Interpretation eines Sonetts Rainer Maria Rilke: Spätherbst in Venedig

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Interpretation eines Sonetts Rainer Maria Rilke: Spätherbst in Venedig
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Interpretation eines Sonetts
Rainer Maria Rilke: Spätherbst in Venedig
Rainer Maria Rilke (1875 –1926)
Spätherbst in Venedig (entstanden 1908)
Text
Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,
der alle aufgetauchten Tage fängt.
Die gläsernen Paläste klingen spröder
an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt
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der Sommer wie ein Haufen Marionetten
kopfüber, müde, umgebracht.
Aber vom Grund aus alten Waldskeletten
steigt Willen auf: als sollte über Nacht
der General des Meeres die Galeeren
verdoppeln in dem wachen Arsenal,
um schon die nächste Morgenluft zu teeren
mit einer Flotte, welche ruderschlagend
sich drängt und jäh, mit allen Flaggen tagend,
den großen Wind hat, strahlend und fatal.
Frühsommer 1908, Paris
Aus: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Herausgegeben vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth SieberRilke, besorgt durch Ernst Zinn. Erster Band: Gedichte. Erster Teil (darin: Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Erschienen November 1908). Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch Verlag 1987, S. 609 f.
Worterklärungen:
V. 9: Galeere: mittelalterliches Kriegsschiff im Mittelmeerraum, das sowohl mit Rudern als auch mit
Segeln ausgestattet war.
V. 10: Arsenal: Schiffswerft, Zeugheus und Flottenbasis der Republik Venedig. 1104 begonnen, wurden
die Werftanalagen im Laufe der Jahrhunderte mehrmals erweitert und galten bis zum Zeitalter der
Industrialisierung als größter Produktionsbetrieb Europas.
V. 14: fatal: Gegenüber dem heutigen Wortgebrauch im Sinne von „verhängnisvoll, peinlich“ ist die
eigentliche Bedeutung (aus lat. fatalis) „vom Schicksal bestimmt, verderbenbringend“ weitgehend
verblasst.
Aufgabenstellung
1. Analysieren und interpretieren Sie das Gedicht.
2. Ordnen Sie das Gedicht einer literaturgeschichtlichen Epoche zu
und begründen Sie Ihre Entscheidung anhand inhaltlicher und sprachlicher Merkmale.
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Erschließen der Aufgabenstellung
Die Aufgabenstellung entspricht den im Abitur gängigen Arbeitsanweisungen.
Grundsätzlich empfiehlt sich also auch hier ein Vorgehen nach den bekannten
Arbeitsschritten der textimmanenten Interpretation.
Mit der geforderten Epochenzuordnung geht die Aufgabenstellung allerdings über reine Textimmanenz hinaus. In der unter Epochengesichtspunkten
vorzunehmenden Auseinandersetzung mit inhaltlichen und sprachlichen Besonderheiten des Gedichts ergibt sich zwangsläufig auch zumindest im Ansatz
eine weitere Verstehensmöglichkeit, die die Betrachtung unter einer strikt
heutigen Perspektive nicht eröffnen kann. Hier wird etwa nach der Rolle zu
fragen sein, die Venedig im Bewusstsein der Reisenden, aber auch im allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Gefüge zur Entstehungszeit des Gedichts
gespielt hat. Ein vertieftes Verständnis des Gedichts wird vor allem aber aus
der Ermittlung seiner Position im Zusammenspiel der literarischen und mentalitätsgeschichtlichen Strömungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu erwarten sein. Da Venedig in vielen um 1900 entstandenen Werken –
so etwa auch bei Hugo von Hofmannsthal und Thomas Mann – in jeweils ganz
ähnlicher Weise als Symbol für ein bestimmtes Lebensgefühl eingesetzt worden ist, ist es nützlich, wenn man auf entsprechende Lektürekenntnisse
zurückgreifen kann. Die Epochenzuordnung dürfte dann nicht mehr schwerfallen.
Als Arbeitsprogramm und vorläufige Grobgliederung ergibt sich aus diesen
Vorüberlegungen:
Grobgliederung
A Einleitung (Überblick und vorläufiges Gesamtverständnis)
B I. Interpretation
1. Beschreibung der äußeren Form und des äußeren Aufbaus
2. Analyse der inneren Form (gedankliche Struktur, Kommunikationssituation sowie
sprachliche und poetische Gestaltungsmittel in ihrer Funktion)
3. Gesamtdeutung
II. Epochenzuordnung als vertieftes Textverständnis
1. Die Signatur der Zeit: Fin de siècle und Décadence
2. Der Zeitbezug im Gedicht
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Verfassen der Einleitung
Die Einleitung baut – wie immer – auf den vorliegenden Informationen zu
Autor und Text und Ihrem umsichtig reflektierten Ersteindruck auf:
• Halten Sie alle einschlägigen und Ihnen bekannten äußeren Daten (zu Autor, Titel, Gedichtart und Entstehungszeit) für eine erste Überblicksinformation über das Gedicht fest.
• Gehen Sie vom Gedichttitel aus und stellen Sie sich folgende Fragen:
1. Welche Vorstellung(en) verbinden Sie persönlich mit Venedig?
2. Welche Erwartung weckt der Gedichttitel bei Ihnen?
• Lesen Sie, soweit die Situation dies erlaubt, das Gedicht mit ausreichend
lauter Stimme, damit Sie sich beim Vortrag zuhören können. Welchen Ersteindruck von der Stimmung oder der Haltung des Sprechers, der Klanggestalt und rhythmischen Bewegung des Gedichts erhalten Sie dabei?
• Auf welche(n) Bereich(e) verweisen die Bildersprache und die Motive – soweit jetzt schon bestimmbar – schwerpunktmäßig? Welche sprachlichen
Besonderheiten fallen Ihnen spontan auf? Ergeben sich erste Vermutungen
hinsichtlich der Autorintention? Folgende Fragen können dabei hilfreich
sein: Worum geht es in dem Gedicht? Welches Thema wird gestaltet?
• Welche Werke anderer Autoren kennen Sie (beispielsweise aus dem Unterricht), die eine ähnliche Thematik behandeln? Inwieweit haben Sie sich bei
Ihrer Erstrezeption von diesen Vorkenntnissen leiten lassen?