PS Lexikologie - Simone Heinold
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PS Lexikologie - Simone Heinold
PS Lexikologie Sitzung 5: ● Neologismen ● Sprachkontakt & Bilingualismus ● Fremdwörter, Lehnwörter & Co. Sitzung 5 1 PS Lexikologie Bisher: Neologismen sind Wörter, die neu in eine Sprechergemeinschaft aufgenommen werden. Durch welche Verfahren können neue Wörter entstehen? ( Meibauer et al. 2007, 32-40) Morphologische Wortbildung (Derivation, Komposition): Zur-schaustell-ung, Um-nacht-ung, Haus-boot, Ver-walt-ungs-ge-bäu(d)-e ● Nicht-morphologische Wortbildungsverfahren (Analogie, Akronym, Kürzung): sit, Hausmann, Bafög, Bus, Prof ● ● Urschöpfung: Urmel, Schnatz, Wookie Entlehnung aus einer anderen Sprache: Trottoir, en vogue, Latte, Computer, Design. Was jedoch zählt alles als Entlehnung? ● Sitzung 5 2 Aufgabe Welche Ausdrücke in den folgenden Sätzen würden Sie als Entlehnungen klassifizieren? Warum? 1. In 2013 hat Daimler im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von 3 Prozent erwirtschaftet, wie der Vorstandschef auf der Pressekonferenz mitteilte. 2. Spaghetti mit Tomatensoße und Käse anrichten und heiß servieren! 3. Müller dribbelt und schießt.... Toooor! Tor! Ein Traumtor! Was für ein Fußballspieler! 4. Unser Hotel verfügt über einen großen Wellness-Bereich mit Sauna und Pool. Sitzung 5 3 Aufgabe Welche Ausdrücke in den folgenden Sätzen würden Sie als Entlehnungen klassifizieren? Warum? 1. In 2013 (engl.) hat Daimler im Vergleich zum Vorjahr ein Plus (lat.) von 3 Prozent (lat.) erwirtschaftet, wie der Vorstandschef (frz. <lat.) auf der Presse (frz.< ital. < lat.)konferenz (lat.) mitteilte. 2. Spaghetti (ital. < lat.) mit Tomaten (span. < atztek.) soße (sauce frz. < lat.) und Käse anrichten und heiß servieren! 3. Müller dribbelt (engl.) und schießt.... Toooor! Tor! Ein Traumtor! Was für ein [Fußball (frz. < altfränk.) (Lehnübersetzung aus engl. football)]spieler! 4. Unser Hotel (frz.) verfügt über einen großen Wellness (engl.)-Bereich mit Sauna (fin.) und Pool (engl.). Sitzung 5 4 Sprachkontakt In dieser Sitzung beschäftigen wir uns mit lexikalischem Material, das aus anderen Sprachen Eingang ins Deutsche gefunden hat. ● Entlehnungsprozesse werden von außersprachlichen Bedingungen eingeleitet, in denen Sprachen in Kontakt miteinander treten. ● Speziell der Wortschatz ist anfällig für Veränderungen (lexikalische Entlehnung); nicht so sehr die Morphologie & die Syntax (strukturelle Entlehnung). ● Sprachkontakt heute durch: gesellschaftlichen & individuellen Bilingualismus (Schweiz: D, F, I), Diglossie (Schweiz: Standarddeutsch vs. Schweizerdeutsch). ● Sitzung 5 5 Sprachkontakt Sprachkontaktsituationen können auch durch Völkerwanderungen, Kriege oder – wie heutzutage – die Globalisierung der Gesellschaft entstehen (Englisch als Lingua Franca siehe hierzu ZEIT-Artikel). ● Die Interferenzen zwischen Kontaktsprachen können einseitig oder wechselseitig sein. ● Bei Einseitigkeit besteht meist eine soziale oder linguistische Dominanz einer Sprache. Hierbei findet eine Entlehnung von der sozial dominierenden Sprache in die andere Sprache statt. ● Bei wechselseitigem Kontakt besteht eine stabile Zweisprachigkeit, in der beide Sprachen unterschiedlichen Domänen zugeordnet sind. ● Heutzutage spielt der individuelle Bilingualismus eine große Rolle für die Etablierung von fremdsprachlichem Material in der Muttersprache. ● Sitzung 5 6 Typen von Entlehnungen Es gibt verschiedene Arten der Entlehnung: → Lehnwort, Fremdwort, Lehnübersetzung, Lehnübertragung, Lehnbedeutung. ● Bei all diesen Phänomenen handelt es sich um Wörter, die von einer größeren Sprechergruppe (der Norm) längerfristig aufgenommen und mehr oder weniger in die neue Sprache integriert werden. ● Demgegenüber steht das Code-mixing bzw. switching. Dieses ist eine spielerische, unbewusste oder demonstrative Entlehnung, die nicht in die andere Sprache integriert ist. Sie ist individuell, nichtpermanent und wird oft durch Trigger Wörter ausgelöst. (Görlach, 1991) ● Sitzung 5 7 Typen von Entlehnungen Ein Beispiel für Code-mixing Türkisch-Deutsch aus Dirim/Auer 2004. Türkisch sprechen nicht nur die Türken. Berlin: de Gruyter: ● F: çarşiya gidelim mi? (Wollen wir in die Stadt gehen?) L: evet, wie viel Uhr denn? (ja) F: um drei saat üçte tamam mi? (Um drei Uhr, ok?) L: ja könn wir machen olur. (ist gut) Ein Beispiel Englisch-Deutsch Code-switching aus Clyne 1967 mit TriggerWort: ● Sie geht zuerst aufs College and then back home. Sitzung 5 8 Typen von Entlehnungen Lehnwort und Fremdwort sind beide Wörter aus einer fremden Sprache, unterscheiden sich aber im Grad ihrer Anpassung an das neue Sprachsystem (Braun 1979). ● Fremdwörter sind nur teilweise oder gar nicht in das neue Sprachsystem integriert, was phonologische, graphische und grammatische Eigenschaften anbelangt. ● a. Trottoir – das Graphem -oi- existiert nicht im Deutschen; wenn, dann Aussprache [oi], nicht [wa], z.B. Ahoi! b. Plural von Trottoir ist Trottoirs; Plural -s als klassischer Marker für (Pseudo)Fremdwörter: Autos, Handys, Downloads, E-Mails, Caipirinhas, Torreros, Martinis Sitzung 5 9 Typen von Entlehnungen (Braun 1979) Lehnwörter sind, vor allem was die Flexion anbelangt, mehr in die neue Sprache integriert: Toilette – die Toiletten (auch Aussprache eher 'deutsch' [o:] oder [ɔɪ] statt [wa]. ● Lehnwörter können auch für Kompositionen benutzt werden: Erdnussflips, Popsänger, Hobbygärtner, Opernfestival ● Es gibt Wörter, die aussehen wie Entlehnungen, sind aber keine (ziemlich viele davon “englisch” → Pseudoanglizismen): ● Handy, Happy End, trampen, Oldtimer Sitzung 5 10 Typen von Entlehnungen (Braun 1979) Lehnübersetzung: ein (komplexer) Begriff, der in seinen Einzelteilen in die neue Sprache übersetzt wurde → Großmutter, Großvater übersetzt aus Frz. Grande-mère, grand-père; Geburtenkontrolle (Engl. birth control). ● Lehnübertragung: ein nur halb- oder annähernd übersetzter Begriff. → Unterhaltungsgeschäft – show business, Titelgeschichte – cover story. ● Lehnbedeutung: schneiden → jemanden ignorieren (Engl. To cut sb) ● Sitzung 5 11 AUFGABE Was glauben Sie? Welche Entlehnungs- oder InterferenzProzesse liegen hier vor? Aus welcher Sprache kommen die Wörter? ● a. Mannequin b. Gag c. Karotte d. Familienplanung e. das macht keinen Sinn f. Kusine g. Minze Sitzung 5 12 AUFGABE a. Mannequin – Fremdwort, französisch b. Gag - Pseudo-Anglizismus c. Karotte – Lehnwort, romanischen bzw. griechischen Ursprungs, aber über das Niederländische ins Deutsche gekommen (16.Jh) d. Familienplanung – family planning, Lehnübersetzung e. das macht keinen Sinn – that does not make sense, Lehnübersetzung f. Kusine (neue RS) – Lehnwort, Pl: Kusinen, Alte RS: Cousine, Französisch, 16.-18.Jh g. Minze – menta, Latein, 6.Jh, weist Spuren der 2. Lautverschiebung auf, Lehnwort. Sitzung 5 13 Neuere Einflüsse im deutschen Wortschatz Der massive Einfluss des Englischen besteht schon seit ca. Mitte des 20. Jh. Schon 1968 wurden durchschnittlich 4 Amerikanismen pro Seite in deutschen Zeitungen gezählt (Carstensen/Broder 1979). ● ● Busse 2008 unterscheidet folgende Perioden: 1. Bis zum 1. Weltkrieg: amerikanischer Einfluss erstmals spürbar 2. Nach dem 1. Weltkrieg: zahlenmäßiger Rückgang Anglizismen 3. Nach 1945, besonders ab 1960: "ungehemmter und stetig steigender Zustrom" (S. 39). 4. Seit den 90ern: weitere Intensivierung → Gründe: Dominanz der USA in Wirtschaft, Technik, Kultur; Englisch als Lingua Franca. "Sprachlicher Motor der Globalisierung" (Haarmann 2002, 153). Sitzung 5 14 Neuere Einflüsse im deutschen Wortschatz Der Gebrauch von Anglizismen im Deutschen wurde von Altleitner 2006 untersucht. Folgende Textsorten weisen eine besonders hohe Frequenz von Anglizismen auf: Pressetexte, Fernsehen, Werbung, Veranstaltungen/Ankündigungen. ● Interessant: hohes Bildungsniveau der Adressaten ≠ mehr Anglizismen?; im Gegenteil! ● Es scheint, dass die neuen Anglizismen in der 2. Hälfte des 20. JH mit schon früher eingeführtem französischem Wortmaterial konkurrieren (Burger 1979). ● In manchen Fällen ersetzt das Englische das Französische Wort: Mannequin → Model, Tendenz → Trend, en vogue → in ● Sitzung 5 15 Neuere Einflüsse im deutschen Wortschatz Französische Lehnwörter bestehen weiter, werden aber als altmodisch betrachtet und spielen nur in historischen Kontexten eine Rolle: Baby vs. Bébé, Playboy vs. Bonvivant, High Society vs. Hautevolée. ● Englische und Französische Lehnwörter können koexistieren, haben dann aber nicht dieselbe Bedeutung: Chanson vs. Song, Chef vs. Boss. ● Heutzutage sind Anglizismen allgegenwärtig, v.a. in den Bereichen Informationstechnik (downloaden, E-Mail, Browser, klicken), Wirtschaft/Gesellschaft (Banking, Outsourcing, Facility Manager), Sport/Freizeit (Doping, Freeclimben, Raften, Kick) ● Sitzung 5 16 Experiment ● Ein Experiment zum Thema Internet/Computer: Beantworten Sie die folgenden Fragen zu jedem der gefragten Wörter: 1- Welche Schreibweisen kennen Sie für das folgende Wort? 2- Welcher lexikalischen Kategorie gehört das Wort an? 3- Wenn Nomen: Welchen Artikel benutzen Sie mit folgendem Wort? 4- Erklären Sie folgendes Wort (Paraphrase). 5- Können Sie andere Wörter des deutschen Wortschatzes aus diesem Wort formen/ableiten? 6- Benutzen Sie dieses Wort aktiv? Sitzung 5 17 Experiment 1- Welche Schreibweisen kennen Sie für das folgende Wort? 2- Welcher lexikalischen Kategorie gehört das Wort an? 3- Wenn Nomen: Welchen Artikel benutzen Sie mit folgendem Wort? 4- Erklären Sie folgendes Wort (Paraphrase). 5- Können Sie andere Wörter des deutschen Wortschatzes aus diesem Wort formen/ableiten? 6- Benutzen Sie dieses Wort aktiv? Die Wörter sind: A. ['imeil], B. ['daʊnləʊd], C. ['ɔnlain], D. [spɛm], E. ['braʊzɐ] Sitzung 5 18 Experiment Ein ähnliches Mini-Experiment wurde schon im Jahr 2003 mit TN unterschiedlicher Altersklassen durchgeführt. ● Die TN der einen Altersgruppe bewegten sich zwischen 20-30 Jahren; die der anderen zwischen 50-65 Jahren. ● Schon damals waren fast alle Wörter allen TN passiv bekannt, auch denen der älteren Gruppe, von denen einige kein Englisch sprachen. Aktiv bestanden jedoch bei der Erklärung von z.B. online (Wortart und Bedeutung) und v.a. Browser (Bedeutung) Probleme. ● Bei den Schreibweisen und Artikeln bestanden v.a. beim Wort EMail Schwierigkeiten: die vs. das; I-Mail, E-Mail, E-mail, i-mail, Email. ● Sitzung 5 19 Integration Englischen Wortguts (Yang 1990) Bei englischen Entlehnungen bestehen am Anfang oft Unsicherheiten in Bezug auf Schreibweise und Flexion. Doch auch hier schient es Regelmäßigkeiten zu geben (Yang 1990). ● Artikel: Meist wird ein Artikel gewählt, der von einer dem entlehnten Begriff nahekommenden lexikalischen Entsprechung oder vom natürlichen Geschlecht übernommen wird. ● Der Airport – der Flughafen; das Business – das Geschäft; die Lobby – die Empfangshalle; der Playboy; die Queen Plural: 1. keine Pluralform: Apeal, Brainstorming; 2. -s: Airlines, Crews; 3. deutsche Pluralmorpheme: Stewardessen, Kidnapper, Bosse. ● Sitzung 5 20 Integration Englischen Wortguts (Yang 1990) Deklination: Wenn keine phonologischen Erinschränkungen, dann wie im Deutschen. Der Code, des Codes, dem Code, den Code, etc. ● Konjugation: deutsche schwache Konjugation. rocken – ich rocke, du rockst, er rockt, wir rocken.... ● Schreibweisen: es gibt 1:1 erhaltene englische Formen, aber auch der deutschen Schreibweise angeglichene Formen (Disco-Disko, Clan-Klan). Oft spielt Groß-/Kleinschreibung eine Rolle. Seit der neuen Rechtschreibung von 2006 wird versucht, vermehrt angepasste Formen zu integrieren. ● Sitzung 5 21 Zusammenfassung Fazit: Der Wortschatz ist die anfälligste Komponente der Sprache für Veränderung. Diese Veränderung kann innerhalb der Sprache selbst stattfinden (Lautwandel, Wortbildung) oder von außerhalb einwirken (Entlehnung aus anderen Sprachen in Sprachkontaktsituationen). ● Durch die Internationalisierung unserer Gesellschaft und den immer häufiger auftretenden Bi- oder Multilingualismus von Individuen finden immer mehr (vor allem Englische) Fremd- bzw. Lehnwörter Eingang in die deutsche Sprache. ● Vorschlag für ein Hausarbeitsthema: Die Neologismen in der Datenbank OWID nach Herkunft bzw. Bildungsverfahren der Neologismen klassifizieren. Statistik, Erklärungen, sozialer Hintergrund. ● Sitzung 5 22 Nächste Sitzung ● Nächste Sitzung: - Internetfähige Notebooks mitbringen! - Wer will: Anmelden bei COSMAS IIweb am IDS, Mannheim (verlinkt auf meiner Internetseite unter Seminare > Corpora Sitzung 5 23 Literatur Altleitner, Margret. 2007. Der Wellness- Effekt. Frankfurt am Main: Lang. ● Braun, Peter (ed). 1979. Fremdwort-Diskussion. München: Fink ● Burger, Antje. 1979. "Die Konkurrenz englischer und französischer Fremdwörter in der modernen deutschen Pressesprache." In: Braun, ed. (1979), 246-272. ● Busse, Ulrich. 2008. "Angliszismen im Deutschen". In: Moraldo, Sandro (ed.): Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit. Heidelberg: Winter. ● Carstensen, Broder. 1979. ”Evidente und latente Einflüsse des Englischen auf das Deutsche”, in: Braun, ed. (1979), 90-94. ● Clyne, Michael. 1967. Transference and triggering. The Hague: Nijhoff. ● Dirim/Auer. 2004. Türkisch sprechen nicht nur die Türken. De Gruyter. ● Haarmann, Harald. 2002. "Englisch, Network Society und europäische Identität." In: Rudolf Hoberg (ed.): Deutsch-Englisch-Europäisch: Impulse für eine neue Sprachpolitik. Mannheim. 152-170. ● Meibauer et al. 2007. Einführung in die Germanistische Lingusitik. Stuttgart: Metzler. ● Yang, Wenliang. Anglizismen im Deutschen. Tübingen: Niemeyer. ● Sitzung 5 24