Storytelling als Auszug aus der Ideenwerkstatt des Medium
Transcrição
Storytelling als Auszug aus der Ideenwerkstatt des Medium
Persönliches Exemplar für: [email protected] Idee 5 | Wie gutes Storytelling entsteht Eine Brücke in die Gegenwart Wo finde ich die 1. Der Originaltext Geschichte zu „ACHTUNG! HIER IST GLEIWITZ!“ einem historischen Vor 75 Jahren begann mit einem fingierten Überfall Datum, wenn sie auf den Sender in Oberschlesien der Zweite Weltkrieg – nicht im Gestern, heute kommen dort Deutsche und Polen zusammen. sondern im Heute spielen soll? Wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt und die Recherchezeit knapp ist? Jan Sternberg löst die Aufgabe mit einem Ortsbesuch. medium magazin #10/2014 | iW | 18 (1) Gliwice. Auf einem Brett vor dem Schaltschrank steht das Mikrofon (leicht verrätselter Einstieg. Wieso „das Mikrofon“?). Schwer liegt das tarngrüne (Adjektiv aus der Sphäre des Militärs) Ding in der Hand. Es ist zwar nicht das Original, räumt Andrzej Jarczewski ein, aber vermutlich baugleich. Ein Mikrofon, wie es am Abend des 31. August 1939 eingestöpselt wurde, um das Programm des Reichssenders Breslau zu unterbrechen. „Achtung! Hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand“, so lautete der vorbereitete Text des SS-Kommandos, das am Vorabend des Zweiten Weltkrieges einen polnischen Überfall auf den deutschen Sender vortäuschte (Rückblende 1 erläutert den Anlass des Artikels). (2) Jarczewski, 64, verwaltet seit mehr als zehn Jahren das kleine Museum auf dem Gelände des Senders Gleiwitz. Auf seiner Visitenkarte steht „Klucznik“, zu Deutsch „Schließer“, aber das ist eine ironische Untertreibung. Der studierte Elektrotechniker und Philologe Jarczewski ist mit dem Sender quasi verheiratet (Porträt des ersten Protagonisten). Als die Stadt ihn 2011 entließ, stieg er aus Protest auf den 118 Meter hohen, aus Lärchenholz erbauten Funkturm. Er wurde nach zwei Tagen von der Polizei wieder heruntergeholt. Nun ist er wieder auf dem Sender (Spiel mit dem Doppelsinn). (3) Wenn Besuchergruppen kommen, beobachtet Jarczewski genau, was mit dem Mikrofon passiert. „Jeden Tag nimmt es jemand in die Hand“, sagt er, „aber noch nie hat einer etwas hineingesprochen. Die Leute trauen sich nicht.“ Niemand ruft: „Achtung! Hier ist Gleiwitz!“ Als würden diese Worte noch heute sofort einen Krieg auslösen. Selbst die Schülergruppen, mit denen Jarczewski gern den Überfall nachspielt, sind eingeschüchtert von dem schweren Ding (die unheimliche Magie des Gegenstands schafft Spannung). „Was soll ich sagen?“, fragen sie den bärtigen Museumsleiter leise. (4) Der Sender Gleiwitz liegt außerhalb des Zentrums auf einer Anhöhe. Der auffällige Funkturm erfüllt noch heute seinen Zweck. Er sendet (die Kürze bringt Rhythmus und Aufmerksamkeit). Zwar nicht mehr fürs Radio, aber für verschiedene Handynetze. So finanziert das Denkmal seinenUnterhalt (der Sender ist personalisiert und also lebendig). Zwischen der alten Sendestation und dem Turm hat die Stadt einen Park angelegt. Ein kleiner Junge übt Rad fahren, an einem der Brunnen sonnen sich fünf junge Leute in der Augustsonne. Sie bespritzen sich gegenseitig mit Wasser und interessieren sich nicht wirklich für die Vergangenheit. Der 23-jährige Szymon zeigt auf das Sendergebäude: „Da sind damals Deutsche in polnischen Uniformen eingedrungen“, referiert er, „und da sind viele Leute ums Leben gekommen. Aber für uns hat das heute keine Bedeutung mehr (Stimme der Jugend – 1).“ (5) Andrzej Jarczewski würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, hätte er Szymons Worte gehört (der Satz schlägt eine Brücke und schärft den Sinn für den Kontrast). Die Deutschen trugen Räuberzivil, keine polnischen Uniformen. Und es gab nur einen Toten: Den 41-jährigen Oberschlesier Franz Honiok, der vorher von der SS entführt und betäubt wurde. Er gilt als der erste Tote des Zweiten Weltkriegs (Wendepunkt im historischen Geschehen) – und ist zugleich ein Symbol dafür, dass in dieser Region Grenzen und Zugehörigkeiten nie so einfach sind, wie sie scheinen. Honiok lebte auf der deutschen Seite der Grenze, doch er war „polnisch gesinnt“, wie es der Historiker und Journalist Dawid Smolorz ausdrückt. Honiok hatte 1920 in den Guerillakämpfen um Oberschlesien mit weiß-roter Armbinde auf polnischer Seite teilgenommen. Das wussten die Nazis noch 20 Jahre später (Rückblende 2 geht noch vor das Jahr 1993 zurück). Honiok war das perfekte Opfer für die Gleiwitzer Inszenierung. Eigentlich. „Aber die Deutschen haben seinen Namen gar nicht genannt“, wundert sich Smolorz. „Hannoversche Allgemeine Zeitung“, 30. August 2014 Rund um das Mikrofon entfaltet Jan Sternberg seine Gleiwitz-Geschichte. Der Sender und die Hauptpersonen oszillieren zwischen dem Gestern und Heute. (6) Smolorz, 43, ist perfekt zweisprachig, er bezeichnet sich als Oberschlesier, als Einheimischer und als „deutsch gesinnt (der zweite Protagonist führt den Aspekt deutsche versus polnische ,Gesinnung‘ ein und aus)“. Das sind die Kategorien, in denen er seinen Platz in der Gleiwitzer Gemengelage erklärt. Einheimische nennt er die Familien, die schon vor 1945 in der Gegend lebten, nicht die aus Ostgalizien Vertriebenen, die seit Kriegsende die Mehrheit in der Stadt stellen. Welche Rolle spielt das heute noch, im modernen EU-Polen, in dem die Globalisierung der 200.000-Einwohner-Stadt Gliwice Serie „Handwerk Storytelling“ Was ist es? „Achtung! Hier ist Gleiwitz!“ ist der dritte Text in unserer Serie „Handwerk Storytelling“: Sie finden in jeder Ausgabe der Ideen-Werkstatt ein Best-Practice-Beispiel mit besonders gut erzählten Texten aus allen Genres. Wer macht es? Autorin der Serie ist Marie Lampert, die die jeweiligen Texte analysiert, kommentiert und hier erstmals vorstellt. Die Serie entsteht in Kooperation mit dem Portal storytelling.abzv.de der ABZV, dem Bildungswerk der Zeitungen. Was bringt es? Antworten auf die Fragen: Was macht einen guten Text aus? Und welche dabei genutzten Werkzeuge sind für jedermann brauchbar? Das moderne Medium für Propaganda heute ist Facebook. Das hat mir eingeleuchtet. Jan Sternberg, siehe Interview zum „Making-of“, Seite 21 Linktipp Dem Thema Storytelling mit weiteren Analysen von Marie Lampert ist ein Webportal der ABZV gewidmet, das Sie hier finden: 4 www.storytelling.abzv.de Persönliches Exemplar für: [email protected] Idee 5 | Wie gutes Storytelling entsteht unter anderem zwei Autobahnen und eine Opel-Fabrik (Gleiwitz-Info 1) beschert hat? „Eine große“, sagt Smolorz. Um das zu erklären, redet er über Fußball: Als „Einheimischer“ ist er Fan des Arbeitervereins Górnik Zabrze, dort führten Fans lange Zeit eine schwarz-rot-goldene Fahne mit. Den Fans von Ruch Chorzów, einem weiteren Erstligaklub des Kohlereviers, verbot der polnische Fußballverband, ein Banner mit der deutschen Aufschrift „Oberschlesien“ zu zeigen. Piast Gliwice, der Gleiwitzer Erstligist, wurde 1945 von Neuankömmlingen gegründet, Smolorz nennt ihn „einen polnischen Verein, der in Oberschlesien spielt (die Fußballvereine illustrieren das ,Gesinnungsmotiv‘)“. (7) Smolorz kommt aus dem Vorort Sosnica. Dort wurde auch Lukas Podolski (der dritte Protagonist – eine Referenz an einschlägige Vorkenntnisse der Leser) geboren, im Alter von zwei Jahren zog der heutige deutsche Fußball-Nationalspieler mit seinen Eltern ins Rheinland. Auch Podolski aber schwärmt von Górnik Zabrze – und macht jeden Sommer Station bei seiner Oma in Sosnica. „Vergiss niemals, wo du herkommst“, schrieb er vor Kurzem unter ein Foto ihres Hauses. Das Bergarbeiter-Reihenhaus ist grau und verwittert, es passt ins Klischee vom tristen Kohlerevier. Doch in Gliwice schaffen sie diese Vorstellung aus der Welt, sie bauen, renovieren, planieren. Selbst in Sosnica ist das zu spüren. Fast die ganze Siedlung ist aufgehübscht. Babcia Podolskas Haus ist eines der letzten, die noch auf die Sanierung warten. Unweit davon wird eine neue Schnellstraße nach Kattowitz angelegt, daneben wächst die neue Mehrzweckhalle in den Himmel, „nach europäischem Standard“. 2015 soll die Arena mit knapp 14.000 Plätzen fertig werden (Gleiwitz-Info 2). (8) In einer einzigen Zeche in Sosnica wird noch Steinkohle abgebaut. Die alte Grube Gliwice aber ist geschlossen und auf Zukunft getrimmt: Im restaurierten Zechengebäude und in den neuen Flachbauten drum herum sitzen Hightech-Firmen mit Namen wie „Future Processing“. Auch ein neues Logo hat sich die Stadt gegönnt – ausgerechnet den Funkturm (Gleiwitz-Info 3). Mit der Propaganda-Aktion der Nazis verbinden die meisten jungen Gleiwitzer nichts mehr. Für sie beginnt am 1. September nicht der Krieg, sondern die Schule (lakonisch zugespitzt). In den Kneipen rund um den mittelalterlichen Marktplatz trinken sie sich ins letzte Ferienwochenende. „Gliwice ist todlangweilig“, klagt die blonde Julia. „Es gibt vielleicht fünf gute Kneipen. Das war’s.“ Die Radiostacja? Schweigen (Stimme der Jugend – 2). Das Stadtlogo mit dem Turm stammt von einem Krakauer Designbüro und ist „zwar schön, aber schlicht falsch“, wie Andrzej Jarczewski mit feinem Lächeln anmerkt. „Es sieht aus wie der Eiffelturm, das hat mit unserem Turm aber nichts zu tun.“ (9) Der inszenierte Überfall auf den Sender Gleiwitz verfehlte seine Propagandawirkung: Die SS hatte keinen reichweitenstarken Radiosender überfallen, sondern nur eine regionale Verstärkerstation für den Sender Breslau. Das „Achtung! Hier ist Gleiwitz!“ hörte niemand in Berlin, niemand in London oder Paris. SS-Sicherheitschef Reinhard Heydrich soll getobt haben (Rückblende 3 – die Pointe der Nazi-Aktion). Für Jarczewski aber hat die Aktion dennoch ihre Bedeutung, bis heute. 1939 war das Radio das modernste Medium, entsprechend spektakulär sollte die Aktion wirken. „Und heute wird der Krieg um die Ukraine auch auf Facebook geführt, merkt Jarczewski an, „von Putins Cyber-Armee (überraschende Deutung und Wende ins Heute)“. (10) Am Sonntag kommen die Vorsitzenden der deutschen und polnischen Bischofskonferenzen, Reinhard Kardinal Marx und Erzbischof Stanislaw Gadecki, zu einer Gedenkfeier zum Sender. Auch 75 Jahre nach der Inszenierung von Gleiwitz spielt der hölzerne Turm noch seine Rolle. Jetzt aber im Sinne der Erinnerung und Völkerverständigung (Schlussfigur: Rückkehr zum Sender und neues Motiv). Wir danken Jan Sternberg, Grazyna Böhm (Aufmacherfoto) und der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ für das kostenfreie Überlassen der Rechte. medium magazin #10/2014 | iW | 20 2. Die Werkzeuge Jan Sternbergs „Achtung! Hier ist Gleiwitz!“ analysiert von Marie Lampert Webmuster durch die Zeit Das Mikrofon im Museum ist der Ausgangspunkt des Textes, ein zentraler Gegenstand. Es führt unmittelbar vom Heute ins Gestern, 75 Jahre zurück. „Schwer liegt das tarngrüne Ding in der Hand … ein Mikrofon, wie es am Abend des 31. August 1939 eingestöpselt wurde.“ Der Autor holt es wieder in die Jetztzeit – in der Szene mit der ehrfürchtigen Schülergruppe. Diese Bewegung ist ein durchgehendes Prinzip im Text: heute-damals-heute-undsoweiter. Über die Personen verbinden sich Gegenwart und Vergangenheit. Der alte Gleiwitzer Sendemast macht heute Karriere als modernes Stadtlogo. Die Zeichnung von Brigitte Seibold illustriert das Muster des Texts. Das Personentableau Fast alles, was die Leser über den Überfall auf den Sender Gleiwitz erfahren, vermitteln zwei Protagonisten, Andrzej Jarczewski und Dawid Smolorz, der „Schließer“ und der Historiker. Jarczewski wird zunächst ausführlich vorgestellt, als beseelter Verwalter und Hüter der Geschichte des Senders Gleiwitz. So kommt es, dass man – auch wenn man sich für historische Details nicht brennend interessiert – verstehen möchte: Was ist es, das diesen Jarczewski so fesselt? Die Figuren lassen sich jeweils paarweise gruppieren. Sie decken alle Lebensalter ab, sind polnisch oder deutsch gesinnt, sind wissend oder unwissend. Der Autor kennzeichnet sie als Haupt- oder Nebenfiguren durch die Zahl ihrer Attribute. Die Tabelle zeigt, wie Jarczewski und Smolorz die Geschichte tragen und weitertreiben, während die anderen acht Figuren einzelne Aspekte illustrieren, etwa was denkt und weiß die Jugend (Szymon und Julia), der Überfall von 1939 (Honiok und Heydrich), Fußballvereine als Spiegel der Geschichte (gekrönt mit dem Auftritt von Podolski und der Oma), Versöhnung zwischen Deutschen und Polen (Kardinal Marx und Erzbischof Gadecki). Das Drehbuch zum Text Der Text von Jan Sternberg ließe sich ohne große Mühe zu einem Drehbuch umschreiben. Tipps „Achtung! Hier ist Gleiwitz!“ Die Personen und ihr Auftreten in den Absätzen des Textes von Jan Sternberg Absatz Protagonisten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Wo steckt die Geschichte zum historischen Datum – und wo eher nicht? Elf Fragen, die Wege zeigen: Experte: Andrzej Jarczewski, 64 Jahre, „Schließer“ und Hüter des Museums Experte: Dawid Smolorz, 43 Jahre, Historiker, „deutsch gesinnt“ Für welche Personen oder Personengruppen ist das Datum, sein Ort oder ein Gegenstand emotional bedeutsam? Gibt es Menschen, die ihr Leben oder ihre Freizeit der Forschung oder Vermittlung rund um das Datum verschrieben haben? Junger Mann: Szymon, 23 Jahre Jugendliche: Julia, Schülerin Historische Person: Franz Honiok, oberschlesischer Guerillakämpfer, erster Toter des 2. Weltkrieges Historische Person: Reinhard Heydrich (1904–1942), SS-Sicherheitschef Prominente Gleiwitzer: Lukas Podolski, deutscher Fußball-Nationalspieler, 29 Jahre, und seine Oma Wer hat gehandelt, wer war Täter, wer Opfer? Gibt es noch Angehörige? Geistliche Oberhäupter: Reinhard Kardinal Marx, 61 Jahre, Erzbischof Stanislaw Gadecki, 65 Jahre Er schafft Bilder und in den Bildern Bewegung. Auf ein Detail (Mikrofon) folgen Nahaufnahme (Mini-Porträt Jarczewski) und Halbtotale (Schülergruppe im Museum), dann eine Totale. Sie zeigte die Landschaft, den Sendemast und den Park. Zoom auf den 23-jährigen Szymon. Es geht weiter mit einer Rückblende in die Geschichte Oberschlesiens. (Die drei Rückblenden in die Historie verteilen sich auf die Absätze 1, 5 und 9.) Schwenks über die Stadt zeigen ihre Entwicklung im globalisierten Europa: Autobahnen, Schnellstraßen, Fabrikbauten, Mehrzweckhalle. Und zwischendurch immer wieder Figuren und Gesichter. man meint, jetzt habe man verstanden und könne den Rest des Textes vielleicht genauso gut überfliegen. Sternberg setzt einen neuen Lesereiz organisch hinter die oberschlesische Fußball-Vereins-Landschaft. Podolskis Oma ist Fußballkennern ebenfalls bekannt, man weiß, es gibt sie, Poldi fährt sie regelmäßig besuchen und sie – redet nicht mit Reportern. Das, womit man etwas verbinden kann, kann man sich merken. Wer bislang nur wusste: Podolski und Klose sind unsere polnischen Nationalspieler, weiß jetzt: Podolski kommt aus Gliwice, der Stadt mit dem Sender und dem Überfall. Gliwice bekommt ein Gesicht und der Fußballfreund ein neues Bild. Die Leser mitnehmen und dranhalten Andrzej Jarczewski ist der Typ von Museumsmensch, den man nicht schnell vergisst. Jan Sternberg gibt ihm den Raum, den der Leser braucht, um den Subtext aufzunehmen: Wie wunderbar, dass es diese Leute gibt, die Geschichte und Geschichten lebendig halten. Wer von historischen Zusammenhängen erzählen will, braucht Mittelsleute. Und die müssen spürbar werden, als Menschen, nicht nur als Experten. Wenn sie emotional spürbar werden, kann es geschehen, dass die Erinnerung der Leserin aufflackert, „so einen kenn ich auch, der Mann im Geburtshaus von Andreas Hofer im Passeiertal, der war genauso!“. Dann verbindet sie ihre Erfahrung mit der Geschichte von Jan Sternberg und die Lektüre wird zum Leseerlebnis. Das ist das Me-too-Prinzip, es löst ein Das-hab-ich-auch-schon-erlebt-Gefühl aus. Das Kenn-ich-Prinzip funktioniert genauso. Ziemlich viele Leser verbinden etwas oder etwas mehr mit dem Namen Lukas Podolski. Der frischgebackene Fußballweltmeister tritt auf nach der Hälfte des Textes, genau dann, wenn Der Story-Check Erzählt der Text eine Geschichte? Hat er Anfang, Mitte und Ende, dazwischen einen Zusammenhang? Er hat. Der Autor zeigt eine Entwicklung. Er spannt den Bogen vom fingierten Überfall 1939 am Vorabend des 2. Weltkriegs und endet mit einer gemeinsamen Gedenkfeier von Polen und Deutschen 2014. Dazwischen werden Aspekte des deutsch-polnischen Befindens verhandelt. Es geht um die beschränkten historischen Kenntnisse junger Leute, um das Selbstverständnis oberschlesischer „Einheimischer“ gegenüber „polnisch gesinnten“ Vertriebenen aus Ostgalizien, um den Niederschlag der Geschichte auf die Wimpel der Fußballvereine und die Entwicklung der Stadt Gliwice. Hat der Text Held, Ort und Handlung, wie man das von einer anständigen Geschichte erwarten darf? Die Helden – oder Hauptfiguren: Jarczewski und Smolorz. Sie bringen die Handlung voran. Die Handlung? Eine Ortserkundung rund um Gliwice. Der Ort des Geschehens: Gliwice mit dem Vorort Sosnica. Alles da. Sind die Kategorien „Täter“ und „Opfer“ eindeutig? Wer hat eine andere Perspektive auf das Geschehen? Für wen hat das Datum keine Bedeutung – und worüber sagt das etwas aus? Gibt es im Zusammenhang mit dem Datum einen speziellen Ort oder mehrere? Lässt sich ein Auslöser finden, ein Wendepunkt, ab dem das historische Geschehen einen dramatischen Verlauf nimmt? Eignet sich der Wendepunkt für den Einstieg oder sind die Zusammenhänge zu komplex? Wo gibt es überraschende, unbekannte Details zu dem historischen Datum? Kann man von einem zentralen Gegenstand erzählen, den Gegenstand zeigen? Was wurde zu dem Datum schon (zu) häufig gemacht/geschrieben? Persönliches Exemplar für: [email protected] Idee 5 | Wie gutes Storytelling entsteht medium magazin #10/2014 | iW | 22 3. Das Making-of Was kann man machen in dieser kurzen Zeit? Wie Jan Sternberg den Tag in Gleiwitz nutzt und von drei Punkten aus seinen Text entwickelt. Erstaunlich – dieses Mikrofon ist nicht das Original, das ist ja sicher auch dort deklariert – und trotzdem hat es so eine Aura. Die beschreiben Sie, ohne das Wort „Aura“ zu verwenden. (lacht) Aura ist ja der Fachbegriff des Museums. Die hat es, obwohl es nicht das Original ist. Das Mikrofon ist der einzige Gegenstand, den man so oder so ähnlich in einem heutigen Radiosender finden könnte. Ansonsten gibt es im Sender Gleiwitz noch große Schaltschränke, einen holzgetäfelten Lautsprecher, ein Schaltpult aus Bakelit. Und einen Stab, mit dem man die Schrauben am Turm nachziehen muss. Alles das ist von unserer Technik sehr weit entfernt. Deshalb ist das Mikrofon so zentral. Das war eine sehr kurzfristige Aktion. Die „Hannoversche Allgemeine“ wollte etwas zu diesem Jahrestag bringen – eine andere Geschichte ist geplatzt – und sie haben bei mir in Berlin im Hauptstadtbüro angerufen. Das war an einem Dienstag, Mittwochnacht bin ich losgefahren, die Geschichte erschien dann schon am Samstag. Wir verabredeten das Thema Gleiwitz damals – Gliwice heute, und der Ausgangspunkt war dieser inszenierte Überfall. Dem Sie aber nur eineinhalb Absätze widmen, ansonsten geht es um die Menschen heute, ihre Stadt und ihre Region. Um Schlesien, um Fußballvereine ... Was ich über Gleiwitz/Gliwice wusste und was vielleicht auch ein Leser weiß, sind drei Punkte: Da gibt es diesen Sender. Es ist eine moderne Industriestadt mit einem Opelwerk, der es gar nicht so schlecht geht. Der Fußballspieler Lukas Podolski ist dort geboren, und da lebt noch seine Oma. Das waren meine drei Ausgangspunkte. Diese und einige mehr wollte ich für die Geschichte miteinander verbinden und abgleichen. Hatten Sie eine bestimmte Fragestellung mitgenommen? Ich wollte wissen: Wie verfährt so eine Stadt mit der Vergangenheit, die wenig bis nichts mit der heutigen Stadt zu tun hat, aber deren Name wegen dieses Überfalls mit dem Kriegsbeginn 1939 verknüpft ist? Die Schüler zeigen genauso viel Respekt vor dem Mikrofon wie Sie. Haben Sie die Szene tatsächlich so erlebt? Als ich im Museum war, waren keine Schüler da. Ich habe Andrzej Jarczewski gefragt, wie die Leute eigentlich mit dem Mikro umgehen – und er ist aufgeblüht! Das war ein Glücksfall. Er hat das genau so erzählt. Und so hab ich es rekonstruiert. Sie haben die drei Punkte miteinander verbunden und ein Guckbild mit Vordergrund und Hintergrund geschaffen. Ich hab mir überlegt: Was kann man machen, in dieser kurzen Zeit? Guck ich mir das Opelwerk an? Ich habe mich dagegen entschieden, es hätte zu weit weggeführt. Hätte ich mehr Zeit gehabt, hätte ich vielleicht Zeitzeugen oder deren Nachfahren getroffen. Warum sind Sie jetzt gerade nach Gleiwitz gefahren? Ihr Ausgangsort ist der Sender, Sie machen eine Rundfahrt durch die Stadt, streifen Oma Podolskas Haus und den Marktplatz und kehren – jedenfalls gedanklich – zum Sender zurück. Warum sind Sie dieser Route gefolgt? Man hätte das sicher auch anders machen können. Ich hätte am Marktplatz beginnen können, ich hätte beschreiben können, wie sich der Sendemast in der Stadt überall wiederfindet. Wir hätten auch noch weiterfahren können zu den ehemaligen Grenzhäuschen zehn Kilometer außerhalb. Aber ich wollte in der Stadt bleiben. Wie entsteht aus Ihren Eindrücken, den Zitaten und Informationen die Form des Textes? Ich fang erst mal mit irgendwas an. Das ist die Angst vorm leeren Blatt (lacht). Ich schreibe eine Szene, von der ich finde, dass sie irgendwo reingehört. Vielleicht ist es später der Einstieg, vielleicht nicht. Hauptsache, es gibt erst einmal einen Absatz. Darunter mache ich ein paar Stichpunkte, was auf jeden Fall reinkommen muss, idealerweise auch in dieser Reihenfolge, also zum Beispiel Jarczewski, Honiok, Smolorz, Schlesien, Putin und so weiter. Und dann schreiben Sie es genauso auf? Wenn es gut läuft, gucke ich im Schreibfluss gar nicht mehr danach. Zwischendrin gleiche ich ab, ob ich das drin habe und lösche es unten weg. Ich mache einen Plan, aber ich fange nicht wirklich mit dem Plan an, sondern mit einer Szene und überlege dann, wie ich alles verbinde. Was ist der Text für ein Genre? Ich hab keine Ahnung! Schon im Volontariat wurde mir oft gesagt: Du kannst kein sauberes Genre schreiben. Es ist keine Reportage, dafür ist zu viel Hintergrund drin, es ist kein Stadtporträt, dafür ist es zu viel Geschichte und die wiederum zu lückenhaft, eine historische Reportage ist es schon gar nicht, weil der Überfall kaum rekapituliert wird. Es ist eine klassische Mischform! Das scheint Sie nicht zu bekümmern. Mir geht es so: Wenn ich Texte lese, von denen ich finde, sie sind eins zu eins nach Lehrbuch geschrieben, steige ich einfach aus. Die schließen einen Bogen, weil sie denken, sie müssen einen Bogen schließen. Ich finde oft, es ist nicht nötig, irgendwohin zurückzukommen. FOTO: ERIC WAHA Herr Sternberg, wann fiel Ihre Entscheidung, das Mikrofon so prominent zu platzieren? Jan Sternberg: Dies war mein zweiter Besuch in Gleiwitz, ich war privat schon einmal dagewesen. Schon bei meinem ersten Besuch ist mir aufgefallen, dass es der zentrale Gegenstand im Sender ist. Schon bei dem Überfall 1939 mussten die SS-Männer danach suchen und konnten nicht richtig damit umgehen. Später war es verschwunden, und man hat ein baugleiches Mikrofon besorgt. Ich hatte eine gewisse Scheu, das Mikrofon in die Hand zu nehmen oder etwas hineinzusprechen. Deshalb fragte ich mich: Wie gehen eigentlich andere Besucher mit diesem Mikrofon um? In Ihrem Gleiwitz-Stück kommen Sie allerdings auf das Radio zurück. Wenngleich es am Schluss in Bezug zu Facebook steht. Andrzej Jarczewski kam darauf zu sprechen. Er brachte von sich aus die Sprache auf das Thema Propagandakrieg damals und heute, das trieb ihn um. Er sieht da eine Parallele. Die Nazis sagten, wir in- szenieren den Überfall im Radio. Das war damals das moderne Medium. Und das moderne Medium für Propaganda heute ist Facebook. Das hat mir eingeleuchtet. Das Gespräch führte Marie Lampert. Marie Lampert ist freie Journalistin und Trainerin, leitet den ABZV-Onlinedienst storytelling.abzv.de. Sie hat Diplompsychologie und Germanistik studiert. [email protected] Jan Philipp Sternberg arbeitet als Reporter im Hauptstadtbüro der Mediengruppe Madsack in Berlin. Der Hamburger (Jahrgang 1974) ist promovierter Historiker und seit seinem Volontariat bei der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ in Potsdam meistens in Ostdeutschland auf der Suche nach Geschichten unterwegs. Nach Gliwice musste er den Nachtbus nehmen – und empfiehlt ihn nicht weiter.