FOKUS Spiele FOKUS Spiele FOKUS Spiele

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pielen ist Kinderzeugs. Nichts für
Erwachsene, schon gar nicht bei der
Arbeit. Soweit das gängige Vorurteil. Dabei täten Erwachsene gut
daran, ihren Berufsalltag spielerisch anzugehen, moniert der Experte im Interview
(Seite 25). Routinearbeiten gingen so leichter von der Hand, und die Kreativität werde
angeregt. Entsprechend sollten Unternehmen um eine spielerische Arbeitsatmosphäre bemüht sein. Dass dieser Flow-Zustand,
der die Arbeitnehmenden zufrieden macht
und länger in den Firmen hält, jedoch von
diesen kaum gefördert wird, führt der Psychologe auf den schlechten Ruf des Spielens
zurück. Spass zu haben bei der Arbeit, sieht
unser Weltbild nicht vor.
Wenn nicht im Job, dann zumindest in
der freien Zeit: Erwachsene spielen. Selbst
wer keine Geduld für Schach aufbringt,
Jassen bünzlig findet und Monopoly langweilig, spielt – vielleicht unbewusst: Das
kann ein beiläufig in Gedanken gebildetes
Wortspiel sein wie eine weitergesponnene,
zufällig beobachtete Alltagsszene. Wer solche verspielte Momente zulässt, entwickelt
positive Emotionen und entspannt sich.
Und mit Spielen kann man seine Brötchen
verdienen. Schweizerinnen und Schweizer
geben gleich viel aus für Spielzeug, Gesellschafts- und elektronische Spiele wie etwa
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für ihre Sportbekleidung und ihre Sportgeräte. Das zeigt eine Erhebung des Bundesamts für Statistik. Dann kaufen sie zum
Beispiel ein Würfelspiel der Gebrüder Frei.
Die drei Berner haben mit ihrem «Icon Poet»
einen Welthit gelandet (Seite 22). Ebenfalls
bis ins ferne Ausland verkaufen sich die
Lokomotiven der Traditionsfirma HAG.
Für diese bis ins kleinste Detail originalgetreuen SBB-Modelle aus Stansstad (NW)
greifen Sammler tief ins Portemonnaie (Seite 35).
Rund eine halbe Million Schweizer Franken kostet der Lokomat, ein Roboter, mit
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dem Patienten wieder laufen lernen. Und
der sie mit einem integrierten Computerspiel länger bei der Stange hält und für
Therapieerfolge an der Rehabilitationsklinik eines Zürcher Kinderspitals sorgt (Seite
32). Von wegen «Game over» für vermeintlich schädliche Computerspiele. Diese zu
erfinden, programmieren und gestalten,
ist seit einigen Jahren sogar eine Studienrichtung. Zum Beispiel an der Zürcher Hochschule der Künste, deren Studenten den Lokomaten mit zum virtuellen Leben erweckt
haben (Seite 29). Paola Pitton
Fotos: Simone Gloor
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Wenn die Arbeit zum
Kinderspiel wird
Ob mit einer «Pyjamaparty», mit dem gläsernen Berg
oder mit Bilderwürfeln: Die Gebrüder Frei aus Bern
beglücken Spielfreudige jeden Alters. Ihre Inspirationen
holen sie sich unter anderem in der Wüste Afrikas, wo sie
auch den Grundstein für ihre Firmengründung legten.
Text Miryam Azer
Fotos Simone Gloor
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as Zusammenspiel der Gebrüder Frei beginnt im
strömenden Regen von Tansania. Ein Unwetter
kesselt Andreas, Ueli und Lukas Frei auf einer
Farm ein, wo sie darauf warten, die Wildnis zu
erkunden. Allabendlich vertreiben sie sich die Zeit mit «Die
Siedler von Catan», dem Brettspiel, das sie im Gepäck haben.
Wer gewinnt, darf seinen Schlafplatz wählen – im Dachzelt
auf dem selbst umgebauten Auto oder im Zelt am Boden. Als
sie endlich abfahren können, ist das gemeinsame Spielen
zum Ritual geworden. Wenig später infiziert sich Ueli Frei mit
Malaria und muss ins Spital. Seine Brüder stehen vor einem
Problem: «Die Siedler von Catan» benötigt drei oder vier Spieler. Andreas und Lukas Frei adaptieren das Brettspiel so, dass
es für zwei Personen funktioniert, und entwickeln damit ihr
erstes Werk, das sie – als Ueli zurückkehrt – erneut anpassen.
Wieder in der Schweiz, verfolgt jeder der drei Brüder seinen eigenen Berufsweg als Grafikdesigner, Informatiker und
Lehrer. Doch das Erlebte lässt sie nicht los: 2006, acht Jahre
nach der Safari, reduzieren sie ihre Arbeitspensen und erklären den Freitag zum Spieltag. Sie spielen, diskutieren und
tüfteln. Nach einem Jahr des Forschens entstehen die ersten
Prototypen, und auf einer Spielemesse in Deutschland findet
das erste Brettspiel einen Verlag. Schliesslich gründen sie
ihre Firma in Bern und machen die Spieleentwicklung zu
ihrem Arbeitsalltag.
Spass und Spannung an der «Pyjamaparty»
«Jedes Spiel ist eine Miniwelt, die für viele Menschen einen
Gegenpol zu ihrer Alltagswelt bildet», erklärt Andreas Frei.
Damit diese Spielwelt entstehen kann und funktioniert,
müssen gewisse Parameter berücksichtigt werden. Eine stimmige Geschichte beispielsweise, aus der sich die Spielmechanik und die Regeln von selbst erschliessen: Wenn die Kinder
nicht ins Bett gehen wollen und herumtollen, steht plötzlich
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der Vater in der Tür, um nach dem Rechten zu sehen. Diese
Alltagsepisode ist das Herzstück des Brettspiels «Pyjamaparty» der Gebrüder Frei. Die Spieler laufen darin als kleine
Vampire im Turmzimmer herum, statt zu schlafen. Gewonnen hat, wer sein Bett mit den Kuscheltieren und leckeren
Getränken gefüllt hat und sich nicht von Papa Vampir erwischen lässt. Weil jedes Spiel Gewinner und Verlierer brauche,
müssten die Geschichten zugespitzt werden, erklärt Andreas
«Jedes Spiel ist eine
Miniwelt.»
Frei. «Wir wissen unterdessen genau, an welchem ‹Faden› wir
ziehen müssen, damit der Spielmechanismus funktioniert.»
Die drei Brüder möchten mit ihren Konzepten erreichen,
dass die Spieler permanent aufmerksam sind: «Wenn ich beim
‹Memory› zehn Sekunden lang nicht hinschaue, verpasse ich
alles. Ich vergesse, wo meine Kärtchen sind, und ich weiss
nicht, welche Kärtchen die anderen Spieler umgedreht haben»,
verdeutlicht Andreas Frei. Heute sei die Konzentrationsspanne bei Kindern und Erwachsenen kleiner als früher. Deshalb
dauert bei neueren Familienspielen eine Runde weniger lang
als früher, was zu mehreren Spieldurchläufen animiert.
Damit sich Verlierer in einer neuen Partie verbessern könnten,
sei in einem guten Spiel die Siegesstrategie erkennbar. Ebenso wichtig ist der Zufall, der die Spannung und damit den
Spass am Spiel erzeugt. Wie viel ein Spiel davon enthalten
soll, lässt sich bei der Spieleentwicklung genau steuern.
Dafür ist Ueli Frei, der Informatiker im Trio, zuständig.
In der Einfachheit liegt die Würze
Doch bevor der Zufall ins Spiel kommt, entsteht eine Idee.
Das dauert einen Sekundenbruchteil und kann überall passieren: in der Wüste Afrikas, im Kinderzimmer oder auf der Poststelle. «Mir fallen Dinge auf, die andere nicht bemerken», sagt
Gebrüder Frei
Foto Severin Nowacki
In den
Berner
In den
Berner BüroBüroräumlichkeiten
räumlichkeiten tüftelt
tüftelt
Andreas
Frei
Andreas
Frei zusamzusammen
mit zwei
men mit seinen
seinen
zwei Brüdern
Brüdern
an neuen
an neuen Spielen.
Spielen.
GRÜNDUNG Lukas, Ueli und Andreas Frei
schlossen sich 2010 zur Firma Gebrüder Frei
zusammen.
A U F G A B E N T E I L U N G Andreas Frei, 46, ist
gelernter Grafikdesigner, hatte eine eigene
Designagentur und war für die Regionale
Arbeitsvermittlung in der Erwachsenenbildung
tätig. In der Firma übernimmt er den kreativen
Teil, entwickelt Ideen und Konzepte. Ueli Frei,
44, hat das Lehrerseminar absolviert, später In-
der Grafikdesigner Andreas Frei, der die meisten Ideen einbringt. In Simbabwe beobachtete er, wie Schildkröten in einem
Wasserloch auf den Rücken von Nilpferden kletterten und weggewaschen wurden, sobald die grossen Tiere untertauchten –
der Grundstein für das Brettspiel «Nelly Nilpferd» war gelegt.
Der Weg von einer Idee oder Geschichte zum fertigen
Spiel dauert bei den Gebrüdern Frei durchschnittlich ein
Jahr. Davon nimmt die Spieleentwicklung die meiste Zeit in
Anspruch. Sie gipfelt in der Produktion eines Prototyps, den
Erwachsene und Kinder testen. «Häufig ist ein Spiel zu kompliziert, weil wir zu viel hineinpacken wollten. Vereinfachen
wir es, wird seine Essenz sichtbarer. Ein gutes Spiel muss klar
sein.» Manchmal werde in der Testphase ein bestimmter
Spielaspekt wichtiger als ursprünglich gedacht: Bei der
«Pyjamaparty» hatten die testenden Schulklassen grossen
Spass, wenn die Karte mit dem Papa Vampir auftauchte,
worauf die Brüder das Spiel so anpassten, dass dies häufiger
geschah. Nach der Testphase unterbreiten die Spieleautoren
ihren Prototyp den Verlagen und begleiten die Spielproduktion gemeinsam mit diesen bis zum Schluss.
PRODUKTE Für den freien Markt und im Auf-
Fotos: Michael Wissing, Andrea Campiche
Komplexes spielerisch vermitteln
Zum Portfolio der Gebrüder Frei gehören nebst Brettspielen unter anderem auch sogenannte Grossspiele, ein Abenteuerspielpfad und ein Spielbuch/Buchspiel. «Wir entwickeln
das, was uns Spass macht», lautet die Devise. Das Trio verfolgt
jeweils etwa zehn Projekte nebeneinander für ein Publikum
jeden Alters. «Da Kinder verglichen mit Erwachsenen weniger Strategien parallel verfolgen können, muss der Mechanismus bei Kinderspielen einfacher sein. Und mit den kindergerechten Faktoren wie Farben, Zahlen und wenig Text
Spannung zu erzeugen, ist schwieriger als mit unbegrenzten
Möglichkeiten», verdeutlicht Andreas Frei. Eine Herausforderung, der sich die drei Brüder immer wieder gerne stellen.
formatik studiert und in der Informatikbranche
auch Lehrlinge ausgebildet. In der Firma ist er
für die Spielanleitungen zuständig und dafür
verantwortlich, dass die Spiele mathematisch
austariert sind und getestet werden. Ausserdem unterrichtet er ab dem kommenden
Schuljahr erneut das Fach Spieleentwicklung
an einer Primarschule. Lukas Frei, 39, hat nach
dem Lehrerseminar und einigen Berufsjahren
einen Grundkurs für Illustration besucht. In der
Firma fungiert er als Springer und illustriert vor
allem Prototypen, wobei er eng mit Andreas
Frei zusammenarbeitet, der die Gestaltung
übernimmt.
«Icon Poet» und «Der gläserne
Berg» im Alpinen Museum Bern
bieten Spass und Spannung.
trag verschiedener Institutionen entwickeln die
Gebrüder Frei Spiele für Kinder und Erwachsene. Bereits veröffentlicht oder aufgestellt sind
nebst Brettspielen auch Museums- und Messespiele, ein Naturschauspiel im Kanton Graubünden, ein Abenteuerspielpfad im Tropenhaus
Wolhusen und das Spielbuch/Buchspiel «Icon
Poet». Für Schulen und Firmen bieten die Brüder verschiedene Workshops mit «Icon Poet»
und zum Thema Spieleentwicklung an.
MITARBEITENDE Die Gebrüder Frei beschäf-
tigen je nach Auftrag beispielsweise Industriedesigner, Szenographen, Literaten, Metallbauer, Architekten, Grafiker, Werbetexter und
Pädagogen. Diese Arbeitseinsätze sind jeweils
zeitlich auf ein Projekt beschränkt.
www.gebruederfrei.ch
UNSER LIEBLINGSSPIEL
«Mir gefällt der Spielmechanismus. Er ergibt sich
aus der Geschichte über
Raben, die Früchte von
den Bäumen des Bauern
Franz stibitzen. Ausserdem findet während des
Spielens ein Strategiewechsel statt, was für Kinderspiele ungewöhnlich
und deshalb herausfordernd ist: Erst gehen die
Spieler Partnerschaften
ein, zum Schluss hin müssen sie alleine kämpfen.
Wir drei Brüder spielen es
am häufigsten.»
Andreas Frei, 46, Spieleautor,
Gebrüder Frei
Schwierig zu knacken war auch die Lösung eines Auftrags,
den das Alpine Museum Bern vergab: Die komplexe Vereinsstruktur des Schweizer Alpen-Clubs sollte familiengerecht
dargestellt werden. Entstanden ist das übermannshohe Grossspiel aus Plexiglas, «Der gläserne Berg», das die Museumsbesucher bereits durch seine Erscheinung anzieht und zum
Berühren einlädt. Zwei Gegenspieler bauen mit farbigen
Holzklötzen Wege zu den unterschiedlichen Hierarchiestufen des Vereins. Wer sein Ziel schneller erreicht, darf seinem Spielpartner die Aufgabe der jeweiligen Kommission
vorlesen.
«Da die Menschen heute weniger lesen als früher, müssen
wir die Informationen richtig portionieren und möglichst
raffiniert vermitteln», so Andreas Frei. Das Ziel von Auftragsarbeiten sei häufig, ein komplexes Thema spielerisch zu
vermitteln. Erlebnisse ermöglichten einen vereinfachten Wissenszugang. Als Beispiel nennt er die nachhaltige Nutzung
natürlicher Energien im neuen Reka-Feriendorf BlattenBelalp, welche die Gebrüder Frei momentan spielerisch
umsetzen: Wird sie theoretisch erklärt, verlieren Jugendliche
rasch das Interesse. Die Tatsache jedoch, dass sie dank
Windenergie Musik hören oder dank Regen Filme anschauen
können, verschafft ihnen einen direkten Zugang zur Welt
der natürlichen Ressourcen.
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Aus Bildern wird Poesie
Den bisher grössten Erfolg aus der Spielküche der Gebrüder Frei hat das sogenannte Spielbuch/Buchspiel «Icon Poet».
Aus fünf gewürfelten Bildern schreiben die Spieler in 180 Sekunden eine Geschichte zu einem definierten Szenario. Dazu
gehören beispielsweise ein Heiratsantrag, das Konstruieren
eines Alibis in einem Mordfall oder die Ausrede für das
Schwarzfahren im Tram. Die Bildzeichen auf den Würfeln,
die sogenannten Icons, lassen sich frei interpretieren: Eine
Schere kann in der Geschichte als Schnittblume, Crèmeschnitte, Lebensabschnittpartner, Schafscherer, als Schneiden oder Abschneiden auftauchen. Andreas Frei erklärt sich
den weltweiten Erfolg durch die einfache Spielmechanik und
«Ein gutes Spiel muss klar sein.»
damit, dass alle Menschen gerne gute Geschichten hören.
Die Idee zum Spiel entstand in Afrika: Die Brüder erlebten
auf Safaris, wie die Teilnehmer einander am Lagerfeuer ihre
Erlebnisse erzählten und beliebig ausschmückten, um sie
abenteuerlicher erscheinen zu lassen.
Entgegen der Voraussage, dass Spieleautoren mindestens
sieben Jahre brauchen, bis sie einen interessierten Verlag
finden, bissen bei der ersten Präsentation 2006 alle grossen
Verlage an. Aus dem ursprünglichen Spielkonzept entstand
auch eine Theatervariante: Im Cabaret Voltaire in Zürich beweisen vier Schweizer Literaten wie Pedro Lenz oder Thomas
Meyer ihre Kreativität. Sind die Würfel gefallen, schreiben
alle ihre Geschichten, die sie anschliessend vortragen. Lukas
Frei, ehemaliger Lehrer und im Trio für die Illustration
der Prototypen zuständig, leitet diese monatlichen Veranstaltungen, bei denen das Publikum mitschreiben und als
Ghostwriter fungieren kann. Er arbeitet auch eng mit dem
Magazin «NZZ Folio» zusammen, in deren Rubrik «Icon Poet»
die spannendsten, von Lesern eingereichten Geschichten
veröffentlicht und prämiert werden.
Deutschland als Gradmesser
Die Gebrüder Frei orientieren sich an der Branche in
Deutschland, wo laut Andreas Frei die meisten Brettspiele für
den deutschsprachigen Raum produziert werden. Nebst den
grossen Verlagen ist auch die Spiele-Autoren-Zunft dort beheimatet, welche die Rechte und Interessen ihrer Mitglieder vertritt. An den beiden grossen Messen in Essen und Nürnberg
wie auch am Spieleautorentreffen in Göttingen präsentieren
die drei Brüder ihre Prototypen verschiedenen Verlagen und
lassen sie vom Publikum testen. Sie informieren sich zudem
über noch unveröffentlichte Spiele, um parallele Entwicklungen zu vermeiden. Diesbezüglich lassen sie sich in der Schweiz
von verschiedenen Inhabern von Spielwarenläden beraten.
Für Andreas Frei ist es heute spannender, Spiele zu entwickeln, als sie zu spielen: «Seit wir uns beruflich damit beschäftigen, spielen wir weniger.» Auf die Frage, was die Inspiration
fördere, lautet seine Antwort: «Ein gutes Leben.» Dazu ziehen sich die Brüder regelmässig in die afrikanische Wüste
zurück. Die Ruhe sei wichtig, um klar denken zu können.
Manchmal nehmen die drei Prototypen mit, oft beginnen sie
aber mit einem weissen Blatt Papier, Schere und Sprayleim
– ohne Ziel vor Augen.
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«Extremsport
ist eine
Reinform des Spielens»
Nicht nur Kinder spielen, auch
die Erwachsenen tun gut daran,
ihre Verspieltheit nicht zu
verlieren. Warum Arbeitgeber
diese fördern sollten, sagt der
Psychologe René Proyer.
Interview Florian Schaffner
Fotos Simone Gloor
René Proyer, Sie beschäftigen sich beruflich mit dem
Spielen – spielen Sie auch privat?
Ich spiele gerne und oft. Auch wenn ich keine Regelspiele wie
zum Beispiel Brett- oder Kartenspiele mag. Meine Kreativität
sehe ich dabei eingeschränkt. Lieber versuche ich, spielerische Momente in den Alltag zu integrieren. Auf meinem
Arbeitsweg beobachte ich etwa das ungewöhnliche Verhalten einer Person im Tram oder eine missverständlich for-
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mulierte Schlagzeile in der Zeitung und gestalte daraus ein
Wortspiel oder überlege mir: «Was wäre, wenn?» Bei meiner
Arbeit analysiere ich Daten und stelle Berechnungen an,
auch das kann spielerisch sein: nach anderen Lösungen zu
suchen, eine neue Methode auszuprobieren, vielleicht einen
anderen Blickwinkel zu entdecken oder eine unkonventionelle Herangehensweise zu entwickeln. Das macht meine
Arbeit interessanter und spannender.
«Spielend zu arbeiten,
hat einen schlechten Ruf.»
Warum spielt der Mensch?
Wir lernen durch Spielen. Kinder entwickeln so zum Beispiel
die Feinmotorik und die Raumvorstellung. Es bereitet auf das
Leben vor. Ein Tier lernt durch das Spielen, zu überleben.
Auch der Mensch lernt spielerisch für sein Leben.
Ist der Lerneffekt das Einzige, wovon wir beim Spielen
profitieren?
Nein. Beim Spielen entwickeln sich positive Emotionen. Diese
sind sehr wichtig, damit wir Ressourcen aufbauen und schwierige Situationen meistern können. Je mehr positive Emotionen wir erleben, umso grösser wird unser Handlungsspielraum. Wir dürfen jedoch das Spielen nicht auf Brett- und
Gesellschaftsspiele reduzieren. Wenn Sie an einer Redaktionssitzung keine Ideen für einen Artikel haben, kann Ablenkung
– etwa wenn jemand etwas Komisches oder Abwegiges sagt –
plötzlich eine neue Idee bringen. Die Kreativität wird ange-
regt. Freude oder Lachen, also positive Emotionen, erweitern
den Handlungsspielraum aller Beteiligten. Dieses Handeln
ist spielerisch.
Spielen ist bei Erwachsenen also nicht vor allem zum Zeitvertreib, aus Langeweile?
Nein, durchaus nicht nur. Beim Spielen kann sich der Mensch
entspannen, was eine Kernfunktion des Spielens ist. Ein
Erwachsener setzt das Spielen bewusst ein, um abzuschalten.
Ist Spielen auch ein Trieb?
Mit dem Spieltrieb sind Sie in tiefenpsychologischen Überlegungen. Sicherlich existiert beim Menschen ein grundlegendes Bedürfnis, zu spielen. Den Triebbegriff finde ich
etwas schwierig in diesem Zusammenhang, als ob sich eine
Person gegen den Spieltrieb wehren müsste. Im Bedürfnis zu
spielen unterscheiden sich Menschen, einige haben es mehr
als andere.
Was geschieht mit einem Erwachsenen, wenn er spielt?
Der soziale Kontakt mit anderen Menschen ist zentral. Bei
Gesellschaftsspielen steht nicht nur das Spielen im Vordergrund, sondern auch, dass wir miteinander eine gute Zeit
verbringen und Spass haben. Spielen braucht ebenfalls intellektuelle Fähigkeiten. Die verspielteren unter meinen Studierenden erzielen die besseren Prüfungsleistungen. Ihnen
gelingt es vermutlich, Lernen spannender zu gestalten. Sie
lernen nicht bloss auswendig, sondern versuchen, das Erlernte
für sich interessanter und persönlich anregender zu gestalten. Man kann vermuten, dass sie in Prüfungssituationen entspannter sind und der Wettbewerbssituation etwas abgewinnen können und sich dadurch motivieren.
Manche lieben das Spielen, manche spielen kaum im
Erwachsenenleben. Warum ist das so?
René Proyer, gezeichnet von einem
Mitarbeiter mit verbundenen Augen.
Ich habe zwar kein
konkretes Lieblingsspiel. Aber der Alltag
liefert mir zuhauf
spielerische Anlässe,
um daraus etwa Wortspiele zu gestalten.»
René Proyer, 38, Psychologe
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Speziell bei Erwachsenen müssen wir den Begriff des Spielens
differenzieren. Jemand, der keine Gesellschaftsspiele mag,
kann trotzdem verspielt sein. Ihm liegt möglicherweise eine
andere Art von Spielen. Unter Spiel verstehen wir ein konkretes Verhalten, wie beispielsweise ein Brettspiel spielen.
Verspieltheit ist hingegen eine stabile Persönlichkeitseigenschaft. Mit ihr gelingt es dem Menschen, den Alltag so zu
gestalten, dass dieser ihm häufig erlaubt, Unterhaltung,
persönliches Interesse oder intellektuelle Anregung zu erfahren. Manchmal sind dies auch Menschen, die ungewöhnliche Hobbys pflegen oder sich von skurrilen oder grotesken
Situationen und Inhalten in Büchern, der Kunst oder Filmen
angezogen fühlen.
Spielen macht glücklich. Hat ein Mensch, der viel spielt,
seien es Gesellschafts-, Brett- oder Computerspiele, eine
höhere Lebenszufriedenheit?
Der Zusammenhang ist zwar nicht so deutlich, wie ich das
zu Beginn meiner Forschung angenommen habe. Im Allgemeinen aber geht eine höhere Verspieltheit mit einer
höheren Lebenszufriedenheit einher. Und das physische
Wohlbefinden nimmt zu. Wer spielt, fühlt sich vitaler. Wer
im Beruf Routinearbeiten spielerisch erledigt, gestaltet die
Arbeit wesentlich interessanter.
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René Proyer, 38, hat an
der Universität Wien doktoriert und
doziert seit 2004 an der Universität
Zürich. Er forscht zu Themen rund
um die Positive Psychologie und
hat zahlreiche Publikationen zur
Verspieltheit bei Erwachsenen
verfasst. Er ist Oberassistent der
Fachrichtung für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik und
wohnt in Zürich.
«Wer beim Spielen verliert,
lernt, mit negativen
Emotionen umzugehen.»
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Der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat in den 1970er
Jahren geschrieben, dass sich der Mensch beim Spielen in
einen «Flow»-Zustand begibt. Das heisst, er kann sich
selbständig motivieren und entwickelt eine schöpferische
Leidenschaft. Gemäss Csíkszentmihályi kann man auch in
anderen Situationen, zum Beispiel bei der Arbeit, den
Ist ein Mensch, der spielt, intelligenter als einer, der nicht
spielt?
Wichtig beim Spielen ist die kreative Intelligenz. Verspielte
Menschen sind nicht generell intelligenter. Untersuchen wir
jedoch die Kreativität oder den Einfallsreichtum, sehen wir,
dass verspielte Menschen höhere Werte aufweisen.
«Flow» finden. Wie geht das?
Eine wichtige Voraussetzung ist, dass Sie bei Ihrer Tätigkeit
weder unterfordert noch überfordert sind. Am leichtesten
kommen Sie in den Flow-Zustand, wenn Sie einen Sinn in
Ihrer Arbeit erkennen. Das heisst, dass bei Ihrer Anstellung
ein optimales Verhältnis zwischen den Anforderungen und
Ihren Fähigkeiten besteht. Versuchen Sie, Ihren Arbeitsalltag
so zu gestalten, dass Sie Ihre Begabungen einbringen können.
Welche Möglichkeiten haben Unternehmen, um die zu
verrichtende Arbeit für die Mitarbeitenden spielend zu
gestalten, damit sie in den «Flow» finden?
Grundlegend ist, dass die Firma eine Atmosphäre schafft, in
der Verspieltheit möglich ist; also zum Beispiel eine Führungsperson, die es zulässt, dass bei Sitzungen auch mal Witze oder
amüsante Bemerkungen gemacht werden. Oder den Freiraum schafft, dass sich Mitarbeitende auch mal in entspanntem und nicht nur bierernstem Klima austauschen können
– etwa in einem eigenen Raum dafür oder beim Tischfussballspielen. Die Arbeitsprozesse sollten zudem so gestaltet
sein, dass der Mitarbeiter möglichst individuell handeln
kann. So werden Menschen länger im Unternehmen verbleiben, weniger krank sein und Spass bei der Arbeit haben.
Spielend zu arbeiten, macht einen Angestellten glücklich,
und er leistet mehr für das Unternehmen. Eine Win-winSituation. Warum legen die Firmen nicht mehr Wert auf
spielerische Arbeitsprozesse?
Spielen hat einen schlechten Ruf. Es ist etwas, was Kinder
tun. Unser Weltbild lässt nicht zu, dass wir bei der Arbeit
Spass haben. Wir denken, spielen sei albern und dass wir uns
auf verspielte Menschen nicht verlassen können. Das ist eine
einseitige Betrachtungsweise. Manche Unternehmen, wie
zum Beispiel Google, brüsten sich damit, dass sie eine offene
«Beim Menschen existiert
ein
grundlegendes Bedürfnis,
zu spielen.»
und individuelle Arbeitsatmosphäre ermöglichen. Ob die
Arbeit in der Praxis auch wirklich so aussieht, ist schwierig
zu beurteilen. Auf unserem Stockwerk an der Universität
Zürich hatten wir einen Tischfussballkasten. Beim Spielen
verursachten wir Lärm, was andere nervte, und es kostete Zeit,
aber wir haben uns dabei auch über die Arbeit ausgetauscht
und so manche gute Idee dabei entwickelt oder den Kopf für
Neues freibekommen. Mitarbeitende entspannen sich durch
das Spielen, und die Teamfähigkeit wird gefördert. Spielerisches Arbeiten kennt jedoch Grenzen. Ein Arzt sollte nach
einer Operation keine spielerische Narbe hinterlassen. Gut
ist dagegen, wenn er über seine Arbeit witzelt und nicht im
Frust der Routine absackt.
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Computerspiele hatten lange einen schlechten Ruf. Nun
haben Forscher herausgefunden, dass sie durchaus
förderlich sind. Überwiegen für Sie die positiven oder
negativen Aspekte?
Die Befundlage hierzu ist etwas dünn. In einem normalen
Umgang mit dem Spiel überwiegen die positiven Aspekte. Es
gibt Studien, die Computerspielern eine bessere Reaktionsfähigkeit attestieren. Kritiker sagen, dass Computerspiele
mit negativem sozialem Verhalten einhergehen. Das hat
jedoch mit dem Ausmass des Spielens zu tun, und dieses zu
definieren, ist schwierig. Ich glaube weder, dass Spieler vor
dem Computer vereinsamen noch dass sie überfordert sind
mit dem, was dabei auf sie einprasselt. Bei Menschen, die
zu Spielsucht neigen, überwiegen die negativen Aspekte.
Verspielte Leute sind auch risikofreudiger, was nicht immer
von Vorteil ist. Unter den Extremsportlern finden wir
wahrscheinlich viele verspielte Menschen. Extremsport ist
gewissermassen eine Reinform des Spielens.
Wer spielt, will gewinnen. Warum kann ein Mensch profitieren, wenn er verliert?
Wer verliert, lernt, mit negativen Emotionen umzugehen, und
kann in schwierigen Alltagssituationen von dieser Erfahrung
profitieren. Hierbei müssen wir zwischen Glücksspielen und
strategischen Spielen unterscheiden. Ein Spiel, das nicht vom
Glück abhängig ist, kann der Mensch trainieren. Er kann so
die Gewinnchancen besser einschätzen und erhöhen. Er entscheidet selbst, wie viel Zeit er für dieses Training aufwendet.
Frustrierend ist, wenn der Spieler viel Zeit investiert und dann
doch verliert. Doch Menschen spielen nicht immer nur, um zu
gewinnen. Manche möchten mit dem Spiel lediglich einen
schönen Abend erleben. Ein Erwachsener sollte den Drang
abschütteln, in einem Spiel unbedingt gewinnen zu müssen.
Ich muss nach unserem Gespräch einen Artikel schreiben.
Wie komme ich am leichtesten in den «Flow»-Zustand?
Versuchen Sie, Ihren Artikel in einer spielerischen Umgebung niederzuschreiben. Meinen Arbeitsplatz würden viele
als chaotisch beschreiben, aber wenn ich hier arbeite und
mich umschaue, sehe ich immer wieder Dinge, die mich anregen. Für mich ist dies eine spielerische Umgebung. Versuchen Sie, mit Humor an die Arbeit zu gehen. Das macht
Ihre Aufgabe viel einfacher. Ich habe schon mehrmals einen
weichen Ball auf den Türrahmen meines Büros gelegt, und
jedes Mal, wenn jemand hereinkam und durch den herunterfallenden Ball erschrak, hat mich das angeregt.
Testen Sie, wie verspielt Sie sind auf
www.derarbeitsmarkt.ch/Fokus-Spielen
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Im Game-Labor der ZHdK feilen Fabienne
Osterwalder (links) und Patricia Pollinger an
ihrer Bachelorarbeit.
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Spielend studieren
MEIN LIEBLINGSSPIEL
Digitale Spiele gehören zu unserem Leben: Pendler spielen
auf ihren mobilen Geräten, soziale Plattformen bieten
Social Games an, und laufend bringen die Spieleproduzenten Neues auf den Markt. Verantwortlich dafür
sind unter anderen die Studierenden des Lehrgangs
«Game Design» an der Zürcher Hochschule der Künste.
Text Vanessa Kuhn
Fotos Simone Gloor
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«Dieses Game habe
ich mit Studienkollegen
entwickelt. Es lässt sich
nur zu zweit spielen.»
Fabienne Osterwalder, 28,
Studentin ZHdK
chieb den Kubus lieber hierhin.» «Dann müssen wir
die Steuerung umprogrammieren.» «Findest du Violett die passende Farbe für unsere Zielgruppe?» «Das
Spiel wirkt besser in 3-D.» Fabienne Osterwalder und
Patricia Pollinger diskutieren über ihr neues Spiel mitten im
kreativen Chaos des Game-Labors der Zürcher Hochschule der
Künste (ZHdK). An einer Wand stapeln sich diverse Konsolenspiele. Dazwischen – wie ein Aussenseiter – stehen ein einsamer Joystick und ein alter Gameboy. Die Game-Poster an den
Wänden erinnern an das Zimmer eines Teenagers. Weitere
Studierende fachsimpeln gemeinsam oder programmieren an
ihren Computern neue Spiele. Die zwei jungen Frauen sitzen
an ihrer Bachelorarbeit. Sie haben sich in den letzten fünf
Semestern intensiv mit Spielen aller Art auseinandergesetzt.
Spiele analysieren
Die Studienrichtung «Game Design» gibt es erst seit zehn
Jahren an der ZHdK. Am Anfang lag der Fokus eher in Richtung
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STUDIENRICHTUNG GAME DESIGNER
Von Analyse bis Animation
Spass und Unterhaltung. Heute sind zudem die sogenannten
«Serious Games» etabliert und werden in unterschiedlichsten, interdisziplinären Projekten entwickelt. Zu diesen «ernsthaften Spielen» gehören zum Beispiel Wissensspiele wie Quiz
oder E-Learning-Spiele sowie bewegungsgesteuerte Games,
die zur Bewegung animieren und so die Fitness des Spielenden unbewusst verbessert (siehe Artikel Seite 32). Der Spassfaktor steht auch hier im Vordergrund.
Da stellt sich die Frage, ob das Studium verspielt ist. «Im
ersten Semester haben wir tatsächlich viel gespielt. Aber nicht
nur um des Spielens willen, sondern um die Spiele zu analysieren und zu lernen, was sie ausmacht», sagt Fabienne Osterwalder. «Es wird also schnell ernst», ergänzt Patricia Pollinger.
Die angehenden Game Designer kommen aus unterschiedlichen beruflichen Richtungen. Fabienne Osterwalder ist
Grafikerin. Ausschlaggebend war für die 28-Jährige, dass das
vielseitige Studium ihre Interessen weitgehend abdeckt. «Ich
illustriere und schreibe sehr gern. Spielen ist eine weitere
Leidenschaft.» Patricia Pollinger war Fachbuchhändlerin. Sie
holte das Gymnasium mit dem Ziel nach, etwas Wissenschaftliches zu studieren. Nach einem Gespräch mit einer Game
Designerin änderte die 29-Jährige ihren Plan. «Es war ein Kurzschlussentscheid, den ich noch keine Sekunde bereut habe.
Ich möchte gerne therapeutische Spiele entwickeln.»
« SE R I O US G A M E S» IN D ER FO RS C H UNG
Wenn Spiele einen
bestimmten Zweck erfüllen
Anna Lisa Martin und Viktoria Kluckner sind an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) als Senior Researcher
in unterschiedlichen Projekten tätig. Aktuell erarbeiten
sie zusammen mit Studenten bewegungsgesteuerte
Games, die als Fitnesstraining für Kinder und Jugendliche
eingesetzt werden können, sogenannte Serious Games.
Seit 2004 bietet die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) den Studiengang «Game Designer» an. Der Bachelor dauert sechs Semester, der
Master drei weitere Semester. Das Studium ist generalistisch angelegt.
Game Design Projects
Game Business
Game Culture
Storytelling
Game Engine Programming
Game Mechanics
Programming
Studienfächer
Game Conception
Usability Design
Game Analysis
Media Management
Character Design
3D Modelling & Animation
Visual Technics
Ausbildung zu Generalisten
Spiele zu entwickeln, hat viel mit Fantasie zu tun. «Aber
ohne das Handwerk nützt sie uns nichts», sagt Patricia Pollinger. Neben der Kreativität ist logisches Denken eine wichtige
Eigenschaft der Game Designer. Sie müssen die Idee in die
Realität umsetzen. «Bevor wir ans Programmieren gehen,
Game entwickeln – hat sich in den letzten Jah-
geht. So sollen ein andauernder Spielfluss (Flow)
ren viel getan. Die Studierenden lernen nicht
sowie ein grösserer Spielspass generiert werden.
nur, wie sie ein unterhaltsames Spiel kreieren
können, sondern setzen sich auch mit dem
Sogenannte «Egoshooter», wo ein
Effekt eines Spiels auseinander. Der Sektor
einzelner Spieler feindliche Kreatu-
«Serious Games» ist neben dem weiterhin
ren bekämpft, gelten als gewaltver-
sehr präsenten Bereich der kommerziellen
herrlichend und sollen sich negativ
Games wichtiger geworden.
auf den Spieler auswirken. Unterstützen Sie diese Aussage?
Was verstehen Sie unter einem
Anna Lisa Martin: So generell kann diese
«Serious Game»?
Frage nicht beantwortet werden. Studien
Viktoria Kluckner: Ein Spiel, das eine ernst-
haben belegt, dass Egoshooter-Games bei-
hafte Absicht hat. Mit anderen Worten: wenn
spielsweise einen positiven Effekt auf die
spielerisch gelernt oder auch motiviert wird.
Reaktionsgeschwindigkeit und das räumliche
«Serious Games» entstehen in Zusammenar-
Orientierungsvermögen der Spieler haben.
beit von Game Designern mit Experten aus
Man könnte also ganz provokativ behaupten,
allen denkbaren Disziplinen. Gemeinsam
dass auch diese Spiele gewissermassen
erarbeiten sie ein Spiel, das zum Beispiel eine
«Serious Games» sind. Ich denke aber, dass
monotone Trainingseinheit effektiver und
der wirtschaftliche Gedanke beim Realisieren
attraktiver gestaltet.
dieses Game-Genres ganz klar überwiegt.
Anna Lisa Martin: Seit 2008 arbeitet die Vertiefung Game Design mit dem Rehabilitations-
Wie steht die Schweiz im interna-
zentrum in Affoltern am Albis (siehe Artikel Sei-
tionalen Vergleich bei den «Serious
te 32) zusammen. Gerade im therapeutischen
Games» da?
Umfeld bieten sich die sogenannten Rehabilita-
Anna Lisa Martin: Die USA sind in der unter-
tions-Games als optimale Ergänzung zu tradi-
haltenden Game-Industrie führend. Dort sind
tionellen Therapieformen an. Nicht nur Kinder,
die grössten Produzenten und die meisten Inves-
Die Studienrichtung Game Design in
sondern auch Erwachsene und Senioren sind
toren. In der Erforschung von Games sind die
der Schweiz ist noch relativ jung, die
nachweislich motivierter, wenn sie monotone
Niederlande sehr weit vorne. Wir können aber
ZHdK bietet sie seit 2004 an. Hat sie
Therapien spielerisch praktizieren können.
behaupten, dass die Vertiefung Game Design
sich in den letzten Jahren verändert?
Anna Lisa Martin: Ja, sehr. Gerade in Richtung
und ihre Studenten und Absolventen in all dieWelches ist die neuste Entwicklung?
sen Gebieten international ebenfalls ein sehr
der interdisziplinären Game-Projekte – also
Viktoria Kluckner: Neu sind beispielsweise
gutes Ansehen geniessen. Besonders im Bereich
wenn zum Beispiel Psychologen, Bewegungs-
adaptive Games. Das heisst, dass das Spiel auf
audio-visuell anspruchsvolle «Serious Games»
therapeuten und Ingenieure zusammen ein
die individuellen Bedürfnisse des Spielers ein-
setzen wir innovative Standards und Trends.
F O K U S Spiele
machen wir einen Prototyp aus Papier – eine Art reale Version
des Spiels. Meistens verwenden wir einfache Materialien wie
Papier oder Stift und spielen dann selbst mit unserem Entwurf. So können wir die Regeln und ihren Sinn überprüfen
und sehen, ob das Spiel Spass macht», sagt Patricia Pollinger.
Das Studium ist umfassend aufgebaut. Zu den Studienfächern gehört unter anderem das Storytelling, die Kunst, eine
Geschichte interessant aufzubauen und zu erzählen. Weiter
lernen sie mit Game Conception, ein Spiel so zu konzipieren,
dass der Aufbau aufgeht. Oder – damit die Umsetzung grafisch ansprechend daherkommt – Visual Technics. «Wir werden hier zu Generalisten ausgebildet. Das heisst, wir lernen
alles rund um das Entstehen eines Spiels. Von der Konzeption
über 2-D- und 3-D-Design bis hin zur Programmierung»,
erklärt Patricia Pollinger. «Wenn ich aber ein grösseres Game
entwickeln möchte, würde ich allenfalls einen 3-D-Spezialisten hinzuziehen oder einen Programmierer. Wir sehen
uns auch als Bindeglied zwischen Experten und sorgen dafür,
dass sich beide Seiten verstehen.»
Wenig bekannter Beruf
«Aber nicht nur das», ergänzt Fabienne Osterwalder. «Wir
können Klarheit schaffen. Etwa, wenn jemand ein Game
zu einem bestimmten Thema und mit einem bestimmten
Zweck will, aber nicht weiss, was alles möglich ist.» Eine
Firma möchte beispielsweise ein Game entwickeln lassen.
«Da spielt der visuelle Auftritt des Auftraggebers eine grosse
Rolle. Die Firma muss aus dem Game ersichtlich sein. Vielleicht weiss der Auftraggeber schon, was für einen Avatar,
also welche virtuelle Spielfigur, er möchte. Oder die Art des
Games: Soll es ein puzzleartiges Spiel sein, wie ‹Tetris›, oder
eher ein sogenanntes Jump & Run, wie man es von den
‹Mario-Games› kennt?», sagt Patricia Pollinger. Ideen seien
meistens mehr als genug da. Die Einschränkungen sowie den
Zeitrahmen und das Budget geben die Auftraggeber vor.
Im Sommer kommen zusammen mit Fabienne Osterwalder
und Patricia Pollinger rund 20 neue Game Designer auf den
Arbeitsmarkt. Eine Berufsbezeichnung, die in der Jobbörse
nicht sehr häufig ausgeschrieben ist. «Wir müssen den Unternehmen zuerst mitteilen, dass sie uns brauchen», sagt
Patricia Pollinger lachend.
MEIN LIEBLINGSSPIEL
MEIN LIEBLINGSSPIEL
«Der Gameboy war
mein erstes digitales
Spielzeug und begleitet
mich heute noch auf
Reisen. Ein Kult-Game.»
«‹Kinect Adventure› ist
ein tolles Spiel, weil
ich beim Spielen nicht
nur den Kopf, sondern auch den Körper
fordern kann.»
Viktoria Kluckner, 32, Institut für
Designforschung, ZHdK
Anna Lisa Martin, 29, Institut für
Designforschung & Vertiefung Game
Design, ZHdK
MEIN LIEBLINGSSPIEL
Markt mit Potenzial
Die grössten Game-Produzenten sind in den USA. Weder
Fabienne Osterwalder noch Patricia Pollinger sehen ihre
Zukunft als kleines Rädchen in der grossen Game-Industrie.
«Um Erfahrungen zu sammeln und auch als Referenz könnte
ich mir schon vorstellen, für die Grossen zu arbeiten», führt
Fabienne Osterwalder aus. «Aber ich sehe meine Rolle eher im
Bereich der Independent Games. Ich möchte meine eigenen
Ideen umsetzen und von A bis Z bei der Entwicklung meiner
Games dabei sein.» Die Unterhaltungsindustrie in der Schweiz
hat an einem kleinen Ort Platz. Bis jetzt gibt es keine grossen
Herausgeber von Videospielen, und auch die Investoren halten sich zurück. Obwohl sich auf dem Sektor viel Geld machen
liesse. Die Prognose der Spielindustrie verspricht einen weltweiten Umsatz mit Videogames von 27 Milliarden Franken in
diesem Jahr. Im Vergleich dazu: Die Filmindustrie prognostiziert für das Jahr 2014 lediglich 4,3 Milliarden Franken.
«Das Nintendo-Game
‹Prince of Persia› von
1992 war meine erste
grosse Liebe.»
Patricia Pollinger, 29, Studentin ZHdK
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der
arbeitsmarkt
F O K U S Spiele
S E R I O U S G A M E S I N D E R R E H A B I L I TAT I O N
Laufen lernen
mit dem Avatar
In der Therapie von Kindern verwendet das
Rehabilitationszentrum Affoltern am Albis
«Serious Games». Die computergestützten Geräte
helfen den Kindern, ihren Bewegungsapparat
spielend zu trainieren. Forscher und Game
Designer arbeiten bei der Entwicklung Hand
in Hand.
Text Vanessa Kuhn
Fotos Simone Gloor
Z
wei weisse Roboterbeine hängen über einem Laufband, davor eine Art Hängesitz. Auf den ersten
Blick wirken die Apparate im Trainingsraum des
Rehabilitationszentrums Affoltern am Albis (RZA)
des Kinderspitals Zürich etwas beängstigend. Es sind Bewegungsroboter mit Namen Lokomat. «Die Roboterbeine werden an den Beinen des Kindes befestigt. Kinder, die eine
Einschränkung des Bewegungsapparates haben, lernen so
korrekte Bewegungsabläufe», erklärt Huub van Hedel, Leiter Forschung und Therapien am RZA. Der Lokomat wird
individuell auf das Kind eingestellt. Sensoren messen, wie
stark sich der Patient selber in die Übungen einbringt. Je
nach Bedarf unterstützt der Lokomat das Kind mehr oder
weniger, indem er das Körpergewicht unterschiedlich entlastet.
Doch der Roboter kann mehr: «Um die Wiederholungen
spielerisch zu gestalten und die Kinder besser zu motivieren, ist der Lokomat mit einem Serious Game verbunden»,
sagt Huub van Hedel. Früher sah der Patient auf einem Bildschirm ein schlichtes Smiley. Je intensiver er selber aktiv
war, umso grösser wurde das Lachen. Dann ging das Rehazentrum eine Zusammenarbeit mit den Game Designern
der Zürcher Hochschule der Künste ein (siehe Seite 29).
Heute zeigt der Bildschirm eine ausserirdische Landschaft.
Das Kind wird als kleiner Avatar dargestellt, der auf seiner
Reise über den Planeten Blumen pflücken muss. Je mehr
Kraft und Eigeninitiative das Kind aufbringt, umso grösser
und schneller wird der Avatar. Auf dem Bildschirm sieht das
Kind den Fortschritt des Spiels. Durch das Spiel angetrieben, wiederholt es nicht nur die Übungen am Roboter öfter.
Unter den kleinen Patienten entsteht eine Art Wettbewerb.
Sie vergleichen die Punktezahl und spornen sich so gegenseitig an.
Roboter ersetzt Mensch nicht
Spiele in der Therapie einzusetzen, ist nicht neu. Aber
die Computer- und Robotertechnologien erlauben eine andere Herangehensweise. «Rehabilitationstherapien mit Robotern kennen wir seit zirka zehn Jahren. Wir sind dabei, diese
«Am Anfang war bei einigen
die Angst da, dass Roboter die
Therapeuten ersetzen.»
immer weiter auszubauen und den Einsatz auf andere
Gebiete auszuweiten.» In einem anderen Raum stehen weitere kleinere Roboter, die auf die Therapie von Händen und
Oberarmen spezialisiert sind. Auch sie funktionieren mit
Serious Games. In den ersten «Games» übten die Patienten
vor allem Alltagssituationen wie Zähne putzen oder Karotten schälen. «Seit wir unterhaltsame Serious Games einsetzen, ist die Motivation, die Übungen zu machen, viel
grösser.»
Aber: «Alltagssituationen am Roboter mit einem Computerspiel zu üben oder in der Realität selbständig – dazwischen liegen Welten.» Die Bewegungen, die die Patienten am
der
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Der Lokomat
unterstützt die
kleinen Patienten
dabei, korrekte
Bewegungsabläufe
zu lernen.
F O K U S Spiele
Teure Spielereien
KAPAZITÄT Das Rehabilitationszen-
trum Affoltern am Albis (RZA) des
Kinderspitals Zürich führt drei Bettenstationen mit 47 Betten für Kinder
und Jugendliche, die in unterschiedliche Bereiche der Rehabilitation
aufgeteilt sind. Das RZA bietet die
Therapien auch ambulant an.
F I N A N Z I E R U N G Die Forschungs-
gruppe des RZA gehört zum Kinderspital Zürich, finanziert sich aber zu
100 Prozent über Forschungsgelder,
Stiftungen und Sponsoren.
R O B O T E R T H E R A P I E Ein Lokomat
kostet rund eine halbe Million Franken.
Eine Therapieeinheit dauert zirka 45 Minuten, die Auslastung ist sehr hoch.
ZERTIFIZIERUNG Die selbstentwickel-
ten computergestützten Therapie systeme werden durch die Bundesbehörde Swissmedic und die jeweilige
kantonale Ethikkommission in einem
ausführlichen Verfahren begutachtet
und bewilligt. Diese überprüfen die
Geräte auf Sicherheit und ethische
Vorgaben für Forschung am Menschen. Besonders streng sind die
Richtlinien bei Therapiemethoden für
Kinder.
F O K U S Spiele
In Kombination mit
einem «Serious
Game» machen
sich die Übungen
leichter (links). Eine
Therapeutin stellt
die Roboterbeine
des Lokomats auf
die Bedürfnisse des
Patienten ein.
Computer lernen, setzen sie mit den Therapeuten zusammen im Alltag um.
Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen
Die Therapeuten des Rehabilitationszentrums haben die
Neuerung durch Roboter und Serious Games in der Rehabilitation gut aufgenommen. «Am Anfang war bei einigen die
Angst da, dass die Roboter die Therapeuten ersetzen. Das
trifft nicht zu. Wir brauchen immer noch dieselbe Anzahl an
qualifiziertem Personal wie vorher. Die Therapien sind eher
noch anspruchsvoller geworden, da wir ein sehr hochstehendes Training anbieten.»
MEIN LIEBLINGSSPIEL
«Im Moment renne ich
am liebsten mit meinen
Kindern, zwei fünfjährigen Buben und einer
bald zweijährigen
Tochter, dem Ball nach.»
Huub van Hedel, 41, Leiter Forschung
und Therapien RZA
der
arbeitsmarkt
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Das Forschungsteam im Rehabilitationszentrum besteht
aus rund 20 Leuten. Darunter befinden sich Bewegungswissenschaftler, Physio- und Ergotherapeuten, Neuropsychologen und Ingenieure. Auch Studenten der Zürcher Hochschule der Künste mit Studienrichtung Game Design sind immer
wieder im RZA anzutreffen. Sie lernen vor Ort den klinischen Alltag besser verstehen und erfahren, wie die Kinder
die Serious Games spielen. Auch in der Entwicklung solch
komplexer Therapiemöglichkeiten wie des Lokomaten arbeiten viele Spezialisten zusammen, von Ingenieuren über
Neurowissenschaftler bis hin zu den Game Designern und
den Spitälern, die die Geräte einsetzen.
Diese Zusammenarbeit funktioniert laut Huub van Hedel
sehr gut, auch wenn nicht alle immer die gleiche Sprache
sprechen. «Redet ein Ingenieur von ‹aktiv›, meint er das
Gerät, der Therapeut hingegen den Patienten. Sind diese
Missverständnisse aus dem Weg geräumt, funktioniert’s.»
Das Niveau ist hoch; selbst Spitäler in den USA, die technologisch gesehen häufig einen Schritt voraus sind, seien sehr
interessiert an den Forschungsarbeiten und den therapeutischen Anwendungen verschiedener Systeme.
Durch die digitale Entwicklung wird der Stellenwert
dieser Therapiearten zunehmen, für Erwachsene wie für Kinder. Bereits heute hätten Letztere sehr hohe Ansprüche. Die
meisten Kinder haben zuhause eine Konsole und kennen sich
mit herkömmlichen Spielen aus. «Die Therapie muss attraktiv bleiben. Nur so haben die Spiele einen motivierenden
Effekt auf das Kind. Wir sind überzeugt, dass hier noch viel
Potenzial vorhanden ist.»
Erfolgreich in Kombination
Der Erfolg der computergestützten Therapie bei Kindern,
zum Beispiel am Lokomat, ist schwierig zu belegen. «Die
Patienten sind alle auf einer unterschiedlichen Therapiestufe, und die Rehabilitation ist individuell an sie angepasst.
Da es keine standardisierten Abläufe sind, können wir den
Erfolg nur schwer abschätzen», räumt Huub van Hedel ein.
Doch die Unterstützung des Roboters verhindere, dass die
Kinder in ein ungesundes Bewegungsmuster fallen. «Wir
würden sehr gerne mehr Informationen aus den Therapien
ziehen, aber wir möchten verhindern, dass das Kind von oben
bis unten verkabelt wird.»
F O K U S Spiele
S P I E L Z E U G H E R S T E L L E R
Auf kleinen Schienen
Die romantische Welt der Modelleisenbahnen:
ein originalgetreuer IC2000 der SBB in voller Fahrt.
Text Florian Schaffner
Fotos Simone Gloor
D
ie Ampeln wechseln auf Grün. Die Bremsen der
Lokomotive lösen sich mit einem dumpfen Pfiff.
Langsam kommt die Zugformation ins Rollen,
steigert nach den ersten Weichen ihr Tempo, bis
sie auf dem geraden Schienennetz ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht. In den Waggons sitzen Figuren, welche dank
der Innenbeleuchtung keine Probleme hätten, ihre Tageszeitung zu lesen. Hinter den Schienen am Tischrand steht ein
Mann an der Lenkzentrale und steuert die Modelleisenbahn: Heinz Urech im Showroom seines Unternehmens HAG
Modelleisenbahnen in Stansstad (NW).
Unverkennbar echt
Die HAG produziert die Mercedes unter den Modelleisenbahnen. Aus der Nähe betrachtet, ist bei den Modelllokomo-
tiven kein Unterschied zu den Originalen auszumachen.
Besonders stolz ist Heinz Urech auf das Lichtkonzept, welches
genau mit dem der SBB übereinstimmt. Kleine LED-Lämpchen
leuchten mit Hilfe der Software die Innenräume der Zugwaggons sorgfältig aus. Auch die Front- und Rückscheinwerfer
der Züge lassen sich realitätsgetreu steuern. Der Luftkompressor und der bekannte Pfiff einer Lokomotive sind originalgetreu. Die Züge wirken niedlich, wenn sie über die feinen
Gleise gleiten. Sogar der neue Starbucks-Wagen fährt auf den
Modellgleisen. «Das Logo muss exakt auf dem Wagen platziert sein», erklärt Heinz Urech. Für jedes Logo, das die HAG
auf ihre Züge druckt, braucht sie eine Freigabe des betreffenden Unternehmens.
Ein junger Mitarbeiter sitzt im Showroom vor den Gleisen
und der Lenkzentrale, setzt jede Lokomotive einzeln auf die
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der
arbeitsmarkt
F O K U S Spiele
Genauigkeit ist eine
wichtige Voraussetzung für ein einwandfreies Modell.
Die Mitarbeitenden
lackieren, beschriften und montieren
Lok-Bauteile präzise.
MEIN LIEBLINGSSPIEL
«Seit ich als kleines
Kind das erste Mal
damit spielte, sind
Modelleisenbahnen
meine liebste Freizeitbeschäftigung.»
Heinz Urech, 55, Inhaber HAG
Schienen und überprüft die Funktionen. Alle Steuerwagen
werden vor der Auslieferung von Hand getestet. Jede Maschine, die ein Kunde kauft, muss einwandfrei funktionieren.
Die HAG stellt nur Schweizer Züge her. Der Massstab von 1:87
macht die Produktion zu einer Herausforderung. Mit den SBB
hat die HAG einen Lizenzvertrag, von ihnen bekommt sie die
Pläne der Maschinen. Die SBB legen viel Wert darauf, dass die
Züge so echt wie möglich aussehen. Die Lenkzentrale läuft
vollumfänglich digital, zeitgemäss kann sie mit einem Tablet
oder dem Smartphone gekoppelt werden. Mit der ausgeklügelten Software lassen sich mehrere Lokomotiven gleichzeitig steuern. Alle Leuchtsignale und Toneffekte kann der
Modelleisenbahnfahrer über einen Touchscreen regeln. Ein
Decoder in den Lokomotiven empfängt die Befehle der Lenkzentrale.
Qualität als höchstes Gebot
«40 Prozent unserer Kunden sammeln die Loks, 60 Prozent
spielen damit», schätzt Heinz Urech. Viele seien Nietenzähler, achteten genau darauf, dass sich alle Nieten, alle Fenster
und alle Scheinwerfer und Türen an der richtigen Stelle befinden und der Massstab eingehalten wurde. «Auch ich wurde
zu einem Nietenzähler», scherzt Heinz Urech. Nur so kann
er dem hohen Anspruch seiner Kunden gerecht werden. Der
besondere Stolz des Unternehmers ist die Werbelok der SBB,
die Re 460, im Volksmund besser bekannt als Lok 2000. Von
ihr produziert die HAG zurzeit eine exklusive Lokomotive
mit dem Coop-Werbeaufdruck «MiiNi REGiON». In den Waggons fahren kleine Passagiere mit. Bei der Produktion werden
der
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die Zugfahrer immer auf verschiedenen Sitzen platziert, so
ist jede Zugformation ein Unikat.
Die Herstellung der HAG-Lokomotiven ist in der Produktionshalle im Industriegebiet zusammengefasst. An den
Tischen sitzen drei Mitarbeiterinnen und setzen die winzigen Einzelteile zu Lokomotiven und Waggons zusammen.
Hierbei ist Fingerspitzengefühl gefragt. Die Schnittstellen
der Stromkabel sind nur mit ruhiger Hand zu löten. «Meine
Mitarbeitenden müssen eine Leidenschaft für die Modelleisenbahn entwickeln», sagt Heinz Urech. In einem eigenen Raum im hinteren Teil der Halle besprüht eine junge
Lackiererin die filigranen Lokgehäuse mit Farbe. Mit ihrem
weissen Schutzanzug und einer Atemschutzmaske erinnert
sie an eine Astronautin. Ihr Arbeitsplatz ist mit dicken,
durchsichtigen Plastikplachen geschützt, sodass kein
Staubkorn den Weg auf eine frisch lackierte Lokomotive
findet. Jedes Gehäuse nimmt sie einzeln in die Hand, um
es flächendeckend mit der Spritzpistole einzufärben. 1500
Stück bemalt sie so jedes Jahr, darunter auch Fantasiedrucke. Nachdem der Lack auf den Gehäusen getrocknet
ist, kontrolliert ihn die Lackiererin nochmals auf Ungenauigkeiten.
Vom Lackieren kommen die Modelle zum Tampondruck.
Mit weichen Tamponkissen platziert der Druckspezialist alle
Nummern und Schriftzüge präzise auf die Gehäuse. «Der
Kunde möchte alles lesen können, auch wenn er dazu eine
Lupe braucht», sagt der zuständige Mitarbeiter. Danach
erhalten die Gehäuse einen Motor und den Computerchip.
Auch Umrüstungen auf das neue Lichtsystem der SBB nehmen die Mitarbeitenden vor. Nach dem Funktionstest ist die
Lokomotive bereit, verpackt zu werden. In der Halle herrscht
eine konzentrierte Atmosphäre.
Eine Lokomotive der HAG Modelleisenbahnen kostet zwischen 700 und 1200 Franken. Das mag ein stolzer Preis sein.
«40 Prozent unserer Kunden
sammeln die Loks, 60 Prozent
spielen damit.»
Jedoch kommt das Material für die Produktion zu 75 Prozent aus der Schweiz, und die Produktion findet vollumfänglich in Stansstad statt. Die einzige Schweizer Serienherstellerin von Modelleisenbahnen liefert ihre Zugformationen ins Ausland, von den USA bis Japan, und in der
Schweiz zählt ihr Händlernetz 80 Verkaufsstellen. Den
Direktverkauf ab Fabrikladen hat sie mit dem Umzug nach
Stansstad eingestellt. «Viele unserer Kunden sind pensioniert», sagt Heinz Urech. Dies hatte zur Folge, dass seine
Mitarbeitenden oft unerwarteten Besuch von leidenschaftlichen Sammlern erhielten, die spontan in der Produktionshalle vorbeischauten. «Das hat uns viel Zeit gekostet.» Mit
Voranmeldung kann man die Produktionsstätte noch heute
besichtigen.
Im Showroom
Jeder Besucher darf im Showroom der Firma die Modellbahn steuern. Der Spassfaktor schnellt in die Höhe, während
die Loks über die Schienen gleiten. Durch Knopfdruck begin-
F O K U S Spiele
nen die Loks zu hupen und die Lichtsignale zu blinken. «Meist
vergehen keine fünf Minuten, bis sich der Modellbahnvirus
beim Spielen überträgt.»
Heinz Urech lenkt bei sich zuhause beinahe jedes Wochenende seine Modellbahn. «Wirklich zum Modelleisenbahnfahren komme ich, wenn ich Besuch habe.» In der übrigen
Freizeit bastelt er an seinen Zügen. Bereits als Vierjähriger
hatte er begonnen, mit Modelleisenbahnen zu spielen. Sein
Traumberuf stand schnell fest: Lokführer. Diesen konnte er
«Auch ich wurde
Nietenzähler.»
zu einem
nicht erlernen: Bei der Aushebung für das Militär als untauglich eingestuft, fehlte ihm aus Sicht der SBB damit die
Voraussetzung dafür. «Das war ein Riesenfrust», erinnert sich
Heinz Urech. Mit ihm hat der Modellbahnmarkt einen Unternehmer mit Herzblut gefunden. «Einige Bahnfahrer interessiert mehr das Technische, andere legen Wert auf eine schön
gestaltete Landschaft.» Er gehöre zu Ersteren, anders als ein
Kunde, der alle Regionen, in denen er in seinem Leben gewohnt hat, in einer Modellbahnanlage nachstellte und ganze
Landschaften nachbaute.
Nicht nur die kleinen Bahnen interessieren Heinz Urech,
auch die grossen haben es ihm angetan. «Das Schienennetz
der Schweiz ist genial.» Obwohl er einen schönen BMW fährt,
lässt er diesen öfters stehen und fährt mit dem Zug.
HAG Modelleisenbahnen
G R Ü N D U N G 1942 gründeten die
Gebrüder Gahler ihr Familienunternehmen in St. Gallen. 2013 stand es
vor dem Konkurs. Heinz Urech, 55,
der mit seiner Firma Polytrona bereits
Leiterplatten für HAG-Modelleisenbahnen lieferte, übernahm die Firma
und verlegte den Sitz nach Stansstad
(NW).
P R O D U K T E Zu Beginn stellte das
Unternehmen eigene Fantasiemodelle
her. Nach einigen Jahren wechselte
die Modellrichtung zu Originaltreue
und Funktionalität. Kontinuierlich
baute die HAG ihre Produktepalette
aus. Heute besteht das Sortiment aus
originalgetreuen SBB-Lokomotiven
und -Wagen.
KUNDSCHAFT Die HAG verkauft ihre
Modelle auch ins Ausland, von den
USA bis Japan.
PREIS Eine Lokomotive kostet rund
1000 Franken.
MITARBEITENDE Die HAG beschäftigt zwölf Mitarbeitende, davon sind
zwei Lehrlinge.
5 I 2014
der
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