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Universiteit Gent
Academiejaar 2007-2008
„Es ist mir, als wenn ich nur halb lebte“
Auf der Suche nach dem „Unheimlichen“
in Gotthelfs Die schwarze Spinne und Hauffs Das kalte Herz
Promotor: Prof. Dr. Benjamin Biebuyck
Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het behalen van de graad van
Master in de Taal- en Letterkunde:
Duits-Engels
door
Bram Van Dosselaer
Vorwort
Ich möchte mich an dieser Stelle bei meinem Betreuer, Prof. Dr. Benjamin Biebuyck,
für seine Richtlinien und seinen Ratschlag, seine Hilfe bei der Literatursuche und
Antwort auf alle meine Fragen, herzlich bedanken, weil er mich auf diese Weise bei
meiner Arbeit begleitet hat. Auch Dr. Uta Schaffers möchte ich in Bezug auf die Suche
nach Sekundärliteratur danken. Weiter danke ich meinen Verwandten und Freunden, da
sie in dieser Periode auf gemeinsame Zeit verzichtet haben.
Inhalt
Vorwort
0. Einleitung
1
1. Das Unheimliche
4
1.1. Freud: die unheimlichen Phänomene
4
1.2. Todorov: das Unheimliche und das Fantastische
7
1.3. Louis Vax: die unheimliche Erfahrung
8
1.4. Von der Thüsen: das Unheimliche und das Sublime
10
1.4.1. Definition des Unheimlichen
10
1.4.2. Kontrast zum Sublimen
12
1.5. Van Gorp: das Unheimliche in dem Schauerroman
13
2. Die Rolle der Gattung
16
3. Das Unheimliche in Die schwarze Spinne und Das kalte Herz
19
3.1. Die Sehnsucht nach den Anfängen
19
3.2. Aberglauben, Animismus und die reale Welt
24
3.3. Wahrnehmungen der Charaktere: böse Absichten
34
3.3.1. Hans von Stoffeln
34
3.3.2. Der Grüne
35
3.3.3. Christine
36
3.3.4. Der Holländer-Michel
37
3.3.5. Peter Munck
41
3.3.6. Das Glasmännlein
43
3.4. Angst vor dem Tod
49
4. Das Schaffen einer unheimlichen Atmosphäre
54
5. Schlussfolgerung
62
6. Bibliografie
65
0. Einleitung
In vorliegender Masterarbeit möchte ich untersuchen was unter dem Phänomen
des „Unheimlichen“ verstanden wird und welche Merkmale eine Erzählung enthalten
soll, bevor sie als „unheimlich“ bezeichnet werden kann. Das Wort „unheimlich“ ist ein
aus einer ganzen Reihe von Adjektiven, mit denen den Charakter einer Erzählung
bestimmt werden kann, aber was versteht man eigentlich unter dem Begriff? Wie sieht
es aus mit Unheimlichkeit innerhalb des Bereichs der Literatur? Kommen für das
„Unheimliche“ alle Literaturgattungen in Frage und soll man bei der Wahrnehmung
dieses Phänomen von der Sicht des Lesers oder der Figuren in der Erzählung ausgehen?
Obenstehende Fragen werden auf der Suche nach dem „Unheimlichen“ noch weiter
spezifiziert und hoffe ich am Ende dieser Arbeit mit einer passenden Antwort zu
versehen.
Im Hinblick auf die Beziehung zwischen Unheimlichkeit und Literatur hat
Sigmund Freud mit „Das Unheimliche“ (1919) einen wichtigen Beitrag geliefert. In
diesem Aufsatz macht der berühmte Wiener Psychoanalytiker einen Unterschied
zwischen mehreren unheimlichen Phänomenen und stützt diesen auf Beispiele aus der
Literatur. Hierbei erwähnt Freud, dass Ernst Jentsch in Über die Psychologie des
Unheimlichen (1906) ihn „an einen Dichter mahnt, dem die Erzeugung unheimlicher
Wirkungen so gut wie keinem anderen gelungen ist“.1 Jentsch bespricht in seinem Werk
den Romantiker E.T.A. Hoffmann und seine Nachtstücke (1817), in denen Freud Belege
für seine Theorie über unheimliche Phänomene findet. Ich werde untersuchen, ob solche
unheimliche Phänomene in anderen Werken der Literatur zu unterscheiden sind, sodass
auch diese Werke als „unheimlich“ charakterisiert werden können. Für meine
Untersuchung werde ich mich mit Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz (1827) und
mit Jeremias Gotthelfs Sage Die schwarze Spinne (1842) auseinandersetzen. Ich habe
diese Werke ausgewählt, da sie, ebenso wie die Werke, auf die Freud sich für seinen
Aufsatz gestützt hat, aus dem 19. Jahrhundert stammen. Sind bei Schriftstellern aus
demselben Zeitalter ähnliche unheimliche Phänomene feststellen? Darüber hinaus
vertreten die beiden Texte eine jeweils andere Gattung und weisen daher
unterschiedliche Merkmale auf. Für Freud gilt, dass in einem Märchen, im Gegensatz zu
1
Freud, Sigmund: Werke aus den Jahren 1917-1920. Frankfurt am Main: Fischer, 1966. S. 238
1
der Sage, bei dem Märchen nahezu nichts Unheimliches passieren kann. Hier ist die
Beziehung des Unheimlichen zum Fantastischen von Bedeutung. Freud behauptet, „daß
es nämlich oft und leicht unheimlich wirkt, wenn die Grenze zwischen Phantasie und
Wirklichkeit verwischt wird“.2 Das ist für bestimmte Literaturgattungen wie das
Märchen, und so für Hauffs Das kalte Herz, aber nicht der Fall. Freuds Definition
zufolge lässt das Märchen die reale Welt hinter sich:
Das Märchen stellt sich überhaupt ganz offen auf den animistischen Standpunkt
der Allmacht von Gedanken und Wünschen, und ich wüßte doch kein echtes
Märchen zu nennen, in dem irgend etwas Unheimliches vorkäme.3
Der Animismus ist eine alte Weltauffassung, die unter anderem durch Menschengeister
gekennzeichnet wird, und wo diese nicht als etwas Außergewöhnliches betrachtet
werden (mehr dazu unter Punkt 1.1.). Dass ein Text einer bestimmten Gattung
zuzuordnen ist, bedeutet aber nicht, dass er keine Merkmale anderer Genres aufweisen
kann. So werde ich in dieser Masterarbeit zugleich der Frage nachgehen, ob auch bei
einer „weniger“ in Betracht gezogenen Gattung von „Unheimlichkeit“ die Rede sein
kann.
Zuerst lässt sich jedoch folgende Frage stellen: Was versteht man nun eigentlich
unter dem Wort „unheimlich“? Wenn man das Adjektiv im Duden nachschlägt,
bekommt man die folgende Bedeutung: „ein unbestimmtes Gefühl der Angst, des
Grauens hervorrufend“.4 Duden führt „eine unheimliche Gestalt“ und „eine unheimliche
Geschichte“ als die ersten zwei Beispiele an. Eine erste Definition lehrt uns, dass es sich
bei dem Wort „unheimlich“ um das Hervorrufen von Angst handelt. Die Definition
genügt auf einer literaturwissenschaftlichen Ebene trotzdem nicht, um ein Werk
wirklich als „unheimlich“ bestimmen zu können. Eine Erzählung ist dann einfach
„unheimlich“, wenn sie das Gefühl des Grauens hervorbringt, dem Leser Angst einflößt.
Welche spezifische Ängste ruft das „Unheimliche“ denn bei dem Leser hervor? Ein
Blick auf die Lehre von Freud bringt uns viel weiter. In „Das Unheimliche“ verdeutlicht
Freud
die
Eigenschaft
„unheimlich“
zuerst
nach
ihrer
Bedeutung
in
der
Sprachentwicklung. Das geschieht anhand von Angaben im grimmschen Deutsches
Wörterbuch (1877):
2
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.258
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.260
4
Kunkel-Razum, Kathrin: Duden Deutsches Universalwörterbuch, 5., überarb. Aufl. Mannheim:
Dudenverlag, 2003.
3
2
Das deutsche Wort „unheimlich“ ist offenbar der Gegensatz zu heimlich,
heimisch, vertraut und der Schluß liegt nahe, es sei etwas eben darum schreckhaft,
weil es nicht bekannt und vertraut ist.5
Diese Definition ist trotzdem nicht vollständig, und das Wort „unheimlich“ braucht dem
Psychoanalytiker zufolge noch eine weitere Erklärung. Einige Definitionen helfen
offensichtlich nicht um das Wort „unheimlich“ völlig zu erklären. Eine zweite
Möglichkeit, die Freud zur Untersuchung dieses Phänomens darlegt, liegt darin,
herauszufinden, „was an Personen und Dingen, Sinneseindrücken, Erlebnissen und
Situationen das Gefühl des Unheimlichen in uns wachruft“.6 So stellt sich unter
anderem heraus, dass der Tod, und all dasjenige, was mit ihm zu tun hat, für die meisten
Menschen den höchsten Grad von Unheimlichkeit repräsentieren. Das erste Kapitel
dieser Arbeit wird den verschiedenen Phänomenen, die das spezifische, unheimliche
Gefühl in den Menschen heraufbeschwören und auf diese Weise eine weitere Erklärung
des Begriffes „unheimlich“ mit sich bringen, gewidmet.
Neben Freuds Befunden wird in dem ersten Kapitel auch auf die Auffassungen
von Todorov, Louis Vax, von der Thüsen und van Gorp Rücksicht genommen. Todorov
hilft uns bei der Frage, ob nun die Leser oder die Figuren auf der Suche nach
Unheimlichkeit die wichtigsten Beobachter sind. Vax, von der Thüsen und van Gorp
ihrerseits führen zu neueren Ansichten am Ende des 20. Jahrhunderts. Vax knüpft in
seinen „Thesen über das Phantastische“ (1998) mit der „unheimlichen Erfahrung“ an
die psychoanalytische Tradition Freuds an, während von der Thüsen und van Gorp die
unheimliche Atmosphäre in der Erzählung genauer untersuchen. Van Gorp redet In de
romantische Griezelroman (1998) von „Unheimlichkeit“ und bezeichnet sie als die
typische ängstige Atmosphäre eines Schauerromans: Der Protagonist befindet sich in
einer Welt, die ihm fremd zu sein scheint. In Het verlangen naar huivering. Over het
sublieme, het wrede en het unheimliche (1997) behandelt von der Thüsen die Bedeutung
und die Entstehungsgeschichte des Begriffes „unheimlich“, und macht einen Vergleich
mit dem Sublimen. Wo im Bereich des Sublimen das Gefühl der „Ehrfurcht“ im
Mittelpunkt steht, wird im Falle des Unheimlichen die Ehrfurcht zu Angst. Freuds
Phänomene können zwar auf das Unheimliche in Gotthelfs Die schwarze Spinne und in
Hauffs Das kalte Herz deuten, ich möchte außerdem jedoch feststellen, ob die beiden
5
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S. 231
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.231
6
3
Erzählungen die typische ängstige Atmosphäre der „Unheimlichkeit“ hervorbringen und
in diesem Sinne auch als „unheimlich“ gelten.
1. Das Unheimliche
1.1. Freud: die unheimlichen Phänomene
Im Jahr 1919 veröffentlicht Sigmund Freud seinen Aufsatz „Das Unheimliche“, in
dem über das Phänomen „unheimlich“ im Hinblick auf Literatur geredet wird. Der
Psychoanalytiker umschreibt das „Unheimliche“ als das ehemals „HeimlicheHeimische, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist“.7 Man soll
trotzdem die Tatsache berücksichtigen, dass nicht alles, was verdrängt worden ist, als
„unheimlich“ zurückkehrt. Im Hinblick auf die Definition weist Vax in seinen „Thesen
über das Phantastische“ jedoch auf die Tatsache, dass Charles Lamb (1775-1834) schon
lange behauptet hatte, was Freud in „Das Unheimliche“ verkündigt: dass unsere Ängste
„durch Eindrücke, die zurück in die Tiefe der Zeiten oder hinunter ins Unbewußte
reichen“8, und nicht durch dasjenige, was wir in diesem Augenblick erleben. Freud
widerlegt in „Das Unheimliche“ unter anderem Ernst Jentsch und seine Über die
Psychologie des Unheimlichen (1906), wo letzterer die Meinung vertritt, dass das
Unheimliche das „Nichtvertraute“9 darstellt. Weiter stützt Freud seine Definition auf
den Urromantiker Schelling: „Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im
Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“.10 Das Unheimliche wird hier
umschrieben als das Vertraute, das wieder hervortritt und nur durch Verdrängung
entfremdet worden ist. Anschließend erwähnt Freud in seinem Aufsatz unterschiedliche
Erklärungen für das Vorkommen des Unheimlichen. So verknüpft Freud zunächst
„unheimlich“
mit
„Kastrationskomplex“.
Dieser
Komplex
wird
Menschen
zugeschrieben, die Angst davor haben, die Augen zu beschädigen oder sogar
schlimmer, zu verlieren, wobei die Augen das männliche Glied symbolisieren. Als
7
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S. 259
Paul, Jean-Marie: Dimensionen des Phantastischen: Studien zu E. T. A. Hoffmann. St.
Ingbert: Röhrig, 1998. S.42
9
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S. 231
10
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.236
8
4
„unheimlich“
gelten
auch
die
Phänomene
des
Doppelgängers
und
des
Wiederholungsdrangs. Es handelt sich bei diesem Drang um die Wiederkehr von
Erlebnissen, Zahlen und Namen, die das Gefühl von Unheimlichkeit hervorruft. Solch
ein Gefühl wird von jedem anders empfunden und hängt mit Ereignissen aus der
eigenen Kinderzeit zusammen. Ein weiteres Prinzip bildet der sogenannte
„Animismus“, abgeleitet vom lateinischen Wort „Animus“, das auf Geist, Seele oder
Atem deutet. Der Animismus ist eine Weltauffassung, eine Religionsform, bei der man
an die Anwesenheit von Seelen und Geistern in der Umwelt der Menschen glaubt:
Die Analyse der Fälle des Unheimlichen hat uns zur alten Weltauffassung des
Animismus zurückgeführt, die ausgezeichnet war durch die Erfüllung der Welt
mit Menschengeistern, durch die narzißtische Überschätzung der eigenen
seelischen Vorgänge, die Allmacht der Gedanken und die darauf aufgebaute
Technik der Magie, die Zuteilung von sorgfältig abgestuften Zauberkräften an
fremde Personen und Dinge (Mana), sowie durch alle die Schöpfungen, mit denen
sich der uneingeschränkte Narzißmus jener Entwicklungsperiode gegen den
unverkennbaren Einspruch der Realität zur Wehr setzte.11
Freud glaubt, dass jeder Mensch in seiner Entwicklung eine dem Animismus
entsprechende Phase erlebt, und geht davon aus, dass bei jedem Menschen Reste solch
einer animistischen Entwicklungsphase zu finden sind. Nach Freud wird dann all
dasjenige als „unheimlich“ umschrieben, das „diese Reste animistischer Seelentätigkeit
rührt und sie zur Äußerung anregt“.12 Im Mittelpunkt steht ein uneingeschränkter,
überzogener Narzissmus, der sich über die Realität stellt. Ein anderer Fall des
Unheimlichen ist zu unterscheiden, wenn Menschen jemandem böse Absichten
zutrauen. Die Menschen stehen dieser Person misstrauisch gegenüber, da solch eine
Person über magische Kräfte verfügen kann, imstande ist, andere Leute in seiner
Gegend zu schädigen. Das Phänomen schließt an die Lehre des Animismus (fremde
Personen mit Zauberkräften) an. Was die Menschen jedoch am meisten als
„unheimlich“ empfinden, ist die Begegnung mit den Toten. Die Wiederkehr der Toten
und das Vorkommen von Leichen und Geistern zeigen den grauenhaften Teil des
Unheimlichen. Freud möchte in seinem Aufsatz auch vor allem betonen, dass sich
unsere Beziehung zum Tod, wenn wir auf die Urzeiten zurückblicken, fast nicht
geändert hat. Eine primitive Angst vor dem Tod ist heutzutage immer noch bei den
11
12
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.253
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.254
5
Menschen anzutreffen. Als letztes Phänomen tritt die Angst vor dem Scheintod, der
Gedanke lebendig begraben zu werden, auf. Freud erläutert, dass Befunde der
Psychoanalyse gezeigt haben, dass diese aus der Fantasie, im Mutterleib zu leben,
hervorgeht. Das Schreckliche (Angst vor dem Scheintod) macht hier Platz für das
Heimliche-Heimische, das Altvertraute (der Mutterleib).
Weiter macht Freud den Unterschied zwischen dem „Unheimlichen des
Erlebens“13 und dem „Unheimlichen der Phantasie“.14 Ersterer entsteht, „wenn
verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden, oder wenn
überwundene primitive Erzeugungen wieder bestätigt scheinen“.15 Das Unheimliche der
Fantasie und der Dichtung, also der Fiktion, umschließt jenes des Erlebens und, darüber
hinaus, auch Vieles, das nicht in die Wirklichkeit einzuordnen ist. Man soll trotzdem
darauf achten, dass viele Gegenstände und Personen, die im Alltag als „unheimlich“
empfunden werden, in der Welt der Fiktion keine unheimliche Wirkung haben. So geht
Freude davon aus, dass man bei dem Märchen die Welt der Realität für eine
animistische umgetauscht hat. Das hat zur Folge, dass die geheimen Kräfte und Geister
hier keine unheimliche Ausstrahlung bewirken. Das unheimliche Gefühl erfordert,
Freud zufolge, ein Urteil über die Frage, ob das „überwundene Unglaubwürdige“16 in
der Geschichte jedoch nicht real möglich ist. Der Leser kann Fantasie und Wirklichkeit
nicht auseinanderhalten:
daß es nämlich oft und leicht unheimlich wirkt, wenn die Grenze zwischen
Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird, wenn etwas real vor uns hintritt, was
wir bisher für phantastisch gehalten haben17
Die Schaffung einer unheimlichen Atmosphäre gelingt dem Autor nur, wenn er den
Lesern bei der Antwort auf die Frage im Unklaren lässt. Solch eine Frage wird für das
Märchen laut Freud überhaupt nicht gestellt. Er gibt dafür das Beispiel von
Schneewittchen, deren Wiedergeburt nicht unheimlich wirkt.
13
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.261
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.264
15
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.263
16
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.264
17
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.258
14
6
1.2. Todorov: das Unheimliche und das Fantastische
Nach der Meinung des Strukturalisten Tzvetan Todorov, in seiner Einführung in
die fantastische Literatur (1972), ist die Beziehung zwischen dem Unheimlichen und
dem Fantastischen ebenso wie bei Freud von der Unschlüssigkeit, dem Zweifel des
Lesers, stark abhängig. Hat etwas wirklich stattgefunden, oder handelt es sich nur um
eine Wahnvorstellung?
Das Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die
eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in
ein benachbartes Genre ein, in das des Unheimlichen oder das des Wunderbaren.
Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die
natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den
Anschein des Übernatürlichen hat.18
Todorov betont die Wichtigkeit anderer Genres, um das Genre des Fantastischen
definieren zu können, und situiert das Gebiet des Fantastischen, wie eine Grenze,
zwischen dem des Unheimlichen und dem des Wunderbaren. Hinzukommend stellt sich
die Frage, ob der Leser oder/und die handelnde Figur im Buch unschlüssig sein
sollte(n). Eine erste wichtige Bedingung des Fantastischen für Todorov bildet also die
Unschlüssigkeit des Lesers. In minderem Maße präsent, jedoch in den meisten
fantastischen Werken vorhanden, ist der Zweifel, der im Text selbst anzutreffen ist. Der
Leser identifiziert sich in diesem Fall mit den Figuren in der Erzählung, was aber keine
notwendige Voraussetzung ist. Es handelt sich darüber hinaus nicht um einen echten
Leser, sondern um eine „Funktion“19 des Lesers, die eine bestimmte Haltung mit sich
bringt. Todorov führt dafür als Beispiel sprechende Tiere an. Für Hauffs Geschichte
Das kalte Herz, die in der Märchenwelt spielt, würden diese sprechenden Tiere bei dem
Leser keinen Zweifel verursachen, da sie in dieser Welt nicht als etwas Besonderes,
sondern als etwas Normales betrachtet werden. Gerade hier manifestiert sich eine
weitere Bedingung. Neben der Tatsache, dass eine fantastische Erzählung das
„Vorkommen eines unheimlichen Ereignisses“20 erfordert, bei dem der Leser nicht
18
Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Carl Hanser Verlag: München, 1972. S.26
Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. S.31
20
Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. S.32
19
7
weiß, ob dieses Vorkommen natürlich oder übernatürlich zu erklären ist, steht auch eine
Lesart im Mittelpunkt, die „weder poetisch noch allegorisch“21 sein darf.
Am Ende seiner Auseinandersetzung geht Todorov noch auf einige andere
Theorien ein. Er widersetzt sich den Theoretikern H.P. Lovecraft und Caillois, beide
Vertreter der Idee, dass das Fantastische auf die emotionale Intensität der Leser
zurückgeht. „Eine Erzählung ist ganz einfach dann fantastisch, wenn der Leser zutiefst
Furcht und Schrecken […] empfindet“.22 Das bedeutet zugleich, dass die Wichtigkeit
des Autors und des Textes in den Hintergrund gedrängt wird. Der Durchschlag ist dann
das Gefühl von Angst oder, Caillois zufolge, das Unheimliche als „Prüfstein des
Fantastischen“.23 Das Märchenhafte und das Fantastische bilden laut Caillois zwei
Arten des Wunderbaren. Dass eine Gattung durch die Emotionalität seiner Leser
bestimmt werden soll, ist eine Auffassung, die – berechtigterweise – von Todorov in
den Papierkorb verwiesen wurde. In Gotthelfs Die schwarze Spinne und Hauffs Das
kalte Herz werde ich nachgehen, ob von Unschlüssigkeit der Figuren und des Lesers die
Rede ist, und ob die Erzählungen, aufgrund dieser Bedingung, dem Bereich des
Fantastischen zuzuordnen sind. Ich werfe dann einen Blick auf die Beziehung zu dem
Unheimlichen und dem Wunderbaren. Haben die Erzählungen von Gotthelf und Hauff
einen fantastischen Charakter und sind in Hauffs Märchen also neben wunderbaren auch
unheimlichen Elementen anzutreffen?
1.3. Louis Vax: die unheimliche Erfahrung
Louis Vax betont in seinem Aufsatz „Thesen über das Phantastische“ (1998) die
Wichtigkeit verschiedener Typen von Personen, verschiedener Arten von Landschaften
und Gebäuden, die das Gefühl des Unheimlichen hervorrufen:
Manche Orte sind dazu prädestiniert, Wiedergänger, Hexen, Vampire, Dämonen
und Werwölfe zu beherbergen: Schloßruinen, verlassene Landstriche,
Wegkreuzungen, leerstehende Häuser, Krypten und gotische Kirchenschiffe,
deren Rippe und Gewölbe tierhäutigen Dämonenflügeln gleichen.24
21
Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. S.32
Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. S.34
23
Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. S.35
24
Paul: Dimensionen des Phantastischen: Studien zu E. T. A. Hoffmann. S.27
22
8
Auf einer psychologischen Ebene
stellt
Vax
fest,
dass
„die Angst,
das
Unheimlichkeitsgefühl oder das Entsetzen zu einer Quelle der Lust werden“25 können.
Es handelt sich dann um eine unheimliche Erfahrung, die sowohl Abneigung als
Anziehung hervorruft. Vax gibt dafür ein Beispiel eines kleinen Jungen:
Von panischer Angst ergriffen, flieht er mit seiner Schwester vor einem großen
Baum. Kaum befindet er sich jedoch im elterlichen Haus und in Sicherheit, frage
er seine kleine Begleiterin: „Willst du noch einmal mit mir zu dem großen Baum
gehen?“ „Warum?“ „Damit wir noch einmal Angst haben!“26
Die unheimliche Erfahrung des Jungen gibt die Ambivalenz des Fantastischen wieder.
Was das Fantastische betrifft, folgt Vax der Ansicht von Pierre-Georges Castex: Das
Wunderbare und das Fantastische sind etwas ganz Verschiedenes. Das „Fantastische“
wird Vax zufolge wie folgend definiert:
Die phantastische literarische Erzählung ist die Domäne des Ungewissen und des
Unbekannten, der Bereich, wo das Reale und das Imaginäre, der Traum und die
Wirklichkeit, das Bekannte und das Unbekannte, das Wissen und das Rätsel in
einer Art Zwischenwelt zusammenkommen, in einer dämmerhaften Fusion, in der
alle Gewißheiten der Vernunft ins Wanken geraten. Ein brutales, unnormales und
unerwartetes Ereignis bewirkt ein Umkippen, uns es vollzieht sich das berühmte
„Eindringen des Phantastischen in das alltägliche Leben“. Das phantastische
Erzählen ist also durch eine Diskontinuität gekennzeichnet, die sich aus der
Begegnung zweier Welten ergibt, aus dem Schock, der durch diese Begegnung
ausgelöst wird, aus dem Geheimnis und dem Rätsel, die daraus resultieren, aus
den Fragen, die sich die Protagonisten stellen…27
Vax bezeichnet die Volkssage, und so unter anderem auch Die schwarze Spinne von
Gotthelf, als Vorläufer der modernen fantastischen Erzählung, während das
Volksmärchen und, teilweise, das Kunstmärchen, wie Hauffs Das kalte Herz, sich von
dieser Volkssage und ihren Merkmalen unterscheiden. Letztere, das Volks- und das
Kunstmärchen, sind dem Bereich des Wunderbaren zuzuordnen. Innerhalb dieses
Bereichs treffen wir das Reale nicht an und bezieht sich die Erzählung nur auf das
Imaginäre. In der Gattung des Märchens kann laut Vax nichts Unheimliches passieren.
Vax basiert sich jedoch für die Definition des Fantastischen, wie Todorov, auf der
Unschlüssigkeit der Figuren („Fragen, die sich die Protagonisten stellen“). In dieser
Arbeit werde ich mit Rücksicht auf Vax Theorie untersuchen, ob die Figuren in der
25
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.36
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.36
27
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.48
26
9
Erzählung ähnliche unheimliche Erfahrungen, wie im Beispiel des kleinen Jungen,
erleben. Diese Erfahrungen deuten dann auf die Ambivalenz des Fantastischen.
1.4. Von der Thüsen: das Unheimliche und das Sublime
1.4.1. Definition des Unheimlichen
Joachim von der Thüsen umschreibt das Phänomen „unheimlich“ in seinem Buch
Het verlangen naar huivering. Over het sublieme, het wrede en het unheimliche (1997)
als dasjenige, das sich zwischen dem Wirklichen und dem Übernatürlichen befindet. Es
wirkt beunruhigend, wenn das Übernatürliche aus dem Wirklichen unbegründet, wie
aus dem Nichts, zum Vorschein kommt. Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit im
Hinblick auf die Realität verlieren ihre Angemessenheit, da unerwartete Änderungen
den Helden wie auch die Leser beeinflussen, und diese dadurch ihre Orientierung
verlieren.
Das Unheimliche entsteht erst, wenn die Grenze zwischen dem Wirklichen und
dem Übernatürlichen definitiv festliegt. Das geschieht im 18. Jahrhundert im Rahmen
der Aufklärung. Entfernte Lebenskreise, das Exotische im Allgemeinen, verlieren ihre
Besonderheit. So verliert die alte Erzählart die typische Mischung realistischer und
mythischer Elemente. Der realistische Blick auf die entfernten Lebenskreise hat zur
Folge, dass innerhalb dieses Jahrhunderts die „Fremdheit“ mehr und mehr in den
Hintergrund verdrängt wird. Während eine Verdrängung des geografisch Fremden
stattfindet, wird Verwandtschaft mit dem bereits Bekannten immer wieder betont. Eine
ähnliche Tendenz ist auf der psychologischen Ebene anzutreffen. Die unübersichtlichen
Aspekte der menschlichen Psyche geraten in Vergessenheit. Ausgerechnet die
unheimliche Erzählung (wie der Schauerroman), die in der zweiten Hälfte des 18. Jh.
entsteht, übt Kritik an dem Rationalitätskonzept der Aufklärungsperiode, das die
Wahrheit der menschlichen Triebe nicht oder nur teilweise anerkennt. Von der Thüsen
erklärt, dass die Rationalität trotzdem kein Angriff auf die Emotionalität der Menschen
war. Die Aufklärung sucht in der zweiten Hälfte des 18. Jh. im Gegenteil genau das
Gebiet des Sentimentalismus auf, erweist sich in diesem Sinne sogar als empfindsam.
Das Ziel, das Erreichen eines Gleichgewichts zwischen Vernunft und Gefühl, findet
10
man in verschiedenen psychologisch-moralisierenden Romanen, Idyllen, Elegien und
Familiendramen vor. Doch, da vor allem der moralische Aspekt des Menschen betont
wird, wird zugleich auch Einiges (wie Gefühle) außer Betracht gelassen. Es handelt sich
dabei hauptsächlich um Aggression und Sexualität, die daher ein unterirdisches Leben
führen, von Begierde und Angst geprägt.
Von der Thüsen behauptet wie Freud, dass das Verdrängte zurückkehrt. Beim
Schauerroman wie auch im Bereich der Volksmythen (Sagen, Märchen…) soll die
verdrängte Seite des menschlichen Gefühls in Texten zum Ausdruck gebracht werden.
Ab Anfang des 19. Jh. herrscht in den Gruselromanen das Gefühl des „SchönSchaurigen“.28 Ein übertriebener, nicht ernsthafter Stil ist in den Werken anzutreffen.
Die Nachtseite der menschlichen Seele wird zwar ernsthaft dargestellt, das Triviale der
Volksmythen aber ist niemals weit weg und zeigt sich als etwas Künstliches. Die
Wiederaufnahme des Verdrängten steht hier im Mittelpunkt, ist jedoch wegen dieser
ernsthaften und trivialen Anspielungen ambivalent. Neben Vernunft, sinnlicher
Wahrnehmung und Empathie treten jetzt der Schauer und das Magisch-Mythische als
zusätzliche Wissensinstrumente beim aufklärerischen Schreibverfahren in den
Vordergrund. So eignet sich das mythische Erzählen dazu, die Reise nach dem
„Anderen“ darzustellen. Das Prinzip Zeit wird aufgehoben, und das „nicht-Anwesende“
wird in seiner Anwesenheit gezeigt. Dem Erzähler unheimlicher Geschichten steht solch
eine traditionelle Denkart nicht zur Verfügung, weil er sich durch ein modernes
Bewusstsein führen lässt. Eine historische Welt, in der sich alltägliche Personen
befinden, wird von Gesetzmäßigkeit und Wahrscheinlichkeit bestimmt. Bei allen
unheimlichen Geschichten ist deswegen, von der Thüsen zufolge, ein vertrautes
Szenario anzutreffen. Das moderne Bewusstsein gerät jedoch in Konflikt mit dem
älteren Denken, dem „Mythisch-Magischen“. Anlass bildet der Erzähler, der seine
Perspektive einer ängstigen Figur überlässt, woraufhin die Handlung der Geschichte
entgleist. Zweifel zeigt sich Herr der Lage und der Leser kann sich fragen, ob es doch
nicht eine Welt neben der unseren bekannten Welt gibt.
28
Von der Thüsen, Joachim: Het verlangen naar huivering. Over het sublieme, het wrede en het
unheimliche. Amsterdam : Querido, 1997. S.80
11
1.4.2. Kontrast zum Sublimen
Von der Thüsen macht weiter einen Vergleich zwischen dem Unheimlichen und
dem Sublimen. Er erwähnt die Tatsache, dass es im 19. Jahrhundert eine sogenannte
doppelte Ästhetik gibt. Der Bereich des nicht-Schönen (des Sublimen, des Hässlichen,
des Grotesken und des Unheimlichen), unterscheidet sich von jenem des Schönen. In
dieser Arbeit ist die Beziehung des Unheimlichen zum Sublimen von Bedeutung. Die
Tatsache, dass es neben „Schaudern“ in einem unheimlichen Sinne auch einen
„erhabenen Schauer“ gibt, sorgt für einige Undeutlichkeit zwischen den Begriffen. Sie
werden nämlich als Kongruenz betrachtet, weil die Definition der einzelnen Begriffe
nicht ganz klar ist. Was versteht man nun unter dem Wort „Schauer“ und wann spricht
man von einem „erhabenen Schauer“? Joachim von der Thüsen umschreibt den
„Schauer“ als ein körperliches Signal, das die Anwesenheit des Anderen wiedergibt.
Huivering is een onwillekeurige fysiologische reactie en kan niet echt een
waarnemingsvorm worden genoemd: de huiverende mens wordt ‚aangeraakt‘ door
het Andere dat geen contouren of een tastbare gestalte heeft. 29
Diese Art von Kongruenz setzt sich auch in dem Bereich der Literatur fort. Von der
Thüsen beruft sich auf die Novellen von Anne Radcliffe, um zu zeigen, dass sowohl das
Unheimliche als das Sublime in dem Schauerroman vorfindlich sind. Die Protagonisten
in Radcliffes Erzählungen halten sich an dem Anblick der mächtigen Natur,
beispielswiese
dem
Anblick
eines
unermesslichen
Meeres
oder
wüster
Berglandschaften, fest, sind so teilweise imstande, ihrer schlechten Lage zu
„entfliehen“. Wenn das Unheimliche ins Spiel kommt, geraten diese sublimen Momente
jedoch in die Verdrängung. Alles wird für den Helden dunkel und unübersichtlich. Der
Raum, wo er sich befindet, wird zu einem Labyrinth, nur anhand einer „zweiten Karte“
lesbar. Der Held verfügt jedoch nicht über solch eine Karte und überlässt einer fremden
Macht die Kontrolle. Der erhabene Blick des Sublimen verschwindet. Das Auge des
Protagonisten verliert ihre Sicht und dieser letztendlich seinen Überblick. Während bei
der sublimen Erfahrung eine Selbstbefreiung stattfindet, ruft der unheimliche
Gegenstand ein Gefühl von Angst hervor. Bei der unheimlichen Erfahrung befindet sich
der Mensch in einer Lage, wo er ohnmächtig ist, wehrlos, und es gibt keinen Ausweg.
29
von der Thüsen: Het verlangen naar huivering : over het sublieme, het wrede en het unheimliche. S.68
12
Das Sublime kennt zu Anfang auch einen gewissen Grad von Unsicherheit, den sich
trotzdem nicht in Angst umwandelt. Der Schauer wird bei dem Sublimen allmählich
verdrängt. Eindrucksvolle Landschaften, ein klarer Überblick ersetzt den Schauer des
Individuums. Im Falle des Sublimen können wir laut von der Thüsen am besten von
„Ehrfurcht“ sprechen.
Von der Thüsen illustriert den Unterschied zwischen einer sublimen und einer
unheimlichen Erfahrung anhand eines Beispiels. Eine Konfrontation mit einem
Abgrund kann zu zweierlei Erfahrungen führen. Der Zuschauer wird mit dem Sublimen
konfrontiert, wenn er sich auf sicherem Abstand von der Tiefe befindet und die
unmittelbare Gefahr vermeiden kann. Wenn dies nicht der Fall ist und das Gefühl von
Angst die Oberhand nimmt, wandelt die sublime Erfahrung mit der Tiefe in eine
unheimliche um. In einem Schauerroman kann ein Sturz den Protagonisten
anschließend in den Tod führen.
1.5. Van Gorp: das Unheimliche in dem Schauerroman
In De romantische griezelroman (Gothic novel): een merkwaardig randverschijnsel in de literatuur erwähnt Hendrik van Gorp die Wichtigkeit des Raumes und
der Orts- und Zeitbestimmung für den Schauerroman. Alte Schlösser, Klöster, Ruinen,
verbotene Zimmer bilden die typischen Räume, wo die Handlung der Erzählung spielen
kann. Die Ortsangabe trägt laut van Gorp zu einer speziellen Atmosphäre bei. Bei dem
Schauerroman
charakteristische
benutzen
ängstige
viele
Schriftsteller
Atmosphäre
des
die
Raumschaffung,
Genres,
die
um
die
„Unheimlichkeit“,
hervorzurufen. Obwohl der Ort, an dem die Erzählung spielt, meistens sehr vage
umschrieben wird, gibt es neben den geheimnisvollen Schlössern oder Klöstern
trotzdem auch exakte Ortsbestimmungen. Die Mischung im Hinblick auf die Topografie
von klarer und unklarer Information kreiert einen zugleich mysteriösen wie auch
erkennbaren Charakter. So erweist sich Südeuropa (Italien, Spanien, Südfrankreich,
Süddeutschland) bei den meisten Schauerromanen als die ideale Lage, wo die
Erzählung spielen kann. Auch der geheimnisvolle Osten eignet sich dazu, eigenartige
Ereignisse mit einer realen Lokalisation zu versehen, sodass etwas Reales in die fiktive
13
Geschichte hineingeschoben wird. Bei jedem Ort hat der Leser immer auch bestimmte
Erwartungen. Van Gorp erläutert das anhand von Beispielen in Bezug auf Deutschland,
Spanien und Italien. Bei den Engländern steht Deutschland im 18. Jahrhundert für ein
Land voller Räuber und Geister, während für Italien und Spanien die unlauteren
Praktiken der römisch-katholischen Kirche bekannt sind.
Daneben berufen sich die Schriftsteller dieses Genres oft auf die Natur, sowohl
das Erhabene als auch ihre Grilligkeit sind vertreten: wüste Abgründe, endlose Flächen,
drohende Unwetter, Orkane, unendliche Höhe, usw. Dem Schauerroman eigen ist die
Interaktion der Räume mit den Figuren. Ein dynamisches Verhältnis entsteht, wenn die
Figuren einem Platz entfliehen, umherwandern, reisen oder herumirren. Gerade das
Umherschweifen zeigt sich als kennzeichnend für den Schauerroman. Der Protagonist
gerät in eine Welt, in der ihm allerhand Gefährliches passiert, ihm böse Figuren
begegnen. Er befindet sich in einer Welt, die ihm fremd zu sein scheint. Der
Schriftsteller schafft hier eine typische unheimliche Atmosphäre. Der Held solch einer
Erzählung, aus seiner vertrauten Umgebung weggezogen, wird, höchstwahrscheinlich,
irgendwann einen dunklen, dichten und undurchdringlichen Wald durchqueren oder
einer üblen Gestalt entfliehen müssen. Neben diesem typisch dynamischen Verhalten
wird die Raumschaffung durch einen zweiten Faktor, die sinnliche Wahrnehmung,
geprägt. Letztere wird in dem Bereich des Schauerromans oft durch das Licht
beeinflusst. Das Licht erfüllt eine doppelte Funktion: Einerseits werden Geheimnisse
und Mysteriöses enthüllt, andererseits verursacht das Fehlen von Licht ein Gefühl von
Angst. Es ist dem Protagonisten, als ob er in einem engen Raum festsäße. Er verliert
den Griff auf die Dinge in seiner Gegend, und gerade hier schleicht das Unheimliche
aufs Neue herein. Gruselige Geräusche füllen darauf allmählich den Raum. Solche
Momente wie das Spiel mit Licht – wie der Übergang zwischen Licht und Finsternis bei
Dämmerung – verleihen dem Genre seine typischen Schaudermomente.
Neben der Wichtigkeit des Raumes und der Ortsbestimmung sind in dem
Schauerroman noch andere Elemente gegeben, die zu der typischen Atmosphäre der
„Unheimlichkeit“ beitragen. Auf der Zeitebene, zum Beispiel, bevorzugt der
Schriftsteller des Schauerromans das mittelalterliche Zeitalter. Van Gorp erklärt in De
romantische griezelroman, dass der Leser des 18. Jahrhunderts die Periode des
Mittelalters mit Aberglaube und Zauberkunst, Schlössern, Klöstern, der Inquisition,
14
usw. assoziiert. Damit man die Verbindung mit dem eigenen Lebenskreis nicht aus dem
Auge verliert, wird oft mit einer Binnengeschichte in einer aktuellen Rahmenerzählung
gearbeitet. Wenn es auf den Handlungsverlauf ankommt, unterscheidet van Gorp (nach
Dorner-Bachmann) für den Schauerroman vier Gruppen von Motiven. Oft werden
Motive zu etwas Extremerem, sogar Tabuisiertem übergearbeitet. Eine erste
Motivgruppe geht von der Besitznahme eines fremden Gutes, eines sozialen Rechts
oder einer Macht aus. Eine zweite umschließt eine sexuelle Begierde, bei der die
Liebesmotive der Romanzen durch Tabus wie gezwungene Heirat, Vergewaltigung und
Inzest ersetzt werden. Bei der dritten Gruppe spielt die Kirche eine große Rolle:
Anklage durch die Inquisition, unmenschliche Handhabung kirchlicher Gesetze treten in
den Vordergrund. Es handelt sich hier um einen religiösen Fanatismus, der den Helden
und andere Figuren bedroht. Das Psychologische steht bei der letzten Motivgruppe im
Mittelpunkt. Eine übertriebene Neugier kennzeichnet die Figur des Protagonisten. Eine
extreme Habsucht, eine Allwissenheit und Macht auf der Ebene Gottes zu erreichen,
gewinnt bei ihm die Oberhand. Der Held will das Mysteriöse aufsuchen, seine eigene
Identität herausfinden, kann aber im schlechten Fall in einen irrsinnigen Zustand
geraten. Existenzielle Unzufriedenheit in Bezug auf die eigene Person, was oft zu einem
Teufelspakt führt, ist ein häufig vorkommendes Motiv. Was die Figuren angeht, stellt
van Gorp fest, dass man sie in zwei Gruppen unterteilen kann: gute und schlechte
Personen. Ein klares Beispiel für diesen uralten Zweikampf bilden der Schurke und die
verfolgte Jungfrau. Oft sind auch übernatürliche Kräfte im Roman zu unterscheiden,
entweder als Helfer oder als Gegner, wobei für Letzteren vor allem Gespenster und
Geister typisch sind. Schauerromane, die anhand ihrer Erzählung eine moralische
Botschaft mitteilen wollen, inszenieren oft den uralten Zweikampf zwischen dem Guten
und dem Bösen. Die Erzählinstanz kann beim Überbringen solch einer moralischen
Botschaft behilflich sein. Angesichts der Erzählinstanz stellt van Gorp fest, dass am
meisten ein auktorialer Erzähler eingesetzt wird. Der Vorteil einer auktorialen
Erzählinstanz geht aus der Tatsache hervor, dass der Erzähler „allwissend“ ist. Er
überblickt die Zeit und die Orte, ist deswegen also imstande, über die Vergangenheit
und die Zukunft zu berichten. Weiter hat er auch die Möglichkeit, die Handlungen zu
kommentieren und seine eigenen Gedanken, sogar Kritik, im Hinblick auf die Figuren,
15
mitzuteilen. Auf diese Weise verfügt der Erzähler über die Möglichkeit, die Geschichte
zu steuern und die moralische Botschaft auf die Leser zu übertragen.
Mit Rücksicht auf die Atmosphäre der „Unheimlichkeit“ werde ich auf die
obengenannten Merkmale in den beiden Erzählungen eingehen. Wird in Gotthelfs und
Hauffs Erzählung mit Raumschaffung und Zeit gespielt, um das „Unheimliche“
hervorzurufen? Was das Böse betrifft, untersuche ich, in welchem Maße, es seinen
Stempel in den beiden Werken aufdrückt. Wer oder was verkörpert das Böse in den
Erzählungen? Im Hinblick auf die Figuren analysiere ich die „Schlechten“ unter dem
Phänomen „böse Absichten“ (siehe Punkt 3.3.), während die Schaffung der
„Unheimlichkeit“ durch Raumschaffung unter Punkt 4. besprochen wird. Die
Wichtigkeit der Zeitbestimmung wird schon unter Punkt 3.2. behandelt. In dem
nächsten Kapitel beschäftige ich mich zuerst mit der Wichtigkeit der Gattung für meine
Untersuchung.
2. Die Rolle der Gattung
Für Haufss Märchen Das kalte Herz gilt die Theorie, dass die Grenze zwischen
Fantasie und Wirklichkeit (nach den Ansichten von Freud, Todorov und Vax) keine
undeutliche ist, sondern klipp und klar festliegt und der Schriftsteller die Erzählung in
einer animistischen Welt spielen lässt. Das Märchen hat sozusagen keine unheimliche
Wirkung. Die schwarze Spinne dagegen ist dem Bereich der Sagen einzuordnen. „Im
Märchen fürchtet sich der Mensch vor konkreten Gefahren, in der Sage erscheint oft
eine Angst vor dem Unbestimmten, Unheimlichen“30, und so auch in der Geschichte
von Gotthelf. Das Buch hat innerhalb der Literatur viel, und jetzt immer noch,
Aufmerksamkeit genossen und wird unter anderem gelobt wegen seiner unheimlichen
Atmosphäre:
Künstlerisch voll ausgereift unter Gotthelfs Sagenschöpfungen ist, wie schon
angedeutet, nur „Die schwarze Spinne“, eine Erzählung, die denn auch von jeher
die Gunst der Leser gefunden hat. […].Neben wundervoll klare und reine Bilder
30
Hübner, Marlies: Das Märchen: Theorien, Struktur, Rezeption, Deutungsmuster.S.15
<http://www.ein-plan.de/ewf/text/Deutsch_Maerchen_Theorien_Struktur_Rezeption_
Deutungsmuster.pdf> (19.04.2008)
16
von bäuerlich-aristokratischer Lebenskunst stellt er darin Visionen voll
unheimlicher Phantastik. Mächte des Lichts und Mächte der Finsternis treffen sich
in einem Schauspiel seltsamster Art, beide in hohem dichterischem Gleichgewicht
versöhnt.31
In dem Zitat von Werner Günther wird schon auf ein typisches Merkmal des
Unheimlichen verwiesen. Das Schauspiel von Licht und Finsternis trägt laut von der
Thüsen (siehe Punkt 1.4.) zu einer unheimlichen Atmosphäre bei. Im Fall von Die
schwarze Spinne gibt es auf den ersten Blick weniger Schwierigkeiten auf die Suche
nach dem Unheimlichen. Für die Sage gilt denn, dass auf die Realität, ein historisches
Ereignis, zurückgegriffen wird und „unheimlich“ hier im Sinne von dem Verdrängten,
dem längst Vertrauten, auftauchen kann. Die Sage bildet auf diese Weise einen guten
Ausgangspunkt, um dann einen Vergleich mit Das kalte Herz anzugehen und so auch
bei dem Märchen unheimliche Phänomene zu entdecken. Auch das Umgekehrte gilt
hier. Obwohl Gotthelfs Erzählung die Gattung der Sage vertritt, bedeutet das aber nicht,
dass sie unbedingt mehrere unheimliche Phänomene hervorbringen wird. Dass alles
nicht feststeht zeigt uns Louis Vax. Laut ihm „entbehrt“32 die Erzählung von Gotthelf
der notwendigen „Zweideutigkeit oder des relativ hohen Unsicherheitsgrads, die laut
der Kritik einem phantastischen Werk anhaften“.33 Er bezeichnet die Geschichte der
schwarzen Spinne nicht als Sage, sondern als Märchen. Er begründet seine Ansicht mit
dem Argument, dass der Leser in der Erzählung auf nichts Widersprüchliches stößt:
„Alles ist durchsichtig. Es gibt kein Rätsel“.34 Der Leser stellt sich keine Fragen:
Die schwarze Spinne gibt deutlich zu erkennen, wie alle Bestandteile
Phantastischen in einem Werke versammelt sein können, ohne daß es
Forderungen der Gattung irgendwie genüge. Das Phantastische ist für
Gestalten der Haupterzählung, auch für die einfachen Leute in
Rahmenerzählung glaubwürdig, aber nie für den Leser, dem der Dichter
Wahrheit nicht verschweigt.35
des
den
die
der
die
Einige Vorsicht ist hier jedoch an der Stelle. Einerseits möchte ich, Todorov folgend,
ebenso den Unterschied zwischen den Empfindungen der Leser und den
Wahrnehmungen der Figuren berücksichtigen. Andererseits beruft sich Louis Vax –
höchstwahrscheinlich – auf seine eigene Lesererfahrung und wendet er diese auf das
31
Günther, Werner: Jeremias Gotthelf; Wesen und Werk. Berlin: Schmidt, 1954. S.83
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.146
33
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.146
34
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.148
35
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.148
32
17
ganze Leserpublikum an. Seiner Argumentation zufolge ist die Erzählung Gotthelfs dem
Bereich des Wunderbaren, der Gattung des Märchens, zuzuordnen. Das Werk wird dann
auf die gleiche Ebene wie Das kalte Herz gestellt, ruft laut Vax deswegen also nichts
oder zumindest weniger Unheimliches hervor. Ich möchte in Bezug auf die Tatsache der
Unschlüssigkeit vorsichtiger an die Arbeit gehen. Laut Todorov ist die Unschlüssigkeit
des Lesers eine erste Bedingung, die erfüllt sein muss, damit ein Werk für fantastisch
gehalten werden kann. Daneben kann die Unsicherheit auch bei den Figuren im Text
selbst vorherrschen. Letzter Fall ist im Gegenteil keine notwendige Bedingung für das
Fantastische. Meiner Meinung nach wäre es logischer, davon auszugehen, dass der
Zweifel der Figuren, wenn vorfindlich im Text, auf die Leser übergehen kann. Es erhebt
sich dann die Möglichkeit, dass darauf auch bei den Lesern Ungewissheit entsteht. Die
Unschlüssigkeit im Text ist in Die schwarze Spinne bei der Figur des Vetters
festzustellen:
Es ist nur schade, dass man nicht weiß, was an solchen Dingen wahr ist. Alles
kann man kaum glauben, und etwas muss doch an der Sache sein, sonst wäre das
Holz nicht da. (S.116)
Die Unschlüssigkeit wird am Ende der Geschichte nochmals bestätigt, wenn den Gästen
innerhalb der Rahmenerzählung „unheimlich unterem Brusttuch“ (S.116) klopfte, wenn
sie alle nach Hause gehen sollten. Einverstanden bin ich zwar mit der Ansicht von Vax,
dass „alle Bestandteile des Phantastischen in einem Werke versammelt sein können,
ohne daß es den Forderungen der Gattung irgendwie genüge.“36 Die Aussage ist vor
allem für Hauffs Erzählung interessant. Die Gattung eines bestimmten Werkes schließt
Merkmale von anderen Gattungen nicht ohne Weiteres aus. Obwohl Das kalte Herz als
Märchen gekennzeichnet wird, ist eine Untersuchung nach dem Phänomen des
Unheimlichen genauso wie bei anderen Gattungen berechtigt.
Im nächsten Kapitel werde ich versuchen die unheimlichen Phänomene, wie sie
nach Freud in „Das Unheimliche“ festgelegt worden sind, in Die schwarze Spinne und
Das kalte Herz darzulegen. Im Falle von Gotthelfs Sage darf ich schon behaupten, dass
von Unschlüssigkeit bei den Figuren die Rede ist und also die Erzählung als fantastisch
gilt. Ob das auch bei Hauff der Fall ist, wird sich in dieser Arbeit zeigen. Anhand der
Auffassungen von van Gorp und von der Thüsen untersuche ich ebenfalls, ob eine
36
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.148
18
typische, unheimliche Atmosphäre in den beiden Werken zu spüren ist. Auf dieser
Suche nach dem „Unheimlichen“ gehe ich von der Wahrnehmung der Figuren in der
Erzählung aus.
3. Das Unheimliche in Die schwarze Spinne und Das kalte Herz
3.1. Die Sehnsucht nach den Anfängen
Wenn wir auf die erste Bedeutung von „unheimlich“ bei Freud zurückgreifen,
führt das zum ehemals Heimlich-Heimischen, das verdrängt worden ist, und letztendlich
wieder auftaucht. Walter Muschg betont in Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers die
Wichtigkeit der Geschichtlichkeit in Gotthelfs Die schwarze Spinne. Sie muss
„Hauptcharakter seiner Epik“ als auch „Grundzug seiner Seele gewesen sein“.37
Muschg spricht von einem Drang nach dem Mütterlichen, einem Trieb, die vor allem in
seinen Sagen anzutreffen ist: „Ein Hang zum Gewesenen, eine Sehnsucht nach den
Anfängen“.38 Auch in Jeremias Gotthelf; Wesen und Werk von Werner Günther wird
das Wort „Angsttraum“ in den Mund genommen. Es handelt sich in Gotthelfs
Geschichte um „dämonische Gewalten“39, die wieder aufwachen: „Angsträume aus
Urzeiten menschlichen Seins enthalten zwingende Gestalt“.40 Neben der Spinne, in der
Gestalt des grünen Jägermanns, finden wir den Teufel, der seit den Urzeiten das Böse
symbolisiert. Der Teufelspakt mit dem Grünen führt zu dem Anfang alles Bösen. In Die
schwarze Spinne gibt es einen klaren Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, und
das Böse ist für diese Angstträume verantwortlich. Vax behauptet im Hinblick auf die
Rolle des Teufels und des Diabolischen in Gotthelfs Erzählung, dass das Böse
verborgen und vergessen bleiben soll. Er ist der Meinung, dass die Menschen sich nicht
dieses Verdrängten bewusst werden sollten:
37
Muschg, Walter: Gotthelf. : die Geheimnisse des Erzählers. München: Beck, 1967. S.272
Muschg: Gotthelf. : die Geheimnisse des Erzählers. S.272
39
Günther: Jeremias Gotthelf; Wesen und Werk. S.84
40
Günther: Jeremias Gotthelf; Wesen und Werk. S.84
38
19
Das Böse ist in uns und muß für unser Heil – dies unterscheidet Gotthelf von der
Freudschen Psychoanalyse – in uns verborgen bleiben. Das Böse gehört zu
unserer Natur, und wir können es nicht wie ein beliebiges Insekt zertreten.41
Wir können feststellen, dass das Element des Bösen schon immer da gewesen ist und in
der Sage, in der Figur einer Spinne, ganz übel wiederkehrt. Dass die Spinne, und so das
Böse, wörtlich nicht wie ein „beliebiges Insekt“ zu zertreten sind, zeigt sich in der
Geschichte, in der Tatsache, dass das Tier nur mit den Händen und in einem Posten
gefangen und aufgeschlossen werden kann. Eine andere Lösung, einen Versuch, das
boshafte Ding zu fassen, gibt es nicht:
Da versuchte wohl mancher in der Verzweiflung Widerstand, und ob die Spinne
nicht zu töten sei, warf zentnerige Steine auf sie, […] schlug mit Keulen, mit
Beilen nach ihr, aber alles umsonst, der schwerste Stein erdrückte sie nicht, das
schärfste Beil verletzte sie nicht […] Flucht, Widerstand, alles war eitel. (S.85)
Mit dem Bösen ist also nicht einfach abzurechnen, nur mithilfe der Kraft Gottes sind die
Menschen imstande, die Spinne zu überwinden. Vax dagegen geht davon aus, dass die
Menschen an dem Bösen schuld sind und sie an erster Stelle als „offizielle
Religionskämpfer sich mitleidig und barmherzig benehmen sollten“.42 Das Böse liegt
laut ihm in ihren Herzen. Alfred Reber teilt in Stil und Bedeutung des Gesprächs im
Werke Jeremias Gotthelfs diese Meinung: „Nur dem bösen Menschen kann die Welt
unheimlich und fremd werden.“43 Der Mensch lebt in einer bekannten Welt mit allem
friedvoll zusammen, wo das heimische Gefühl nur von ihm selbst gestört werden kann.
Für Gotthelf ist das der ungläubige, egoistische und habsüchtige Mensch.
Dass das Böse in uns verborgen bleiben sollte, zeigt uns die Figur des Großvaters.
Die Frage innerhalb der Rahmerzählung, warum am Haus neben dem Fenster ein
schwarzer Fensterposten steht, möchte der Großvater zuerst nicht beantworten („machte
ein bedenkliches Gesicht“ – S.25). Wenn doch eine Antwort folgt, stellt sich heraus,
dass es eine Lüge ist („mache nicht Schneckentanze, sondern gibt die Wahrheit an und
aufrichtigen Bericht“ – S.26). Nur unter Druck seiner Zuhörer, des Vetters und der
Weiber, und nach einigen anderen „Schneckentänzen“, verspricht der Großvater ihnen,
die böse Geschichte von diesem Fensterposten zu erzählen. Doch, nur unter der
Bedingung, dass die Anderen die Sage der Spinne für sich behalten. Das kann meiner
41
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.147
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.134
43
Reber, Alfred: Stil und Bedeutung des Gesprächs im Werke Jeremias Gotthelfs. Berlin: De Gruyter,
1967. S. 117
42
20
Meinung nach mit Schelling und mit dem Unheimlichen, das wie ein Geheimnis
verborgen bleiben sollte, verknüpft werden. Der Großvater will die Sage zuerst nicht
erzählen, versucht sie zu verschweigen, sodass die Sage in diesem Sinne verborgen
bleiben soll. Wenn der Großvater trotzdem zum Erzählen anfängt, vergegenwärtigt die
Sage das Böse aus den Urzeiten und erinnert sie die Anderen daran, dass etwas
Ähnliches, wie bei den Bauern, auch ihnen passieren kann. Das Böse ist das Vertraute,
das durch die Erzählung wieder hervortritt. Wo die Großmutter von der Fortsetzung der
Erzählung nichts wissen will, ändert sich der Großvater seine Meinung. Das Böse tritt
zwar mit der Erzählung hervor, kann aber zugleich einem moralischen Zweck dienen:
Da begann der Großvater, und alle Gesichter spannten sich wieder: „Was ich
weiß, ist nicht mehr viel, aber was ich weiß, will ich sagen; es kann sich vielleicht
in der heutigen Zeit jemand ein Exempel daran nehmen, schaden würde es
wahrhaftig vielen nichts. (S.93)
Die Sage gilt dem Großvater zufolge als gutes Beispiel, um die Zuhörer beizubringen,
dass sie den Glauben an Gott nicht verlieren dürfen und sich nicht mit dem Bösen
einlassen sollen. In diesem Sinne ist die Sage auch als zeitlos zu betrachten, da sie dem
Leser heutzutage immer noch diese Botschaft beibringen kann. Die Konfrontation mit
dem Bösen stellt auf der Ebene der Rahmenerzählung kein reales Ereignis dar, aber die
Erzählung dieser Sage bildet den Anlass für die unheimlichen Gefühle bei den
Zuhörern. Trotz ihrer Angst vor der Geschichte und des Ratschlags der Großmutter („es
wäre besser, man schwiege von der ganzen Sache“ – S.92), bittet die Gesellschaft den
Großvater, die Erzählung fortzusetzen. Obwohl sie ihnen Angst einflößt, werden sie von
der Erzählung angezogen und möchten sie ihr Ende mitbekommen.
Eine ähnliche unheimliche Erfahrung ist auf der Ebene der Binnengeschichte
festzustellen. Im Hinblick auf die Ambiguität des Fantastischen hat Vax das Beispiel
des kleinen Jungen gegeben, der nochmal diesen bestimmten Baum sehen möchte.
Dieser Baum ruft ja das Gefühl von Unheimlichkeit hervor und versetzt den Jungen
jedes Mal aufs Neue in Angst. Das Unheimliche als Quelle der Lust ist an mehreren
Stellen in der Spinnengeschichte zu finden. Wenn ein Knecht im alten Haus die Mägde
erschrecken will, fällt ihm ein, mit dem Zapfen, wo die Spinne gefangen sitzt, zu
„spielen“. Zuerst mit einem Löffel, darauf folgend mithilfe eines Messers, da das Spiel
dieses Knechts seine beängstigende Wirkung verliert:
21
Das das Spiel sich ungestraft wiederholte, so wirkte es nicht mehr, die Mägde
schrien nicht mehr (…) Nun fing der an, mit dem Messer gegen das Loch zu
fahren, mit den grässlichsten Flüchen sich zu vermessen, er mache den Zapfen los
und wolle sehen, was drinnen sei, und sie müssten einmal auch was Neues sehn.
(S.101)
Obwohl sie alle wissen, was für eine Gefahr sich im Loch befindet, möchten sie doch
herausfinden, wie das Böse in der Figur einer Spinne aussieht. Sie möchten wissen, ob
sich darin tatsächlich etwas Schreckliches versteckt. Wiederum verliert das Spiel
schnell seine Wirkung, sodass nur ein weiterer Schritt übrig bleibt: das Messer ins Loch
zu stecken und den Zapfen tatsächlich loszumachen. Die Mägde „kriechen“ jedes Mal
„zum Kreuze“ (S.102) beim Spiel, fordern den Knecht jedoch ein letztes Mal heraus,
das Undenkbare zu tun: „Tue es doch, wenn du darfst, aber du darfst nicht!“ (S.102)
Gerade zu Weihnachten findet dann das Unheil statt und wird die Spinne befreit. Die
Mägde haben zu viel Angst, wagen es nicht, den Zapfen loszumachen und hoffen, dass
der Knecht dazu mutig genug ist. Das Spiel illustriert die Ambivalenz der unheimlichen
Erfahrung, die sowohl durch Abneigung (Angst) als auch durch Anziehung (Neugier)
charakterisiert wird.
Auch in Das kalte Herz suchen einige Figuren die unheimliche Erfahrung selbst
auf. Wenn es ein richtiges Gewitter gibt, was auf die Anwesenheit des bösen HolländerMichels hindeutet, wollen die „furchtlosen Jungen […] hinaus in den Wald laufen, und
dieses furchtbar-schöne Schauspiel mit ansehen“ (S.12). Die Jungen sind sich der
Tatsache bewusst, dass sie, wenn sie nach außen gehen, auf den bösen Michel stoßen
können. Von „furchtlosen Jungen“ wird dann bestimmt nicht mehr die Rede sein. Die
Adjektive „furchtbar“ und „schön“ fassen letztendlich die Abneigung und die
Anziehung der unheimlichen Erfahrung in Worte zusammen. Wiederum die Figur des
Großvaters widersetzt sich dem Drang der Jungen („Ich will keinem raten, dass er jetzt
von der Tür geht“ – S.12) und warnt die anderen vor der Gefahr („bei Gott, der kommt
nimmermehr wieder“ – S.12), die sich draußen versteckt. Auch dieses Mal wird eine
Sage, jetzt innerhalb eines Märchens, von einem alten Mann erzählt, obwohl dieser
sofort auf die Frage nach der Geschichte des Holländer-Michels eingeht. Auch in
diesem Fall vertritt der Gegenstand der Sage alles Schlechte, denn „alles Böse im
Schwarzwald schreibt sich von ihm her“ (S.16). Was die Definition Schellings
anbelangt, können der Satz „und mehr will ich nicht sagen“ (S.15) und die Hinzufügung
des Schriftstellers „setzte der Greis geheimnisvoll hinzu“ (S.16) auf die Tatsache
22
weisen, dass das Erzählte im Hinblick auf diesen gemeinen Riesen am besten verborgen
geblieben war. Bei Die schwarze Spinne soll man sich fürchten vor dem direkten Tod,
wenn das Böse ausbricht, in Das kalte Herz soll man auf der Hut sein vor dem Handel,
dem Austausch des Herzens für einen kalten Stein, mit dem Holländer-Michel. Jeder,
der den Plänen des Michels entgegenarbeitet, wird jedoch von diesem aus dem Weg
geräumt, sodass die Angst vor dem Tod bestimmt in dem Werk von Hauff vertreten ist.
Da in der Gestalt des Michels den Teufel zu erkennen ist, kann der Handel mit dem
Stein meiner Meinung nach als einen Teufelspakt gesehen werden.
Das Böse liegt auch hier im Herzen der Menschen. Gerade Mitleid und
Barmherzigkeit,
die
Eigenschaften,
die
Vax
als
wichtig
bezeichnet,
sind
Eigentümlichkeiten, die dem Protagonisten Peter fehlen. Man kann behaupten, da sich
Peters gelassene Haltung erst nach dem Teufelspakt zeigt, die Schuld dem HolländerMichel zu geben ist. An erster Stelle ist es Peter selbst, die den riesigen Waldgeist
aufsucht und sein Herz für ewigen Reichtum austauscht. Das Böse nimmt bei Peters
Habsucht nach Geld seinen Anfang. Vax stellt den Kampf gegen das Böse als ein
Leitmotiv des Märchens hin und betont bei diesem Kampf die Rolle Gottes:
Ohne Gottes Wille ist der Mensch unfähig, des Bösen gewahr zu werden,
geschweige denn es siegreich zu bekämpfen. Es ist ein Leitmotiv des Märchens,
daß der Kampf gegen das Böse zum Scheitern verurteilt ist, wenn er nur mit dem
Verstand und dem Mut der Kreatur geführt wird.44
Die Idee, dass das Böse mit Hilfe von Gott bestritten werden soll, ist vor allem bei
Gotthelf von Bedeutung. Hauff möchte dem Leser vielmehr die Botschaft mitgeben,
dass das Böse gemieden werden soll und man dem guten Pfad folgen muss.
Auf thematischer Ebene darf ich mit Rücksicht auf das Böse in den beiden
Erzählungen von „unheimlich“ im Sinne des Heimlich-Heimischen reden. Das Böse ist
das Altbekannte, Längstvertraute, das wieder hervortritt. Damit möchte ich nicht auf das
Böse im Allgemeinen verweisen, sondern auf das Diabolische aus den Urzeiten, auf die
„dämonischen Gewalten“, wie nach Werner Günther. Bei Gotthelfs Die schwarze
Spinne werden die Figuren in der Rahmenerzählung trotzdem nicht direkt mit dem
Bösen konfrontiert. Die Erzählung erinnert die Zuhörer an uralte dämonische Mächte,
vor denen sie sich lange nicht mehr gefürcht haben und in diesem Sinne kann von
Verdrängung gesprochen werden. Im Falle von Hauffs Das kalte Herz drängen sich
44
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.146
23
keine vorgeschichtlichen Angstträume auf. Das Märchen handelt jedoch ebenfalls von
dem Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen. Die Extremen werden von dem
Glasmännlein
beziehungsweise
dem
Holländer-Michel
vertreten.
Beide
sind
Waldgeister und der Glaube an solche Geister führt uns wiederum zu den Anfängen, zu
den Urzeiten. Letztendlich wird, neben dem Vorkommen des Bösen, durch die
unheimlichen Erfahrungen den fantastischen Charakter der Werke bestätigt.
3.2. Aberglaube, Animismus und die reale Welt
Das Abergläubische ist in der Erzählung Gotthelfs allgegenwärtig und von großer
Bedeutung. So hat der Großvater „den Glauben“ (S.8), dass, wenn ein Kind zur Taufe
geführt, und nicht getragen wird, dieses Kind „träge werde und sein Lebtag seine Beine
nie recht brauchen lerne“ (S.8). Muschg spricht von dem Aberglauben, der den Bauern
„eingepflanzt“45 ist:
In die „schwarze Spinne“ besonders tragen die schätzesonnenden Geister und
andere Gesichte höchste Schönheit herein. Sie zeigen sich nur nebenbei, aber sie
sind geglaubt und wunderbare Wirklichkeit.46
Hanns Peter Holl geht auf den Aberglauben in Die schwarze Spinne detailliert ein.
Wichtig an diesem Tauftag ist, „was die Sitte fordert“.47 Die Ordnung innerhalb der
Rahmengeschichte, unter anderem während der Mahlzeit („Als man mit der Suppe
fertig war, wischte man die Löffel am Tischtuch wieder aus […]“– S.20) steht im
Gegensatz zu der Welt der Zauberei, wo „es nicht richtig, etwas Absonderliches“ (S.62)
gibt. In der Binnengeschichte geschieht nämlich allerhand Außergewöhnliches. Wenn
die Lindauerin, Christine, nach der Arbeit der Männer fragt, die die hundert Buchen für
Herrn von Stoffel oben zu Bärhegen pflanzen sollen, bekommt sie von einem der
Knechte die Antwort, dass „alles gehe, als ob sie verhext wären“ (S.40). Etwas später ist
„das Staunen groß im ganzen Tale“ (S.51), wenn auf einmal sechs Buchsen auf dem
Berg stehen, ohne dass jemand eine Achse oder die Pferde wiehern gehört hat. Diese
Zauberei versucht man durch „weltliche und geistliche Künste“ (S.62) zu bekämpfen,
45
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.267
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.267
47
Holl, Hanns Peter: Jeremias Gotthelfs «Bilder und Sagen aus der Schweiz» als Reaktion auf das Jahr
1798 und seine Folgen. S.31 < http://www.bzgh.ch/3_04/holl.pdf> (19.04.2008)
46
24
aber nur die Person des Priesters ist anhand „eines guten Spruchs“ (S.78) teilweise
imstande, die Gefahr abzuhalten und in diesem Fall die Spinne wegzujagen. Am Ende
versucht man vergebens sich gegen die Spinne zu schützen, ruft „einen fernen Pfaffe“
(S.84) zu Hilfe, der mit „heiligem Wasser und heiligen Sprüchen gegen den bösen
Feind“ (S.84) sich zu retten versucht, sich aber „nicht mit Gebet und Fasten“ (S.84)
stärkt und auf diese Weise den Kampf gegen das Übel verliert. Wir können folgern,
dass der Aberglaube das einzige Wunderbare in der Welt der Rahmenerzählung
repräsentiert. Sowohl die Welt in dem Rahmen als auch diese der Binnengeschichte
werden real dargestellt. Dass alles verhext ist, deutet auf etwas Abnormales,
Absonderliches. Wie aus dem Nichts, so laut von der Thüsen (siehe Punkt 1.4.),
erscheint den Bauern der Teufel, und kommt das Übernatürliche (die Spinne) aus dem
Wirklichen (der Figur Christine) zum Vorschein. Warum hat Gotthelf denn
ausgerechnet eine Spinne als Dämon gewählt?
Die Umwandlung von Christine in eine Spinne ist innerhalb des Bereichs der
Literatur nichts Neues. Die Spinne ist in der Erzählung Gotthelfs das übernatürliche
Element, die Symbolisierung des Bösen. „Die Spinne hat uralte Heiligkeit, die ihr heute
noch als Aberglaube anhaftet, und ist deshalb ein weit verbreitetes Sagentier“.48 Es ist
zugleich ein Tier, das bei vielen Menschen ein Gefühl von Schrecken hervorruft. Klaus
Lindemann fragt sich in Lauter schwarze Spinnen: Spinnenmotive in der deutschen
Literatur, woher diese Spinnenphobie nun eigentlich kommt:
Oder ist es ihr erdgeschichtliches Uralter, das uns in ihnen die Nachtseite der
Natur erahnen läßt – die unerlöste Natur? Lebt in ihnen das Dämonische fort, das
seit unsäglichen Zeiten aus der Ungeschiedenheit des Feuchten und Trocknen, des
Wassers und der Erde wimmelt, dem Ort, dem sie ihr Leben verdanken und dem
die Substanz ihrer Fäden und Netze verspricht? […] Alles ist ihnen von Anfang
an angelegt, alle ihre Fähigkeiten besitzen sie aus uralten Evolutionsgeschichten,
ihr Intellekt ist reiner Trieb. So verkörpern sie so etwas wie die nächtliche Natur
selbst, in der der Tod über das Leben herrscht.49
Die Spinne verkörpert das Böse und führt so, wie schon gesagt, auf die Urzeiten („seit
unsäglichen Zeiten aus der Ungeschiedenheit“) zurück. Die Anwesenheit der Spinne
illustriert auch den Drang nach dem Mütterlichen: Man kann „psychoanalytisch
48
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.278
Lindemann, Klaus: Lauter schwarze Spinnen: Spinnenmotive in der deutschen Literatur. Eine
Sammlung. Bonn: Bouvier, 1990. S.3-4
49
25
deutend, in der Spinne ein Frauen- und Muttersymbol erblicken“.50 Kulessa erwähnt in
ihrem Werk den Psychoanalytiker Karl Abraham, der die Spinne „als Traumsymbol der
phallischen Mutter“51 bezeichnet hat. Die Angst vor der Spinne kann laut ihm mit einem
„Schrecken vor dem Mutterinzest und das Grauen vor dem weiblichen Genital“52
assoziiert werden. In „Das Unheimliche“ betrachtet Freud den Fall, bei dem
neurotischen Männern das weibliche Genitale als unheimlich erscheint, als „schönste
Bekräftigung“53 seiner These des Unheimlichen. Das Unheimliche zeigt sich als das
Heimlich-Heimische:
Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes,
zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat. „Liebe ist Heimweh“,
behauptet ein Scherzwort, und wenn der Träumer von einer Örtlichkeit oder
Landschaft noch im Träume denkt: Das ist mir bekannt, da wa ich schon einmal,
so darf die Deutung dafür das Genitale oder den Leib der Mutter einsetzen.54
Gotthelf greift mithilfe der Spinnendarstellung auf das Altbekannte zurück. Neben dem
Motiv der Spinnenverwandlung gibt es noch einige weitere Assoziationen der Spinne,
unter denen das Annehmen der Gestalt eines Krankheitsdämons oder des Teufels. Als
Krankheitsdämon deutet Spinnweben im Altertum auf das Vorkommen der Pest. In
Gotthelfs Erzählung kann die plötzliche „Sterbe“ als eine Anspielung auf das Phänomen
des „Schwarzen Todes“ gesehen werden. Die Spinne wird so vor allem in alten Zeiten
als etwas Negatives, Böses betrachtet, während dieses Tier später eine „dualistische“55
Rolle annimmt:
Bald erscheint sie als Schutzgeist, bald als böser Dämon. Als solcher spielt sie im
Hexen- und Teufelsglauben eine gewisse Rolle, wobei ihre Bedeutung in
Verwandlungssagen zu betonen ist.56
Hanne Kulessa spricht in Die Spinne: Schaurige und schöne Geschichten über „die bis
ins Mittelalter zurückgehende und im Grunde undefinierbare Abneigung gegen die
Spinnentiere“57, was unter anderem sogar dafür sorgt, dass diese Tierklasse lange nicht
50
Günther: Jeremias Gotthelf; Wesen und Werk. S.85
Kulessa, Hanne: Die Spinne: Schaurige und schöne Geschichten. Frankfurt am Main: Insel-Verlag,
1991. S.207
52
Kulessa: Die Spinne: Schaurige und schöne Geschichten. S.207-208
53
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.258
54
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.259
55
Daxelmüller, Christoph: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Berlin: De Gruyter, 1987.
S.280
56
Daxelmüller: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. S.280
57
Kulessa: Die Spinne: Schaurige und schöne Geschichten. S.195
51
26
von Zoologen wissenschaftlich studiert wird. Das mittelalterliche Setting ist also für
Gotthelf der ideale Zeitraum um den Aberglauben in seine Erzählung einzubringen und
die Spinne als das schreckliche Böse darzustellen. Die Spinne hat in dem Lebenskreis
der Menschen eine fortwährende unheimliche Ausstrahlung und ist innerhalb des
Bereichs der Literatur häufig präsent. Muschg redet in Gotthelf: die Geheimnisse des
Erzählers von Spinnensagen, bulgarischen, lettischen und kleinrussischen, die schon in
der Antike zu hören waren. So berichtet die Geschichte des Paracelsus, nach einer
appenzellischen Sage, von einem Doktor, der den Teufel, in der Gestalt einer Spinne,
aus einem Pflock befreit, ihn jedoch überlistet, indem der Teufel sich wieder in eine
Spinne verwandelt und wieder in das Loch des Pflockes zurückkriecht, sodass
Paracelsus diese wieder einpflöcken kann. „Die Einsperrung des Dämons“58, ist die
ganze Märchen- und Sagenliteratur hindurch ein häufig auftretendes Motiv:
[…] das Einsperren will nur noch symbolisch verstanden sein. Aber die ungeheure
Erregung der Szene verrät, daß der alte Zauber unbewußt in ihr nachschwingt, und
die Spinne selber ist ganz und gar Dämon geblieben. Urentsetzen geht von ihr aus
und beweist, mit welcher Macht die vergessenen Affekte hier wieder losbrachen,
ohne daß eine rationale Begründung für sie bestünde.59
Gotthelf hat sich für Die schwarze Spinne auf anderen Erzählungen basiert. Das ist
immerhin laut Muschg der Fall. Gotthelf soll nach Muschg auf alte deutsche und
schweizerische Sagen Berufung getan haben. Muschg weist auf zwei Fassungen der
Rohrbacher Sage Vo dr schwarze Spinnele, die „als Variationen von Gotthelfs Vorlage
gelten müssen“.60 Auch David Gallager ist dieser Ansicht. Gallagher erwähnt in The
Transmission of Ovid’s Arachne Metamorphosis in Jeremias Gotthelf’s Die Schwarze
Spinne noch drei weitere Beispiele: Der Geist im Glas, Die Spinne auf der Heidenburg
und Langbeins Erzählung Die schwarze Spinne. Gallagher geht davon aus, dass diese
Erzählungen von Ovids Metamorphosis, in der die heidnische Göttin Pallas Athene,
Meisterin der Weberkunst, das lydische Mädchen Arachne, eine Weberin, in eine
Spinne verwandelt, beeinflusst worden sind. „Die Vorstellung der Verwandlung
weiblicher Wesen in Spinnen ist sehr alt“61 und ist dem Bereich der Zauberei
zuzuordnen. Obwohl Gallagher nicht zeigen kann – was überhaupt nicht die Absicht
58
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.278
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.279
60
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.277
61
Daxelmüller: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. S.268
59
27
seines Aufsatzes wiedergibt –, dass die Erzählung von Ovid in Bezug auf das
Spinnenmotiv als Primärquelle für Texte innerhalb der deutschen Literatur betrachtet
werden kann, bildet sie andererseits “the original inspiration for the transmission of the
metamorphic image of the Spiderwoman to Swiss literature”.62 Der lateinische
Originaltext der Erzählung Arachnes wurde dann von Jörg Wickram und Hans Sachs
ins Deutsche übersetzt, sodass die Erzählung in Deutschland, Österreich, Tschechien
und der Schweiz ihre Fortsetzung finden konnte. In dieser Weise hat die Erzählung
ihren Weg zu den deutschen und den schweizerischen Sagen gefunden, die ihrerseits
Gotthelf für Die schwarze Spinne inspiriert haben können.
Der Aberglaube führt, so wie das Böse, auf die Urzeiten zurück. Muschg weist auf
die Wichtigkeit des Ortes, des Barhegen, in Die schwarze Spinne ein. Er umschreibt
diesen als einen der „urzeitlichen, meist hallstättischen Grabhügel, an denen sonntags
der grüne Jäger seine Hunde zusammenjohlt oder der Teufel seine Schätze sonnt.“63 Der
Barhegen ist der Platz, wo der Grüne sich meistens begibt. Der Berg erinnert den
Menschen an ältere Zeiten:
Im Emmental wie überall sind diese Berichte an Reste gebunden, deren Alter
höher ist, als die Sage selber weiß, die meist im Mittelalter spielt. Der Barhegen
bei Sumiswald, der im Mittelpunkt der „Schwarzen Spinne“ steht, trägt einen
keltischen Namen und ist mit seinem Halbkreiswall und Vorhof wohl ein
Bergheiligtum des Monddienstes gewesen, was auch der „Grüne“, der hier spukt,
verrät. Es sind auf ihm Funde aus der römisch-gallischen Zeit gehoben worden.
Das Grün des Teufels deutet auf einstigen Naturkult, auf den wilden Jäger; auf
Zwerge und die Geister der wilden Jagd zeigen häufig diese Farbe. Die einst
heiligen Orte sind zu Gespensterstätten, ihre Riten zu abergläubischen
Gebräuchen geworden.64
Der Grüne vertritt in der Spinnengeschichte Gotthelfs den Teufel. Er „entspricht ganz
dem volkstümlichen Glauben und wird sofort von dem Leser identifiziert.“65 Den
Bauern fällt dieser Gedanke erst später ein. Ihm zu vertrauen tun sie nicht sofort
(„Zweimal frug er also, und zweimal erhielt er keine Antwort“ – S.33), sodass „noch
schwärzer des Grünen schwarz Gesicht, noch röter das rote Bärtchen, […] wie Feuer im
Tannenholz“ (S.33) wurde. Erst wenn er für einen Teufel das Übliche verlangt, ein
62
Gallagher, David: The Transmission of Ovid’s Arachne Metamorphosis in Jeremias Gotthelf’s Die
Schwarze Spinne. Dordrecht: Springer, S.1
63
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.265
64
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.264-265
65
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.139
28
ungetauftes Kind, wird ihnen alles deutlich: „Das Wort zuckte durch die Männer wie
ein Blitz, eine Decke fiel es von ihren Augen, und wie Spreu im Wirbelwinde stoben sie
auseinander.“ (S.35). Von diesem Moment ab soll man vor dem Grünen auf der Hut
sein. Hans und ein Sigrist versuchen, umsonst, den Priester vor „den Wassern im Tale,
der aufgeschwollenen Grüne“ (S.75) zu warnen. Gallagher verknüpft die äußerlichen
Eigenschaften des Grünen mit der Umwandlung der Spinne in Langbeins Die schwarze
Spinne (1819):
In Langbein, the spider transforms into ‘‘einen langen, dürren Mann, mit spitzem
Kinn, krummer Nase und kleinen schielenden Augen... mit Gold verbrämtem
Federhut’’ and a ‘‘Rotmantel mit häßlichem Fußwerk’’ (VII, 47–49), and these
precise characteristics are paradoxically assumed by Gotthelf not for his spider,
but for his devilish Green Huntsman in Die schwarze Spinne: ‘‘Auf dem kecken
Barett schwankte eine rote Feder, im schwarzen Gesichte flammte ein rotes
Bärtchen, und zwischen der gebogenen Nase und dem zugespitzten Kinn’’66
Diese gemeinsamen äußerlichen Kennzeichen können auf die Tatsache weisen, dass
Gotthelf sich tatsächlich von der Erzählung Langbeins inspirieren lassen hat.
In Gotthelfs Die schwarze Spinne wird offensichtlich noch mit anderen Farben
und ihrer Bedeutung gespielt. Der Priester sieht „aus einem Hage hervorragen ein
schwarzes Haupt“ (S.75), was auf die Gestalt des Grünen hindeutet, da „auf diesem
[Haupt] schwankt die rote Feder“ (S.75). Alfred Reber geht auf die Bedeutung der
schwarzen Farbe in einigen Werken Gotthelfs genauer ein. An erster Stelle scheint das
Epitheton „schwarz” eine „harmlose Anspielung auf die Amtstracht der Geistlichen“.67
Zweitens ist schwarz jedoch „im Volksglauben die Farbe des Teufels“68, was die
volkstümliche Bezeichnung „der Schwarze“69 mit sich brachte. Der Aberglaube greift,
wie das Böse, auf das Uralte zurück, macht die mittelalterliche Angst vor der Spinne
wieder lebendig, erkennt in der Gestalt des Grünen den Teufel, und ermöglicht auf diese
Weise das Unheimliche in der Erzählung. Das Mittelalter, durch diesen Aberglauben
gekennzeichnet, erweist sich, wie wir bei van Gorp (siehe Punkt 1.5.) gesehen haben,
als eine ideale Zeitebene für die Schaffung des Unheimlichen.
66
Gallagher: The Transmission of Ovid’s Arachne Metamorphosis in Jeremias Gotthelf’s Die Schwarze
Spinne. S.4
67
Reber: Stil und Bedeutung des Gesprächs im Werke Jeremias Gotthelfs. S. 124
68
Reber: Stil und Bedeutung des Gesprächs im Werke Jeremias Gotthelfs. S. 124
69
Reber: Stil und Bedeutung des Gesprächs im Werke Jeremias Gotthelfs. S. 124
29
In Das kalte Herz ist die Anwesenheit guter (des Glasmännleins) und böser (des
Holländer-Michels) Geister normalerweise nicht als merkwürdig anzusehen. Denn, für
das Märchen gelten andere Regeln. Das Wunderbare ist selbstverständlich; sprechende
Tiere, Hexen, Riesen, Drachen, Zwerge sind keine Besonderheiten. Sowohl das Reale
als auch das Wunderbare sind in ein und derselben Welt vereinigt, während die Sage
„eine wahre Geschichte“70 erzählen möchte. Louis Vax macht in Thesen über das
Phantastische den Unterschied zwischen einer „eindimensionalen“ und einer
„zweidimensionalen“
Erzählung.
Bei
der
Gattung
der
Sage
ist
von
der
„zweidimensionalen“ Erzählung die Rede. „Die Begebenheiten spielen sich zwar in
unserer Welt ab, sind jedoch entweder durch ein Eindringen des Jenseits in unser
Universum […] gekennzeichnet.“71 Wenn eine Erzählung „eindimensional“ ist, bildet
„ihr Schauplatz eine Märchenwelt, die mit der wirklichen Welt nichts gemein hat.“72
Weiter heißt es, dass es keinen konkreten Bezug auf Ort und Zeit gibt. Einige Vorsicht,
denn Vax vergleicht die Volkssage mit dem Volksmärchen, und Das kalte Herz ist nicht
dem Genre der Volksmärchen, sondern dem der Kunstmärchen zuzuordnen. Obwohl es
einige Unterschiede zwischen dem Volks- und dem Kunstmärchen gibt, gelten die
Eigenschaften jedoch für die beiden.
Gerade zu Anfang der Erzählung, schon im ersten Satz, bekommt der Leser
jedoch mit, dass die Erzählung sich im Schwaben abspielt. Mehr spezifisch handelt sie
von den Menschen im Schwarzwald, einem Ort, der der Erzählung, laut van Gorp, einen
erkennbaren Charakter gibt. Andererseits kann solch ein Ort jemandem nach der
Lektüre einer unheimlichen Erzählung, die an diesem bestimmten Ort stattfindet, Angst
einflößen und das Gruseln noch verstärken. Hauff unterscheidet den badischen (die
„Glasmänner“ – S.4) vom württembergischen Teil (die „Flözer“ – S.4) des nördlichen
Schwarzwalds. Eine genaue Zeitbestimmung gibt es nicht, obwohl in Kunstmärchen die
damalige Gesellschaft (hier im Hinblick auf Holland) oft bekritisiert wird. Das bedeutet
aber nicht, dass ein Märchen, wenn es jedoch einen Bezug auf Zeit geben würde,
unbedingt in der Gegenwart stattfinden soll. Hauff verleiht seiner Erzählung
einigermaßen einen gegenwärtigen Charakter: „Noch vor kurzer Zeit glaubten die
Bewohner dieses Waldes an Waldgeister, und erst in neuerer Zeit hat man ihnen diesen
70
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.14
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.14
72
Paul: Dimensionen des Phantastischen. S.14
71
30
törichten Aberglauben benehmen können.“ (S.4) „Noch vor kurzer Zeit“ und „in
neuerer Zeit“ sind vage Bestimmungen. Erstere klingt jedoch vertraut (etwas kürzlich
geschehen) für den Leser, während letztere mit „neu“ auf den aktuellen Zeitraum deuten
möchte.
Klarer aber ist der Vorwurf des Erzählers dem Aberglauben gegenüber, der als
„töricht“ (S.4) betrachtet wird. Die Waldgeister leben nur „der Sage nach“ (S.4) im
Schwarzwald. Die Tatsache, dass die Menschen im Wald nicht mehr an Geister
glauben, schafft etwas Reales innerhalb der Erzählung. Genauso wie in Die schwarze
Spinne wird der Leser in eine Binnengeschichte eingeführt, allerdings kann man bei Das
kalte Herz eher von einer kurzen Einleitung statt von einer richtigen Rahmenerzählung
sprechen. Bei Gotthelf könnte man sich sogar die Frage stellen, ob nun die
Rahmenerzählung oder die Sage der Spinne den Vorzug genießt. Beide sind von
Bedeutung und werden einander abrupt gegenübergestellt. Die Ordnung am Tauftag
macht Platz für die unheimliche Geschichte des Großvaters. Hauffs Erzähler dagegen
beschreibt ganz kurz die beiden Typen von Bewohnern des Waldes, die „Glasmänner“
und die „Flözer“, wie auch das „Glasmännlein“ und den „Holländer-Michel“, die beiden
Waldgeister:
Mit diesen Waldgeistern soll einmal ein junger Schwarzwälder eine sonderbare
Geschichte gehabt haben, die ich erzählen will. Es lebte nämlich im Schwarzwald
eine Witwe, Frau Barbara Munkin; ihr Gatte war Kohlenbrenner gewesen, und
nach seinem Tod hielt sie ihren 16-jährigen Knaben nach und nach zu demselben
Geschäft an. (S.5)
Und so kann das Märchen, mithilfe der üblichen Formel, obwohl hier „es war einmal“
durch „soll einmal gegeben haben“ ersetzt wird, anfangen. Die Formel „es soll einmal“
wird von Muschg als typisch für die Sage bezeichnet. Er betont bei der Sage den Bezug
zu der Realität als unterscheidendes Merkmal im Vergleich zu der Gattung des
Märchens: „Es ist sogar ihr einziges unterscheidendes Merkmal, daß sie ihre Berichte an
bestimmte Personen, Orte und Begebenheiten, daß sie mit es soll einmal beginnt“.73
Man kann bei Hauff den Eindruck bekommen, dass er die Erzählung, wie eine
Volkssage, selbst irgendwann von irgendwem gehört hat. Dass Gotthelf die Sage, von
der Die schwarze Spinne berichtet, irgendwo gehört hat, ist anzunehmen. Muschg
versucht so die Quellen von Gotthelfs Sagen herauszufinden:
73
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.271
31
Noch schwieriger laufen die Linien bei der „Schwarzen Spinne“, von der Manuel
versichert, daß sie „aus Nachklängen einer eigentlichen Volkssage entstanden“
sei. Das Haus, um das sich die Erzählung dreht, ist noch in diesem Jahrhundert
glaubhaft gezeigt worden und von der gleichen Familie wie zu Gotthelfs Zeit
bewohnt gewesen, sodaß man vermuten kann, er habe die Sage hier, vielleicht
wirklich an einer Taufe, erzählen hören. Das wäre, wenn es zuträfe, ein
eindrucksvolles Zeugnis seiner Verbundenheit mit der mündlichen
Sagentradition.74
Handelt es sich bei Hauff auch nicht um eine Sage? Obwohl Das kalte Herz als
Märchen bezeichnet wird, zeigt es allerdings wichtige Züge der Sage und macht so
Platz für das Reale in der Erzählung. Das Wirtshaus im Spessart (1826), der
Märchenalmanach, in dem Das kalte Herz gesammelt ist, handelt auch eher vom Sagenals vom Märchenhaften. Neben der Erzählung des „16-jährigen Knaben“ (S.6), des
jungen Peter Munk, sind in dem Almanach Die Sage vom Hirschgulden, Saids
Schicksale und Die Hölle von Steenfoll, eine schottländische Sage, anzutreffen.
Vielleicht kann man bei Das kalte Herz von einem sagenhaften Märchen sprechen.
Unter den Einfluss der Brüder Grimm und ihrer Märchen wendet Hauff sich der
heimischen Welt zu. Das ist auch der Fall in Das kalte Herz. Die Erzählung berichtet
implizit über die gesellschaftlichen Veränderungen, die sich 1800, Beginn des 19.
Jahrhunderts, vordrängen. Die Menschen des Schwarzwaldes, immer noch Vertreter des
vorindustriellen Zeitalters, während andere Regionen und Länder – so Holland – sich
auf dem Weg nach Modernismus, mit der Industrie als Mittelpunkt der Gesellschaft,
befinden. Peter Munk ist in der Erzählung Sohn eines verstorbenen Kohlenbrenners,
und lebt bei seiner Mutter, die ihn „nach und nach zu demselben Geschäft“ (S.5) anhält.
Doch gefällt dieses Leben ihm nicht. „Ein Köhler hat viel Zeit zum Nachdenken über
sich und andere, […] es betrübte ihn etwas, es ärgerte ihn etwas, […] und das war – sein
Stand.“ (S.5) Hier kann auf ein häufig vorkommendes Motiv des Schauerromans (siehe
van Gorp unter Punkt 1.5.) verwiesen werden. Existenzielle Unzufriedenheit in Bezug
auf die eigene Person führt oft zu einem Teufelspakt, was auch der Fall ist in Hauffs
Märchen. Der Teufelspakt bildet dann den Anlass für eine unheimliche Erfahrung. Peter
sehnt sich nach einem Leben voller Reichtum und Ansehen, wie bei dem „dicken
Ezechiel“ (S.6), dem „langen Schlurker“ (S.6) und dem „Tanzboden-König“ (S.7) der
Fall ist, und sucht sein Glück bei dem Glasmännchen und dem Holländer-Michel.
74
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.277
32
Außer diesen Waldgeistern, die also nur „der Sage nach“ (S.4) bestehen, lassen sich in
der Erzählung keine übernatürlichen oder außergewöhnlichen Wesen wahrnehmen, es
sei denn das Eichhörnchen, in dessen Gestalt sich das Glasmännchen zu Anfang zeigt.
Wo Freud noch das Märchen von Schneewittchen in „Das Unheimliche“ als Beispiel
verwendet, möchte ich Das kalte Herz nicht auf dieselbe Ebene wie solche Märchen
stellen. Es gibt hier keinen Protagonisten, der mit sieben Zwergen zusammenlebt. Das
einzige Wesen, das Eichhörnchen, dem der Protagonisten in der ganzen Erzählung
begegnet, spricht nicht, ist nur die Ursache einer besonderen Erfahrung Peters. Wenn er
das Glasmännlein hervorzulocken versucht, ihm trotzdem noch ein Reim des
notwendigen Sprüchleins fehlt, sieht er nur dieses Eichhörnchen:
Das Eichhörnchen zeigte sich an den untersten Ästen der Tanne und schien
aufzumuntern oder zu verspotten. Es putzte sich, es rollte den schönen Schweif, es
schaute ihn mit klugen Augen an, aber endlich fürchtete er sich doch beinahe mit
diesem Tier allein zu sein, denn bald schien das Eichhörnchen einen
Menschenkopf zu haben und einen dreispitzigen Hut zu tragen, bald war es ganz
wie ein anderes Eichhörnchen und hatte nur an den Hinterfüßen rote Strümpfe und
schwarze Schuhe. Kurz es war ein lustiges Tier, aber dennoch graute KohlenPeter, denn er meinte, es gehe nicht mit rechten Dingen um. (S.11)
Trotz der Tatsache, dass es ein „lustiges Tier“ ist, flößt das Eichhörnchen Peter Angst
ein. Peter verliert den Überblick, die Kontrolle über die ganze Situation, weiß nicht, was
er sich genau anschaut, denn „bald schien das Eichhörnchen einen Menschenkopf zu
haben“, und bald „war es ganz wie ein anderes Eichhörnchen“. Darauf folgend fängt
ihm „zu grauen“ (S.11) an, wenn er den Tannenwald durchqueren soll, das „immer
schwärzer (S.11) wird, nimmt „aus Angst“ (S.11) die „entgegengesetzte Richtung“
(S.11) und wird so von den Flözern, auf der anderen Seite des Waldes, wo sich der
Holländer-Michel befindet, angezogen. Peter ist in dieser Lage ohnmächtig, was laut
Von der Thüsen auf das Unheimliche, einer fremden Macht weist. Es ist deutlich, dass
die Erzählung von Hauff mehrere Verbindungen mit dem Sagenhaften und dem
Unheimlichen aufweist. „Unglück und Verwandlung“ brechen nicht „aus dem Nichts,
als Verhängnis“75, wie bei Die schwarze Spinne der Fall ist, Peter sucht selbst die
Waldgeister auf, weiß aber nicht, dass er Handel mit dem Bösen, in der Gestalt des
Holländer-Michels, getrieben hat. Hauffs Märchenwelt ist nach meiner Ansicht, keine
Welt, in der das Wunderbare, Übernatürliche als das Normale betrachtet wird, sondern
75
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.280
33
eine, wo das Übernatürliche die Ausnahme bildet. Die Erzählung ist mit einer
spezifischen Ortsbestimmung versehen, handelt von einem ganz normalen Knaben, bei
dem eine typische Lage von Armut und Hoffnungslosigkeit skizziert wird, der sich
dieser schlechten Lage zu entfliehen versucht, und in einem letzten Versuch, reich zu
werden, seine Seele dem Teufel verkauft. Es ist eine Welt, wo man „nicht mit rechten
Dingen“ (S.11) zugeht, mit dem sowohl auf das Böse als auch auf das Wunderbare
verwiesen werden kann.
3.3. Wahrnehmungen der Charaktere: böse Absichten
3.3.1. Hans von Stoffeln
Die erste Figur, der man böse Absichten zutrauen kann, und die den anderen
Figuren also als unheimlich vorkommen kann, ist der Ritter Hans von Stoffeln, zu den
Teutschen gehörend, „eigentlich geistlichen“ (S.28) Rittern, die die heidnischen
Gewohnheiten ihrer preußischen Feinde übernommen haben, und leben, als „ob kein
Gott im Himmel wäre“ (S.28). „Einer der wüstesten“ (S.28) soll dieser von Stoffeln
gewesen sein, der die Bauern auf dem „wilden, wüsten Hubel in der Einöde“ (S.28),
weshalb wusste niemand, ein Schloss bauen ließ. Der schlechte Charakter der Ritter
zeigte sich in der Tatsache, dass sie auf die Bauern schlugen und schimpften, sich nicht
scheuten, die Peitsche zu benutzen und „große Freude an ihrer Angst, an ihrem
Schweiß“ (S.29) hatten. Das Schloss alleine reicht aber nicht für von Stoffeln und
seinen Orden, und die Herren laden die Bauern, die „bangten und hofften‘ (S.30) da
„nichts Gutes“ (S.30) von diesen gesagt wird, zum Rittersaal im Schloss ein. Die
Hoffnung der armen Bauern („mit klopfendem Herzen“ – S.30), ob die Ritter ihnen
jedoch nicht für den Bau des Schlosses danken möchte, wird in der darauffolgenden
Szene in Scherben geschlagen. Ihre Furcht dagegen wird bestätigt, da sich von Stoffeln
und seine Ritter als boshaft zeigen:
[…] obenan der von Stoffeln, ein wilder, mächtiger Mann, der einen Kopf hatte,
wie ein doppelt Bernmäß, Augen machte wie Pflugsräder und einen Bart hatte wie
eine alte Löwenmähne. Keiner ging gerne zuerst hinein, einer stieß den andern
vor. Da lachten die Ritter, dass der Wein über die Humpen spritzte, und wütend
stürzten die Hunde vor; denn wenn diese zitternde, zagende Glieder sehen, so
34
meinen sie, dieselben gehören einem zu jagenden Wilde. Den Bauern aber ward
nicht gut zumute, es dünkte sie, wenn sie nur wieder daheim wären, und einer
drückte sich hinter den andern. (S.30-31)
Die zitternden und zagenden Glieder deuten auf einen Schauer in einem unheimlichen
Sinne (siehe von der Thüsen unter Punkt 1.4). Die Bauern fürchten sich offensichtlich
vor den Rittern und ihren Hunden. Es wird den Bauern schlecht und sie möchten wieder
„daheim“ sein, am heimischen Herd, was uns bei Freuds Definition von „unheimlich“
als Gegensatz zu „heimlich“ bringt. Die Bauern bekommen im Schloss die schlechte
Nachricht, dass sie einen Schattengang auf dem Bärhegen, von 100 Buchen, pflanzen
sollten. Das stellt sie vor eine unmögliche Aufgabe. Unmöglich oder nicht, die Buchen
sollen innerhalb eines Monats da stehen, oder die Bauern werden mit „Gut und Blut“
(S.31) büßen. Wenn einer der Bauern über ihre eigene, harte Situation zu reden beginnt,
fängt „der Zorn des Ritters Kopf größer und größer zu schwellen“ (S.31) und bricht
seine Stimme los wie „der Donner aus einer Fluh“ (S.31).
3.3.2. Der Grüne
Derjenige, der jedoch den Menschen am meisten Angst einflößt, ist der „Grüne“,
von dem schon in dieser Arbeit in Zusammenhang mit dem Aberglauben gesprochen
wurde. „Ein grüner Jägersmann“ (S.32), „sie wussten nicht, woher“ (S.32), steht auf
einmal vor der Gruppe von hilflosen Bauern, fragt sie aus, und überredet sie,
teufelsweise, ihn ihnen helfen zu lassen. Auf die Frage, was er jetzt von ihnen erfordert,
um „des Handels“ (S.35) einig zu werden, „knisterte [es] in seinem Bärtchen, und wie
Schlangenaugen funkelten sie seine Augen an, und ein gräulich Lachen stand in beiden
Mundwinkeln“ (S.35). Die Assoziation mit einer Schlange kann der Leser mit der Figur
des Teufels verknüpfen. Erst von diesem Augenblick ab, wenn der Grüne um ein
ungetauftes Kind bittet, wissen auch die Bauern in der Erzählung, dass sie nicht mit
einem ganz gewöhnlichen Jägersmann, sondern mit dem Teufel zu tun haben:
Da lachte hellauf der Grüne, dass die Fische im Bache sich bargen, die Vögel das
Dickicht suchten, und grausig schwankte die Feder am Hute, und auf und nieder
ging das Bärtchen. […] so rief er den Fliehenden mit scharf tönender Stimme
nach, dass die Worte in ihren Ohren hängen blieben, wie Pfeile mit Widerhaken
hängen bleiben im Fleische. (S.35)
35
Die Begegnung mit dem Teufel bildet den Anlass einer „namenlosen Angst“ (S.36),
eines „Schrecken in alle Häuser“ (S.36). Die Reihenfolge im Satz „Blass und zitternd an
der Seele und an allen Gliedern stäubten die Männer nach Hause“ (S.35), weist auf die
Tatsache hin, dass die Leute sich vor dem Verlust ihrer Seele fürchten sollen. In der
Hoffnung, von Gotts Hilfe begleitet zu werden, werden die Bauern an erster Stelle
versuchen, die Buchen selbst, ohne Hilfe des Grünen, zu pflanzen. Von letzterem
„redete niemand; ob niemand an ihn dachte, ist nicht verzeichnet worden“ (S.37). Diese
Erwähnung des Erzählers ist jedenfalls als merkwürdig zu bezeichnen. Die Tatsache, ob
die Bauern nachher noch an den Teufel denken, ist nicht verzeichnet worden, ist
schriftlich nicht festgelegt worden. Ist die Erwähnung eine Anspielung, eine
Verweisung auf eine schriftliche Quelle, die Gotthelf für seine Erzählung benutzt hat?
Es steht meiner Meinung nach auf jeden Fall außer Zweifel, dass die Bauern den
Grünen, sein schreckhaftes Aussehen und Benehmen, nicht vergessen haben und ihnen
unheimlich vorkommt.
3.3.3. Christine
Neben dem Grünen und Hans von Stoffeln stehen die Bauern Christine, der
Lindauerin, misstrauisch gegenüber. „Ein grausam handlich Weib“ (S.36), mit „wilden,
schwarzen Augen“ (S.36), das „sich nicht viel vor Gott und Menschen“ (S.36) fürchtet.
Gotthelf spielt mit Namen, da Christine vom „Christus“ abgeleitet ist. Sie wirft den
Männern Feigheit vor, denn sie hat den Teufel schon selbst einmal gesehen, und wäre
gerne dabei gewesen, damit sie dem Grünen „kecker ins Gesicht“ (S.36) blicken konnte.
Sie gilt fast als Ausnahme, ist eine sonderliche Figur, die nicht wie die anderen Frauen,
sich darauf freuen, „daheim zu sein, in der Stille ihre Geschäfte zu beschicken, und die
sich um nichts kümmern als um Haus und Kind“ (S.39). In Gotthelf: Geheimnisse des
Erzählers umschreibt Muschg die Figur Christine als „eine Landesfremde“.76 Darüber
hinaus geschieht jedes Mal etwas Unheimliches, wenn sie in der Nähe ist. Wenn
Christine nachts vor ihrem Mann und seinen zwei Knechten erscheint, pfeift es fast,
„wie der Wind pfeift, wenn er aus den Kammern entronnen ist“ (S.39). Trotz ihres
76
Muschg: Gotthelf: die Geheimnisse des Erzählers. S.281
36
unangenehmen Vorkommens hilft sie jedoch den Bauern und gibt ihnen ihren Rat.
Wenn diese Männer vor Schreck, „wie Spreu im Wirbelwinde“ (S.40), den Hügel
aufstieben, da der Grüne plötzlich auftaucht, ist Christine nicht im Stande, zu „fliehen“
(S.40) und bleibt „wie gebannt“ (S.40) stehen. Das freundliche Benehmen des Teufels
der Lindauerin gegenüber sorgt dafür, dass Christine der Jägersmann „immer weniger
schreckhaft“ (S.41) vorkommt und sich der Gedanke, „mit dem ließe sich etwas
machen“ (S.41) aufdrängt. Das führt zum Kuss mit dem Grünen, statt der
gebräuchlichen Unterschrift mit Blut, der die „Geburt“ der Spinne zur Folge hat.
Obgleich Christine an erster Stelle den Teufel in die Irre führen möchte und nicht ohne
Weiteres auf den Pakt eingeht, kommt sie den anderen Figuren in Gotthelfs Erzählung
unheimlich vor und gilt sie als eine Fremde.
3.3.4. Der Holländer-Michel
Der Holländer-Michel, „so groß, dass ein gewöhnlicher Mann bis an den Hals
hineinstehen könnte“ (S.5), ist die Figur in Das kalte Herz, die den anderen Leuten in
der Erzählung am meisten als unheimlich vorkommt. An all dem Bösen im
Schwarzwald hat er Schuld, und nachdem der Großvater die Sage von dem Riesen
erzählt hat, fügt er am Ende hinzu, dass er „nichts von ihm haben“ (S.16) möchte:
[…] seit Jahren treibt er seinen Spuk im Wald, und man sagt, dass er schon vielen
behülflich gewesen sei, reich zu werden aber – auf Kosten ihrer armen Seele, und
mehr will ich nicht sagen. (S.15)
Nicht nur dem Großvater, sondern auch Peter hat die Sage Angst gemacht. Letzterer
hatte noch „nie so schwere Träume gehabt, wie in dieser Nacht“ (S.16). Schon hier
(„auf Kosten ihrer armen Seele“) gibt es eine Anspielung auf eine mögliche
Teufelsgestalt. Es wird noch einige Male mit dem Wort „Seele“ („Peter du bist ein
armer Tropf, und dauerst mich in der Seele“ – S.19) gespielt. Wenn Peter letztendlich
das Lied von den drei Burschen aufs Neue gehört hat, das Verslein ergänzen kann und
sich auf dem Wege nach dem Glasmännlein begeben möchte, begegnet er zum ersten
Mal dem Holländer-Michel. Es erscheint Peter „eine furchtbare Gestalt“ (S.19), vor der
er „beinahe in die Kniee“ (S.19) sank und „heftig zitterte“ (S.19). Wenn Peter gegen ihn
lügst, droht dieser sogar, Peter „mit der Stange zu Boden“ (S.19) zu schlagen. Genauso
wie bei Christine in Die schwarze Spinne, die „wie gebannt“ stehen bleibt, wird der
37
Protagonist in Hauffs Erzählung dem Teufel nicht entfliehen können. An erster Stelle
geht Peter, „von unerklärlicher Angst und Bangigkeit“ besessen (S.20), nicht auf das
Angebot des Waldgeistes ein und scheint die Aussage des Höllander-Michels („du
entgehst mir nicht“ – S.20) nicht so bedrohend. Doch, weitere „Flühen und Drohungen“
(S.20) folgen, wenn Peter, nachdem er nicht „unweit vor ihm einen kleinen Graben“
(S.20) sieht, versucht, die Grenze zu erreichen und dem bösen Holländer-Michel zu
entkommen:
Der junge Mann setzte mit einem verzweifelten Sprung über den Graben, denn er
sah, wie der Waldgeist mit seiner Stange ausholte, und sie auf ihn
niederschmettern lassen wollte; er kam glücklich jenseits an, und die Stange
zersplitterte in der Luft, wie an einer unsichtbaren Mauer, und ein langes Stück
fiel zu Peter herüber. […] aber in diesem Augenblick fühlte er das Stück Holz in
seiner Hand sich bewegen, und zu seinem Entsetzen sah er, dass es eine
ungeheure Schlange sei […], die sich schon mit geifernder Zunge und blitzenden
Augen an ihm hinaufbäumte. (S.21)
Das Glasmännlein, in der Gestalt eines Auerhahns, erfasst die Schlange, worauf der
Holländer-Michel „heulte und schrie und raste“ (S.21). Hier kann die Schlange, wie bei
Gotthelfs Sage, wiederum mit dem Teufel assoziiert werden. Nach dem Treffen tritt der
Michel in den nächsten Szenen mehrere Male ungewollt hervor und möchte aufs Neue
mit dem jungen Peter in Kontakt treten. Wenn das Geld, das er sich beim
Glasmännchen gewünscht hat, alle weg ist und er ins Unglück gerät, tritt der HolländerMichel, wie aus dem Nichts und dem dicken Ezechiel unsichtbar, wieder in den
Vordergrund. Es erinnert uns an die Lage in Die schwarze Spinne, wo der Grüne auf
einmal vor den Bauern steht und ihnen „seine Hilfe“ anbietet. In Hauffs Märchen drängt
auch der Michel sich auf und entscheidet sich, Peter nicht in Ruhe zu lassen, bevor er
sein Herz bekommen hat. Peter, auf dem Wege nach Hause, nachdem er aus dem
Wirtshaus hinausgeschmissen worden ist, trifft „eine dunkle Gestalt“ (S.31). Peter weiß,
„wer so zu ihm spreche, aber es kam ihn ein Grauen an“ (S.31). Obwohl der HolländerMichel geradeso wie der Grüne bei Gotthelf ein unheimliches Aussehen hat, ist er
trotzdem imstande, seinen Gesprächspartner einfach zu überreden. Der Michel ist
sowohl derjenige, mit einer Stimme, „die heraufschallte wie eine tiefe Totenglocke“
(S.33) und der sich so groß macht „wie ein Kirchturm“ (S.32), als auch derjenige, der in
seiner Stube „einen Krug Wein“ (S.33) holt und mit dem Kohler zu „schwatzen“
anfängt, sogar „von den Freuden der Welt, von fremden Ländern, schönen Städten und
38
Flüssen“ (S.33), dass Peter sich nach diesen Dingen sehnt. So überzeugt er Peter auch
zu einem Teufelspakt, zu dem Austausch seines Herzens für ein steinernes.
In Die schwarze Spinne besteht der Handel mit dem Teufel aus einem Kuss. Bei
Hauffs Erzählung ist der Protagonist damit einverstanden, das eigene Herz
auszutauschen, was Peter Munck meiner Meinung nach sowohl wunderlich als auch
unheimlich betrachtet. Mit Rücksicht auf die Beziehung zwischen dem Wunderbaren
und dem Unheimlichen
geht
Irmgard Nickel-Bacon
in Alltagstranszendenz.
Literaturhistorische Dimensionen kinderliterarischer Phantastik auf das Motiv „das
steinerne Herz“ ein. Sie erwähnt unter anderem Das Herz des Piraten von Benno
Pludra:
Auch das Motiv des kalten oder versteinerten Herzens, das für die deutschen
Romantiker so bedeutsam war, kehrt im modernen phantastischen Kinderroman
wieder. Bei Benno Pludra (1985) findet ein einsames Mädchen einen magischen
Stein, der sich als das Herz eines toten Piraten erweist und im Dialog mit dem
Kind warm und lebendig wird. Das Wunderbare und das Unheimliche treten
zugleich in Jessicas Leben, denn der Stein ist ihr zwar Vertrauter und Vaterersatz,
zugleich erzählt er ihr von grausamen Verbrechen.77
Ich möchte anhand dieses Beispiels illustrieren, dass das Motiv des versteinerten
Herzens zugleich das Wunderbare und das Unheimliche in dem Märchen erlaubt.
Obwohl bei Hauffs Erzählung die Lage nicht so komplex ist, wie bei Das Herz des
Piraten, möchte ich jedoch zeigen, dass auch in Das kalte Herz das Wunderbare und
das Unheimliche zusammengehen. Ein steinernes Herz wird in der Welt von Peter nicht
als etwas Normales gesehen. Eine erste Anspielung auf den Austausch des Herzens
findet statt, wenn Peter an eine mögliche Spende vom Holländer-Michel denkt, doch
den Gedanken wechselt, da der Michel nicht aussieht, dass er Geld wegschenken würde,
„ohne etwas dafür zu verlangen“ (S.20). Das Schütteln des Geldes in der Tasche des
Holländer-Michels erinnert ihn an den schweren Traum am Abend, wo der Großvater
ihm die Sage erzählt. Gerade in diesem Augenblick zuckt Peters Herz „ängstlich und
schmerzhaft“ (S.20) und wird ihm „kalt und warm“ (S.20). Der Riese lädt Peter zu
seinem Haus ein, um dort zu sehen, ob sie „handelseinig“ (S.32) werden können. Das
verursacht bei Peter jedoch einige Unsicherheit: „Handelseinig?, dachte Peter. Was
kann er denn von mir verlangen, was kann ich an ihn verhandeln? Soll ich ihm etwa
77
Nickel-Bacon, Irmgard: Alltagstranszendenz. Literaturhistorische Dimensionen kinderliterarischer
Phantastik. < http://www.fba.uni-uppertal.de/germanistik/lehrgebiet4/p_pics/Alltagstranszendenz.pdf>
S.14 (01.07.2008)
39
dienen, oder was will er?“ (S.32). Wenn sie im Gespräch auf das Herz zu reden
kommen, ist Peter, als ob „sein Herz sich ängstlich hin und her wendete“ (S.34), und
wenn danach deutlich wird, dass der Holländer-Michel „das kaum pochende Ding“
(S.34) auffordert, reagiert Peter voller Bestürzung: „Euch mein Herz? […]. Da müsste
ich ja sterben auf der Stelle! Nimmermehr!“ (S.34). Nach Freud in „Das Unheimliche“
ist jemand, der ein steinernes Herz hat, nicht als unheimlich zu betrachten:
Scheintod und Wiederbelebung von Toten haben wir als sehr unheimliche
Vorstellungen kennen gelernt. Dergleichen ist aber wiederum im Märchen sehr
gewöhnlich; wer wagte es unheimlich zu nennen, wenn z. B. Schneewittchen die
Augen wieder aufschlägt?78
Was ich schon in dieser Arbeit betont habe, dass sich die Erzählung Hauffs meiner
Meinung nach mehr der Realität nähert als ein Märchen wie Schneewittchen, möchte
ich an dieser Stelle wiederum als Argument einbringen. Peter erscheinen die Herzen in
der Stube des Michels zwar zuerst als etwas Wunderliches:
[…] als er über die Schwelle trat, aber er achtete es nicht, denn der Anblick, der
sich ihm bot, war sonderbar und überraschend. Aus mehreren Gesimsen von Holz
standen Gläser, mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt, und in jedem dieser Gläser
lag ein Herz, auch waren an den Gläsern Zettel angeklebt und Namen darauf
geschrieben, die Peter neugierig las […] (S.34-35)
Das Wunderbare liegt in dem Sonderbaren, was Peter neugierig macht. Wenn aber der
Holländer-Michel die Worte „das steinerne Herz“ tatsächlich in den Mund nimmt, wird
das Sonderbare zu etwas Unheimlichem, und kann Peter sich „eines Schauers, der ihm
über die Haut ging, nicht erwehren“ (S.35). Zu Anfang der Erzählung verweist der
Großvater auf die Figuren des dicken Ezechiels, des langen Schlurkers und des
Tanzboden-Königs, und möchte „um keinen Preis in der Haut“ (S.16) dieser Männer
stecken. Es ist ihr „unmenschlicher Geiz, ihre Gefühllosigkeit gegen Schuldner und
Arme“ (S.7), die sie bei den Menschen im Schwarzwald „verhasst“ (S.7) machen.
Bevor Peter sein Glück beim Holländer-Michel zu finden versucht, ist er „Tanz-Kaiser“
(S.27): „Des Tanzboden-Königs Künste wurden von den übernatürlichen Künsten des
neuen Tänzers zuschanden“ (S.27). Das Übernatürliche, Wunderliche wird später in der
Erzählung also von dem Unheimlichen verdrängt. Damit möchte ich auch auf die Figur
des Holländer-Michels deuten. Der Waldgeist erscheint Peter Munck an erster Stelle als
ein Zauberer, der einen reich machen kann, hat zugleich ein unheimliches Vorkommen
78
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.260
40
und zeigt sich als eine furchtbare Gestalt. Die Sage des Großvaters warnt Peter vor dem
Holländer-Michel, aber erst wenn Peter herausfindet, was der Michel nun eigentlich von
ihm verlangt, wird er sich des Bösen bei dem Waldgeist bewusst. Der Holländer-Michel
und der Austausch des Herzens werden von Peter letztendlich als etwas Unheimliches
empfunden.
3.3.5. Peter Munck
Zu Hause des Holländer-Michels „tranken und tranken“ (S.36) sie, „bis Peter in
einen tiefen Schlaf verfiel“ (S.36). Von diesem Augenblick ab, wenn Peter erwacht
„beim fröhlichen Schmettern eines Posthorns“ (S.36) und er „in blauer Ferne hinter sich
den Schwarzwald liegen“ (S.36) sieht, ist ihm alles freilich. Peter hat jetzt ein kaltes,
marmorartiges Herz, das dafür sorgt, dass er „weder Angst noch Schrecken, weder
törichtes Mitleiden noch anderer Jammer“ (S.35) fühlen kann:
Er fuhr zwei Jahre in der Welt umher, und schaute aus seinem Wagen links und
rechts an den Häusern hinauf, schaute, wenn er anhielt, nicht als den Schild seines
Wirtshauses an, lief dann in der Stadt umher, und ließ sich die schönsten
Merkwürdigkeiten zeigen; aber es freute ihn nichts, kein Bild, kein Haus, keine
Musik, kein Tanz, sein Herz von Stein nahm nichts Anteil, und seine Augen, seine
Ohren waren abgestumpft für alles Schöne. Nichts war ihm mehr geblieben, als
die Freude an Essen und Trinken und der Schlaf, und so lebte er, indem er ohne
Zweck durch die Welt reiste, zu seiner Unterhaltung speiste und aus Langerweile
schlief. (S.37)
Peter Munck liegt nicht wie Schneewittchen scheintot in einer Kiste, kann immer noch
alles dasselbe machen wie vor dem Austausch, aber es ist ihm, als wenn er „nur halb
lebte“ (S.38). Dieses Gefühl, das Peter empfindet, kann als unheimlich gekennzeichnet
werden. Darüber hinaus stehen die Schwarzwälder dem reichen Peter nach seiner Reise
misstrauisch gegenüber und betrachten ihn in diesem Sinne auch als unheimlich. Peter
befindet sich jetzt auf einer Ebene, höher als der des irdischen: „Nicht irdische Gerichte
sind es, die du zu fürchten hast, sondern andere und strengere; denn du hast deine Seele
an den Bösen verkauft“ (S.44). Wenn Peter zum Wirtshaus wiederkehrt, ist er anfangs
sehr geliebt, wird trotzdem schnell zu einem gehassten Typ, so wie der dicke Ezechiel,
der lange Schlurker und der Tanzboden-König. Er beschäftigt sich neben Holzhandel,
„aber nur zum Schein“ (S.39), vor allem mit Handel in Korn und lässt von dem
Amtmann alle Häuser, derjenigen, die nicht rechtzeitig bezahlen können, verkaufen:
41
Anfangs machte dies dem reichen Peter einige Unlust, denn die armen
Ausgepfändeten belagerten dann haufenweise seine Türe, die Männer flehten um
Nachsicht, die Weiber suchten das steinerne Herz zu erweichen und die Kinder
winselten um ein Stücklein Brot, aber als er sich ein paar tüchtige Fleischerhunde
angeschafft hatte, hörte diese Katzenmusik, wie er es nannte, bald auf; er pfiff und
hetzte, und die Bettelleute flogen schreiend auseinander. (S.40)
Peter übt an dieser Stelle selbst Macht aus, ist nicht mehr der arme Kohlenbrenner wie
am Anfang der Erzählung. Wie der Ritter Hans von Stoffeln in Die schwarze Spinne
verfügt Peter über mehrere Hunde, mit denen er die Absicht hat, den Menschen Angst
einzuflößen und seine Machtposition nachdrücklich zur Geltung zu kommen lassen. Der
Protagonist in Hauffs Geschichte geht sogar so weit, dass er seine Frau ermordet. Wo
früher die Stimme des Holländer-Michels noch „wie eine tiefe Totenglocke“ (S.33)
heraufschallte, schreit Peter jetzt mit „einer schrecklichen Stimme“ (S.43) und hat ein
„blutrotes Gesicht“ (S.43), kommt den Menschen also selbst schreckhaft vor. Am
meisten verhasst er das „alte Weib“ (S.40), eine Bereicherung, mit der er auf seine
eigene Mutter verweist. Diese, „in Not und Elend geraten“ (S.40), hat keinen Platz mehr
im Leben ihres Sohnes, wenn sie vor seiner Tür steht, wird sie sogar weggejagt,
bekommt aber ab und zu von „einem Knechten“ (S.40) doch „einen Sechsbätzner“
(S.40):
Er vernahm ihre zitternde Stimme, wenn sie dankte und wünschte, es möge ihm
wohlgehen auf Erden, er hörte sie hüstelnd vor der Türe schleichen, aber er dachte
weiter nicht mehr daran, als dass er wieder sechs Batzen umsonst ausgegeben.
(S.40)
Diese Missgunst, seiner Mutter und armen Leuten gegenüber, kann eine unbewusste
Sehnsucht nach dem Wunsch, wieder „ein schwarzer, einsamer Kohlenbrenner“ (S.5) –
der wohl imstande ist zu fühlen – zu sein, ersetzen. Eine Art Verlangen nach dem
Verdrängten findet hier statt:
Könnet Ihr das Herz Steinherz nicht beweglicher machen, oder – gebt mir lieber
mein altes Herz; ich hatte mich in fünfundzwanzig Jahren daran gewöhnt, und
wenn es zuweilen auch einen dummen Streich machte, so war es doch munter und
ein fröhliches Herz. (S.38)
Peter möchte sein eigenes Herz, sein früheres Leben zurückbekommen. Diese
Sehnsucht widerspiegelt sich in der Wahl seiner Frau. Auf der Suche nach einer Gattin
genügt keine der „schönen Schwarzwälderinnen“ (S.40). Letztendlich erfährt er doch
etwas über eine mögliche Kandidatin, die „Schönste und Tugendsamste im ganzen
42
Wald“ (S.40). Diese ist die Tochter „eines armen Holzhauers“ (S.40), was Peter auf das
Altbekannte, das Verdrängte, zurückführt. Auch er war früher jemand, der „sich nie auf
dem Tanzboden sehen“ (S.41) ließ. Die Unfähigkeit, zu fühlen, „Mitleiden mit armen
Leuten“ (S.41) zu haben, wiederum sich selbst zu sein, mündet in den Mord an seiner
Gattin, Frau Lisbeth. Nachdem Peter, nach der Konfrontation mit dem Glasmännlein,
von einigen Männern geweckt wird, hält er alles für „einen schrecklichen Traum“
(S.45), stellt jedoch gleich fest, dass das Vorangehende „bittere Wahrheit“ (S.45) ist
und Lisbeth tatsächlich von ihm getötet worden ist. Anhand einer List gelingt es Peter
jedoch, das eigene, warme Herz wiederzugewinnen, was aufs Neue seine Gefühle ins
Leben bringt:
[…] und alle Herzen umher fingen an zu zucken und pochen, dass es tönte, wie in
der Werkstatt eines Uhrenmachers. Peter aber fürchtete sich, es wurde ihm ganz
unheimlich zumut, er rannte, zur Kammer und zum Haus hinaus, und klimmte,
von Angst getrieben, die Felsenwand hinan; denn er hörte, dass Michel sich
aufraffte, stampfte und tobte, und ihm schreckliche Flüche nachschickte. (S.50)
Am Ende der Erzählung, nach der Tatsache, dass er also das eigene Herz
zurückbekommen hat und sich wieder zum Guten bekehrt hat, sieht er doch „seine
Mutter und Lisbeth, seine Frau, die ihn freundlich anblickten“ (S.52). Das Unheimliche
– Peter denkt, dass das Glasmännchen ihn mit seiner Axt töten wird – macht seinerseits
Platz für das Wunderbare und das Märchenhafte, indem der Leser ein gutes Ende der
Erzählung zu lesen bekommt. Es ist deutlich, dass Peter den Anderen nach dem Pakt
mit dem Holländer-Michel schreckhaft vorkommt. Er ist selbst jemand, den man
meiden soll, und erst, wenn es ihm gelingt – was Christine bei Gotthelf nicht schafft –
den Teufel zu täuschen, wird Peter wieder sich selbst.
3.3.6. Das Glasmännlein
Nur diejenigen, die „an einem Sonntag zwischen elf und zwei Uhr geboren“ (S.8),
sind imstande das Glasmännlein, mithilfe eines Sprüchleins, hervorzurufen.
Glücklicherweise ist das gerade der Fall für den Helden unserer Geschichte. Wenn er
das erste Mal darüber informiert wird, ist Peter voller „Freude und Begierde“ (S.8) und
macht sich auf den Weg nach dem Tannenbühl. Diese Begeisterung wird trotzdem
schnell durch negative Gefühle ersetzt. Es sei dort „unsicher“ (S.9) und es wird ihm
43
„ganz schaurig“ (S.9), denn die Sage lautet, dass an diesem Ort „Mann und Holz
verunglücke, wenn ein Tannenbühler mit im Wasser sei“ (S.9). Der Ort, in dem sich der
gute Waldgeist aufhält, bildet merkwürdigerweise den Anlass für eine unheimliche
Erfahrung. Obwohl Peter Angst hat, setzt er seine Reise nach dem Männchen trotzdem
fort. An dem Tannenbühl angekommen, versucht er ein erstes Mal, das Geistchen
anzurufen, was ihm jedoch nicht gelingt. Bei dem zweiten Versuch spricht er das
Verslein, von dem er nur die ersten drei Zeilen kennt, bekommt aber doch den
Eindruck, das Glasmännlein oder wenigstens „eine sonderbare Gestalt“ (S.10) gesehen
zu haben. Das „schwarze Wämschen“ (S.10), die „roten Strümpfchen“ (S.10) und das
„Hütchen“ (S.10) entsprechen allerdings der Beschreibung des Geistchens in den
Erzählungen der abergläubischen Dorfbewohner. Dieselbe Farben sind in Die schwarze
Spinne bei der Beschreibung des Grünen zurückzufinden. Sie deuten in diesem Fall
jedoch nicht auf die Anwesenheit des Teufels. Peter ruft dem Geistchen nach, bekommt
aber keine Antwort, nur glaubt er ein „leises, heiseres Kichern“ (S.10) gehört zu haben,
verliert darauf die Geduld, vergisst seine „Furcht“ (S.10) und versucht sogar den
„kleinen Burschen“ (S.10) zu erfassen. Das Einzige, was jedoch in der Gegend
anzutreffen ist, ist ein „zierliches Eichhörnchen“ (S.11), und in dieser Szene wird er
selbst von Angst erfasst. Wo Peter sich ein angenehmes Treffen mit dem Glasmännchen
vorgestellt hat, erfährt er diese erste Begegnung als sonderbar und unheimlich. Bei
dieser Erfahrung gehen Angst und Neugier wiederum zusammen. Später träumt Peter
von dem Glasmännlein, das in diesem Augenblick dann wieder als „klein“ (S.16) und
„freundlich“ (S.16) umschrieben wird. Peter soll einfach auf das Verb ‚stehen‘ einen
Reim finden, hatte aber „in seinem Leben noch keinen gemacht“ (S.17). Aufs Neue
kommt hier „Zufall“ ins Spiel:
Als er noch so dasaß und trübe vor sich hinschaute, und an den Reim auf stehen
dachte, da zogen drei Bursch vor dem Haus vorbei in den Wald, und einer Sang
im Vorübergehen:
„Am Berge tat ich stehen
Und schaute in das Tal,
Da hab ich sie gesehen
Zum allerletzten Mal.“
Das Glasmännlein darf als guter Waldgeist bezeichnet werden, Peter Munk empfindet
ihm gegenüber jedoch gemischte Gefühle und so auch eine gewisse Angst. Die
44
Begegnung mit den Burschen weist an erster Stelle auf den glücklichen Zufall, kann
meiner Meinung nach als unheimlich empfunden werden. Peter soll unbedingt den Weg
zum Glasmännchen finden. Nach diesem Traum, die ihm „sonderbar" (S.17) vorkommt,
kommen die drei Burschen, von denen einer gerade das Lied singt mit dem Reim auf
das Verb „stehen“, das wie „ein leuchtender Blitz durch Peters Ohr“ (S.17) führt. Peter,
der meint das „nicht recht gehört zu haben“ (S.17), springt den drei Männern hinterher,
greift den Sänger beim Arm und, als ob er sich einen Augenblick in Wahnsinn verliert,
befiehlt („Nein, sagen sollst du, was du gesungen hast!“ schrie Peter beinahe außer sich
– S.18), das Lied zu wiederholen. Bildet Peters Gelddrang den Anlass für solch ein
gewaltiges Benehmen, denn es scheint, als ob er unbedingt das Waldgeistchen finden
muss, oder zieht das Geistchen Peter selbst an sich? Der Angriff Peters gefällt der
Gesellschaft auf jeden Fall nicht, sodass sie beschließen, den jungen Knaben auf einen
Prügel einzuladen. Doch Peter bittet sie, da er „die Schläge habe, sei so gut und saget
deutlich, was jener gesungen“ (S.18). Nach demjenigen, was geschehen ist, erwartet
man doch, dass die drei Männer nicht auf die Bitte eingehen werden, aber wiederum hat
Peter das „Glück“ an seiner Seite und bekommt nachträglich seinen Reim für das
Verslein. Von Zufall scheint hier nicht mehr die Rede zu sein. Bei der zweiten
Begegnung mit dem Waldgeistchen rettet dieser Peter aus den Händen des HolländerMichels, sodass er sein Vertrauen auf das Männchen setzt. Dieses Mal trifft er auch
tatsächlich das Glasmännlein, selbst wenn er das Verslein „nicht ganz getroffen“ (S.21)
hat. Er hat „ein feines, freundliches Gesichtchen, und ein Bärtchen so zart wie aus
Spinnenweben“ (S.21) und jedes Sonntagskind, das ihn findet, bekommt drei Wünsche,
von denen die ersten zwei frei sind und der dritte verweigert werden kann. Das
Glasmännlein erfüllt seine ersten zwei Wünsche, obwohl diese erbärmlich oder dumm
sind, denn Peter möchte „noch besser tanzen können, als der Tanzbodenkönig, und
jedes Mal noch einmal so viel Geld ins Wirtshaus bringe[n] als er“ (S.23). Beim
zweiten Wunsch bittet er um „die schönste und reichste Glashütte im ganzen
Schwarzwalde“ (S.24), weil Verstand ihn laut dem Glasmännlein so viel weiter helfen
könnte. Die Erfüllung von drei Wünschen ist zwar ein sehr häufig vorkommendes
Märchenmotiv, das Waldgeistchen hat jedoch seine eigenen Regeln, da er den letzten
Wunsch verweigern kann. Freud hat es in seinem Aufsatz „Das Unheimliche“ über das
Anrühren an der animistischen Entwicklungsphase des Menschen, und führt dafür das
45
Beispiel des Ringes von Polykrates an. Dem Träger dieses Ringes werden die Wünsche
sofort erfüllt. Für Peter verläuft es beim Glasmännlein jedoch ein bisschen anders, und
er hat darüber hinaus mit Einigem zu rechnen:
[…] hier sind zweitausend Gulden, und damit genug, und komm mir nicht wieder
um Geld zu fordern, denn dann müsste ich dich an die höchste Tanne aufhängen;
so hab ich’s gehalten, seit ich in dem Wald wohne […] (S.24)
Es gibt schon eine Bedingung, und diese ist dann auch eine direkte Todesbedrohung. In
Bezug auf die Erfüllung der drei Wünsche gibt es Freud zufolge ähnliche Mechanismen
bei den Menschen. Bei Zwangsneurotikern ist eine Störung innerhalb der animistischen
Entwicklungsphase anzutreffen, weil sie alle ihre Wünsche befriedigt wissen möchten.
Es wird dann als unheimlich empfunden, wenn auf diese Störung, diesen überzogenen
Narzissmus, eingegangen wird, wenn dieses Stadium „angerührt“79 wird. In Peters Fall
ist nicht die Rede von einem Zwangsneurotiker, man kann jedoch von Narzissmus
sprechen. Peter will ebenso erfolgreich sein wie der dicke Ezechiel, der lange Schlurker
und der Tanzboden-König, möchte seine drei Wünsche in Erfüllung sehen, lässt seine
Mutter hinter sich, kehr jedoch wieder, aber einmal, wenn er tatsächlich so reich ist und
so viel Ansehen wie diese drei Männer hat, kümmert er sich nicht mehr – es sei denn
wegen des kalten Herzens – um seine Mutter und verliert sie aus dem Auge. Bevor
Peter sein Glück bei dem Holländer-Michel sucht, hat er noch eine Begegnung mit dem
Glasmännlein. Peter verbringt seine Zeit beim „Schlemmen und Spielen“ (S.27) und die
Glashütte, die er sich gewünscht hatte, gerät „nach und nach in Verfall“ (S.27). Es ist
klar, dass Peter nur an sich selbst denkt und die Realität aus dem Auge verliert. So sieht
er unter anderem nicht ein, dass er selbst Schuld an dem Verfall der Glashütte, an
seinem Unglück ist. Auf dem Wege nach Hause, nach einem Abend im Wirtshaus und
nach „vielem Wein“ (S.28), trifft er das Waldgeistchen, gerät „in Zorn und Eifer“ (S.28)
und gibt ihm die Schuld für all sein Unglück. Er fasst darauf das Glasmännlein „unsanft
am Kragen“ (S.28) und trägt ihn auf, Geld zu geben. Gerade dasjenige, warum er nicht
mehr bitten sollte:
„Hab ich dich jetzt, Schatzhauser im grünen Tannenwald? Und den dritten
Wunsch will ich jetzt tun, den sollst du mir gewähren; und so will ich hier auf der
Stelle zweimal hunderttausend harte Taler, und ein Haus und – o weh!“, schrie er
und schüttelte die Hand, denn das Waldmännlein hatte sich in glühendes Glas
79
Freud: Werke aus den Jahren 1917-1920. S.254
46
verwandelt und brannte in seiner Hand wie sprühendes Feuer. Aber von dem
Männlein war nichts mehr zu sehen. (S.28)
Peter bleibt von diesem Treffen nur eine „geschwollene Hand“ (S.28) übrig. Er hat nicht
das brennende Gefühl, das Christine in Die schwarze Spinne nach dem Kuss von dem
Grünen verspürt, trotzdem ist die geschwollene Hand ein Zeichen, dass er sich in
solchen Momenten vor dem Männchen fürchten soll. Der junge Munck geht dann auf
die Suche nach dem Holländer-Michel, muss unterwegs durch den grünen Tannenbühl,
beeilt sich, als ob „die Gerichtsdiener ihm auf den Fersen wären“ (S.32). Er hat nämlich
das Gefühl, „als halte ihn eine unsichtbare Hand auf“ (S.32), kann jedoch entkommen,
läuft bis „an die Grenze“ (S.32) und trifft „beinahe atemlos“ (S.32) den riesengroßen
Holländer-Michel. Später, wenn Peter sein echtes Herz für ein steinernes umgetauscht
hat, kommt am Hause Peters und seiner Frau Lisbeth ein „altes Männlein“ (S.42)
vorbei, dem Lisbeth, trotz des Verbotes ihres Gatten, zu essen und zu trinken gibt, was
zu ihrem Tod führen wird. Es stellt sich heraus, das gerade dieses Männlein, das
Waldmännchen, „Herr Schatzhauser“ (S.43), ist. Für das zweite Mal legt er die
Verantwortung auf das Glasmännlein, was wiederum das Schreckhafte in dem
Waldgeistchen auslöst:
[…] so wuchs und schwoll das Glasmännlein […], und seine Augen sollen so
groß gewesen sein wie Suppenteller und sein Mund war wie ein geheizter
Backofen und Flammen blitzten daraus hervor. Peter warf sich auf die Knie, und
sein steinernes Herz schützte ihn nicht, dass sich nicht seine Glieder zitterten, wie
eine Espe. Mit Geierskrallen packte ihn der Waldgeist im Nacken, drehte sich um,
wie ein Wirbelwind dürres Laub, und warf ihn dann zu Boden, dass ihm alle
Rippen knackten. „Erdenwurm!“, rief er mit einer Stimme, die wie der Donner
rollte, „ich könnte dich zerschmettern, wenn ich wollte, denn du hast gegen den
Herrn des Waldes gefrevelt. (S.44)
Sogar das steinerne Herz, das dafür gesorgt hat, dass er seit Jahren gefühllos ist, kann
nicht verhindern, dass seine Glieder bei einem solchen Zusammenstoß zittern. Abends
treffen einige Männer Peter an, der immer noch auf dem Boden liegt und überprüfen, ob
„noch Atem in ihm sei, aber lange war ihr Suchen vergebens“ (S.44). Das
Glasmännchen hat Peter nicht getötet, gibt ihm aber acht Tage Frist, um sich „zum
Guten“ (S.44) zu bekehren. Wenn Peter das nicht macht, „zermalme“ (S.44) er das
Gebein des jungen Knaben. Letzterer, der noch einen Wunsch übrig hat, sucht den
Schatzhauser des Waldes im Tannenbühl für das letzte Mal auf. Den Wunsch, wieder
das echte Herz zu bekommen, kann das Männchen leider nicht erfüllen und gibt Peter
47
dagegen den Rat, mittels einer List das eigene Herz zurückzugewinnen. Das
Glasmännlein ist zwar ein guter Waldgeist, weist jedoch einen wechselhaften Charakter
auf und flößt dem Protagonisten verschiedene Male Angst ein.
Es steht also fest, dass es sowohl in Gotthelfs Die schwarze Spinne und Hauffs
Das kalte Herz mehrere Figuren gibt, die den Anderen in der Erzählung unheimlich
vorkommen, da man ihnen böse Absichten zutraut und ihnen misstrauisch
gegenübersteht. Der Grüne und der Holländer-Michel erscheinen den anderen Figuren
am meisten als unheimlich und weisen darüber hinaus mehrere Ähnlichkeiten auf. Nicht
nur der Grüne in Gotthelfs Sage verkörpert den Teufel, sondern auch in der Gestalt des
Holländer-Michels bei Hauffs Märchen ist das Böse anzutreffen. Beide warten den
passenden Augenblick ab, erscheinen aus dem Nichts, und verführen Christine
beziehungsweise Peter zu einem Teufelspakt. Mehrere Anspielungen fallen dem Leser
ins Auge und so kann in beiden Erzählungen die Schlange mit dem Teufel assoziiert
werden. Wichtig zu erwähnen, ist die Tatsache, dass der Austausch mit dem HolländerMichel sowohl das Wunderliche als auch das Unheimliche hervorruft. Im Fall von
Gotthelfs Die schwarze Spinne stehen die Figuren, neben dem Grünen, Hans von
Stoffeln und Christine misstrauisch gegenüber. Bei der Begegnung mit dem Ritter von
Stoffeln wird es den Bauern ganz unheimlich und wünschen sie sogar, dass sie zu Hause
wären. Der Ritter will unbedingt einen Schattengang von hundert Buchen und hält keine
Rücksicht auf die Bauern, für die der Auftrag unmöglich ist. Christine wird ihrerseits als
eine sonderbare Figur betrachtet und ist diejenige, die den Pakt mit dem Grünen
schließt, und so für den Untergang der Bauern verantwortlich ist. Bei Hauffs Das kalte
Herz können Peter und das Glasmännlein, der gute Waldgeist, als zwei Sonderfälle
betrachtet werden. Der Protagonist ruft später in der Erzählung selbst das Unheimliche
hervor, indem er durch das steinerne Herz nur „halb lebt“ – was in diesem Märchen
nicht als etwas Gewöhnliches betrachtet wird – und den Anderen Angst macht. Peter
fürchtet sich mehrere Male vor dem Glasmännlein, der in einem bestimmten Moment
die Möglichkeit hat, Peter zu zerschlagen, das jedoch nicht macht und letztendlich Peter
helfen wird, das Böse zu besiegen. Die Angst der Figuren in der Erzählung kann meiner
Meinung nach auf den Leser übergehen, sodass die Figuren mit „bösen Absichten“ auch
vom Letzterem als „unheimlich“ betrachtet werden können.
48
3. 4. Angst vor dem Tod
Die Begegnung mit dem Tod wird, Freud zufolge, von den Menschen am meisten
als unheimlich empfunden. In Die schwarze Spinne von Gotthelf ist der Tod mit der
Spinne verknüpft. Obwohl diese erst in der Binnengeschichte zum Vorschein kommt,
gibt es in der Rahmenerzählung schon einige Anspielungen auf den unvermeidlichen
Tod:
O Mensch, fass in Gedanken:
Drei Batzen gilt dsPfund Anken.
Gott gibt dem Menschen Gnad,
Ich aber wohn im Maad.
In der Hölle, da ist es heiß,
Und der Hafner schafft mit fleiß.
Die Kuh, die frisst das Gras;
Der Mensch, der muss ins Grab.
Wenn ein erstes Kind geboren wird, das Christine vergeblich „hinein ins Haus“ (S.61)
zu tragen versucht, und es darauf dann letztendlich getauft wird, wird die Bedrohung
des Todes real. In Christines Gesicht beginnen „Wehen zu kreißen, wie sie noch keine
Wöchnerin erfahren auf Erden“ (S.61). Der Grüne rächt sich, weil er das ungetaufte
Kind nicht bekommen hat, und lässt jetzt das Böse über die Menschen los:
Da sah sie in des Blitzes fahlem Scheine langbeinig, giftig, unzählbar schwarze
Spinnchen laufen über ihre Glieder, hinaus in die Nacht, und den
Entschwundenen liefen langbeinig, giftig, unzählbar andere nach. (S.62)
Die Wiederholung der drei Adjektive, die Betonung auf „langbeinig“, „giftig“ und
„unzählbar“, weist auf die große Gefahr, die von den Spinnen ausgeht. Sie sind nicht zu
meiden, sind überall, unzählbar gibt es sie. Sie sind langbeinig, was ihnen die
Möglichkeit gibt, sich schnell fortzubewegen und ihre Opfer zu überraschen. Darüber
hinaus sind sie giftig, in solch einem Maße, dass ein Biss direkt zum Tod führen kann.
Von diesem Augenblick an ist niemand sicher vor dem Bösen, der Tod herrscht überall
in der Gegend von Sumiswald:
Man trieb das Vieh auf die Weiden, man trieb es nur dem Tode in den Rachen.
Denn, wie eine Kuh auf eine Weide den Fuß setzte, so begann es lebendig zu
werden am Boden, schwarze, langbeinige Spinnen sprossten auf, schreckliche
49
Alpenblumen, krochen auf dem Vieh, und ein fürchterlich wehlich Geschrei
erscholl von den Bergen nieder zu Tale. (S.63)
Was sich zuerst noch auf das Vieh zu konzentrieren scheint, wird zu einer
„einbrechenden Plage“, von der niemand weiß, „wie grässlich“ (S.65) sie sein wird. Wo
die Bauern an erster Stelle daran denken, Christine zu töten, in der Hoffnung, dass es
dann keine Verbindung mehr gibt zwischen ihnen und dem Teufel, werden sie von der
Lindauerin umgestimmt, denn der Grüne „solle zuschlagen“ (S.65). Da er ein
ungetauftes Kind haben möchte, erfordert das Böse in dieser Weise auch
Menschenleben. Früher in der Erzählung zeigt der Grüne noch Mitleid, wenn einige
Ritter seinen Plänen entgegenarbeiten, deswegen „halb tot in Gräben“ (S.51)
geschleudert werden. Zwei andere Ritter findet man nachher „erstarrt am Boden“
(S.51). Jetzt, nach der Verweigerung der Bauern, das erste ungetaufte Kind dem Teufel
zu überlassen, sieht die Lage anders aus. Der Teufel verliert offensichtlich seine
Geduld. Sobald jemand nur den Gedanken hat, dass man das nächste geborene Kind
auch retten soll, „kehrte mit neuer Wut der Tod in seine Herd ein“ (S.67). Trotz der
deutlichen Warnungen steht es so gut wie fest, dass bei der zweiten Geburt etwas schief
gehen wird: „in Todesangst fühlte das arme Weib, wie seine Stunde schneller und
schneller nahte“ (S.69). Was man erwartet, geschieht auch. Christine zeigt sich bei der
Geburt und stürzt sich auf die Wöchnerin, „wie auf seinen Rauf der Tiger stürzt“ (S.70),
übermannt diese und raubt das Kind. Der Priester des Dorfes riskiert jedoch das eigene
Leben, in einem letzten Versuch, das Böse zu überwinden, indem er sich zwischen dem
Grünen und Christine drängt, und „heiliges Wasser“ (S.76) auf das Kind und die
Lindauerin sprengt. Letztere schrumpft zusammen, bis nur die Spinne, „giftstrotzend“
(S.76) und mit einer „zornigen Blitze“ (S.76) aus ihren Augen, übrig bleibt. Das
Weihwasser hat den Grünen ausgeschaltet, die Spinne aber wird immer größer, „streckt
immer weiter ihre schwarzen Beine aus über das Kind, glotzt immer giftiger den
Priester an“ (S.76). Der Priester, wiederum, rettet die Bauern, fasst die Spinne in seiner
Hand, was wie „in glühende Stacheln“ (S.76) hineingreifen fühlte. Das Gute scheint den
Kampf gewonnen zu haben. Der Priester tauft das Kindlein, das zuerst noch „mit
Brandflecken“ (S.77) gekennzeichnet war, sodass „zu Gott die Seele, zur Erde der Leib“
(S.77) geht. Der Pfarrer, dagegen, stirbt voller „schwarze Beulen“ (S.79), als Folge des
Spinnenbisses, und Hans, den Gatten der Mutter, trifft man „mit schrecklichem
Gesichte“ (S.79) an. Nun bricht das Böse richtig aus:
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Sie fiel des Nachts den Leuten ins Gesicht, begegnete ihnen im Walde, suchte sie
heim im Stalle. Die Menschen konnten sie nicht meiden, sie war nirgends und
allenthalben, konnten im Wachen vor ihr sich nicht schützen, waren schlafend vor
ihr nicht sicher. Wenn sie am sichersten sich wähnten unterem freien Himmel, auf
eines Baumes Gipfel, so kroch Feuer ihnen den Rücken auf, der Spinne feurige
Füße fühlten sie im Nacken, sie glotzte ihnen über die Achsel. Das Kind in der
Wiege, den Greis auf dem Sterbebette schonte sie nicht; es war ein Sterbet, wie
man noch von keinem wusste, und das Sterben daran war schrecklicher, als man
es je erfahren, und schrecklicher noch als das Sterben war die namenlose Angst
vor der Spinne, die allenthalben war und nirgends, die, wenn man am sichersten
sich wähnte, einem todbringend plötzlich in die Augen glotzte. (S.81)
Kennzeichnend für die Erzählung Gotthelfs bildet diese Tatsache, dass die Angst, eine
„unsägliche“ (S.80), bei den Dörfern größer ist vor der Spinne, dem Bösen, als vor dem
Sterben selbst. Die Menschen geraten in eine Paranoia, denn die Spinne ist „bald
nirgends, bald dort“ (S.81). Sie ist nirgends und überall. Der Erzähler nimmt das Wort
„namenlos“ in den Mund, das einerseits das Ausmaß der Angst angibt, anderseits auf
den Identitätsverlust der Bauern deuten kann. Das Angstgefühl, die Paranoia trifft alle,
von Einzelpersönlichkeiten ist nicht die Rede. Nicht nur das Böse in der Gestalt der
Spinne, sondern auch Gott haben die Menschen zu fürchten, „denn ihre Herzen wussten
wohl, wenn Gottes Hand vernichtend über sie komme, so sei es mehr als wohlverdient“
(S.78). Innerhalb der Rahmenerzählung stehen Religion und Ordnung im Mittelpunkt.
Vor der Mahlzeit „stören die Gedanken des Magens die Gedanken der Seele“ (S.19),
worauf die Leute dann Gespräche über „gleichgültige Gegenstände“ (S.19)
anzuknüpfen versuchen, in der Hoffnung, den ersten Gedanken zu verdrängen. Es gibt
mehrere diese kleinen Anspielungen, wobei die Betonung auf der Seele der Menschen,
und auf das, was nach dem Tod folgen wird, liegt, was in einer Erzählung, die mit
einem Teufelspakt versehen ist, nicht verwunderlich ist. Nach der Begegnung mit dem
Grünen und nach der Enthüllung seiner wahren Figur kehren die Männer, „blass und
zitternd an der Seele“ (S.35) nach Hause zurück. Wenn sie sich mit diesem grünen
Jägersmann einlassen würden, würde das auf Kosten ihrer eigenen Seele gehen:
[...] da stiegen allmählich die Gedanken auf, die den Menschen, der in der Not ist,
so gerne um seine Seele bringen. Sie begannen zu rechnen, wie viel mehr wert sie
alle seinen als ein einzig ungetauftes Kind, sie vergaßen immer mehr, dass die
Schuld an einer Seele tausendmal schwerer wiege als die Rettung von tausend und
abermal tausend Menschenleben. (S.45-46)
Diese innere Zerrissenheit läuft wie ein roter Faden durch die ganze Erzählung. Man
kann also feststellen, dass Angst vor dem Tod in einem großen Maße in Die schwarze
51
Spinne vorfindlich ist. Wo es in den Tälern der Rahmenerzählung noch „wunderbar“
(S.4) klingt, denn von den Kirchen her läuten die Glocken, dass „die Tempel Gottes sich
öffnen allen, deren Herzen offen seien der Stimme ihres Gottes“ (S.4), ist in der
Binnengeschichte die Rede von einem „dumpfen“ (S.50) Klingen, von einer
„Totenglocke“ (S.50). Das Böse besetzt jetzt die Kirche, den Tempel Gottes:
[…] ein dumpfer Glockenton, fast wie der verirrte Schall einer fernen
Totenglocke, kam von der Kirche her, dass ein eigentümlich Grauen die stärksten
Männer ergriff und jedes Mal Menschen und Tieren bebten, wenn man gegen die
Kirche kam. War man einmal vorbei, so konnte man ruhig fahren, ruhig abladen,
ruhig zu frischer Ladung wieder gehen. (S.50)
Der Ort, die Kirche, wo man sich normalerweise sicher fühlt, bildet hier den Anlass für
ein unheimliches Gefühl.
Dasselbe Wort „Totenglocke“ ist auch in Das kalte Herz anzutreffen. Hauff
benutzt es bei der Beschreibung einer der Figuren. In einem Vergleich wird die Stimme
des Holländer-Michels beschrieben. Diese schallt „wie eine tiefe Totenglocke“ herauf.
Die Paranoia, die Angst vor dem Tod, ist, im Vergleich zur Gotthelfs Sage, etwas
weniger anwesend, ist jedoch im Hauffs Märchen deutlich vertreten. Auch hier handelt
es sich um das Reinhalten der eigenen Seele. Handel treiben mit dem riesigen Michel
macht alle Leute reich, geht trotzdem „auf Kosten ihrer armen Seele“ (S.15). Peter hat
seine Seele „an den Bösen“ (S.44) verkauft, hat keine Gefühle mehr, fragt sich aber
jedoch, was der dicke Ezechiel „vom Tod“ (S.45) hält und „wie es nachher sein werde“
(S.45). Denn, wo sein Gewissen ihn im Übrigen in Ruhe lässt, kommen ihm nach dem
Tod seiner Frau „sonderbare Gedanken“ (S.45) vor:
[…] er fürchtete sich vor nichts, denn sein Herz war ja kalt, aber wenn er an den
Tod seiner Frau dachte, – kam ihm sein eigenes Hinscheiden in den Sinn, und wie
belastet er dahinfahren werde, schwer belastet mit Tränen der Armen, mit tausend
ihrer Flüche, die sein Herz nicht erweichen konnten […] (S.45)
Es wird also in Das kalte Herz auch mit Gedanken in Bezug auf den Tod und auf das
Leben nach dem Tod gespielt. Der dicke Ezechiel weiß Peter mitzuteilen, dass der Leib
des Menschen begraben wird, während die Seele entweder „auf zum Himmel oder hinab
in die Hölle“ (S.45) fährt. Der negativen Antwort auf die Frage, ob das Herz dann auch
mit begraben wird, fügt Ezechiel hinzu, dass Peter davor keine Angst haben soll und
sich nur um das heutige Leben kümmern soll. Peter erwidert, obwohl er „jetzt keine
Furcht mehr kenne“ (S.46), er immer noch weiß, „wie sehr“ (S.46) er sich als kleiner
52
Junge „vor der Hölle gefürchtet“ (S.46) hat. Ezechiel erklärt dem Peter, dass die Herzen
gewogen werden und nach ihrem Gewicht, „wie schwer sie sich versündigt hätten“
(S.46), beurteilt werden, was ein gebräuchliches „ach freilich“ von Peter mit sich bringt.
Es ist ihm „unbequem“ (S.46), dass er keine Meinung dieser Tatsache gegenüber hat,
empfindet auch keine Reue, dass er seine Frau getötet hat, aber muss immer „an den
Waldgeist und seine schreckliche Drohung“ (S.47) denken. Er bekommt vom
Glasmännlein acht Tage, um sich zu bekehren, sonst wird er von diesem selbst getötet
werden. Das Märchen ist nicht, wie bei Gotthelfs Erzählung, von einer konstanten
Todesangst, einer ständigen Bedrohung gekennzeichnet. Es bleibt bei diesen direkten
Drohungen des Glasmännchens, das aber auf der guten Seite steht, und des HolländerMichels. Letzterer ist die Figur in Hauffs Erzählung, vor der die Anderen in der
Erzählung sich am meisten fürchten sollen. Die Sage, die zu Anfang vom Großvater
erzählt wird, zeigt, dass der Holländer-Michel schon für mehrere Todesfälle
verantwortlich war:
[…] denn alle Schiffe, die von dem Holländer-Michel auch nur einen Balken
haben, müssen untergehen. Daher kommt es, dass man so viel von Schiffbrüchen
hört; wie könnte denn sonst ein schönes, starkes Schiff, so groß als eine Kirche,
zu Grund gehen auf dem Wasser? Aber sooft Holländer-Michel in einer
Sturmnacht im Schwarzwald eine Tanne fällt, springt eine seiner alten aus den
Fugen des Schiffes; das Wasser dringt ein, und das Schiff ist mit Mann und Maus
verloren. (S.16)
Nach dieser Sage und nach der Warnung, „alles Böse“ (S.16) komme von dem Michel,
soll der junge Peter auf der Hut sein vor dem Waldgeist. Wer dem Holländer-Michel
nicht gehorcht oder entgegenarbeitet, dem wird den Tod nicht erspart bleiben. In der
Szene, wo der Michel Peter verfolgt, um ihn mit seiner Stange niederzureißen, schreckt
Peter vor „einem kleinen Graben“ (S.20), was darauf hindeuten kann, dass schon
mehrere hier den Tod gefunden haben. Mehr als solche Versuche und Drohungen gibt
es nicht, und Peter selbst, wird letztendlich derjenige sein, der jemanden tötet. Man
kann trotzdem den Schluss ziehen, dass auf derselben Ebene wie bei Die schwarze
Spinne über den Tod und das Leben nach dem Tod gedacht wird, ohne dass dafür eine
andauernde Bedrohung wie die Spinne in der Erzählung vorhanden sein sollte.
53
4. Das Schaffen einer unheimlichen Atmosphäre
Wie schon in dieser Arbeit gesagt, steht die Rahmenerzählung in Gotthelfs Sage
der Binnenerzählung, voller Schrecken und Chaos, gegenüber, während in ersterer
Ordnung, Normen und Werte eine große Rolle spielen. Schon in der Rahmenerzählung
ist jedoch eine Verschiebung von einer erhabenen zu einer unheimlichen Atmosphäre zu
bemerken. Anlass für den Anfang der Unheimlichkeit bildet wiederum der Aberglaube.
Für die Geburt des Kindleins verläuft alles bis zu einem bestimmten Augenblick wie
geplant. Die Gotte wird kurz vor der Feierlichkeit in der Kirche „zusehends blasser“
(S.16), ist „zu keinem Tropfen zu bewegen“ (S.16), weil alle Anderen auch von dem
Wein getrunken haben. „An grässlicher Angst litt die Gotte“ (S.16), was aus der
Tatsache hervorgeht, dass ihr niemand den Namen, welchen das Kind erhalten und dem
Pfarrer bei der Übergabe des Kindes eingeflüstert werden sollte, mitgeteilt hat. Nach
dem Namen zu fragen, würde, dem Aberglauben zufolge, das Kind „unglücklich“ (S.16)
machen. Der Gedanke, dass sie dem Pfarrer diesen Namen nicht sagen könne, kommt
ihr „immer schrecklicher vor“ (S.17). Ihr „zitterten die Beine wie Bohnenstauden im
Winde, und vom blassen Gesichte rann ihm der Schweiß bachweise“ (S.17). In der
darauffolgenden Szene wird es der Gotte völlig unheimlich:
[…] ganz schwarz schienen ihr alle Leute in der Kirche, und nun fing noch das
Kind zu schreien an, mörderlich und immer mörderlicher. Die arme Göttin begann
es zu wiegen in ihren Armen, heftiger und immer heftiger, je lauter es schrie, dass
Blätter stoben von ihrem Meien an der Brust. Auf dieser Brust ward es ihr enger
und schwerer, laut hörte man ihr Atemfassen. Je höher ihre Brust sich hob, umso
höher flog das Kind in ihren Armen, und, je höher es flog, umso lauter schrie es,
und, je lauter es schrie, umso gewaltiger las der Pfarrer die Gebete. Die Stimme
prasselten ordentlich an den Wänden, und die Gotte wusste nicht mehr, wo sie
war; es sauste und brauste um sie wie Meereswogen, und die Kirche tanzte mit ihr
in der Luft herum. (S.17)
Das Unheimliche, wie von der Thüsen es in Het verlangen naar huivering umschrieben
hat, kommt hier ins Spiel. Wo die Gotte normalerweise voller Ehrfurcht der Zeremonie
beiwohnen soll, gerät sie dagegen völlig außer sich. Das Sublime macht Platz für das
Unheimliche: die Gotte weiß nicht mehr, wo sie ist, verliert den Überblick und die
Kontrolle über sich selbst, ist in diesem Moment orientierungslos. Die Passage wird
letztendlich durch ein „Amen“ des Priesters abgeschlossen, läutet aber eine andere
unangenehme ein, denn jetzt bricht „der schreckliche Augenblick“ (S.18) an, wo sie den
54
Namen des Kindes ins Ohr des Pfarrers flüstern soll. Letzterer erspart ihr jedoch die
Verlegenheit, fragt sie nicht nach dem Namen, und tauft einen „ehrlichen, wirklichen
Hans Uli“ (S.18). Die Gotte wird auf diese Weise vor dieser Erniedrigung gerettet, was
ihr ist, als ob „aus einem feurigen Ofen sie jemand trage in ein kühles Bad“ (S.18). Die
ganze Zeremonie hindurch beben jedoch ihre Glieder, „wollten nicht wieder stille
bleiben“ (S.18), und kann sie nicht warten „bis sie ihre geheime Angst offenbaren“
(S.18) kann. Gotthelf baut diese Spannung, die besondere Atmosphäre allmählich ab:
Wo gerade noch „die Stimmen prasselten“ (S.17), ist es jetzt das Feuer in der Küche,
das „gewaltig prasselte“ (S.19). Die Hebamme, mit „flammendem Gesicht“ (S.19), steht
in diesem Fall nicht vor einem symbolischen, sondern in der Küche vor einem echten
„feurigen Ofen“ (S.19). Gotthelf spielt mit dem Wort Feuer und kann an dieser Stelle
schon eine Anspielung auf „den feurigen Tod“ (S.104), den tödlichen Biss der Spinne,
machen. Die Atmosphäre gerät jedoch wieder auf die fromme Ebene, die Gesellschaft
setzt sich zu Tisch, „die Hände falteten sich“ (S.20) und es ist Zeit für die Suppe und
Gespräche. Während dieser Gespräche lachen die Anderen mit der Gotte wegen ihrer
Aussagen, treiben dem Mädchen „das Blut ins Gesicht“ (S.23). Unterdessen nehmen die
Tischgenossen „viel Fleisch zu sich“ (S.23) bis sie „endlich“ (S.23) von einem älteren
Mann darüber angesprochen werden, denn „es dünke ihn, man sollte einstweilen genug
haben“ (S.23). Es handelt sich hier an erster Stelle um die Tatsache, dass man sich
benehmen, feine und vornehme Sitten haben soll. An zweiter Stelle kann die
Gefräßigkeit vielleicht auch als eine Antizipation betrachtet werden, in dem Maße, dass
die Erzählung in der Binnengeschichte entgleisen wird. Wo sie zuerst noch hoffen, mit
„Gottes Hülfe“ (S.37) das Unmögliche zu tun, die hundert Buchen auf Barhegen zu
pflanzen, verlieren sie später jedoch ihren Glaube:
Umsonst mahnte der Priester des Herrn von Schmaus und Jubel ab, mahnte, zu
zagen und zu beten, denn noch sei der Feind nicht besiegt, Gott nicht gesühnt. Es
sei ihm im Geiste, als dürfe er ihnen keine Buße zur Sühnung auferlegen, als nahe
sich eine Buße gewaltig und schwer aus Gottes selbsteigener Hand. Aber sie
hörten ihn nicht, wollten ihn befriedigen mit Speise und Trank. Er aber ging
betrübt weg, bat für die, welche nicht wüssten, was sie täten, und rüstete sich, mit
Beten und Fasten zu kämpfen als ein getreuer Hirt für die anvertraute Herde.
(S.56-57)
Ihr Unglaube ist Teil des ungeheuren Unheils, was zur Folge hat, dass sie sich nicht nur
vor dem Bösen, sondern auch vor Gott – was sie eigentlich an erster Stelle machen
55
sollen – fürchten sollen. Um eine ängstige Atmosphäre hervorzurufen und den Bauern
diese Botschaft deutlich zu machen, beruft sich Gotthelf auf ein häufig vorkommendes
Motiv. Van Gorp betont für die Schaffung der Unheimlichkeit die Grilligkeit der Natur
und in Gotthelfs Sage ist es klar, dass man die Wichtigkeit der Wetterverhältnisse,
insbesondere der zahllosen Unwetter, nicht negieren kann. Wenn sich „schwarze
Wolken“ (S.72) über Sumiswald bilden, „schwere Tropfen“ (S.72) fallen, hoffen die
Bauern, dass Gott „sein Gewitter nicht zum Gerichte werden lasse über sie“ (S.72).
Auch das Spiel mit Licht, der Abwechslung zwischen Licht und Finsternis, ist in
Gotthelfs Erzählung anzutreffen. Muschg redet in Die schwarze Spinne von dem
„Kampf zwischen Licht und Finsternis“80. Das Unwetter, das mit seinen Blitzen nur
kurz die Dunkelheit durchbricht, im Übrigen den Figuren die Sicht benimmt, erweist
sich als ein ideales unheimliches Ereignis. In diesem Fall warnt Gott mittels des
Gewitters die Bauern vor ihrem Unglaube:
Und allerdings stürmte ein Gewitter daher, wie man in Menschengedanken nicht
oft erlebt. Aus allen Schlünden und Gründen stürmte es heran, stürmte von allen
Seiten, von allen Winden getrieben über Sumiswald zusammen, und jede Wolke
ward zum Kriegesheer, und eine Wolke stürmte an die andere, eine Wolke wollte
der andern Leben, und eine Wolkenschlacht begann, und das Gewitter stund, und
Blitz auf Blitz ward entbunden, und Blitz auf Blitz schlug zur Erde nieder, als ob
sie sich einen Durchgang bahnen wollten durch der Erde Mitte auf der Erde
andere Seite. Ohne Unterlass brüllte der Donner, zornesvoll heulte der Sturm,
geborsten war der Wolken Schoß, Fluten stürzten nieder. (S.73)
Weiter steht bei van Gorp im Hinblick auf die Schaffung der Unheimlichkeit die
Raumschaffung im Mittelpunkt. Spielt diese in den beiden Erzählungen eine Rolle? In
Gotthelfs Erzählung ist von einem Schloss die Rede, wo die Menschen es „schlimmer
gehabt haben“ (S.27) sollen „als die meisten, welche zu andern Schlössern gehörten
(S.27). Das Schloss wurde auf einem „wilden, wüsten Hubel“ (S.28) des Bärgehens
gebaut, „wo man noch jetzt, wenn es wild Wetter geben will, die Schlossgeister ihre
Schätze sonnen sieht“ (S.28). Das Schloss ist also ein Ort, vor dem sich die Bauern
fürchten können. Das beste Beispiel bildet natürlich das Haus des Großvaters, das die
Binnengeschichte mit der Rahmenerzählung verknüpft. Im zweiten Teil der
Binnengeschichte, „fast zweihundert Jahre waren verflossen, seit die Spinne im Loche
gefangen saß“ (S.97), schämen sich die Bewohner für dieses Haus, da ihre Nachbaren
80
Muschg: Gotthelf. : die Geheimnisse des Erzählers. S.285
56
„neue Häuser hatten und doch kaum so reich als sie waren“ (S.97-98), aber vor allem
wird es ihnen „immer unheimlicher“ (S.98) in diesem Haus. Sie lassen ein neues Haus
bauen, doch, von dem Augenblick, wenn das Haus steht, hört man alle drei Tage „ein
seltsam Surren […], wie das eine Katze“ (S.99), obwohl keine Katze anzutreffen ist. So
wird es allen wiederum „unheimlich“ (S.99). Vor der Erzählung des Großvaters gefällt
der Gesellschaft innerhalb der Rahmenerzählung das Haus „ganz ausnehmend wohl“
(S.25). Eine der Frauen „wäre im Himmel“ (S.25), wenn sie solch ein Haus haben
würde. Einiges an dem Haus gefällt dieser Frau aber nicht:
[…] Aber fragen möchte ich doch, nehmt es nicht für ungut, warum da gleich
neben dem ersten Fenster der wüste, schwarze Fensterposten (Bystel) ist, der steht
dem ganzen Hause übel an. (S.25)
Nach der Erzählung des Großvaters und nach der Mitteilung, dass der Spinne „in jenem
Loch gefangen [sei], wo sie jetzt noch sitzt“ (S.89), in dem schwarzen Fensterposten,
dringt die unheimliche Atmosphäre der Binnengeschichte in die Rahmenerzählung ein,
und dieses Mal bleibt sie andauernd unter der Gesellschaft:
„Was, dort im schwarzen Holz?“, schrie die Gotte und fuhr eines Satzes vom
Boden auf, als ob sie in einem Ameisenhaufen gesessen wäre. An jenem Holze
war sie gesessen in der Stube. Und jetzt brannte sie ihr Rücken, sie drehte sich, sie
schaute hinter sich, fuhr mit der Hand auf und ab und kam nichts aus der Angst,
die schwarze Spinne sitze ihr im Nacken. (S.89)
Dieselbe Paranoia, wie die Bauern sie in der Binnengeschichte empfinden, erfüllt den
Raum, in dem sich die ganze Gesellschaft befindet. Niemand „wollte das Erste bei der
Türe sein“ (S.89), denn sie stehen, ohne dass sie es wissen, am Eingang „eines
schauerlichen Ortes“ (S.90). Alle sehen sich um „mit ängstlichen Augen“ (S.90),
fürchten, dass die Spinne irgendwo auftauchen wird, obwohl man sie nirgends spüren
kann. Der Raum wird den Figuren ganz unheimlich:
Nicht um tausend Pfund sitze ich mehr da oben! Es gramselt mir den Rücken auf
und nieder, als führe man mir mit Nesseln daran herum. Und säße ich dort vor
dem Bystal, so fühlte ich die schreckliche Spinne sonder Unterlass im Nacken.
(S.90)
Der Fensterposten, die Spinne enthaltend, ist also der Grund, weshalb die Gesellschaft
sich so auf einmal fürchtet. Die subtilen Anspielungen Gotthelfs auf die eigentliche
Sage über die Spinne werden hier zu Vergleichen. Das Gesicht der Hebamme „brannte
hochrot, es war, als ob die Spinne auf demselben herumgekrochen wäre“ (S.89). Die
57
Figur der Lindauerin, eine Frauengestalt, die sich in eine Spinne verwandelt, wird einen
Augenblick auf die Person der Hebamme projiziert. Nur der Großvater selbst darf sich
vor dem Posten hinsetzen, und nur „wenn böse Gedanken“ (S.91) in ihm aufsteigen, so
ist es ihm, „als schnurre es“ (S.91) hinter ihm und führt „etwas“ ihm „den Rücken auf
seltsam und absonderlich“ (S.91). Nur der Glaube an Gott hält die Spinne in diesen
Posten und nichts Anderes. Im zweiten Teil der Binnengeschichte wird das Haus von
allen „mit Ehrfurcht“ (S.93) betrachtet. Es gibt an, dass die Kraft Gottes größer ist als
die des Teufels. Zugleich „schauderte“ (S.93) es den Leuten, wenn sie sich das Haus
ansehen, sodass hier Ehrfurcht und Furcht zusammengehen.
In der Binnengeschichte verlieren die Bauern, wie die Gotte in der
Rahmenerzählung, die Kontrolle über ihre eigene Lage, und eine fremde, „unheimliche
Macht“ (S.66) übernimmt diese. Nach dem Auftrag des Ritters von Stoffeln versuchen
die Bauern, zuerst selbst diese Buchen nach dem Bärhegen zu transportieren, empfinden
jedoch einige Schwierigkeiten, die auf die Arbeit des Grünen, des Teufels, verweisen:
Es war, als ob ein eigener Unstern Macht hätte über sie. Ein Missgeschick nach
dem andern traf sie: Die Geschirre zerrissen, die Wagen brachen, Pferde und
Ochsen fielen oder weigerten den Gehorsam. Noch ärger ging es am zweiten
Tage. Neue Not brachte immerfort neue Mühe, unter rastloser Arbeit keuchten die
Armen, und keine Buche war noch oben, keine vierte Buche über Sumiswald
hinausgeschafft. (S.38)
Die fremde Macht bildet den Unterschied zu der Lage der Gotte. Sie verliert die
Kontrolle aber wird wieder sich selbst, während bei den Bauern alles unübersichtlich
bleibt. Der Raum, wo sie sich befinden, wird laut von der Thüsen zu einem Labyrinth,
dessen Karte sie nicht in ihrem Besitz haben. Erst wenn Christine den Kuss des Grünen
bekommen hat und die Menschen in Sumiswald sich bereit zeigen, auf seinen Wunsch
einzugehen, ihn eigentlich zu betrügen versuchen, verläuft alles wieder wie geplant. Die
Äxte sind immer noch „so scharf als sonst“ (S.49), der Boden ist wieder locker und
„jede Buche fiel gerade, wie man sie haben wollte“ (S.49). Es ist den Bauern, als ob
eine „unsichtbare Hand“ (S.49) das alles ermöglicht. Die Ohnmacht trifft vor allem
Christine, die wegen des Teufelspakts keine Kontrolle mehr über den eigenen Leib,
über sich selbst hat. Der Grüne „ließ ihr keine Ruhe mehr; wen er einmal hat, dem
macht er es so“ (S.62). Er hat sie also völlig in seiner Macht:
58
Je mehr die Leute flohen, desto mehr trieb es Christine nach ihnen, sie fuhr von
Haus zu Haus; sie fühlte wohl, der Teufel mahne sie an das verheißene Kind; und
um das Opfer den Leuten einzureden mit unumwundenen Worten, fuhr sie ihnen
nach in Höllenangst. (S.59)
Auch wenn die Leute, nachdem das zweite Kind aus den Händen des Teufels gerettet
worden ist, denken, diesen besiegt zu haben, sogar von „des Grünen Ohnmacht“ (S.61)
sprechen, befinden sie sich immer noch in einer Lage, wo sie ohnmächtig sind. Das
Einzige, was das Böse in der Geschichte Gotthelfs halten kann, ist die
Selbstaufopferung eines Menschen mithilfe von Gottes Kraft. Dann ist es die Aufgabe
der Anderen, ihren Glauben an Gott nicht zu verlieren, sodass die Spinne immer in dem
Pfosten gefangen bleibt. Man kann also feststellen, dass es Gotthelf in seiner Erzählung
gelingt, die unheimliche Atmosphäre den Figuren gegenüber hervorzurufen:
Die Menschen sahen die geheimnisvollen Mahner wohl, aber sie saßen da so
heimelig, und jedem klopfte es unheimlich unterem Brusttuch, wenn er ans
Heimgehn dachte; und wenn es schon keiner sagte, so wollte doch keiner der
Erste sein. (S.116)
Die Paranoia ist so groß, dass sogar der Gedanke an das Heimgehen – und damit an eine
mögliche Begegnung mit der Spinne – ihnen unheimlich vorkommt.
Auch bei Hauff geht das Unheimliche aus dem Aberglauben, aus einer Sage, nach
der die Waldgeister „im Schwarzwalde hausen“ (S.4), hervor. Die Sage handelt von der
Geschichte des sechzehnjährigen Kohlenbrenners, Peter Munck. Die Geschichte wird
nicht von einer ausführlichen Rahmenerzählung wie in Die schwarze Spinne – es gibt
keinen Großvater zum Erzählen, wie auch keine Zuhörer – umschlossen, sodass der
Leser sich direkt von dem unbekannten, auktorialen Erzähler angesprochen fühlen kann.
In der Sage wird schnell klar, dass Raum und Raumschaffung wie in Gotthelfs Sage für
die Schaffung der unheimlichen Atmosphäre von Bedeutung sind. Der Tannenbühl, wo
sich das Glasmännchen befindet, liegt auf dem höchsten Punkt des Schwarzwaldes, und
„auf zwei Stunden im Umkreis stand damals kein Dorf, ja nicht einmal eine Hütte“
(S.9). Die Menschen sind der Meinung, dass es dort „unsicher“ (S.9) ist. Es ist das erste
Mal, an dem es dem Protagonisten, dieses Ortes halber, in der Erzählung unheimlich
wird:
Daher kam es, dass im Tannenbühl die Bäume so dicht und so hoch standen, dass
es am hellen Tag beinahe Nacht war, und Peter-Munck wurde es ganz schaurig
59
dort zumut; denn er hörte keine Stimme, keinen Tritt als den seinigen, kein Axt;
selbst die Vögel schienen diese dichte Tannennacht zu vermeiden. (S.9)
Ziehende Vögel wie auch ziehende Wolken können innerhalb des Bereiches der
Literatur die Richtung der Sehnsucht angeben. Dass sich keine Vögel in diesem
Tannenbühl zeigen lassen, ist keine gute Aussicht. Die Begegnung mit dem
Eichhörnchen hat sowohl etwas Lustiges als auch etwas Schauderhaftes an sich, gibt
Peter jedoch den Eindruck, dass etwas los ist. Peter ist seinem Haus entflohen, hat sich
nach dem Wald begeben, wo deutlich „nicht mit rechten Dingen“ (S.11) umgegangen
wird. „Mit schnelleren Schritten“ (S.11) kehrt er zurück, während der Wald ihm „immer
schwärzer“ (S.11) zu werden scheint und die Bäume „immer dichter“ (S.11)
nebeneinander geraten. Es wird ihm alles dunkel und unübersichtlich, er verliert seine
Orientierung. Er befindet sich in genau derselben Lage wie die Bauern, es sei denn nur
in diesem bestimmten Augenblick, und nicht die ganze Erzählung hindurch. Die
Passage in dem Wald ist zugleich ein gutes Beispiel für das dynamische Verhalten
zwischen Raum und Figur: Peter versucht dem unheimlichen Platz so schnell wie
möglich zu entfliehen. Später, wenn Peter das zweite Mal den kleinen Waldgeist treffen
möchte, wird der Pfad „steiler“ (S.21), die Gegend um ihn „wilder“ (S.21), und so
kommt er letztendlich wieder „an der ungeheuren Tanne“ (S.21). „Aus Angst“ (S.11),
wegen der Begegnung mit dem Eichhörnchen, wählt Peter den falschen Weg und so
kommt er auf die andere Seite des Waldes, bei den Flözern, an. Die unheimliche
Atmosphäre, die in dem kurzen Märchen Hauffs geschaffen wird, wird durch die Sage
von dem Holländer-Michel nur noch verstärkt. Peter ist gerade bei diesen Flözern
angekommen, wenn er die Sage des Waldgeistes hört. Merkwürdigerweise stürmt es in
diesem Moment draußen:
Draußen im Wald heulte der Sturm und raste in den Tannen, man hörte da und
dort sehr heftige Schläge, und es schien oft, als ob ganze Bäume abgeknickt
würden und zusammenkrachten. (S.13)
Auch im Falle von Hauffs Erzählung machen und unterstützen die Wetterverhältnisse
die Atmosphäre. Der Sturm „hatte sich während der Erzählung des Alten gelegt“ (S.16),
die Figur des Michels folgt Peter jedoch bis in seinen Träumen. Auch später in der
Geschichte ist das Spiel mit dem Wetter auf einer metaphorischen Ebene anzutreffen:
„[…] rief er mit einer Stimme, die wie der Donner rollte“ (S.44). Wenn Peter, nachdem
er das Glasmännlein letztendlich getroffen hat, wieder nach Hause und nach seiner
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Mutter zurückkehrt, verschwindet die unheimliche Atmosphäre einen Augenblick in
den Hintergrund. Wie in Die schwarze Spinne die Bauern selbst Schuld am Bösen sind,
so wird Peter, wegen seines Dranges nach Geld, für seinen eigenen Untergang
verantwortlich sein. Das führt, im Gegensatz zu der Erzählung Hauffs, nicht zu einem
unmittelbaren Ausbruch des Bösen. Die Menschen im Schwarzwald unterliegen keiner
Paranoia wie die Bauern in der Spinnengeschichte. Der Holländer-Michel ist wohl
derjenige, der als Erster bei Peter auftaucht, wenn dieser alles Geld verloren hat. Das
Böse in der Gestalt des Michels sucht selbst sein Opfer auf. Wenn den Protagonisten
„ein Grauen“ (S.31) ankommt, sind es aufs Neue die Wetterverhältnisse, die diese
Tatsache ermöglichen: „Kein Stern schien am Himmel, als Peter trübselig seiner
Wohnung zuschlich, aber dennoch konnte er eine dunkle Gestalt erkennen“ (S.31). Das
Setting ist ideal, um diese Gestalt, den Holländer-Michel, im Dunklen der Nacht
aufzugehen zu lassen, und den Peter Angst zu machen. Es ist das Startzeichen mehrerer
schauriger Momente für den Kohlenbrenner. Darüber hinaus ist in Hauffs Märchen
ebenso wie in Die schwarze Spinne die Rede von „einer unsichtbaren Hand“ (S.32).
Beide Waldgeister versuchen den Knaben an sich zu ziehen und, obwohl der Kleinste
gute Absichten hat, flößt er dem jungen Peter jedoch ebenso viel Angst ein.
Mit Rücksicht auf das Motiv des Abgrunds ist festzustellen, dass Peter eine
unheimliche Erfahrung erlebt. Zusammen mit dem Holländer-Michel geht er „einen
steilen Waldsteig“ (S.32) hinüber und kommt darauf vor „einer dunkeln, tiefen,
abschüssigen Schlucht“ (S.32) zu stehen:
Setzt dich nur auf meine Hand und halte dich an den Fingern, so wirst du nicht
fallen. Peter tat zitternd, wie jener befohlen, nahm Platz auf der Hand, und hielt
sich am Daumen des Riesen. (S.33)
Obwohl es „weit und tief“ (S.33) hinabgeht, wird es dagegen nicht „dunkler“ (S.33) und
scheint ihm das Licht in der Schlucht sogar zuzunehmen, worauf er letztendlich an der
Stube Michels ankommt, die sich „durch nichts von den Stuben anderer Leute“ (S.33)
unterscheiden lässt, jedoch „einsam“ (S.33) scheint. Das Haus des Holländer-Michels
ist der Platz, wo, der „Teufelspakt” stattfinden wird. Das Haus hält keine Spinne in
einem Fensterpfosten gefangen, enthält doch Einiges, vor dem der Protagonist der
Erzählung Angst bekommen kann. Wenn Peter den Raum mit allen diesen Herzen
hineintritt, erfährt er das zuerst als „sonderbar und überraschend“ (S.34). Es wird ihm
trotzdem schnell unangenehm, wenn er erfährt, dass die Leute, deren Herzen dem
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Michel gehören, dafür ein steinernes Herz tragen. Im weiteren Verlauf der Geschichte
ist es der herzlose Peter selbst, die den anderen Figuren absonderlich vorkommt. Was
das Ende angeht, ist Das kalte Herz ein echtes Märchen, denn alle leben fort, es sei denn
hier jedoch „still und unverdrossen“ (S.53). Vor dem Ende der Erzählung gibt es doch
noch eine abschließende Szene, in der es Peter Munck „ganz unheimlich“ (S.50) wird.
Wenn Peter seinerseits den Holländer-Michel betrogen hat, versucht dieser natürlich
sich zu rächen und den Peter zu fassen:
Als er oben war, lief er dem Tannenbühl zu; ein schreckliches Wetter zog auf,
Blitze fielen links und rechts an ihm nieder, und zerschmetterten die Bäume, aber
er kam wohlbehalten in dem Revier des Glasmännleins an. (S.50-51)
Er sieht nachher „mit Entsetzen“ (S.51) auf das Gewitter, „das hinter ihm rechts und
links den schönen Wald zersplitterte“ (S.51), zurück. Es ist aus mit den unheimlichen
Erfahrungen und wiederum Zeit für das Wunderbare. Ihm wird von dem Glasmännlein
und seiner Mutter verziehen, und seine Frau, Lisbeth, steht lebendig vor ihm. Es ist der
Gattin Peters am Ende der Erzählung viel „heimischer“ (S.53), was uns aufs Neue auf
die Definition von Freud zurückführt: das Wort „unheimlich“ als Gegensatz zu den
Worten „heimlich“, „heimisch“ und „vertraut“. Lisbeth fühlt sich, wie die anderen
Figuren, wieder zu Hause, befindet sich in einer ihr vertrauten Welt. Jetzt sollen sie jede
Begegnung mit dem Bösen vermeiden und „zufrieden sein mit wenigem“ (S.53). Wir
können feststellen, dass in beiden Werken eine unheimliche Atmosphäre geschaffen
wird, die in Die schwarze Spinne bis zum Ende behalten bleibt, indessen in Das kalte
Herz das Unheimliche am Ende der Erzählung wiederum Platz macht für das
Wunderbare. Auch hier kann die Angst der Figuren, die unheimliche Stimmung direkt
auf die Leser übergehen.
5. Schlussfolgerung
Ich hoffe, anhand meiner Untersuchung in dieser Masterarbeit, Klärung in Bezug
auf den Begriff „unheimlich“ geschaffen zu haben, und dargelegt zu haben, welche
Merkmale eine Erzählung aufweisen soll, damit sie als „unheimlich“ charakterisiert
werden kann. Ich hoffe ebenfalls bewiesen zu haben, dass sich tatsächlich mehrere
unheimliche Phänomene in Gotthelfs Die schwarze Spinne und in Hauffs Das kalte
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Herz unterscheiden lassen. Wo ich von Unheimlichkeit innerhalb der Sage Die
schwarze Spinne von Gotthelf ausgegangen bin, habe ich im Hinblick auf das
Phänomen des „Unheimlichen“ ähnliche Merkmale bei Hauff festgestellt. Beide Werke
handeln von dem aus Urzeiten zurückgreifenden Bösen, berichten von dem HeimlichHeimischen, so wie Freud das Wort ‚unheimlich‘ in seinem Aufsatz „Das Unheimliche“
benannt hat.
Ich habe als Ausgangspunkt für meine Untersuchung die Unschlüssigkeit der
Figuren, die laut Todorov, nach der Unschlüssigkeit der Leser, als Bedingung für das
Fantastische gelten kann, gewählt. Die Argumentation, von dem Zweifel der Leser
auszugehen, scheint mir unlogisch und darüber hinaus unpraktisch, da sich die
Unschlüssigkeit der Leser nicht einfach untersuchen lässt. Ich bin der Ansicht, dass
aufgrund der verschiedenen Ängste der Figuren von „Unheimlichkeit“ in den
Erzählungen gesprochen werden kann. Die Angst der Figuren kann außerdem auf die
Leser übergehen und das „Unheimliche“ bei ihnen hervorrufen. Die Unschlüssigkeit ist
bei den Figuren in Gotthelfs Erzählung deutlich festzustellen, während das nicht so sehr
der Fall bei Hauff ist. Das Märchen kann meiner Meinung nach jedoch dem Bereich des
Fantastischen – zwischen dem Bereich des Wunderbaren und dem des Unheimlichen zu
situieren – zugeordnet werden, da Hauff sich für Das kalte Herz nicht völlig für eine
animistische Welt entschieden hat. Ich habe anhand des Teufelpakts gezeigt, dass
sowohl das Wunderbare als auch das Unheimliche in seinem Werk vertreten sind. Das
Märchen Hauffs zeigt daneben einen Zug zur Realität, sodass es an mehreren Stellen
der Gattung der Sage ähnelt. Schon am Anfang, die Erzählung fängt mit der sagenhaften
Formel „es soll einmal“ an, kann man feststellen, dass Das kalte Herz nicht einfach als
ein typisches Märchen gekennzeichnet werden kann. Der Zug zur Realität kreiert in
Hauffs Erzählung, wie bei Gotthelf, eine glaubwürdige Lage, wo nur die beiden
Waldgeister, der Holländer-Michel und das Glasmännlein, als übernatürlich beobachtet
werden können. Bei Gotthelf repräsentiert die Spinne das einzige übernatürliche
Element in der Geschichte. Was die Theorie von Vax anbelangt, erleben die Figuren in
den beiden Erzählungen mehrere unheimliche Erfahrungen, die den ambivalenten
(Abneigung und Anziehung) Charakter des Fantastischen hervorheben.
Weitere unheimliche Phänomene, die bei Gotthelf und Hauff unterschieden
werden können, sind „die Angst vor dem Tod“ und „Menschen mit bösen Absichten“.
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Verschiedenen Figuren steht man in den Erzählungen misstrauisch gegenüber, da sie
böse Absichten haben und den Anderen in diesem Sinne „unheimlich“ vorkommen. Die
Angst, die die anderen Figuren in der Erzählung vor ihnen empfinden, bildet ein
Beispiel für ein unheimliches Gefühl, das auf die Leser übergehen kann. Mit Rücksicht
auf die Angst vor dem Tod können wir schließen, dass diese Angst bei den Figuren
deutlich anzutreffen ist. Sowohl bei Gotthelf als auch bei Hauff wird über den Tod und
das Leben nach dem Tod nachgedacht. In beiden Werken wird, auf einer
metaphorischen Ebene, von einer „Totenglocke“ gesprochen. Auch in Bezug auf die
Schaffung der typischen ängstigen Atmosphäre, der „Unheimlichkeit“, verwenden die
Schriftsteller dasselbe Vokabular. Sowohl in Gotthelfs als auch in Hauffs Erzählung
wird anhand von einer „unsichtbaren Hand“ auf eine fremde, unheimliche Macht
gedeutet. Der Protagonist verliert den Griff auf die Dinge in seiner Gegend und
überlässt dieser unheimlichen Macht die Kontrolle. Das Spiel mit Raumschaffung und
Zeit verleiht den beiden Erzählungen eine unheimliche Atmosphäre und gibt ihnen
sogar den Anschein einer Schauergeschichte. Ich darf in dieser Arbeit also behaupten,
dass das „Unheimliche“ in Gotthelfs Die schwarze Spinne und Hauffs Das kalte Herz
stark repräsentiert ist.
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