
die Idee der Kunst als sozialen Raum, als soziale Handlung in
die Welt brachten. Seine Settings sind nur schwer an Konsequenz zu überbieten. Sie sind konzeptionell, ästhetisch ausgefeilt und aktionistisch: Er tippt die erste Kugel an, andere
machen weiter.
Auf die Frage wer er sei, lässt er anlässlich seiner Teilnahme
an der 4. berlin biennale das Stadtmagazin zitty wissen: »Ich bin
ein Tramper, der in einem intergalaktischen Raumschiff
)XXXDINGHEISSTKUNST verstaut wurde und zwischen den
intergalaktischen Planeten BOB und DRUFUS im Handschuhfach des Schiffskapitäns Nichtgutfürnichts hin und her reist.« 10
Jahre zuvor, 1996, kündigte der Kurator Jan Winkelmann den
Künstler, der damals in Deutschland nur wenigen bekannt war,
durch eine Pressemitteilung an. Der Titel der darin in Aussicht
gestellten Arbeit »Untitled (Schupfnudeln)« war Programm: In
der Küche seiner noch nicht bezogenen Münchner Wohnung in
der Kazmairstraße 39 sollte Jan Winkelmann zur Vernissage
und zwei darauf folgenden Abenden Schupfnudeln für die
Besucher kochen. Ursprünglich hatte Tiravanija diese Arbeit für
die Ausstellung »fast nichts/almost invisible«, die im Sommer
1996 im ehemaligen Umspannwerk in Singen stattfand, konzipiert. Auch dafür beauftragte er den Ausstellungsmacher, während der Eröffnung für die Gäste ein für die Region typisches
Gericht zuzubereiten.
Als zwei Jahre später im September 1998 die 1. berlin biennale eröffnete, luden die drei Kuratoren den Künstler ein, etwa
tausend Gäste in der großen Halle des Postfuhramtes zu bewirten. Für viele war das »the place to be«. Eine informelle Plattform für lokale und internationale Kulturproduzenten war mit einfachen, aber effektiven Mitteln geschaffen. Sein erstes »food
piece« machte Tiravanija 1989 für eine Gruppenausstellung mit
dem Titel »Outside the Clock: Beyond Good and Elvis«. Er versprach damit wirkliche Teilhabe des Publikums. Von der Überlegung ausgehend, dass eine der Möglichkeiten von Kunst darin besteht, sie unmittelbar zu erleben, stellte er die für alle
Menschen grundlegenden Bedürfnisse nach Essen, Trinken
und Kommunikation ins Zentrum seiner Arbeiten. Bei solchen
Settings tritt er weniger als Autor, sondern mehr als Initiator in
Erscheinung. Er schafft angenehme Rahmenbedingungen, in
die jeder als unmittelbar Handelnder einbezogen wird. Konsequent nennt er bei den Materialangaben seiner Arbeiten: »lots
of people«.
In einem Interview lässt er uns wissen: »Mit neunzehn Jahren
verließ ich Thailand und ging nach Kanada. Damals verließ ich
auch die Highschool in der Absicht, Fotojournalist zu werden:
Ich stelle es mir nämlich wunderbar vor, nirgendwo sesshaft zu
sein und viel herumzureisen.« Auch wenn er heute nicht als
Fotojournalist arbeitet, so ist er durch seine künstlerischen
Aktionen und seine internationale Anerkennung doch seit vielen Jahren ständig zwischen den Kontinenten unterwegs. Fern
vom eigenen Atelier erzeugt er auf seinen Reisen Situationen in
den Ausstellungen, die mit den Schlagwörtern »Kunst als
Dienstleistung« oder auch »Kunst und Gemeinschaft« umrissen
werden können. Zur Erzeugung nutzt Tiravanija bevorzugt den
institutionellen Ort, will ihn für Besucher zugänglich machen,
indem er den White Cube des Ausstellungsraums erweitert. Er
zielt mit seinen Angeboten auf das Hier und Jetzt, betont den
Willen zur Gemeinschaft und die Flüchtigkeit der Handlungen.
Vor allem fasziniert ihn, wie wir Zeit in einem Raum verbringen:
»Es ist interessant, wie die Leute zu dem Punkt gelangen, in
einer bestimmten Umgebung die Initiative zu übernehmen – das
könnte zu Chaos führen, aber irgendwie spielt es sich eher auf
der Ebene von Kreativität und Anarchie ab: Die Leute verschieben etwa die Sitzkissen und machen Skulpturen daraus, aber
sie verbrennen sie nicht.« Tiravanija schafft in seinen Settings
Modelle der Realität, die – ganz nach Rainer Werner Fassbinders anti-illusionistischer Idee des Kinos – wirklicher als die
Wirklichkeit sind.
Bei der Ausstellung »ein|räumen. ARBEITEN IM MUSEUM« im
Jahr 2000 stellte er eine Art Campingwagen, der mit einer
Kochplatte, Töpfen und einem Fernseher eingerichtet war, in
den Lichthof der Galerie der Gegenwart der Hansestadt Hamburg. Die Arbeit trug den paradigmatischen Titel »Untitled
(Mobile Home)«. Fortan konnte dieser transitorische Ort in
Absprache mit dem Team der Gruppenausstellung als Bühne
genutzt werden. Seine Hamburger-Setzung ist vergleichbar mit
seiner Arbeit »Untitled (Angst essen Seele auf)« von 1994: eine
Bar, in der man trinken, einen Film sehen oder auch Radio
hören konnte. Hier wie da war wie die Ausstattung der Räume
spartanisch, gerade so, dass die Funktion erkennbar blieb. Beide Behausungen erinnern an eine fragile Theaterbühne, deren
Bretter die Welt bedeuten, vorausgesetzt die Beteiligten und
Besucher ergänzen sie durch ihre Auftritte, Konzerte, Lesungen
und vieles mehr.
Um seine Ausstellung im Jahr 2001 anzukündigen, ließ er seiner Berliner Galerie neugerriemschneider ein weißes Blatt verschicken, auf dem handgeschrieben die situationistische Losung »ne travaillez jamais«, nie wieder arbeiten, stand. In der
Galerie war die Ergänzung an der weißen Wand zu lesen: »Zeit
ist mein Kapital«. Hier wie auch in den anderen erwähnten
Arbeiten geht es neben Kommunikation auch um Ökonomie
und symbolischen Tausch. In den »food pieces« ist sein Kapital
vor allem die verbrachte Zeit mit den Gästen, Freunden und Kollegen, weniger die Akkumulation der Requisiten und schon gar
nicht die Essenstischreste à la Daniel Spoerrie für den Kunstmarkt. Bis heute pflegt Tiravanija die Gesetze der Gastfreundschaft wie kein anderer. Auf die Frage, wohin er gehe, antwortete er vor ein paar Jahren lakonisch: »Fischen auf dem Mars.«
Ihn heute beim Fischen anzutreffen, halte ich nicht für unwahrscheinlich.
Petra Reichensperger, Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin,
gehörte dem Team der Ausstellung ein|räumen in der Hamburger Kunsthalle an. Siehe Katalog ein|räumen. ARBEITEN
IM MUSEUM, Ostfildern/Ruit: Hatje Cantz 2000.
EGBERT HÖRMANN
WOLFGANG TILLMANS – FOTOS VON DEN
POST-BABYBOOMERN
Soll man es nun mit Oscar Wilde halten: »Frühreif sein heißt vollkommen sein«? Oder doch mit Ingeborg Bachmann: »Jede
Jugend ist die dümmste«? Jedenfalls ist nichts so sehr dazu
angetan, die Medien in einen Interpretationsrausch zu schicken
wie die Frage: Was ist mit unserer Jugend los? Besonders interessant in dieser Diskussion waren die Post-Babyboomer, also
jene Generation der inzwischen Mitte bis Ende Dreißigjährigen.
Ihnen hat der amerikanische Autor Douglas Coupland mit seiner Kult-Bibel »Generation X« ein bleibendes Denkmal gesetzt,
wie es vor ihm Hemingway, Fitzgerald, Kerouac, Salinger und
Sagan für andere Generationen getan haben. Was zeichnete
diese Generation nun besonders aus? Douglas Coupland
berichtete damals : »Meine Krise war nicht nur der Verfall von
Jugend, sondern auch das Scheitern von Klasse, Geschlecht,
Zukunft und Was-weiß-ich-noch-Allem.« Es war nach den Yuppie-Achtzigern der wirtschaftliche Abschwung, die Rezession,
die Verarmung der Mittelklasse zu verzeichnen. Die Post-Babyboomer mussten sich auf eine ökonomische Dauerkrise einstellen und auf die Tatsache, dass – ein historisches Novum – ihr
Lebensstandard den ihrer Eltern nicht übertreffen, sondern
dass er eher noch sinken würde, obwohl sie wesentlich besser
ausgebildet waren als vorherige Generationen. Gleichzeitig
bedeutete das Ende des Ostblocks ironischerweise das Ende
des amerikanischen Zeitalters und die Verflüchtigung der Utopien.
Es gibt wenige Kinder, die fähig sind, für eine Bevölkerungsgruppe, für eine Subkultur zu sprechen, oder zum richtigen
Zeitpunkt über sie etwas auszusagen: In den siebziger und
achtziger Jahren ist dies in der Fotografie vor allem Larry Clark
mit seinen verstörenden Meldungen aus dem Teenage-Brachland gelungen, aber auch Nan Goldin mit der »Ballade von der
sexuellen Hörigkeit«, die präzise den vergangenen Lebensstil
einer urban geprägten, westlichen Jugendkultur dokumentierte.
Der 1968 geborene deutsche Fotograf Wolfgang Tillmans
hat in den 1990ern ein ähnliches Talent vorgelegt, mit lakonischer Intensität die Fülle und die Vielfalt seiner Generation vorzuführen. Modestudenten, Raver, Schwule, Punks, Aktivisten,
Grunge-Typen, Arbeitslose et cetera finden sich hier in höchst
subjektiven Aufnahmen, die die Grenzen zwischen Reportage
und inszenierter Fotografie verwischen.
Tillmans arbeitet seit 1990 für Musik- und Trendzeitschriften
in Europa und den USA, vor allem für die Stil-Bibeln »The Face«
und »i-D«. Von daher lässt sich sein fast ethnologisches Interesse an der Clubkultur, an Kleidung und Mode erklären, die ihm
Katalysator und Übermittler von Inhalten sind.
Tillmans dokumentiert alle Facetten der Generation-X-Szene
und als den Schlüssel zu seiner Ästhetik könnte man die Beiläufigkeit bezeichnen – eine für die Generation typische Indifferenz gegen den Sinn, eine schlafwandlerische Abwesenheit
und Distanz, aber nicht Distanzierung. Die meistens in Farbe
entstandenen Aufnahmen sind »realistischer« vom Farbschema
als bei der »barocken« Goldin und haben etwas von den seltsam-verblüffenden Farben, wie man sie nur vom Farbkopierer
oder von bestimmten Polaroidfilmen bekommt.
Tillmans mag von der Ästhetik der Style-Magazine beeinflusst
sein, aber er versagt sich deren exzentrischeren Aspekten, um
zu einem »armen« Look zu kommen, einer Beschränkung auf
das Alltägliche, Zufällige und Häusliche. Auf den reduzierten
Einsatz ästhetischer Mittel und auf die formale Strenge ist es
zurückzuführen, dass diese jungen Männer und jungen Frauen,
in privater Umgebung und oft in einer intimen Situation aufgenommen, auf den Betrachter treffen, ohne ihn zum Voyeur zu
machen. Er ist ihnen egal.
Tillmans selbst verwendet gern das Wort »Parallelität«, um
sein Verständnis von der Komplexität seiner Modelle und des
Individuums zu beschreiben, und er betont, dass ein Foto nur
einen Aspekt einer Person wiedergeben kann, niemals die ganze Wahrheit, was ihn radikal von Portraitisten wie August Sander unterscheidet. Als Angehöriger der TV- und Mediengeneration kann sein Verständnis von der Identität und vom Individuum
nur ein ironisches sein. Im Zeitalter des Spektakulären verwischen sich die Grenzen zwischen Sinn und Nicht-Sinn, dem
Realen und der Illusion, dem Wahren und dem Falschen.
Es geht aus diesen kunstvoll »gewöhnlichen« Aufnahmen hervor, dass die Modelle mit all ihren Stimmungen dem Fotografen
vertrauen und dieser uns genügend vertraut, um uns in seine
und ihre Welt zu lassen. Anders bei Goldin, deren Modelle
etwas älter sind, sind diese Kids noch nicht gebrochen, auch
wenn sie wie Goldins Generation ungehemmte Erfahrung –
politisch, sexuell, spirituell – zu ihrer Lebensbasis und zu ihrer
Ästhetik gemacht haben. Spielerisch, aber gleichzeitig ernsthaft
stellt Tillmans die Rave-Generation vor, wobei er nie moralisierend wird. Das was geschieht, scheint weder per se schlecht
noch gut, sondern eher situationsbedingt zu sein, Ausdruck
eines neugierigen und wachen, wenn auch skeptischen
Lebenshungers. Sie sind noch »Wilde«, Romantiker, mit einem
starken Verlangen »anders« zu leben.
Die Geschlechtergrenzen scheinen – zumindest äußerlich – bei
diesen jungen Menschen aufgelöst zu sein. Ist ihre Sexualität
fixiert oder ein noch zu schreibendes Kapitel? Es ist nicht überraschend, dass im Zeitalter von Aids Sex mehr im Bereich des
Theaterhaften stattfindet als auf dem Schlachtfeld der Aktion,
aber was auch immer Sex sein mag, es ist nicht mehr der definitive Akt zwischen zwei Menschen. Die von Tillmans dargestellte Post-Aids-Generation setzt, wie in den Raves oder auf den
Love Parades der 90er Jahre zu beobachten war, verstärkt auf
die »Gemeinschaft« als eine militante Kraft, die in der Gruppe
Sicherheit und Familienzugehörigkeit findet. Natürlich gibt es
hier Heterosexuelle, Schwule, Lesben und alle anderen möglichen Orientierungen; sie nach ihrer Sexualität befragen zu wollen, erscheint trotzdem ein ziemlich überholter Gedanke zu sein.
Egbert Hörmann lebt als freier Autor, Filmkritiker und Übersetzer in Berlin und St. Petersburg. Zuletzt erschien »Cruising mit
den Wonderboys und andere schwule Erkenntnisse« im Querverlag 2007.
INKE ARNS
IRATIONAL’S FINEST – ÜBER DIE KUNST DER BEWEGUNG IM RAUM
Fast täglich lesen wir Meldungen über den Anbau von Genmais,
der jahrelang versteckt gehalten wurde, über Flüssigsprengstoff
in Flugzeugen und Bombenkoffer in Zügen, über Forderungen
nach flächendeckender Videoüberwachung, wir verfolgen die
globale Ausbreitung der Vogelgrippe und fragen uns, wann sie
denn unser Land erreicht, wir begreifen die inzwischen spürbaren Auswirkungen von Hartz IV, sehen die Folgen des Klimawandels und können uns des Eindrucks nicht erwehren: Das Leben
ist härter geworden.
Die Künstlergruppe irational, 1996 in Großbritannien gegründet, wusste das schon vor über zehn Jahren. Treffsicher formuliert irational seit 1996 Themen und macht darüber hinaus
eigensinnige Lösungsvorschläge. 2006 organisierte ich zusammen mit Jacob Lillemose die Ausstellung The Wonderful World
of irational.org, in der ihre Arbeiten im öffentlichen (Netz-)Raum
umfassend präsentiert wurden. Irational gründete zum Beispiel
Firmen, die – wie Technologies to the People – den Zugang zu
neuen Technologien als ein Menschenrecht definiert wissen
wollen, oder Unternehmen, die für ein »besseres Leben« –
Mejor Vida Corporation – mit einem »menschlichen Interface«
plädieren. Irational organisierte Mailinglisten wie American
Express und 7-11 oder agierte als Agentur für kulturellen Terrorismus, die aktuelle Formen performativer Ideologie und Rhetorik unterwandert, indem sie einen neuen Londoner Bezirk gründet und dort anschließend einen Wahlkampf veranstaltet oder
ein »genetisch modifiziertes antikapitalistisches Unkraut« vertreibt. Diesem Unkraut wurde eine Resistenz gegen Unkrautvernichtungsmittel von Monsanto angezüchtet, was den profitablen Einsatz genmanipulierter Getreidearten bedroht. Neben
der Kritik des leichtfertigen Umgangs mit gentechnisch veränderten Organismen dachte irational außerdem über konkrete
Verhaltensmaßnahmen im Falle einer globalen Grippe-Pandemie nach. Zunehmend prekären Arbeitsverhältnissen (die
jedoch in den 1990er Jahren noch nicht mit einem heute fast
modischen Schlagwort bezeichnet wurden) wurde mit Slogans
wie »Zeitarbeiter aller Welt vereinigt Euch – Turning Shit into
Gold« oder Lösungsvorschlägen zur kostenlosen Nutzung
öffentlicher Verkehrsmittel und dem flächendeckenden Ausstellen von Studentenausweisen begegnet. Überhaupt, Reisen:
Mitglieder von irational überwinden Zäune und Mauern mit einfachsten Hilfsmitteln, zum Beispiel mit selbst geknüpften Netzen und Klettertechniken und überqueren internationale Grenzen unter Umgehung offizieller Grenzkontrollen. Immer geht es
darum, den Raum neu zu erfahren, zum Beispiel im spielerischen gemeinsamen Auf-Bäume-Klettern während des jährlichen, unter dem Motto »Liberate the Horizontal!« stattfindenden
International Tree Climbing Day oder der Weltmeisterschaft im
Abfahrts-Skateboarding mit drei Teilnehmern im britischen Bristol.
Irational als Reiseunternehmen der anderen Art hat nicht zuletzt
deshalb das Logo der International Air Transport Association
IATA übernommen: ein stilisierter geflügelter Globus, der globale Kommunikation und globalen Verkehr symbolisiert. Mit dem
Zusatz »irational« wird daraus ein Qualitätssiegel für eine Kunst
der besonderen Bewegung im Raum.
Irational ist eine lose Gruppierung von sechs internationalen
Netz- und MedienkünstlerInnen, die sich um den 1996 von dem
britischen Netzkünstler Heath Bunting gegründeten Server irational.org zusammengefunden haben und die frühe Netzkunst
Mitte der 1990er Jahre entscheidend mitgeprägt haben: Daniel
Garcia Andújar / Technologies to the People (Valencia/E),
Rachel Baker (London/GB), Kayle Brandon (Bristol/GB),
Heath Bunting (Bristol/GB), Minerva Cuevas / Mejor Vidas Corporation (Mexico City/MEX) und Marcus Valentine (Bristol/GB).
Mit trockenem Humor und minimaler Ästhetik kommentierte irational den sich ab Mitte der 90er Jahre entwickelnden InternetHype und konkurrierte mit der ab 1996/97 hochschlagenden
Kommerzialisierungseuphorie des Neuen Marktes durch die
Entwicklung eigener Pseudo-Firmen. Kunst war im Netz unmittelbar, ohne den Bedarf und die Sicherheit eines Vermittlungsraumes bzw. einer Vermittlungsinstanz. Daher geriet irational in
dieser Zeit auch öfters an humorlose Markenrechtsanwälte, die
irational den Gebrauch von Firmennamen wie 7-11, American
Express, Sainsburys und Tesco untersagen wollten. Diese Aus-
einandersetzungen waren nur ein Vorspiel dessen, was sich
heute im Rahmen von Urheberrecht, Copyright und Markenschutz abspielt. Heath Bunting ging 1997 weltweit als erster
Netzkünstler in den »Ruhestand«. Er beendete seine ausschließliche Arbeit im Netz und wandte sich nun wieder verstärkt der Arbeit im öffentlichen Raum zu, zu dessen wichtigem
Bestandteil das Internet ja heute geworden ist. Haben sich die
Aktivitäten von irational in der »Netzphase« der Hinterfragung
virtueller Grenzen gewidmet, so experimentieren die Mitglieder
von irational heute mit der Befragung und Überwindung realräumlicher – ökonomischer, politischer, sozialer – Grenzziehungen und schaffen mitunter recht unterhaltsame Abhilfe.
Die mehr als zehnjährige Arbeit von irational deckt eine weites
Spektrum von heute sehr aktuellen und relevanten gesellschaftlich-politischen Themen ab: Bereits früh verhandelte die Gruppe Themen wie das wachsende Gefühl von Un-Sicherheit, das
sich in einer zunehmend auf Technologie basierenden Welt
ausbreitet, Fragen von Überwachung und Datenerhebung (irational bedient sich hierbei zum Beispiel »irationaler« Fragebögen und setzt Kundenkarten von Unternehmen zweckentfremdet ein), Branding und Markenrechtsschutz, prekäre
Arbeitsverhältnisse sowie DIY-Kulturen, -Medien und -Ökonomien. Mit der Verlagerung des Arbeitsschwerpunktes vom Netz
in den Raum steht die Arbeit von irational außerdem zu einem
frühen Zeitpunkt singulär und paradigmatisch für das, was heute in der Medienkunst zu beobachten ist: Es geht zunehmend
weniger um die Medien und Technologien selbst, als vielmehr
um ein gesteigertes Interesse an gegenwärtigen Räumen, die
auf komplexe Art und Weise über diese Technologien miteinander verlinkt sind und von medialen Netzen durchzogen werden.
In den letzten zehn Jahren ist ausführlich (jedoch bis heute nicht
abschließend) darüber diskutiert worden, ob und wie Netzkunst
auszustellen ist. Man erinnere sich nur an unglückliche Bürosituationen wie die auf der documenta X 1997 oder an die Inszenierung von Internetcafé-Settings in der Ausstellung net_condition am ZKM 2000/01. Irational selbst wurde vor ein paar
Jahren von Sarah Cook und Steve Dietz im kanadischen Banff
als riesiges, mit Kreide geschriebenes Wandschema plus einem
Online-Computer ausgestellt. Im Gegensatz zu diesen Ausstellungspraktiken haben wir – Jacob Lillemose und ich – uns 2006
dafür entschieden, die von uns ausgewählten 54 Arbeiten von
irational aus dem Internet »herauszuholen« und für jede dieser
Arbeiten im Dialog mit den KünstlerInnen eine Umsetzung für
den Ausstellungsraum der PHOENIX Halle des Hartware
Medienkunstvereins in Dortmund zu entwickeln. Für jedes einzelne Konzept haben wir – teilweise unabhängig vom ursprünglich benutzten Medium wie dem Internet – eine im Medium der
Ausstellung erfahrbare Umsetzung konzipiert. Nun könnte man
gerade dies der Ausstellung vorwerfen: dass sie die Netzkunst,
die immer stolz auf ihren direkten Bezug zum Netz-Rezipienten
war, in einen »institutionellen« Vermittlungsraum zurückholt und
sie damit – indem sie sie eindeutig zu »Kunst« erklärt, was im
Netz nie so klar war – eines Teils ihrer vielfältigen Bedeutungen
beraubt. Wir sind jedoch der Meinung: Auch – und vielleicht
gerade – die Netzkunst braucht einen dezidierten Raum der Vermittlung (ganz abgesehen davon, dass Kunst ohne Vermittlung
eine Utopie ist). Netzkunst hätte über ihr Medium, nämlich das
Internet, ein potenziell globales und potenziell sehr großes
Publikum erreichen können – was sie nicht getan hat. Sie hat
ein kleines spezialisiertes Publikum erreicht und manchmal auch
nichts ahnende Internetnutzer irritiert. Wir meinen, dass es zu
schade wäre, diese klugen Projekte einfach dem Netz zu überlassen und entschieden uns aus diesem Grund für diese Form
der Umsetzung.
Insofern ging es in dieser Ausstellung auch nicht um Netzkunst.
Man könnte weitergehen und behaupten: Irational selbst war
nie Netzkunst. Die Themen von irational reichen weit über die
Grenzen des jeweiligen Mediums hinaus. Es geht durchweg um
Projekte, die auf sehr kluge Art und Weise über gegenwärtige
Themen sprechen. Ob diese nun im Netz oder offline verhandelt und umgesetzt werden, ist zweitrangig. Insofern versuchte
die Ausstellung, die konzeptuellen roten Fäden von irational in
etwas mehr als einem halben Dutzend thematischer Bereiche
zu bündeln: Sprache als Eigentum, alternative Formen von Ökonomien, Überwindung von Grenzen, Hinterfragung von Sicherheitstechnologien und Bio- und Gentechnologie, die Weitergabe von Wissen in partizipativen Projekten sowie die
Ermöglichung neuer Raumerfahrungen. Mehr noch: In fast allen
Projekten geht es um die Kunst der Bewegung im (erweiterten)
Raum. Und immer ging und geht es darum, die Handlungsmöglichkeiten des Subjektes zu erweitern – im Sinne einer Taktik der
Ermächtigung des Einzelnen. Irational formuliert eine Politik und
Poetik des räumlichen Ungehorsams. Darum: Reisen Sie mit
dem Unternehmen Ihres Vertrauens! Fly irational!
Inke Arns, geboren 1968, künstlerische Leiterin des Hartware
MedienKunstVerein Dortmund (www.hmkv.de), dort zuletzt
u.a. »History Will Repeat Itself« (2007); seit 1993 freie Kuratorin und Autorin mit den Schwerpunkten Medienkunst, Netzkulturen, Osteuropa, www.inkearns.de
TIM HOLTORF
REALITY BITES
Als 1989 die Mauer fiel, wurde auch ich 400 Kilometer weiter
westlich Zeuge dieses Ereignisses. Zu Hause auf dem Sofa.
Die Bilder hierzu lieferte mir der Fernseher. Dieselben Bilder
sahen auch viele andere zur gleichen Zeit, in anderen Städten,
anderen Ländern und auch unmittelbar vor Ort. Nachdem die
Mauerteile von Bulldozern weggetragen waren, zerbrachen
nach den ganzen Projektionen auch die Feindbilder beider Seiten. Wo waren sie hin, all die bösen Sowjets, die fiesen Amis,
die rote Gefahr und die Menschenfresser aus dem Westen?
Kein Wunder, dass James Bond zu dieser Zeit für sechs Jahre
untertauchte und erst Mitte der Neunziger wieder auf der Bildfläche erschien. Jahrzehntelang hatten beide Seiten mit der Fiktion einer Welt gelebt, in der auf der anderen Seite etwas lauerte, das niemand so recht nachprüfen konnte und das daher
nur durch Repräsentationen in mehr oder weniger fiktionalen
Inhalten existierte. Da scheint es nur nachvollziehbar, dass nun
Realität eingefordert wurde. Was kam?
Der Fernseher zeigte uns verstärkt Menschen, die scheinbar
unmaskiert nichts anderes zur Schau stellten als sich selbst. In
Talksendungen erzählten sie von ihren privaten Problemen,
Nöten und Ängsten. Wir sahen zu, wie es bei anderen zu Hause aussah, was die Tochter gegen Akne tut und auf welche Weise kleine Kinder in Provinzseen ertrinken können. Was gezeigt
wurde, war »Normalität«, geboren aus der Anonymität des Alltäglichen. Das Motto der Stunde lautete: »Sometimes truth is
stranger than fiction.« Reality-TV war ein Segen für die Fernsehmacher. Es schien ein bisher unentdecktes Begehren des
Zuschauers entdeckt zu haben: den ungezügelten Voyeurismus. Und den zu bedienen war billig: Keine Autoren für Drehbücher, keine professionellen Schauspieler und keine aufwendigen Studiosets mussten finanziert werden. Der Mensch vor
der Kamera sollte keine Schauspielkunst, sondern performative Akte des Privaten liefern.
Die 90er boten viel reales Leben im TV. Es gab wilde Verfolgungsjagden auf US-Highways wie in der Serie »COPS«, es
gab Heimvideos, auf denen irgendein Hochzeitspaar beim Tanz
zu Boden ging und so bei »Verstehen Sie Spaß?« auftauchte.
Es gab Verbrechen, die bei »Aktenzeichen XY« nachgestellt
wurden. Es gab »Notruf«, »Hans Meiser«, »Ilona Christen«,
»Sabine Christiansen«, »Versteckte Kamera«, »Familien-Duell«
und viele Menschen, die vor Kameras standen – nonstop. Nachdem in den Neunzigern Schluss mit dem Sendeschluss
gemacht wurde, konnte das Projekt Totale Unterhaltung vollendet werden. Am Ende der Dekade wurde dies ausgereizt und
die Programmproduzenten steckten einen Haufen Leute in
einen Container, zogen einen Zaun drum herum und statteten
alles mit Kameras aus, sodass alle anderen immer wussten, was
wer, wann, mit wem machte.
Dies ist noch gar nicht all zu lange her, und dennoch erscheint
es seltsam, dass Millionen eingesperrten Leuten dabei zuzusahen, wie sie leben. Es erscheint weiterhin seltsam, dass sich
eine Debatte im Parlament darüber entzündet hatte, ob das
moralisch zulässig sei. Und am Ende ging sogar Guido Westerwelle in den Container und nutzte diesen Auftritt zur Eigenwerbung, was seine Partei dann allerdings nicht die prophezeiten
18, sondern nur 8 Prozent der Wählerstimmen bei der darauf
folgenden Bundestagswahl brachte.
Mit Reality-TV wurde in den Neunzigern in gewisser Weise
die Fiktion auf der Ebene der Realität entdeckt. Als Begriff ist
Reality-TV ein Paradox. Denn sobald eine Kamera in der Nähe
ist, reagiert jeder theatral: Das Bewusstsein eines Publikums
provoziert eine Verhaltensänderung, und sei es bloß Winken
oder das Victory-Zeichen. Den Programmmachern war klar,
dass die Wirklichkeit im Fernsehen eigenen Regeln folgt. Der
Realität musste auf die Sprünge geholfen werden, indem
immer stärker auf Dramaturgie und Inszenierung der Realität
geachtet wurde.
Wie alle Innovationen und vor allem jene des Medienbetriebes, unterlag auch Reality-TV einfachen Abnutzungserscheinungen. Wir, das Publikum, waren schon gewöhnt an die Pseudorealitäten der Bildmaschinen, als 2001 das World Trade
Center einstürzte. Dank der 24-Stunden-Nachrichtenkanäle
war auch ich 6000 Kilometer östlich unweigerlich Zeuge der
Ereignisse. Das, was passierte, wurde im Staffellauf der Nachrichtenverbreitung über den gesamten Erdball geschickt. Man
darf den Verursachern unterstellen, den Zeitpunkt ihres Angriffs
wohl überlegt zu haben, mit dem Ziel, ein möglichst breites
Fernsehpublikum der westlichen Industriestaaten mit ihrer Bot-
schaft zu erreichen. Am Ende stand es also nach Christoph
Schlingensief »1:0 für die Terroristen« und wenn wir Karl-Heinz
Stockhausen glauben wollen, war »das größte Kunstwerk aller
Zeiten« geschaffen. Egal wer, egal wo: Überall wurden die selben Bilder immer und immer wieder gezeigt, wie ein Mantra
schoben sich die Einschläge der Flugzeugkörper und die brennenden Türme, die wie Räucherkerzen vor sich hin qualmten,
aus dem Fernseher in die Köpfe der Zuschauer. Was zu sehen
war, war »wie im Film«. Dass das, was passierte, durchaus real
war und eben nicht fiktional, war für einen Zuschauer, dessen
Auge jahrelang darauf geschult war, hinter dem neuen Realen
die Fiktion zu erkennen, nicht mehr ganz so leicht zu identifizieren. Auch die stumpfe Wiederholung der Bilder holt den
unschuldigen Glauben an das, was man sieht, nicht wieder. Wir
trauen unseren Augen nicht mehr.
Tim Holtorf, geboren 1979, lebt und arbeitet in Berlin.
MAX GLAUNER
HISTORIENBILDER – TIM-EITEL-FOTOS IM FANZINE
Tim Eitel ist heute einer der bekanntesten Maler Deutschlands
– manchem Rezensenten gilt er als der wichtigste der in den frühen siebziger Jahren Geborenen. Erst vor zwei Wochen eröffnete die Kunsthalle Tübingen eine umfangreiche Werkschau mit
Arbeiten der vergangenen vier Jahre – über Dänemark tourt sie
bis November nach Kiel. Als ich Tim Eitel – wie vor ihm die Künstler Albert Weis, Daniel Knorr und Bettina Allamoda – darum bat,
unser Fanzine frei zu gestalten, war klar, dass ich keine Abbildungen seiner Malerei oder Ausschnitte daraus erwartete.
Über den Umstand hinaus, dass Gemälde ihre Wirkung immer
erst im Original entfalten, wirkt seine Malerei, grafisch linear und
vom Motiv her reduziert, in der Reproduktion oft glatt und –
wenn man das sagen kann – zu perfekt. Eine schwarze Fläche
wie auf dem nahezu drei auf zwei Meter großen Gemälde »Zwei
Männer« nimmt man zur Kenntnis. Ihre Tiefe und ihr Sog entwikkeln sich erst, wenn man vor dem Bild steht und sich Zeit lässt.
Jedem ist selbst überlassen, wie lange er sich mit einem Objekt
auseinandersetzt, wie lange er vor einem Video sitzt, ein Buch
liest, oder zum Beispiel in diesem Fanzine blättert. Doch im
Gegensatz zu einer Kino- oder Theateraufführung, aus der man
selten vor Schluss geht, geben Bilder ein eigensinniges Zeitmaß vor. Wenn Hegel richtig vermerkt, dass man heute eine
Mariendarstellung noch schön finde, jedoch das Knie nimmermehr vor ihr beuge, ist damit auch eine verändertes Zeitverhältnis zum Bild gemeint: Es gibt niemanden mehr, der einem vorschreibt, wie lange man davor Einkehr zu halten habe und was
dabei zu denken sei. Es gibt natürlich die Hingucker, wie man
in der Werbung sagt. Und man ist gar nicht so weit weg, wenn
man die verlorenen Figuren, Tütenberge und Müllcontainer auf
Eitels Bildern zunächst so versteht. Sie wollen Aufmerksamkeit
erzeugen. Doch spannend wird es auf der formalen, malerischen Seite. Und die hat ihre eigene Zeit, die Spannung von
Figur zum Raum, von Körper zur Fläche, von Farbe zu Grau,
Schwarz und Weiß. Tim Eitels Bilder geben einen eigenen Takt
vor, aus dem die Figuren eine neue Geschichte erzählen kön-
nen – Geschichten, die eng mit den 1990er Jahren, ihrem
Lebensgefühl der Befreiung und des Aufbruchs, aber auch mit
Vereinzelung und Vereinsamung zu tun haben. Seine Bilder verwenden entweder das Kleinformat des Genre- oder das Großformat des Historienbildes, halten sich erst auf den zweiten
Blick an deren inhaltliche Gattungsvorgabe: Monumentalbildwürdig ist ihm ein Müllcontainer mit Tauben, den man mit einem
Marienaltar in Beziehung bringen kann, ebenso wie ein liegender junger Mann, der bewusst an Manets toten Torero erinnert
oder die müde Schulklasse in der Black Box eines Museums an
Géricaults Jahrhundertbild »Das Floß der Medusa«. Tim Eitel ist
damit ein eigensinniger Chronist der Nachwendezeit.
»Friedensvertrag« für die einstigen Gegner auf dem Europäischen Kriegsschauplatz, machte den Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands frei. In gewisser Weise endet erst zu
diesem Zeitpunkt die »Nachkriegszeit«: Die Deutschen wurden
in die Souveränität entlassen, sie konnten im – parallel verhandelten – Einigungsvertrag vom 31. August 1990 eigenständig die Modalitäten für die Wiedergewinnung der staatlichen
Einheit festlegen. Die Bestimmungen im Einzelnen lauten in
Textauszügen wie folgt:
Eitel schlug für das 90er Jahre »Deutschlandsaga«-Fanzine vor,
aus seinen Fotos dieser Zeit eine Auswahl zu treffen und im Fanzine anzuordnen. In seinem Katalog »A Stage« 2006 hatte er
querformatige Schnappschüsse aus seiner digitalen Fotokamera unter einen Interviewtext gesetzt: Menschen auf der Straße,
im Supermarkt, auf einer Messe, klaustrophobe Architekturen,
Habseligkeiten von Obdachlosen. Aus diesen privaten und
zufälligen Fotografien – blätterte man im Katalog weiter –
stammten offensichtlich einige der Motive, Figuren und Sets
seiner Bilder. Der Fotoserie in unserem Fanzine fehlt zunächst
jeglicher Belegcharakter. Sie wurden nie Vorlagen für sein malerisches Werk. Und aus dem Schuhkarton gekramt, besitzen die
Aufnahmen in Farb- und Schwarz-Weiß-Abzügen unterschiedlichster Größe und Qualität keinen künstlerischen Anspruch.
Sie wirken in der Folge, in der Serie: Tim Eitel ging nach dem
Abitur in Stuttgart Anfang der 90er Jahre zum Studium zuerst
nach Halle, dann nach Leipzig. Dies findet sich in den Bildern
wieder. Die krassen Gegensätze von westdeutschem Kleinstadtmief und ostdeutschem Altbauschmuddel, der durch den
Ausbruch der Medienheldenbilder von Kurt Cobain bis Tom
Cruise, von Captain Picard bis Kofi Annan und schließlich Bildern New Yorker Urbanität einen Kontrapunkt finden. Sie sind
nicht chronologisch oder nach Orten angeordnet – thematisch
nur insofern als sich lose Cluster ergeben, die durch Vor- und
Zurückblättern erweitert und verdichtet werden können – persönliche Erinnerungsräume, die sich aber einer linearen Erzählung permanent entziehen.
Präambel
Die Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Demokratische
Republik, die Französische Republik, das Vereinigte Königreich
Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen
Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika – in
dem Bewußtsein, daß ihre Völker seit 1945 miteinander in Frieden leben, eingedenk der jüngsten historischen Veränderungen
in Europa, die es ermöglichen, die Spaltung des Kontinents zu
überwinden, (…) in Würdigung dessen, daß das deutsche
Volk in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen, um als gleichberechtigtes und souveränes
Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, in der Überzeugung, daß die Vereinigung Deutschlands als
Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu
Frieden und Stabilität in Europa ist, mit dem Ziel, die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland zu vereinbaren, (…)
sind wie folgt übereingekommen:
Max Glauner, freier Autor und Kulturjournalist, Chefredakteur
des »Deutschlandsaga«-Fanzines, lebt in Berlin.
DER »ZWEI-PLUS-VIER-VERTRAG«
Der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf
Deutschland zwischen der DDR und der Bundesrepublik
Deutschland sowie Frankreich, den USA, dem Vereinigten
Königreich und der Sowjetunion, wurde am 12. September
1990 in Moskau unterzeichnet und trat am 15. März 1991 in
Kraft.
Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges verzichteten
in diesem Vertrag auf sämtliche Rechte, die sie sich in den
Waffenstillstandsvereinbarungen mit dem Deutschen Reich
vom 8. Mai 1945 in Bezug auf »Deutschland als Ganzes« vorgehalten hatten. Der »Zwei-plus-Vier-Vertrag«, faktisch der
Zwei-plus-Vier-Vertrag – vom 12. September 1990 (BGBl.
1990 II S. 1317)
Artikel 1
(1) Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins umfassen. Seine Außengrenzen werden
die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik und der
Bundesrepublik Deutschland sein und werden am Tage des
Inkrafttretens dieses Vertrags endgültig sein. Die Bestätigung
des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten
Deutschland ist ein wesentlicher Bestandteil der Friedensordnung in Europa.
(2) Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag.
(3) Das vereinte Deutschland hat keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche auch nicht in
Zukunft erheben.
(4) …
(5) Die Regierungen der Französischen Republik, der Union der
Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von
Amerika nehmen die entsprechenden Verpflichtungen und Erklärungen der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und
der Deutschen Demokratischen Republik förmlich entgegen und
erklären, daß mit deren Verwirklichung der endgültige Charak-
ter der Grenzen des vereinten Deutschland bestätigt wird.
Artikel 2
Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der
Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, daß von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird.
Nach der Verfassung des vereinten Deutschland sind Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten,
verfassungswidrig und strafbar. Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen
Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner
Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung
mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.
Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle
entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst.
Artikel 3
(1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der
Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihren Verzicht
auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über
atomare, biologische und chemische Waffen. Sie erklären,
daß auch das vereinte Deutschland sich an diese Verpflichtungen halten wird. Insbesondere gelten die Rechte und Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 für das vereinte Deutschland fort.
Auswahl und Hervorhebungen durch Fettdruck von Friedrich
Barner.
(2) …
(3) …
Artikel 4
(1) Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, der
Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erklären, daß das vereinte Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in vertraglicher Form die Bedingungen und die Dauer des
Aufenthalts der sowjetischen Streitkräfte auf dem Gebiet
der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins
sowie die Abwicklung des Abzugs dieser Streitkräfte regeln
werden, der bis zum Ende des Jahres 1994 im Zusammenhang
mit der Verwirklichung der Verpflichtungen der Regierungen der
Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, auf die sich Absatz 2 des Artikels 3 dieses Vertrags bezieht, vollzogen sein wird.
(2) …
Artikel 5
…
Artikel 6
…
Artikel 7
(1) Die Französische Republik, die Union der Sozialistischen
Sowjetrepubliken, das Vereinigte Königreich Großbritannien
und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug
auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden
die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen
(2) Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.
Artikel 8
…
Artikel 9
…
Artikel 10
…
CHRISTIAN KUPKE
RÜCKBLICK AUF DAS ENDE DER GESCHICHTE II ODER
DIE NICHT ENDEN WOLLENDE GESCHICHTE VOM ENDE
DER GESCHICHTE
Wenn man über das Ende der Geschichte nachdenkt, sollte
man nicht vergessen, in welchem Jahr, in welchem Jahrzehnt
oder sogar in welchem Jahrhundert man das tut. In vielleicht 10
oder 20 Jahren dürfte eine Deutschlandsaga schon ganz andere Schwerpunkte setzen als die, an der hier und heute gestrickt
wird. Wir haben jetzt das Jahr 2008, das vierte Jahrzehnt, nachdem in der Studentenbewegung der 68er das erste Mal vom
»Ende der Geschichte« die Rede war. Seitdem ist sehr oft und
in wechselnden, ja geradezu entgegengesetzten Kontexten von
einem solchen Ende gesprochen worden; ich habe darüber
berichtet. Aber der Grundgedanke ist immer derselbe geblieben: Die geschichtliche Entwicklung nimmt, meist veranlasst
durch oder verkörpert in einem Ereignis – dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die Schüsse auf Benno Ohnesorg, dem Fall der
Mauer, der Attacke auf das World Trade Center – eine paradigmatische Wende, in der etwas zum Ende kommt, dessen Ende
vorher undenkbar schien – nur eines nicht: die Geschichte vom
Ende der Geschichte.
Noch in den 80er Jahren schien vielen undenkbar, was dann im
Herbst 1989 und schließlich auch formell im Oktober 1990
Wirklichkeit wurde: der Fall der Mauer und das Ende des Kalten Krieges. Jean Baudrillard hatte Anfang der 80er Jahre noch
lauthals das »Ende des Sozialen« verkündet und damit gemeint,
es gebe keine »demokratischen Massen« mehr, die noch irgendetwas bewegen oder ausrichten, geschweige denn so etwas
wie eine »Revolution« anzetteln könnten. Nun musste er einsehen, dass er unrecht hatte und stellte in seinem Buch »Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse« 1992 selbstkritisch fest: Die atomare Abschreckung habe ihr Ziel erreicht, sie
sei »gelungen«, und deshalb müsse man sich fortan an den
Gedanken gewöhnen, dass es kein Ende mehr gebe, dass es
kein Ende mehr geben werde und dass die Geschichte selber
endlos geworden sei. »Das ›Ende des Politischen‹? Das ›Ende
der Ideologien‹? Das ›Ende des Sozialen‹ etc.? Nichts von alledem ist wahr.«
Nur scheinbar schien Baudrillard mit diesen Thesen Francis
Fukuyama zu widersprechen, der im selben Jahr in seinem Aufsehen erregenden Buch »The End of History and the Last Man«
an die auch für Baudrillard so wichtigen Überlegungen Kojèves
wieder anknüpfte und vor seinem erstaunten intellektuellen
Publikum einen nahezu zwingend erscheinenden Argumentationsbogen entfaltete: So wie mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – an dem Kojève seine Thesen erstmalig entwickelt hatte – der eine Gegner der liberalen Demokratie, der Faschismus,
besiegt worden war, so sei nun mit dem Ende des Kalten Krieges ihr zweiter – und im Übrigen letzter – Gegner, der Kommunismus, besiegt worden. Keine einzige politische Ideologie und
kein einziges ihr zugehöriges, ob nun real, irreal oder surreal existierendes politisches System könne, was ihren rechtsstaatlichen und sozialökonomischen Status anbelange, fortan der
liberalen Demokratie, »the final form of human government«, das
Wasser reichen. Und eben deshalb sei die Menschheit am
Ende ihrer Geschichte angelangt: »that there would be no further progress in the development of underlying principles and
institutions, because all of the really big questions had been
settled.« Alles, was noch folgen könnte, so Fukuyama, seien
Reformen an diesem einen und einzig legitimen System der
kapitalistischen Demokratie bzw. eine Globalisierung, die dieses System – das »Empire«, so Hardt und Negri im Jahr 2000
– über den ganzen Erdball als frohe Botschaft verkünde.
Es bedarf heute, kaum zwei Jahrzehnte später, keiner besonderen historischen Sensibilität, um zu erkennen, dass das ein
kapitales Fehlurteil war. Und vor allem: dass das, was hier »Globalisierung« genannt wird (man kann sich darunter durchaus
auch noch etwas anderes vorstellen), kein progressiver und
schon gar nicht ein natürlicher oder evolutionärer, sondern ein
äußerst regressiver und repressiver Prozess ist. Denn es haben
sich seit dem neuen Jahrtausend ganz andere und äußerst
mächtige Gegner zurückgemeldet, die nicht zuletzt auf genau
jenen christlichen und menschenrechtlichen Fundamentalismus
reagieren, der in diesen apokalyptischen Phrasen vom Ende der
Geschichte immer wieder fröhliche Urständ feiert. Und die so
genannte »liberale« oder »neoliberale« Demokratie ist sogar
mittlerweile zu ihrem eigenen Gegner geworden, indem sie sich
neuerdings, wie Fukuyama selber in seinem letzten, vor kurzem
erst ins Deutsche übersetzten Buch »America at the Crossroads. Democracy, Power, and the Neoconservative Legacy«
schreibt, »leninistischer« Methoden bedient – z.B. in Guantánamo oder im Irak, wo der Prozess der Globalisierung mal eben
ein wenig beschleunigt wird: indem man den Leuten dort die
Menschenrechte mit Folterwerkzeugen und Gewehrsalven eintrichtert. Wohlgemerkt, nicht nur im Namen der liberalen Demokratie, sondern auch legitimiert durch den Wählerwillen dieser
Demokratie, durch den demokratischen Souverän höchstpersönlich.
Aber auch ein zweiter Punkt ist im Rückblick durchaus überraschend: Die Thesen Fukuyamas und Baudrillards – vom Ende
der Geschichte und vom Ende dieses Endes – sind einander
auf verblüffende Weise ähnlich. Denn das Baudrillard’sche
Ende vom Ende ist immer noch ein Ende, so wie die Hegel’sche
Negation der Negation immer noch eine Negation ist. Schaut
man sich nämlich, so Baudrillard, mal etwas genauer an, was
sich da am Beginn der 90er hinter dem alten eisernen Vorhang
durchzusetzen begann, so war es doch eigentlich nur die Wiederkehr, das »Recycling« dessen, was wir längst schon kannten: Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte und all
der andere damit verbundene Firlefanz: »Die Demokratie selbst,
diese weltweite Demokratie der Menschenrechte, ist bereits
nichts als ein gigantisches Recycling auf der Ebene unseres
Planeten. Sie besteht aus dem Bodensatz, der bei der Zersplitterung aller reellen Freiheiten übrig blieb, sie ist ein Konglomerat, ein Syntheseprodukt, das im Vergleich zum filigranen
Wesen der Demokratie dieselben Charakteristika aufweist wie
Recyclingpapier.«
Die Wahrheit dieses »Recyclings« ist: Die Rede vom Ende ist,
so wie die mythische Rede vom Anfang, in sich paradox. Sie ist
selber mythisch. Denn entweder ist das Ende ein neuer Anfang
und damit seine eigene Selbstwiderlegung: Das Ende der
Geschichte ist der Anfang einer neuen. Oder aber das Ende ist
und bleibt das Ende, aber dann ist das Ende selbst die
Geschichte: Das Ende der Geschichte ist eine endlose
Geschichte. Niemand, und schon gar nicht die in sich selbst,
d.h. in ihre eigenen Übertreibungen: Hyperbeln, Hyperkritiken
und Hypostasierungen verliebten Hyper-Philosophen wie Baudrillard und Fukuyama können sich einer solchen Logik entziehen. Indem sie mit einer nur aufs »Ende« projizierten onto- und
ursprungslogischen Figur operieren, werden sie selber zu Verurteilten einer Geschichte, über die sie sich als Ganze zu urteilen erlauben. Es bedarf nur irgendeines Ereignisses in dieser
eben endenden oder nie enden wollenden Geschichte, z.B. des
Falls der Mauer oder des Anschlags auf das World Trade Center, um ihre Theorien jenem Mülleimer zu überantworten, zu dem
schließlich Baudrillard die Geschichte selbst erklärt hat: »Wenn
es keine Mülleimer der Geschichte mehr gibt – denn das Ende
der Geschichte, das ist auch das Ende der Mülleimer der
Geschichte – dann deshalb, weil die Geschichte selbst zum
Mülleimer geworden ist.«
Summa summarum: Der intellektuelle Müll, mit dem man sich
seit den 90er Jahren als Philosoph verstärkt herumschlagen
muss, stellt offenbar ein noch viel größeres Problem dar als der
sonstige, und nichts kann uns offenbar vom Bodensatz der
Dummheit des vergangenen Jahrhunderts befreien (eben deshalb setze ich auf das soeben begonnene Jahrhundert und
freue mich schon auf die nächste »Deutschlandsaga«). Denn die
nicht enden wollende Geschichte vom Ende der Geschichte
zeigt uns lediglich die Resistenz einer ontologischen Formel:
eben die vom »Ende«. Sie zeigt uns die Sprache als eine phraseologische Hohlform, in die sich jeder verkriechen kann, der
immer noch daran glaubt, etwas Starkes, etwas Endgültiges,
eben etwas Ontologisches behaupten zu können – und sei es
auch nur, dass es die Ontologien sind, die an ihr »Ende« gekommen seien. Die Geschichte vom Ende hört offenbar nie auf –
und widerlegt sich eben damit selbst.
Christian Kupke, geboren 1959, lebt und arbeitet als freier
Autor und Philosoph in Berlin.