Ausgabe 01/2016 als PDF

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Ausgabe 01/2016 als PDF
Journal
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Allianz Journal_Das Letzte
I MP RE SSUM
31
Allianz Journal 1/2016
(März)
Zeitschrift für Mitarbeiter
der Allianz Gesellschaften
Herausgeber Allianz SE
Verantwortlich für
den Herausgeber
Sabia Schwarzer
Chefredaktion
Frank Stern
Layout volk:art51
Produktion repromüller
Anschrift der Redaktion
Allianz SE
Redaktion Allianz Journal
Königinstraße 28
80802 München
Tel. 089 3800 3804
[email protected]
Das für die Herstellung
des Allianz Journals
verwendete Papier wird
aus Holz aus nachhaltiger
Waldbewirtschaftung
hergestellt
12
45
Himmelwärts: Das derzeit höchste Gebäude der Welt, das Burj Khalifa in Dubai, wird schon bald vom Kingdom Tower in Saudi Arabien übertroffen,
Drohnen erobern überall den Luftraum, und selbst die Landwirtschaft geht in die Luft – wie in Singapur
KURZ BERICHTET
4
Neues aus der Allianz Welt
DEUTSCHLAND
31 Zeit der Drohnen
Unbemannte Flugobjekte erobern den Luftraum
35 Die Schatztruhe von Güldengossa
Eine Erfolgsgeschichte in Gold und Silber
MEINUNGEN
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Früchte der Angst
Jessica Stern über islamistischen Terror und
die Rolle der Medien
10 Leserbriefe
AMERIK A
39 Old Broderick kehrt heim
Das Erbe von Fireman’s Fund
G LO B A L
12 Der Turmbau zu Jeddah
In Saudi-Arabien wächst der erste Kilometerturm in die Höhe
16 Vertrauen in die Substanz
Oliver Bäte über die Zukunft der Allianz
21 Steilpass für den Klimaschutz
Die Allianz und die Klimakonferenz von Paris
24 Maschinenstürmer
Seelenlose Konkurrenz: Wie Roboter uns unsere
Jobs streitig machen
28 »Die Schocks von außen sind immens«
Ralf Schneider über Chancen und Risiken der
Digitalisierung
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ASIEN
42 Schlafender Riese
Mark Mitchell über die AGCS in Asien und Wege
aus dem Schattendasein
45 Gemüse auf Rundkurs
Smart City Singapur: Der Stadtstaat als Trendsetter
in Sachen Landwirtschaft
48 Zwischen den Welten
Ece Berkün – über die ungewöhnliche Karriere
einer ungewöhnlichen Frau
51
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left: Adrian Smith & Gordon Gill Architecture | right top: Stern | right bottom: Sky Greens
Roth
Inhalt
Liebe Leserinnen und Leser,
Sie halten gerade die letzte Druckausgabe des Allianz Journals in Händen. Nach 27 Jahren
stellt das Mitarbeitermagazin der Allianz Gruppe sein Erscheinen in Papierform ein. Für einen
Redakteur, der das Journal über 20 Jahre mit gestaltet hat, nicht unbedingt ein Grund zum
Feiern – es ist das Ende einer Ära. Aber es ist auch der Beginn einer neuen.
Das Journal hat mit seinen Geschichten aus der Allianz Welt die Entwicklung des Unternehmens über die Jahre hinweg begleitet und sich dabei inhaltlich und vom Erscheinungsbild
her ebenso verändert wie die Allianz selbst. Auf dieser und den folgenden Seiten haben
wir jeweils ein Titelbild aus jedem der letzten 27 Jahre ausgewählt, die diese Entwicklung
verdeutlichen. Mit dem Blick auf 27 Jahre ist das Journal auch eine Art zeitgeschichtliches
Dokument, in dem der Mauerfall ebenso seinen Niederschlag gefunden hat wie der
Terroranschlag auf das World Trade Center, der Jahrhunderttsunami 2004 ebenso wie der
Arabische Frühling.
Gleichzeitig war das Journal immer auch ein Ausdruck dessen, was die Allianz im Kern
ausmacht, der Werte, die sie verkörpert, und der Rolle, die sie in der Gesellschaft spielt. Dass
diese Rolle für ein Wirtschaftunternehmen nicht widerspruchsfrei ist, auch davon hat das
Journal in der Vergangenheit immer wieder Zeugnis abgelegt. Mit dem Wechsel zu einer
rein digitalen Version steht nun ein entscheidender Umbruch in der Geschichte des Journals
an. Dieser Schritt birgt Risiken, aber auch die Chance auf eine inhaltliche und gestalterische
Weiterentwicklung – und nicht zuletzt auf eine größere Reichweite.
Als Dachmedium der Allianz Gruppe hat sich das Journal immer als Spiegel der Vielfalt im
Unternehmen über Länder und Kontinente hinweg verstanden – identitätsstiftend nach
innen, imagebildend nach außen. Diese Rolle wollen wir – in neuer Form – auch in Zukunft
wahrnehmen. Wir bauen darauf, dass Sie die Treue, die Sie dem Allianz Journal über viele
Jahre hinweg gehalten haben, auch dem Digitalmagazin entgegenbringen werden, mit dem
wir im April an den Start gehen.
Wir sehen uns auf W W W.WO R L D - O F - A L L I A NZ .C O M
Ihr
Frank Stern
(Chefredakteur)
Dilbert
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Allianz Journal_Das Letzte
K U RZ
B ERI C H T E T
OPEX Quality Awards 2015
Allianz
Unfall-App für Italiener
Am 1. Dezember wurden in München die Sieger des
11. OPEX (Operational Excellence) Quality Awards bekanntgegeben. Aus den 24 Finalisten im Wettbewerb
um das OPEX-Projekt des Jahres 2015 ging die Allianz
Großbritannien mit ihrem Programm zur Verbesserung
des Kfz-Schadenmanagements als Sieger hervor, mit
dem die Reparaturzeiten für beschädigte Fahrzeuge
erheblich reduziert wurden. Zum OPEX-Praktiker des
Jahres kürte die Jury Ashley Lopez von der indischen
Allianz Tochter ACIS für seinen Einsatz bei der Verbreitung der OPEX-Methodologie innerhalb der Allianz Welt.
Italiener können seit letztem Jahr per App prüfen, ob ein Fahrzeug
haftpflichtversichert ist oder nicht. In der Vergangenheit zeigte dies ein
Sticker an der Windschutzscheibe an, dieser Nachweis wurde inzwischen
aber abgeschafft. Die Allianz Italien hat eine App entwickelt, mit der man
im Falle eines Verkehrsunfalls anhand des Autokennzeichens dennoch
schnell herausfinden kann, ob der Unfallgegner versichert ist. Die App,
die auch Nicht-Allianz Kunden zur Verfügung steht, greift dazu auf Daten
des italienischen Versicherungsverbandes zurück. Selbst wenn der
Unfallverursacher über keinen Versicherungsschutz verfügen sollte,
besteht kein Grund zur Sorge: In diesem Fall werden Unfallopfer über
einen extra dafür eingerichteten Fonds entschädigt.
O P E X@A L L I A NZ .C O M
W W W. A L L I A NZ . I T
A USG EZ EICHN ET
Shutterstock
Shutterstock | Allianz Italien
Joint Venture
mit Baidu
Genialloyd, der Direktversicherer der Allianz Italien, rangiert
in der Kundengunst unter Italiens Kfz-Versicherern an der
Spitze. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Boston Consulting Group zur Weiterempfehlungsbereitschaft.
Die Allianz hat mit dem chinesischen
Suchmaschinenbetreiber Baidu ein
Joint Venture zum landesweiten OnlineVertrieb von Versicherungen gegründet.
Auch der chinesische Finanzinvestor
Hillhouse Capital ist an dem Unternehmen beteiligt, über das 90 Prozent aller
chinesischen Internetnutzer erreicht
werden sollen. Die drei Partner wollen
Versicherungsprodukte für Reiseschutz,
Onlinehandel und Finanzdienstleistungen
sowie Krankenversicherungen anbieten,
später sollen auch Kfz-Versicherungen
hinzukommen. Experten gehen davon
aus, dass der digitale Sektor in China in
den kommenden Jahren rasant zulegen
wird. Das Volumen der über OnlinePortale erwirtschafteten Versicherungsprämien soll sich in den nächsten fünf
Jahren von aktuell 25 Milliarden Euro pro
Jahr auf über 100 Milliarden Euro mehr
als vervierfachen.
Die Allianz steuert in ihrer Anlagepolitik um: Künftig wird der Konzern nicht mehr in
Bergbau- und Energieunternehmen investieren, bei denen mehr als 30 Prozent des
Umsatzes oder der Energieerzeugung aus Kohle stammen. Bis März werden Aktien
im Volumen von 225 Millionen Euro abgebaut, Anleihen im Wert von 3,9 Milliarden
Euro laufen aus. Darüber hinaus hat die Allianz angekündigt, das Thema Klimaschutz
künftig in ihr gesamtes Geschäft zu integrieren und ihre Geldanlagen flächendeckend
nach 37 Kriterien aus den Bereichen Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung
zu analysieren. Zu den Kriterien zählen unter anderem Treibhausgasemissionen,
Energieeffizienz, Datenschutz und Korruption. Zudem will die Allianz mehr Schutz
vor Klimarisiken in Entwicklungsländern bieten und ihre Investitionen in erneuerbare
Energien von aktuell 2,5 Milliarden Euro mittelfristig verdoppeln.
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Allianz in Kenia
Die Allianz Italien ist bei den MF Innovation Awards 2015
für ihr modulares Allianz1 Business-Konzept mit dem ersten
Platz in der Kategorie Firmen ausgezeichnet worden.
Keine Kohle aus Kohle
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Die Allianz Island hat es zum fünften Mal in Folge in die Riege
der finanzstärksten Unternehmen des Landes geschafft.
Laut einer Untersuchung des Branchendienstes Creditinfo
zählt die Allianz Tochter zu den 682 Unternehmen (knapp
zwei Prozent), die die Liste der 35 000 in Island registrierten
Firmen anführen.
Die Allianz Afrika hat ihre Aktivitäten nach Ostafrika ausgedehnt und
eine Niederlassung in Kenia gegründet. Damit ist die Tochtergesellschaft
der Allianz France nun in zwölf afrikanischen Ländern vertreten. In Benin,
Burkina Faso, Kamerun, Zentralafrika, Elfenbeinküste, Ghana, Madagaskar,
Mali, Republik Kongo, Senegal und Togo gehört sie bereits jetzt zu den
Marktführern. In Kenia leben 45 Millionen Menschen, das Versicherungsvolumen liegt derzeit bei rund 1,7 Milliarden US-Dollar.
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Die Allianz France ist beim Preis der französischen Versicherungsindustrie für ihren neu eingeführten Video-Service
für gehörlose Kunden mit Gold ausgezeichnet worden. Silber
gab es in der Kategorie digitale Innovation für den Einsatz
von Drohnen im Schadenmanagement.
Allianz Worldwide Care ist bei den Professional Adviser International Fund & Product Awards als »Bester Internationaler
Krankenversicherer« ausgezeichnet worden.
Die Allianz Tschechien hat beim landesweiten Wettbewerb
Fincentrum Banka roku 2015 sämtliche Preise abgeräumt.
Die Allianz Tochter wurde Versicherer des Jahres, Lebensversicherer des Jahres und Kfz-Versicherer des Jahres.
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Allianz auf den
Philippinen
Die Allianz und die Philippine National Bank (PNB) haben eine Vereinbarung über eine exklusive Vertriebspartnerschaft mit einer Laufzeit
von 15 Jahren geschlossen. Danach übernimmt die Allianz 51 Prozent an
der PNB Life Insurance, der zehntgrößten Lebensversicherung auf den
Philippinen. Das Gemeinschaftsunternehmen wird künftig als Allianz
PNB Life Insurance firmieren. Durch die Vereinbarung erhält die Allianz
exklusiven Zugriff auf landesweit mehr als 660 Geschäftsstellen und
vier Millionen Kunden der viertgrößten Geschäftsbank des Landes.
Der philippinische Lebensversicherungsmarkt bietet für Versicherungen
ein erhebliches Wachstumspotenzial. In den Jahren 2010 bis 2015 lag
das jährliche Prämienwachstum bei durchschnittlich knapp
20 Prozent.
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K U RZ
B ERI C H T E T
Meinungen
PERSONALIEN
Kooperation mit
SOS Kinderdörfern
Die Allianz und die Kinderhilfsorganisation SOS Kinderdorf haben im Herbst letzten
Jahres eine globale Kooperation vereinbart. Unter dem Namen »Allianz Future
Generation« starteten Allianz Gesellschaften in Rumänien, Deutschland, Frankreich
und Indien bereits erste konkrete Projekte mit SOS Kinderdörfern in ihren Ländern.
Dazu gehören unter anderem Freiwilligeneinsätze, gemeinsame Sportveranstaltungen, Spendenaktionen und Schulungsprogramme für Kinder. In Deutschland
drehten sich die ersten Aktivitäten um minderjährige Flüchtlinge, die in SOS Kinderdörfern Aufnahme gefunden haben.
Allianz
Turm am
Bosporus
Der 42 Stockwerke hohe Allianz Turm verbindet
moderne Architektur mit orientalischen Attributen
Die Allianz Türkei hat im September ihre neue Zentrale in Istanbul bezogen und
ihre drei Gesellschaften – Allianz Sigorta, Allianz Hayat ve Emeklilik und Allianz
Yasam ve Emeklilik – unter einem Dach vereint. Das Allianz Hochhaus, in dem
1700 der insgesamt 2500 Mitarbeiter der Allianz Türkei ihre Büros haben, ist
ein neues Wahrzeichen der Metropole am Bosporus und erfüllt die höchsten
Standards an Energieeffizienz und Umweltfreundlichkeit. Auch in Sachen
Digitaltechnologie setzt der Allianz Turm Maßstäbe. Seit der Übernahme der
Yapi Kredi Versicherungsgruppe hatte die Allianz Türkei von zwei Standorten aus
operiert – einem auf der europäischen Seite Istanbuls, einem auf der anatolischen.
Die Allianz ist Marktführer in der Türkei und betreut fünf Millionen Kunden.
W W W. A L L I A NZ S I G O R TA .C O M .T R
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Allianz Türkei
W W W. S O S - K I N D E R D O R F. D E
Solmaz Altin, bislang Vorstandschef
der Allianz Türkei, hat zum 1. Januar die
Leitung der neu geschaffenen Einheit
»Digitale Transformation« innerhalb der
Allianz SE übernommen. Seine Nachfolgerin wurde Aylin Somersan-Coqui,
zuvor Finanzvorstand der Allianz Türkei.
Rémi Grenier, zuvor Vorstandschef von
Allianz Global Assistance (AGA), ist zum
1. Dezember 2015 zum Präsidenten und
CEO der Allianz Worldwide Partners
(AWP) ernannt worden.
Jacques Richier hat von Christof
Mascher den Vorsitz des Aufsichtsrates
von AWP übernommen, zusätzlich zu
seinen Aufgaben als Vorstandschef der
Allianz France.
Sylvie Ouziel hat zum 1. Januar den
Vorstandsvorsitz der AGA übernommen. Ihre Nachfolgerin als Vorstandsvorsitzende der Allianz Managed
Operations & Services (AMOS) wurde
Barbara Karuth-Zelle, zuvor Mitglied
des Vorstands der AMOS.
Iván de la Sota, zuletzt Vorstandschef
der Allianz Spanien, hat im vergangenen
November die Aufgaben als Regional
CEO der ibero-lateinamerikanischen
Region übernommen. Er folgte auf
Vicente Tardío Barutel, der dieses
Amt aus Altersgründen niedergelegt
hat. Den Vorstandsvorsitz der Allianz
Spanien hat José Luis Ferré angetreten,
zuvor verantwortlich für Vertrieb und
Marktmanagement.
Bernd Valtingojer, zuvor Leiter des
Bereichs Lebens- und Krankenversicherung der Allianz Mexiko, hat im
Dezember den Chefposten bei der
Allianz Argentinien übernommen.
Er folgte Fabiana Castiñeira nach,
die das Unternehmen verlassen hat.
dpa / picture-alliance
Früchte der Angst
Terrorismusexpertin Jessica Stern über die Entwicklung des islamistischen Terrors
in westlichen Gesellschaften und die Rolle der Medien beim Schüren der Angst.
M ICHA EL G RIM M
Mrs. Stern, warum laufen junge Männer
Amok und töten unschuldige Menschen?
Ich glaube, in Europa, insbesondere in
Frankreich, leben viele Muslime in Gemeinschaften, die vom Rest der Gesellschaft
abgekoppelt sind. Sie erleben Armut und
Entfremdung und nicht selten Erniedrigung.
Der so genannte Islamische Staat (IS) sagt
jungen Menschen, die sich entrechtet fühlen: »Ihr könnt Teil von etwas Bedeutendem
werden. Wir reinigen die Welt, schaffen
etwas völlig Neues, und du kannst Teil
davon sein. Du kannst dich neu erfinden
und zum Helden werden.« Ihre Ideologie
ist für Leute, die sich neu erfinden wollen,
wie Sirenengesang.
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Wie ist die Situation in den USA?
Dort sieht es etwas anders aus. Die meisten
Muslime sind gut integriert und häufig sogar besser gestellt als ihre amerikanischen
Landsleute. Eine Umfrage im Jahr 2011 hat
gezeigt, dass Muslime zufriedener mit ihrem Leben sind
als Nichtmuslime. Frühere
Allianz Journal_Das Letzte
M EI NUN G E N
J E S S I C A S T E R N ist die Mitautorin des Buches »ISIS: The State of Terror«.
Die Professorin an der Pardee School of Global Studies der Boston University
hat an der Harvard University über Terrorismus gelehrt und war Mitglied im
Nationalen Sicherheitsrat von Präsident Clinton. Sie hat Terroristen in vielen
Ländern interviewt, an Mitglieder der Terrororganisation Islamischer Staat aber
kam sie als Frau nicht heran. Für ihr Buch »Terror in the Name of God: Why
Religious Militants Kill« sprach sie mit christlichen, jüdischen und muslimischen
Extremisten, mit militanten Abtreibungsgegnern und Anhängern von Timothy
McVeigh, der 1995 in Oklahoma City einen Bombenanschlag auf ein Bundes-
privat
gebäude verübte, bei dem 168 Menschen starben. McVeigh wurde 2001
Jessica Stern
Studien hatten ergeben, dass amerikanische
Muslime wohlhabender und besser ausgebildet sind als nichtmuslimische Amerikaner.
Bislang schließen sich weniger Amerikaner
dem IS an als Europäer. Doch die Zahlen
steigen. Präsident Obama hat Muslime aufgefordert, dafür zu sorgen, dass sich in ihren
Gemeinden niemand radikalisiert. Und viele
muslimische Eltern reden mit ihren Kindern
über dieses Thema. Doch im vergangenen
Jahr gab es in den USA 50 Strafverfahren im
Zusammenhang mit dem IS. 40 Prozent der
Verhafteten waren Konvertiten. Das zeigt,
dass der IS inzwischen über die muslimische
Gemeinschaft hinaus Einfluss hat.
Eigentlich ist jeder, der sich dem IS anschließt,
ein Konvertit, denn der IS hat eine neue
Religion geschaffen, die auf einer sehr eigenwilligen Interpretation der religiösen Texte
basiert. Diese neue Religion ist ein Mix aus
salafistischem Jihadismus und Endzeitvisionen. IS-»Gelehrte« unterstützen nicht nur
Takfir – die Praxis der Exkommunikation
und Ermordung von Muslimen, die die Texte
anders auslegen –, sie propagieren auch die
sexuelle Versklavung von Kindern. In dieser
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hingerichtet.
Jessica Stern
Hinsicht unterscheidet sich der IS deutlich
von Al Qaida. Keiner ist mit dem Glauben
an die IS-Ideologie aufgewachsen.
Sie haben seit den 80er Jahren über
Terrorismus geforscht. Was hat sich
mit dem IS geändert?
Was wir in den USA beobachten, ist das
Phänomen der Selbstradikalisierung. Bislang
gibt es keine Erkenntnisse, dass jemand aus
Trainingslagern in Syrien oder dem Irak
zurückgekehrt ist, um im Namen des IS Anschläge zu verüben, wie wir sie in Paris erlebt
haben. Die bisherigen IS-Terrorakte wurden
von Leuten ausgeführt, die sich selbst radikalisiert hatten. Selbstradikalisierung – die
so genannten »einsamen Wölfe« – ist ein
Trend, der Sicherheitsbehörden seit Jahren
umtreibt. Einsame Wölfe haben Terrorakte im
Namen der extremen Rechten verübt, im Namen von Neo-Nazis, christlichen Fundamentalisten und zunehmend von gewaltbereiten
Islamisten. Ich will nicht sagen, dass es eine
dramatische Zunahme gibt, aber es passiert
häufiger. Der IS hat gezeigt, dass er ausländische Kämpfer erfolgreicher rekrutieren kann
als jede andere jihadistische Organisation.
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»Terror ist willkürlich, und das
macht uns Angst.«
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Wenn Sie sagen, das gab es auch schon
früher, an was für Terrorakte denken
Sie da?
Viele Leute sagen, es habe noch nie eine so
barbarische Terrorgruppe wie den IS gegeben. Doch es sind weniger die Gräueltaten
des IS, die einzigartig sind. Das gab es in der
Geschichte schon öfter – die Nazis, die Khmer
Rouge usw. Es ist die Art, wie sich der IS mit
diesen Taten brüstet. Sie wollen, dass die Welt
sieht, dass sie Gräuel begehen. Doch selbst
dieses Zur-Schau-Stellen ist nicht neu. Auch Al
Qaida hat im Irak ihre Opfer geköpft und diese
Taten gefilmt. Und vor ihnen taten es andere
Terrorgruppen. Außer die sexuelle Versklavung von Kindern und jungen Frauen hat der
IS keine seiner barbarischen Praktiken erfunden. Sie begehen mehr dieser Taten und sie
brüsten sich mehr damit. Sie sind technisch
weit professioneller in der Filmproduktion
und darin, wie sie die sozialen Medien instrumentalisieren. Die ganze Welt weiß, was der
IS tut. Früher waren darüber nur Leute wie ich
informiert, die sich damit beruflich befassen.
Die barbarische Gewalt des IS ist eine Form
der psychologischen Kriegsführung, mit der
Gegner eingeschüchtert und Unterstützer
zu den Fahnen gerufen werden sollen. Einige
davon werden durch die übermäßige Gewalt
sogar besonders angezogen.
Zur Zeit versuchen der Westen und
seine Verbündeten den IS mit militärischen Mitteln einzudämmen. Ist das
die richtige Strategie, oder könnte es
den gegenteiligen Effekt haben?
Wir müssen den IS von der globalen Wirtschaft abkoppeln, und wir müssen verhindern, dass er neue Anhänger rekrutiert. Wir
müssen den Handel mit Öl, Antiquitäten und
anderen Waren unterbinden, und wir müssen
ausländische Kämpfer davon abhalten, die
Reihen des IS in seinen Hochburgen zu verstärken. Dazu braucht es nicht nur Luftschläge, sondern auch eine stärkere Sicherung
der Grenzen. Militärexperten betonen, dass
es ohne Bodentruppen nicht gehen wird.
Wer aber wird diese Truppen stellen? Diese
Frage muss die ganze Welt beantworten.
Doch eine Bodenoffensive wird viel mehr
Wirkung entfalten, wenn sunnitische Araber
daran teilnehmen, denn das widerspricht
dem IS-Bild, der Westen führe Krieg gegen
den Islam.
Auch wenn eine militärische Antwort auf den
IS notwendig ist, sie allein wird nicht reichen.
Wir können seine Rückzugsgebiete im Irak
und Syrien ziemlich schnell zerstören, wenn
die internationale Gemeinschaft das beschließt. Das Problem ist, dass sich der IS
bereits ausgebreitet hat. Er breitet sich in
schwachen und gescheiterten Staaten aus
und beansprucht bereits »Provinzen« in
Afghanistan, Libyen, Jemen, Ägypten und
Nigeria. Weit jenseits der Territorien, die er
in Syrien und im Irak kontrolliert. Und er
rekrutiert aktiv ausländische Kämpfer und
ermuntert Anhänger, Anschläge in ihren Heimatländern zu verüben. Das größere Problem ist also der Kampf gegen die IS-Ideologie.
Was ist das Besondere dieser Ideologie?
Dem IS ist es gelungen, nicht nur entrechtete
Muslime in der Region und darüber hinaus
auf seine Seite zu ziehen, sondern auch
Menschen, die die Machteliten zerstören
wollen. Er spricht Muslime und Konvertiten
an, die mit den Gesellschaften, in denen sie
leben, unzufrieden sind. Ja, diese Ideologie
basiert auf islamischen Texten, es ist eine
Variante des salafistischen Jihadismus. Aber
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die Anziehungskraft reicht weit darüber
hinaus. Al Qaida ist eine elitäre Organisation,
der IS ist eine populistische. Er versucht,
alle und jeden dazu zu verführen, sich ihm
anzuschließen. Nicht nur Kämpfer, sondern
auch Medizinstudenten, Ingenieure, Experten für soziale Medien. Das Besondere am IS
ist, dass er seine Ideologie auf die jeweilige
Bezugsgruppe zuschneidet. Sie spricht Menschen an, die sich mit den Unterdrückten
dieser Erde identifizieren, auch wenn sie
selbst nicht dazugehören.
Was bedeutet für Sie Angst?
Angst ist eine emotionale und physiologische
Reaktion auf Bedrohungen für Leib und
Leben. Sie lässt sich politisch ausschlachten
und als Waffe einsetzen. Terrorakte sind deshalb so wirksam, weil sie großen Schrecken
verbreiten, auch wenn sie relativ selten
geschehen. Wenn wir ins Auto oder aufs
Fahrrad steigen, sind wir weitaus größeren
Gefahren ausgesetzt, aber daran denken wir
nicht, weil wir fälschlicherweise glauben,
alles unter Kontrolle zu haben.
Terror ist willkürlich, und das
macht uns Angst. Explosionen,
Allianz Journal_Das Letzte
M EI NUN G E N
MEIN UN GEN
M I C H A E L S H E L L E N B E RG E R ist Präsident des
Breakthrough Institute, einer Forschungseinrichtung,
die der Diskussion um Energie und Umwelt neue
und oftmals provokante Aspekte hinzufügen will.
»Die Probleme der Entwicklungsländer sind größer
als die Klimasorgen des Westens.«
Im Jahre 2004 haben Shellenberger und sein Partner
Ted Nordhaus mit »The Death of Environmentalism:
Michael Shellenberger
Global Warming Politics in a Post-Environmental
World« einen weltweit diskutierten Aufsatz publiziert. 2007 nannte das Wired Magazine ihr Buch
Break Through (Durchbruch) das wichtigste Buch
seit »Silent Spring« (auf Deutsch unter dem Titel
Shutterstock
»Die Anpassung an die
Erderwärmung wird mehr
Energie erfordern«
dernen Spektakel aus dem Blick. Saubere
Energie ist ein technisches Problem, und so
sollte es auch behandelt werden. Meiner
Meinung nach müsste man eher die besten
Technikexperten der Welt an einen Tisch
holen. In Paris sollte es um die Kooperation
von Energieingenieuren aller wichtigen
Staaten gehen, und zwar aus Industrie- und
Entwicklungsländern gleichermaßen.
Und darum brauchen wir ein radikales
Umdenken in der Klimapolitik statt eine
Hinwendung zu den Erneuerbaren?
Die Entwicklungsländer werden im 21. Jahrhundert den größten Anteil an den Neuemissionen erzeugen. Dort wird der Schwerpunkt
der neuen Energietechnologien liegen. Der
Westen im Allgemeinen und Europa im Besonderen geraten ins Hintertreffen. Das Thema
Energie im 21. Jahrhundert wird künftig von
China und Indien bestimmt. Der Westen
wird sicher keine Energiewende auf globaler
Bühne herbeiführen. Die Entwicklungsländer
wollen die Energie und den Reichtum, den
auch Deutschland, Europa und der Westen
genießen. Sie werden sich nicht mit der zweiten Reihe begnügen. Das heißt, der Rahmen
ist ein völlig anderer, als der, den Paris und die
Vereinten Nationen mit Blick auf Klimaschutz
und Anpassung diskutieren.
Viele meinen, es sei keine Zeit mehr,
auf saubere Energietechniken zu
warten. Die globale Bedrohung durch
die Erderwärmung zeichne sich bereits
ab. Was also ist zu tun?
Wir sollten erstmal akzeptieren, dass die
Probleme der Entwicklungsländer weit größer sind als die Klimasorgen des Westens.
Das Thema Klimawandel kann man nicht
losgelöst vom menschlichen Streben nach
Entwicklung betrachten. Zweitens muss
man konstatieren, dass auch die reichsten
»Stiller Frühling« erschienen). 2008 erklärte das Time
Magazine Shellenberger und Nordhaus zu »Heroes
of the Environment« (Umwelthelden).
privat
Leserbriefe
Meinungen
Die Öffentlichkeit ist verunsichert und
Klimaanpassung oder aus anderen Gründen.
die Medien voller Schlagzeilen vom
Das widerspricht dem traditionellen ökolowärmsten Monat, vom wärmsten Jahr,
gischen Paradigma einer energiesparenden
von Hitzewellen und Dürren. Viele
Gesellschaft. Diese Vision der deutschen
wissen jedoch nicht, was sie mit den
Grünen und der amerikanischen UmweltInformationen anfangen sollen. Was
schützer entstand Ende der 1960er, Anfang
würden Sie empfehlen?
der 1970er Jahre, lange bevor sich irgendÜberall passen sich die Menschen an. Unabjemand mit Klimawandel befasste. Davon ist
hängig davon, ob die Hitzewellen durch den
Klimawandel und die
uns der Diskurs über Klimaw
Klimawandel verursacht werden – die Leute
Energieverbrauchs geblieben,
Senkung des Energieverbrau
bauen Entsalzungsanlagen. Über das israe- Allianz völlig
reale Bedingungen
Journallosgelöst
3/2015 von den realen
lische Wasserentsalzungsprogramm wird in
energieabhängigen Planeten
auf unserem energieabhäng
US-Medien ausführlich berichtet, aus offenim Allgemeinen und vom »au
»aufstrebenden
sichtlichen Gründen. Auch Kalifornien beRest«, den Ländern in Asien, Lateinamerika
ginnt mit der Entsalzung. Aber es geht nicht
und Afrika – im Besonderen.
nur um Entsalzungsanlagen, auch in New
York und anderen Großstädten verändern
Glauben Sie mit Blick
Blicck auf
auff die
d Klimagedie Menschen ihr Verhalten und stellen sich
spräche in Paris, dass
dasss Umweltschützer
U mw
auf extreme Wetterereignisse ein. Das lässt
erkannt
haben,
und Politiker erkann
nt h
abe dass sie
sich auch in armen Ländern wie Indien bewomöglich auf der ffalschen
alssch
he Fährte sind?
obachten. Ob diese Hitzewellen nun durch
intellektuelle Paradigma
Natürlich nicht. Das intellektu
Klimawandel verursacht werden oder nicht,
für den Umgang mit dem Klimawandel
Kli
bedie Leute werden nach mehr Klimaanlagen
steht schon seit 20 Jahren. Es befindet sich
und Meeresschutzdämmen verlangen. All
zurzeit in einer Krise und hat in der Öffentdas stellt uns vor eine interessante Herauslichkeit und einem Großteil der
d politischen
forderung: Die Anpassung an die Erderwärr
verloren, behält
Klasse seine Legitimation ver
mung wird mehr Energie erfordern.
jedoch seine Schlagkraft bei denen, die mit
seiner Umsetzung beauftragt
beauftrag sind. In Paris
Und das erhöht die Emissionen.
Davos: Man wird
wird es so zugehen wie in Da
Genau – zumindest am Anfang. Doch eine
über all die Dinge
zusammenkommen und übe
stärkere Energienachfrage fördert auch
reden, die man tun will. Völlig unverbindlich.
technologische Innovationen. Und langfristig
Klimakonferenzen sind sozial
soziale Veranstaltunführt dieser Innovationsschub dazu, dass
gen, bei denen Diplomaten aus
a den reichen
wir bei der Energieversorgung weniger CO2
Ländern zusammenkommen,
zusammenkommen um sich gegenausstoßen, und so zum gemeinsamen Ziel
seitig von den tollen Aktivitäten
Aktivität zu erzählen,
der Klimastabilisierung und der menschwollen.
die sie in Angriff nehmen wo
lichen Entwicklung beitragen. Die Idee, die
Das alles ist weit entfernt von der Idee der
Welt passe sich dem Klimawandel an, indem
frühen 1990er Jahre von einem
eine verbindlichen
sie weniger Energie verbraucht, ist genau
Vertrag – so wie das Montrea
Montrealer Protokoll von
das Gegenteil von dem, was tatsächlich geeiner war,
1988 zum Schutz der Ozonschicht
Ozonsc
schieht. Der Verbrauch wird ansteigen, wenn
der UdSSR und
oder die Einigung zwischen d
die Menschen in den Entwicklungsländern
Raketenabbau. Die wirkden USA über den Raketenab
ihren Konsum erhöhen, sei es im Zuge der
lichen Fragen geraten bei die
diesem postmo-
Länder der Welt ihre Emissionszusagen
nicht einhalten. Drittens, schauen Sie sich
das Verhältnis von gewonnener zu eingesetzter Energie an. Auch wenn manch
einer es nicht hören will, in Bezug auf diese
Kennziffer liegen Wasser- und Atomkraft
unangefochten an der Spitze. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es sehr schwierig
sein wird, genügend Energie aus Sonne und
Windkraft zu erzeugen, um die energiehungrigen Gesellschaften in Europa, Asien
oder den USA zu versorgen. Wenn Sie sich
Sorgen um den Klimawandel machen, weiß
ich nicht, wie Sie das Problem ohne Nuklearenergie lösen wollen. Die Krux mit der
Atomkraft ist, dass sie bei vielen eine Riesenangst auslöst – zumindest im Westen.
Aus gutem Grund.
Da bin ich mir nicht so sicher. Wenn Sie arme
Entwicklungsländer wie Indien und China
besuchen, dann stellen Sie fest, dass man sich
dort keine Gedanken um den Klimawandel
oder die Atomkraft macht. Dort sorgt man
sich eher darum, wie man Hunderttausende von Kleinbauern aus der erdrückenden
Armut befreit. Es ist schwer auszumachen,
in welchem Maße die derzeitige Furcht vor
Atomkraft auf die nach Harmonie strebenden
grünen Ideologien aus den Zeiten des Kalten
Kriegs oder auf die Ängste nach Fukushima
zurückgeht. Diese Ideologien und Ängste
Michael Shellenberger
W W W.T H E B R E A K T H R O U G H .O RG
sind besonders stark in Deutschland, aber
auch in Kalifornien und Tokio anzutreffen.
Die Geschichte zeigt, dass neue Technologien oft Ängste schürten – und dass die
Menschen sie irgendwann überwanden.
Elektrizität hat Leuten Angst gemacht. Flugzeuge haben ihnen Angst gemacht. Im 17.
und 18. Jahrhundert hassten die Menschen
in Deutschland und Großbritannien die Kohle. Heute haben Amerikaner Bedenken beim
Fracking von Erdgas, dennoch nutzen wir
die Technologie in großem Umfang. Erdgas
ist dadurch so günstig geworden, dass es
gerade Kohle ersetzt.
Wegen Atomenergie mache ich mir keine
allzu großen Sorgen, denn selbst wenn man
die Probleme durch Unfälle berücksichtigt,
zeigen Gesundheitsstudien, dass sie viel
sicherer ist als fossile Brennstoffe. Und es ist
klar, dass in den kommenden Jahrzehnten
bessere Nuklearanlagen entwickelt werden.
Chinas Investitionen in fortschrittliche
Nukleartechnik sind außergewöhnlich. Über
diese Klima- und Energiegeschichte wird
im Westen kaum berichtet. Alle – Bill Gates,
Wissenschaftler vom Massachusetts Institute
of Technology, die chinesische Regierung,
Risikokapitalgeber aus dem Silicon Valley –
alle konkurrieren sie darum, den ersten
schmelzsicheren Kernreaktor der Welt zu
bauen. Aber die wichtigste Entwicklung
auf dem Energiesektor weltweit ist derzeit
der Übergang von Kohle und anderen primitiven Energiequellen zum Erdgas. Die
Erdgasrevolution geschieht nicht nur in den
USA, sondern überall. Afrika verfügt über
riesige Mengen an Erdgas. Das wird in den
nächsten Jahrzehnten bei der Senkung des
CO2-Aufkommens bei der Energieerzeugung
eine entscheidende Rolle spielen.
Was ist mit Nuklearabfällen?
Gibt es irgendeine Öko-Sorge, die übertriebener wäre, als die um Atommüll? Ich
glaube nicht. Der ökologische Lebenszyklus
von Energie ist einfach zu verstehen. Man
will einen möglichst geringen Verbrauch
an natürlichen Ressourcen, einen großen
Energieertrag, geringe Mengen an Abfällen
und Null Verschmutzung. Das leistet nur
eine Energiequelle: Atomkraft. Natürlich entstehen dabei radioaktive Abfälle. Aber das
ist nur eine winzige Menge, die einfach zu
lagern und zu überwachen ist. Und irgendwann – früher als die meisten annehmen –
werden sie recycelt und wiederverwendet.
Aus ökologischer Sicht sind Holzbrennstoffe
am schlimmsten. Es werden riesige Mengen
an Holz – also Wälder – zur Gewinnung sehr
geringer Mengen Energie verheizt, mit einem
hohen Maß an Umweltverschmutzung. Vier
Millionen Menschen sterben pro Jahr an den
Folgen von Holzrauch. Kohle ist der zweitschlechteste Energieträger. Ganze Berge
10
11
Die globale Klimadiskussion befindet sich nach Ansicht von Michael Shellenberger in einer Krise.
Der Leiter des Breakthrough Institutes sieht die westliche Umweltbewegung in romantischen
Vorstellungen verfangen und die Atomenergie noch längst nicht am Ende.
MICHAEL GRIMM
Massenerschießungen, zusammenstürzende
Gebäude – die Bilder gehen uns nicht aus
dem Kopf. Und genau darauf setzt Terror.
Die Angst reicht viel weiter als die eigentliche
Gefahr.
Anfang August setzte ein Waldbrand
Fahrzeuge auf einem Highway in Kalifornien in Brand. Folge der Rekordhitze im
westlichen Teil der USA, die viele dem
Klimawandel anlasten. Wie stufen Sie
diese extremen Wetterereignisse ein?
Die Öffentlichkeit reagiert sehr sensibel auf
den Klimawandel. Und die Region um die
San Francisco Bay unterscheidet sich da in
keiner Weise von Deutschland oder Europa.
»Wenig Substanz«
Entsteht die Dürre durch die menschengemachte Klimaerwärmung, oder ist sie Teil
eines natürlichen Zyklus? Führende Wissenschaftler sind sich da uneins. Da gibt es einerseits die Umweltbewegung, die jeden Tag
verkündet, der Mensch sei schuld. Auf der
anderen Seite sagen Wissenschaftler, es lasse
sich kein direkter Zusammenhang herstellen.
Unterdessen fragt sich die Öffentlichkeit:
Was bedeutet das alles für mich persönlich?
dazu nicht in einer Propagandazeitschrift der Atomlobby, sondern in
meinem Allianz Journal. Wäre spannend zu erfahren, was Michael
Shellenberger für die Romantisierung einer lebensfeindlichen Technologie und die gleichzeitige Diffamierung der erneuerbaren Energien bezahlt bekommt, und von wem. Ich kann nur hoffen, dass die
Allianz dafür nicht auch noch ein Honorar bezahlen musste.
9
Zum Interview mit Michael Shellenberger zum Thema
Klimawandel erreichten uns eine Reihe von Zuschriften.
Gernot Gruber von der Allianz in Stuttgart und zugleich
klimaschutzpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion
in Baden-Württemberg, schreibt:
Das Interview mit Michael Shellenberger hat erschreckend wenig
Substanz. Bereits die Überschrift »Die Probleme der Entwicklungsländer sind größer als die Klimasorgen des Westens« gaukelt vor,
dass wenig idealistische Wohlstandsbürger im Westen beim Thema
Klimaerwärmung an den Problemen der Entwicklungsländer vorbei
die Minderung der Treibhausgase, Energiesparen und die Förderung
regenerativer Energien vorantreiben wollen. Nur am Ende wird
Shellenberger konkret: Wenn sich die Deutschen Sorgen ums Klima
machen, »sollen sie sich auf eine 100-prozentige Energieversorgung
mit Atomstrom zubewegen«.
Auch wer die Risiken der Atomkraft und des Atommülls dem Klimaschutz und der von Menschen gemachten Klimaerwärmung zuliebe
in Kauf nehmen will, wird gerade im Interesse der Entwicklungsländer
nicht umhin kommen, Energie zu sparen, effizienter zu nutzen und
regenerative Energien zu fördern. Die regenerativen Energien bieten
gerade für arme Länder in dezentralen Strukturen wichtige Entwicklungsmöglichkeiten.
»Ideologisch gefärbt«
Auch Steffen Kinzler von der AMOS in Stuttgart hält Shellenbergers Argumente für nicht stichhaltig:
Ich schreibe praktisch nie Leserbriefe, aber hier kann ich nicht an
mich halten. Ich sage mir immer, dass man auch die Meinung des
Anderen hören sollte, aber hier frage ich mich: Muss man wirklich
allem Raum geben, was es an Meinungen auf der Welt gibt, und
seien sie noch so abstrus und ideologisch gefärbt?
Man wünscht Herrn Shellenberger eine Ferienwohnung am menschenleeren Strand von Fukushima, oder – wenn er Wälder bevorzugt – in der nun seit vielen Jahren naturbelassenen Gegend um
Tschernobyl. Furcht vor Strahlung, eine »Öko-Sorge«? Noch dazu eine
»übertriebene«? Dieser Müll sei nur »eine winzige Menge, die einfach zu lagern und zu überwachen ist«? Ich reibe mir die Augen bei
so viel Ignoranz. Der Mensch neigt ja dazu, immer das als unwichtig
abzutun, was ihn nicht unmittelbar betrifft. Warum hat denn kein
Land der Welt bisher einen Ort für ein Atommüll-Endlager? Weil
es niemand bei sich im Umfeld haben will, und zwar aus wissenschaftlich hart belegten biologischen und geologischen Gründen,
nicht aus Öko-Romantik.
Das Problem des Atommülls wird lächerlich gemacht, hingegen
das von potenziellen Unfällen, dass ganze Regionen unbewohnbar
werden und einen nicht bezifferbaren volkswirtschaftlichen Schaden
verursachen, wird komplett ausgeblendet. Stattdessen wird davor
gewarnt, »idyllische Landschaften« mit den für erneuerbare Energie
notwendigen Einrichtungen »zu übersäen«. Auch weniger offensichtlich kommuniziert Herr Shellenberger seine Meinung zum
Klimawandel: Dass der Mensch schuld sei, »verkündet die Umweltbewegung«, dass dieser Zusammenhang aber nicht herzustellen sei,
»sagen Wissenschaftler«. Ich nehme an, der Klimarat IPCC, Friedensnobelpreisträger 2007 und Auftraggeber für Tausende Wissenschaftler, gehört in seinen Augen ebenfalls zur »Umweltbewegung«…
Ich bin ganz ehrlich fassungslos, so etwas lesen zu müssen, noch
Hannes Kerle von der Allianz Deutschland in München zum
selben Thema:
Das Interview mit Michael Shellenberger finde ich mehr als schräg.
Wie kann ein »Hero of the Environment« (Held der Umwelt) derartig
fahrlässig über Atomenergie schwafeln. Dass die Energiewende in
Deutschland schlecht gemanagt wird, sieht leider auch ein Blinder,
aber zu argumentieren »Wären die Deutschen um die Umwelt
besorgt, würden Sie sich auf 100 Prozent Atomstrom zubewegen«,
finde ich absolut daneben.
Zum einen bin ich der Meinung, auf einem Bein zu stehen, ist
schwierig und in den meisten Fällen falsch. Ein sinnvoller Mix ist dem
immer vorzuziehen. Auch das Statement »Wir sollten akzeptieren,
dass die Probleme der Entwicklungsländer weit größer sind als die
Klimasorgen des Westens« zeigt aus meiner Sicht eine extrem unreflektierte Ansicht von Herrn Shellenberger. Falls der Westen sich
nicht mit Klimasorgen befasst, werden nach Ansicht vieler Experten
die Entwicklungsländer zuerst darunter leiden. Es geht nicht darum,
ein Problem gegen ein anderes auszuspielen, sondern man muss
Lösungen für beides erarbeiten.
Die Probleme der Atomenergie mit den Ängsten vor Elektrizität und
Flugzeugen gleichzusetzen, spricht eher für zielgerichtete Argumentation, als für Ausgewogenheit. Darunter leiden dann auch jene
Gedanken, die durchaus verfolgenswert wären. Mein Fazit: Solche
Helden werden nicht gebraucht.
»Geschmacklos«
Allianz Vertreter Stefan Schubert aus Chemnitz konnte sich
mit dem Dilbert-Comic nicht anfreunden:
Der Dilbert-Comic ist ziemlich geschmacklos, passt aber leider in
das aktuelle Umfeld zum Verhalten im Unternehmen, vor allem
uns Vertretern gegenüber. Schade, dass Sie an dieser Stelle nichts
wirklich Witziges auftreiben konnten.
Shutterstock
Widmen wir dem IS zu viel Aufmerksamkeit? Sollten wir ihn nicht eher
ignorieren?
Das ist sehr schwer. Die Menschen erwarten
von den Medien, dass sie über Ereignisse,
mögen sie gut oder schlecht sein, berichten.
Terroristen sind sich darüber im Klaren, dass
sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen müssen, um Wirkung zu erzielen. Zawahiri, der
derzeitige Chef von Al Qaida, hat die Medien
als das wichtigste Schlachtfeld bezeichnet.
Und das ist unser Dilemma. Margaret Thatcher bezeichnete die Medien einmal als den
Sauerstoff des Terrorismus. Wir wissen, dass
er statistisch gesehen, keine große Gefahr
darstellt. Aber wir sind auch emotionale
Wesen. Selbst Risikoexperten, die sich mit
Wahrscheinlichkeitsrechnungen auskennen,
reagieren im Privatleben emotional. In meinem Land versuchen gerade einige Politiker,
die Furcht der Menschen für sich auszunutzen.
Sie unterscheiden nicht zwischen normalen
Muslimen und jihadistischen Terroristen.
Das ist völlig kontraproduktiv. Der IS will,
dass das Leben von Muslimen im Westen
so unerträglich wird, dass sie zwischen den
westlichen »Kreuzfahrern« und dem IS
wählen müssen. Diese Polarisierung ist
genau das, was der IS erreichen will.
Unnütze Helden
10




Allianz Journal_Das Letzte
Global
Der Turmbau zu Jeddah
Es gab Zeiten, da galten die USA als das Mekka
der Hochhausbauer. Heute stehen drei Viertel der
höchsten Wolkenkratzer in Südostasien und dem
Nahen Osten. In Saudi-Arabien wächst gerade
das erste kilometerhohe Gebäude der Welt in den
Himmel. Die Allianz ist beim Turmbau zu Jeddah
als Versicherer dabei.
Dollar teure Mammutwerk am Roten Meer soll 2019
übergeben werden. Versichert wird der Bau, der von der
Jeddah Economic Company in Auftrag gegeben wurde,
von einem aus zehn Gesellschaften bestehenden Konsortium, angeführt von der AGCS.
F RA NK ST E R N
Clive Trencher ist fasziniert von den Mega-Hochhäusern
der Neuzeit, von ihrer architektonischen Kühnheit, ihrer
bahnbrechenden Bautechnik, ihrer schwerelosen Eleganz.
Und im Moment ist der gelernte Ingenieur ganz nah dran:
Von London aus leitet Trencher für Allianz Global Corporate
& Specialty (AGCS) die Bewertung der technischen Versicherungsrisiken für den Bau des höchsten Gebäudes der
Welt – den Kingdom Tower im saudi-arabischen Jeddah.
In den vergangenen zwölf Jahren hat sich die durchschnittliche Höhe der Wolkenkratzer auf der Welt in etwa
verdoppelt. Nächster Spitzenreiter auf der nach oben
offenen Hochhausskala wird mit über 1000 Metern der
Kingdom Tower sein. Das über anderthalb Milliarden
187 m
Singer Building,
New York
12
213 m
Metropolitan Life
Tower, New York
241 m
Woolworth Building,
New Yort

Deren Risikoexperten zählen auf dem Gebiet der Himmelstürme zu den erfahrensten der Branche. Sie waren bei
den Petronas Towers in Kuala Lumpur, dem ersten weltgrößten Gebäude außerhalb der USA, ebenso dabei wie
bei Taiwans Taipei 101, den noch während der Bauarbeiten
ein Erdbeben der Stärke 6,8 traf; beim One World Trade
Center in New York ebenso wie beim Shard in London,
dem mit 310 Metern höchstem Wolkenkratzer Westeuropas. Und auch an der Absicherung der Bauphase
beim aktuell größten Gebäude der Welt, dem Burj
Khalifa in Dubai, war der Spezialversicherer der Allianz
Gruppe beteiligt.
Der Kingdom Tower in Jeddah stellt sie alle in den Schatten. Trencher ist von Design und Technik der Betonnadel,
in der an die 50 000 Menschen leben und arbeiten werden, beeindruckt: 167 Stockwerke, auf 630 Metern die
höchste Aussichtsplattform der Welt, 58 Fahrstühle, die
mit zehn Metern pro Sekunde in die Höhe schießen, ein
Penthouse als Krönung eines Gebäudes, das mit seinen
rund eine Million Tonnen Gewicht auf 270 Betonpfeilern
319 m
Chrysler Building,
New York

381 m
Empire State Building,
New York
417 m
World Trade Center,
New York
Wolkenkratzers die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung verbunden – oder wie im Fall der Canary Wharf
in London oder von Lower Manhattan in New York auf
die Wiederbelebung eines unattraktiven Stadtviertels.
ruht, die bis zu 150 Meter in den Untergrund ragen – ein
nie dagewesener Superturm, ein Statement, ein Zeichen.
Als gelernter Bauingenieur hat Clive Trencher vor allem
die technische Machbarkeit solcher Projekte im Auge.
Bevor er vor fünf Jahren zur Allianz wechselte, hat er bei
Baufirmen und Zeichnungsbüros eng mit Architekten
zusammengearbeitet – häufig ein Tauziehen zwischen
Vision und Schwerkraft, wie er sagt. »Architekten mögen
es möglichst schlank und filigran, sie stellen sich vor, wie
Menschen später in ihren Häusern leben werden, und
wie diese mit der Umgebung interagieren«, erzählt er.
»Ingenieure dagegen wollen zunächst mal sicherstellen,
dass das Teil nicht umkippt. Es ist ein ständiger Kampf.«
Dabei gehen die Meinungen über die Monumente aus
Beton und Glas häufig recht weit auseinander. So wie
beim 20 Fenchurch Street in der Londoner City, das die
Briten wegen seiner geschwungenen Form kurzerhand
Walkie-Talkie getauft
haben. Clive Trencher
hält das Gebäude, das
bei der Allianz versichert und nur einen
Steinwurf von der
AGCS-Zentrale entfernt
ist, für einen architek1930 standen 99
tonischen und wirtder 100 höchsten
schaftlichen Erfolg.
Gebäude in
Nordamerika, allein
Dass es 2015 mit dem
die Hälfte davon in
Carbuncle Cup für den
New York. Heute
hässlichsten Bau des
stehen drei Viertel
der höchsten
Jahres in Großbritan-
Unterm Brennglas
Was in Jeddah gerade Etage um Etage aus dem Wüstenboden wächst, soll in einigen Jahren zum Kristallisationspunkt eines neuen urbanen Zentrums werden – Kingdom
City. Das Streben nach Höherem sei zumeist kein Selbstzweck oder nur der Jagd nach Prestige geschuldet, sagt
Trencher. Oft sei mit dem Bau eines außergewöhnlichen
452 m
Petronas Towers, Kuala Lumpur
Wolkenkratzer in
Südostasien und
dem Nahen Osten
509 m
Taipei 101, Taipei

828 m
Burj Khalifa, Dubai

1000 m
Kingdom
Tower, Jeddah
1000+ m
Höhe bis zur Spitze
In 630 Metern Höhe entsteht die höchste Aussichtsplattform der Welt. Durchmesser: 30 Meter
In der Silvesternacht brach in einem Hochhaus in Dubai ein Feuer aus,
das sich schnell ausbreitete. Experten diskutierten die Sicherheit des für
Außenfassaden benutzten Materials
M E G A - H O C H H ÄU S E R – M E G A - R I S I K E N
Die große Schöne
nien bedacht wurde, findet er ziemlich ungerecht: »Es ist
wie mit der Kunst – jeder hat dazu eine andere Meinung.«
Aussichtsplattform
Wobei Kunstwerke normalerweise keine Armaturenbretter in Autos schmelzen lassen, wie es im Sommer
2013 vor dem Walkie-Talkie passierte. Die gekrümmte
Glasfassade des 37-stöckigen Gebäudes hatte das Sonnenlicht so stark reflektiert, dass sich die Plastikteile eines
davor geparkten Jaguars verformten. Nun ist London nicht
unbedingt für seine glühend heißen Sommer bekannt,
doch an einigen Tagen im Jahr wird es auch an der Themse
hell. Die Baufirma brachte schließlich Sonnenblenden an
der Südseite des Gebäudes an. Seiner Attraktivität hat die
Episode offensichtlich nicht geschadet – 95 Prozent der
Flächen im Walkie-Talkie sind vermietet.
167
Stockwerke
Das ist bei solchen Mammutprojekten nicht selbstverständlich, weiß Trencher: »Es können zehn Jahre ins Land
gehen, um ein Hochhaus dieser Größe vollständig zu
belegen.« Das kommerzielle Risiko ist jedoch nur eines
von vielen. Ob sich die Investitionen am Ende bezahlt
machen, darüber entscheidet zum Beispiel auch, wie
schnell, wie effizient und wie sicher das Transportsystem
in dem Gebäude funktioniert. »Die Fahrstühle sind einer
der wichtigsten Erfolgsfaktoren«, hebt Trencher hervor.
58
Aufzüge
Bei all den Superlativen, die Technikfans
begeistern, gibt es beim Bau von MegaHochhäusern Herausforderungen, die
Ingenieuren die Schweißperlen auf die
Stirn treiben. Wie evakuiert man im Notfall
die Tausenden Bewohner einer vertikalen
Stadt? Wie kann man der Terrorgefahr und
möglichen Cyberangriffen begegnen?
Wie bändigt man das Brandrisiko? Wie
sorgt man dafür, dass der Turm bei Sturm
nicht ins Wanken gerät? Wie stellt man die
Wasser- und Stromversorgung sicher, und
wie muss der öffentliche Nahverkehr ausgelegt sein, um einen sicheren Transport
der Menschenmassen zu und von einem
solchen Superturm zu gewährleisten?
Und wie lässt er sich nach Ende der Nutzungsphase sicher und wirtschaftlich wieder abreißen? Ob ein solcher Wolkenkratzer
so funktioniert, wie es sich die Architekten
vorgestellt haben, zeigt sich erst im Alltagsbetrieb. »Man weiß es erst, wenn alle Etagen
bewohnt sind und jeder gleichzeitig den
Wasserhahn aufdreht, die Klimaanlage anschaltet oder auf den Liftknopf drückt«, sagt
Clive Trencher. »Egal, wie viel man vorher
getestet und geprobt hat.«
Der größte Turm der Welt ist noch nicht fertig, da macht
schon die Nachricht von einem noch höheren Gebäude
die Runde: Ein Londoner Architektenbüro hat Ende letzten
Jahres Pläne für einen 1152 Meter großen Wolkenkratzer vorgestellt. The Bride (die Braut) – so der Name der
großen Schönen – soll in Basra im Irak entstehen. Und
auch damit ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht:
Visionäre träumen bereits vom Ein-Meilen-Turm (etwa
1,6 Kilometer). Experten halten so einen Bau in den
nächsten 20 bis 30 Jahren für möglich.
In Zukunft, so glaubt Clive Trencher, könnte es durchaus
vertikale Städte geben, in denen Menschen ihr ganzes
Leben verbringen – dort aufwachsen, zur Schule gehen,
Familien gründen, im Alter versorgt werden und schließlich auch dort sterben. »Gar kein so abwegiger Gedanke«,
sagt der Risikoexperte. »In manchen Städten kann man
diese Entwicklung bereits heute beobachten.«
H T T P ://S K Y S C R A P E RC E N T E R .C O M/B U I L D I N G/
K I N G D O M -T O W E R /2
Stern
637,5 m
Im Kingdom Tower soll es 58 davon geben. Superschnell
und statt von Stahlseilen von ultraleichten Karbonfaserkabeln getrieben. Die Fahrstuhlschächte werden über
600 Meter hoch sein. Die Höhe ist auch für die Betonmischer eine nie dagewesene Herausforderung. »Um
die gewaltigen Kräfte zu bändigen, braucht es einen
superstarkem Beton«, erläutert Trencher. »Und es braucht
massive Spezialpumpen, um ihn in einem Schwung
600 Meter nach oben zu befördern.«
270
Betonpfeiler
14
Bei all den Superlativen, die Technikfans begeistern, gibt
es allerdings auch Herausforderungen, die den Ingenieuren
die Schweißperlen auf die Stirn treiben. Wie evakuiert
man im Notfall die Tausenden Bewohner einer vertikalen
Stadt? Wie kann man der Terrorgefahr und möglichen
Cyberangriffen begegnen? Wie bändigt man das Brandrisiko – sowohl während der Bauphase, als auch nach
Fertigstellung? Wie sorgt man dafür, dass der Turm
bei Sturm nicht ins Wanken gerät? Wie stellt man die
Wasser- und Stromversorgung sicher? Wie muss der
öffentliche Nahverkehr ausgelegt sein, um den Transport
der Menschenmassen zu und von einem solchen Superturm zu gewährleisten? Und schließlich: Wie lässt er sich
nach Ende der Nutzungsphase sicher und wirtschaftlich
wieder abreißen?
dpa / picture-alliance
Adrian Smith & Gordon Gill Architecture
GLOBAL
Clive Trencher




Allianz Journal_Das Letzte
GLOBAL
Die Allianz auf dem Weg in eine neue Ära: Mit einem umfassenden
Erneuerungsprogramm soll die Gruppe für die Anforderungen der
Zukunft fit gemacht werden. Im folgenden Interview erläutert Allianz
Chef Oliver Bäte, worauf es ihm dabei ankommt. Ein Gespräch über
Wahrheit, Vertrauen und die Möglichkeit des Scheiterns.
FRA NK STE R N
Vertrauen in
die Substanz
Oliver Bäte
Allianz
Herr Bäte, Sie sind jetzt seit zehn
Monaten im Amt, die ersten Schritte
hin zu einer Allianz neuen Zuschnitts
sind gemacht. Ist es schwierig, die
Mitarbeiter von der Dringlichkeit des
Wandels zu überzeugen?
Im Gegenteil. Unsere Mitarbeiter, insbesondere diejenigen, die direkt mit unseren
Kunden zu tun haben, wissen, dass vieles
von dem, was wir jetzt angestoßen haben,
eigentlich überfällig ist. Sie warten darauf,
dass wir ihnen die technischen Hilfsmittel
und die Verfahren an die Hand geben, mit
denen sie den Anforderungen einer digitalisierten Welt gerecht werden können. Das
16
gilt im Übrigen auch für unsere Produkte:
Die sind oft viel zu kompliziert – und das
nicht nur für die Kunden, sondern auch für
unsere Mitarbeiter selbst. Die Reduzierung
von Komplexität ist das, was Kunden und
Mitarbeiter jetzt von uns erwarten.
Keine Reibungspunkte? Keine
Widerstände?
Es hat sicher eine Weile gedauert, unser
Top-Management auf das Thema Kundenorientierung einzuschwören, weil viele
anfangs gemeint haben, dass sie das doch
schon längst machen. Wir haben dann die
Fakten auf den Tisch gelegt, insbesondere


die Umfrageergebnisse zur Kundenzufriedenheit. Und da war auch dem Letzten klar:
Nein, wir machen es eben nicht. Das war ein
Weckruf. Auch das Thema Digitalisierung
ist nun vom Rand in den Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit gerückt. Ich war in Köln im
Callcenter der Schadenabteilung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an den
Kundenschnittstellen sitzen, warten darauf,
dass wir ihnen die richtigen Arbeitsmittel
zur Verfügung stellen. Wir haben heute kein
Erkenntnisproblem mehr. Wir kennen die
Schwachstellen und stellen die richtigen
Fragen: Warum ist unser Handwerkszeug
nicht besser? Warum führen wir IT ein, die
nicht richtig funktioniert? Warum haben wir
diese ganzen, komplizierten Produkte, die
kaum ein Mensch versteht? Jeder weiß, worauf es ankommt. Jetzt geht es um die Frage,
wie wir den Umbau so hinbekommen, dass
wir uns nicht verzetteln und uns nicht auf
halbem Wege die Luft ausgeht.
der Kundenzufriedenheit. Nur 47 Prozent
unserer Tochtergesellschaften liegen heute
in ihren jeweiligen Ländern in Sachen
Kundenzufriedenheit im oder über dem
Marktdurchschnitt. Das kann nicht unser
Anspruch sein. Bis 2018 wollen wir 75 Prozent erreichen.
Ende letzten Jahres haben Sie einen
Dreijahresplan vorgestellt. Wie soll die
Allianz im Jahre 2018 aussehen? Werden
Kunden und Mitarbeiter die Allianz dann
noch wiedererkennen?
Das hoffe ich doch. Die wichtigste Aufgabe,
die jetzt vor uns liegt, ist die Verbesserung
Ein ziemlicher Sprung.
Sicher, da liegt eine Menge Arbeit vor uns.
Dabei geht es nicht nur um solche Dinge
wie die Reduzierung der Briefpost und den
Wechsel auf digitale Kommunikationskanäle.
Es geht vor allem um eine Veränderung der
Unternehmenskultur und um die Frage,


wie wir mit unseren Kunden umgehen. Das
wirkt übrigens auch auf uns selbst zurück:
Durch zufriedene Kunden bekommt man
zufriedene Mitarbeiter – und umgekehrt. Die
wesentlichen Hebel sind die Vereinfachung
von Produkten und die Beschleunigung von
Prozessen. Womit wir wieder beim Thema
Digitalisierung wären. In vielen Fällen antworten wir Kunden, die uns eine E-Mail schicken,
immer noch per Brief, auf den sie, wenn es
dumm läuft, bis zu zwei Wochen warten
müssen. Das kann nicht sein. Was das angeht,
hoffe ich, dass wir die Allianz
in drei Jahren tatsächlich nicht
mehr wiedererkennen.
Allianz Journal_Das Letzte
GLOBAL
Sie legen die Latte ziemlich hoch.
Sie wollen, dass sich die Allianz beim
Kundenservice mit Firmen wie Google
und Apple misst. Überfordert das die
Organisation nicht?
Das glaube ich nicht. Und im Übrigen: Wir
kommen um diese Messlatte gar nicht herum, denn es sind die Kunden, die sie uns hinhalten. Ihre Erfahrungen werden heute von
Google & Co. geprägt, und wenn wir mit diesem Standard nicht mithalten können, gehen
sie zu einem Unternehmen, das ihnen diesen
Standard auch in der Finanzdienstleistungsbranche bieten kann. Das heißt, wir haben
gar keine Wahl. In den letzten zehn Jahren
haben wir insbesondere in den Kernmärkten
Europas kontinuierlich Kunden verloren. 2015
haben wir das Blatt erstmals wieder wenden
können. Ich verstehe die Bedenken von manchen, und man muss diesen Wandel behutsam angehen. Nur eines muss klar sein: Wir
können uns nicht in einen Kokon einpuppen
und darauf hoffen, dass der Sturm vorüberzieht. Denn das wird er nicht tun.
Denken Sie über die Möglichkeit des
Scheiterns nach?
Na klar.
Bereitet Ihnen der Gedanke Sorgen?
Nein, sonst könnte ich so einen Job nicht
machen. Wenn ich mich ständig mit Verlustängsten und der Furcht zu scheitern beschäftigen würde, könnte ich die Aufgaben
nicht erledigen, die vor uns liegen. Ich habe
großes Vertrauen in die Allianz und ihre Substanz. Die Sache wird nicht leicht, vieles von
dem, was wir angehen, ist harte Kärrnerarbeit.
Und es wird sicher auch nicht gleich alles
klappen. Aber wir müssen uns trauen, selbst
auf die Gefahr hin, dabei Fehler zu machen.
Doch vieles von dem, was wir uns vorgenommen haben, werden wir schaffen. Da ist mir
überhaupt nicht bange. Schauen Sie sich nur
mal an, in welcher Geschwindigkeit wir in
der Lebensversicherung auf eine völlig neue
Produktgeneration umgestellt haben. Wer
hätte uns das denn vor drei Jahren zugetraut?
18
Es geht nicht darum, ob der Bäte seine Ziele
erreicht oder ob er scheitert. Es geht darum,
ob die Allianz in Sachen Kundenorientierung
den Quantensprung hinbekommt. Ansonsten
wird sie nicht zukunftsfähig sein.
Ab 2018 sollen pro Jahr gruppenweit
Produktivitätsgewinne von einer Milliarde Euro erzielt werden. Wie viele Stellen
wird das kosten?
Das lässt sich heute nicht beziffern. Allerdings,
und das sage ich auch klar: Ganz ohne Stellenabbau wird es nicht gehen. Alles andere wäre
unehrlich. Es wird Bereiche geben, in denen
man mit digitalen Prozessen schneller, besser und kostengünstiger vorwärtskommt.
Denken Sie an das Thema Poststraße, Papierversand usw. Auf der anderen Seite nimmt
der Bedarf an qualifizierter Kundenberatung
und damit die Nachfrage nach qualifizierten
Arbeitskräften in diesem Bereich zu. Es entstehen neue Aufgaben, etwa bei der Betreuung unserer Kunden über soziale Medien, im
Kundenservice, in der Telefonberatung usw.
Schon vor Jahren hatten Sie kritisiert,
dass von allen Branchen die Versicherungswirtschaft die schlechteste
Produktivität habe. Hat sich in der
Zwischenzeit nichts getan?
Die kontinuierliche Steigerung der Produktivität ist eine Hauptherausforderung für
die Allianz. Vor allem bei der IT müssen wir
nachlegen. Wir haben ein IT-Budget von
weltweit rund 3,5 Milliarden Euro. Aber
wenn ich mir anschaue, was da an Produktivitätssteigerung für das Unternehmen
herauskommt, dann ist das bisher einfach
zu wenig. Unsere Produktivität ist heute
nicht viel besser als vor zehn Jahren. Und
das trotz unglaublich aufwändiger Veränderungsprozesse und nicht unerheblichem
Stellenabbau. Das erzähle ich nicht, um
jemanden zu ärgern, sondern um darauf
hinzuweisen, dass, wenn wir uns nicht
ändern, irgendjemand kommen und eine
bessere Lösung bieten wird. Wir sehen es
an Uber oder Airbnb: Die Geschäftsmodelle


verändern sich rasend schnell. Ich hasse Restrukturierungsprogramme. Sie sind immer
ein Beweis dafür, dass das Management geschlafen hat. Wenn man vor die Mitarbeiter
hintreten und sagen muss, 20 Prozent von
euch müssen sofort gehen, dann ist das eine
Bankrotterklärung.
Auch Sie wollen Stellen abbauen.
Aber wir brechen nichts übers Knie. Es ist
immer besser, mit dem Sozialpartner kontinuierlich im Austausch darüber zu stehen,
wo die Reise hingehen soll, wo wir in den
nächsten fünf Jahren bei der Produktivität
stehen müssen und welche langfristigen
Maßnahmen dafür erforderlich sind. Man
muss kritische Punkte frühzeitig ansprechen, damit man genügend Zeit hat, gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten.
Was bedeutet die Digitalisierung für
Allianz Vertreter? Wird es diesen
Vertriebskanal in Zukunft überhaupt
noch geben?
Unbedingt. Manche Sachen kann man digital
sicher besser und schneller machen. Aber
die persönliche Beratung ist nicht zu ersetzen. Ob die jetzt immer in einer Agentur
stattfindet, oder ob wir das in Zukunft über
Skype und andere Formate machen, wird
sich zeigen. Aber ich rechne fest damit, dass
wir auch in zehn oder 20 Jahren noch erfolgreiche Vertreter haben werden. Wie viele
wird aber davon abhängen, wie unsere Beratungsleistung von den Kunden bewertet
wird. Das ist weniger eine Frage der Technologie als vielmehr eine Frage der Qualität.
Und da müssen und können wir uns vom
Wettbewerb abheben.
Die Kundenbeziehung baut auf Vertrauen auf. Sie haben letztes Jahr den
Verkauf alter Lebensversicherungsverträge ins Gespräch gebracht, um
Kapital gewinnbringender einsetzen
zu können. Beschädigt man damit nicht
das Vertrauen von Kunden, die sich ja
aus gutem Grund für die Allianz entschieden hatten?
Da schwingt der Vorwurf mit, wir ließen unsere Kunden im Stich. Das tun wir nicht, aber
wir können auch nicht auf Dauer Verluste
produzieren. Lassen Sie mich das kurz erklären: Wir haben Lebensversicherungspolicen
mit äußert ungünstigen Vertragskonditionen
im Bestand, wo häufig auch die Kunden
wissen, dass sich diese Verträge für uns gar
nicht rechnen können. Damit schaden wir im
Endeffekt anderen Kunden. Wenn wir nun
für diese Pakete einen seriösen Käufer finden, der in einem anderen steuerlichen Umfeld und mit einem besseren regulatorischen
Kapitalmodell arbeitet, dann ist das sowohl


für uns und unsere Kunden, als auch für den
Käufer von Vorteil.
Die Presse hat Sie in der Vergangenheit
nicht immer freundlich behandelt. Wie
viel Selbstbewusstsein braucht man,
um nicht an sich zu zweifeln, wenn Kritik
auf einen einhagelt, und wie viel Selbsterkenntnis, um zuzugeben, dass manche
durchaus berechtigt ist?
Also, ich lese solche Berichte häufig nicht.
Da wird vom McKinsey-Berater geredet,
dem kühlen Rechner usw. Diese Stereotypen
gehen einem irgendwann auf die Nerven.
Mir ist es wichtiger, was Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter sagen. In meiner Zeit bei der
Allianz wurden zwei umfassende Umfragen
zu mir gemacht. Beim letzten Mal wurden
dazu mehr als 100 Mitarbeiter und Kollegen
interviewt, auch von außerhalb der Allianz.
Da bekommt man dann schon ein sehr vollständiges Bild davon, wie man ankommt.
Nicht alles, was man da hört und sieht, gefällt einem, aber es ist ein ehrliches Feedback, an dem man sich orientieren kann.
Was bewirkt so ein Feedback?
Man lernt einiges über sich. Als ich zur
Allianz kam, sagte mir Michael Diekmann,
wenn ich in dem Unternehmen erfolgreich
sein wolle, müsse ich mein Kommunikationsverhalten und meinen Führungsstil verändern.
Und er vertraute darauf, dass ich das hinkriege.
Man sollte Menschen zutrauen, dass sie sich
ändern wollen und dass sie sich entwickeln
können. Gleichzeitig sollte man als Mensch
authentisch bleiben. Wenn die Leute das
Gefühl haben, da verstellt sich einer, ist das
keine gute Basis. Die Organisation möchte ja,
dass man erfolgreich ist, und das ist auch der
Grund, warum ich hier sehr glücklich bin: Ich
habe kaum jemanden getroffen, der missgünstig ist und sich ständig fragt: Warum
der? Warum nicht ich?
Managementberater
Manfred Kets de Vries hat
in einem Journal-Interview
GLOBAL
»Ein Unternehmen lässt sich nicht nach
der letzten Meinungsumfrage führen.«
gesagt, dass Leute in leitenden Positionen von Lügnern umstellt sind und kein
reales Feedback mehr bekommen. Wie
begegnen Sie dieser Gefahr?
Wenn man der Vorstandsvorsitzende ist,
ist die Gefahr natürlich groß. Um ihr entgegenzuwirken, braucht man Kollegen, die
kein Blatt vor den Mund nehmen. Es hilft
auch, wenn man sich auf Vertraute außerhalb der Zentrale stützen kann, die einem
unverblümt die Wahrheit sagen. Wenn man
zulässt, dass konstruktive Kritik keinen Raum
mehr hat, ist man schon verloren. Claqueure
helfen nicht. Aber eines ist natürlich auch
klar: Allen kann man es nicht recht machen.
Ein Unternehmen lässt sich nicht nach der
letzten Meinungsumfrage führen.
Haben Sie die Jahre bei der Allianz
verändert?
Ich glaube schon. Zum Beispiel habe ich
gelernt, Wichtiges stärker von Unwichtigem
zu unterscheiden. Ich fing bei der Allianz zu
Beginn der Finanzkrise 2008 an, zu einem
Zeitpunkt, als die Hütte lichterloh brannte.
Da wurde schon recht ordentlich an unseren
Grundfesten gerüttelt. Damals wurde mir klar,
dass für die Allianz die Frage der Integrität und
der Stabilität Grundvoraussetzungen ihrer
Existenz sind. Es nützt nichts, wenn wir super
innovativ und produktiv sind, der Laden aber
bei starkem Sturm zusammenfällt.
Unsere Kunden müssen darauf vertrauen
können, dass egal wie stark der Sturm bläst,
egal wie stark die Erde wackelt, die Allianz
steht. Darauf baut alles andere auf. Zum
anderen hat sich, glaube ich, mein Kommunikationsstil geändert. Ich versuche auch
heute, intern wie extern Dinge beim Namen
20
zu nennen, aber vielleicht bin ich dabei
etwas höflicher als früher, weniger polarisierend – und ein besserer Zuhörer.
Geht die Spontaneität verloren?
Ein wenig schon. Man wird disziplinierter.
Manchmal wünschte ich mir, ich müsste
nicht immer so hundertprozentig auf Disziplin achten, weil man sich dadurch natürlich
doch ein wenig verpuppt. Doch wo jeder
aus der Stellung der Mundwinkel oder der
Augenbrauen eine Botschaft herausliest,
geht es wohl nicht anders. Das ist Teil meiner
Rollenbeschreibung.
Ihr Vorgänger Michael Diekmann hat
mal gesagt, die Stellung des Vorstandschefs bringe es mit sich, dass Freundschaften leiden und für die Familie zu
wenig Zeit bleibt. Geht es Ihnen auch so?
Was Freundschaften angeht, habe ich andere Erfahrungen gemacht. Die sind eher
intensiver geworden. Ich habe viele Freunde
außerhalb meines Berufslebens und die
rücken näher heran. Aber ich komme leider
kaum mehr dazu, abends mal spontan ins
Kino oder ins Theater zu gehen. Der Job
bringt es mit sich, dass man kulturell ein
wenig verarmt. Das muss sich irgendwann
wieder ändern.
Ich habe immer viel gearbeitet, aber man
braucht eine gewisse Balance. Man braucht
Zeit für Reflexion und man braucht Zeit für
die Familie, auch wenn meine Kinder und
meine Frau akzeptiert haben, dass ich im
Wesentlichen nur am Wochenende für sie
da bin. Beim Wochenende aber mache ich
keine Kompromisse. Wenn mich einer am
Freitagabend anruft, wenn ich mit meinen


Kindern beim Abendessen sitze, und es ist
nicht etwas wirklich Wichtiges, dann gibt
es Ärger. Jeder Mitarbeiter braucht solche
Freiräume, um sich auch mal mit etwas anderem zu beschäftigen. Das muss man an
manchen Stellen in der Allianz noch lernen.
Es ist einfach eine Frage des Respekts. Ich
habe große Probleme mit Leuten, die am
Freitagabend E-Mails herumschicken, auch
wenn die Sache bis Montagmorgen Zeit hat.
Das zeigt mir, dass sie nicht nachdenken.
Wer Berichte über Sie liest, könnte
meinen, dass in Ihrem Leben immer
alles glatt gelaufen ist. Sind Sie schon
mal an etwas gescheitert?
(Lange Pause) Also ich habe sicher viel Glück
gehabt. Das kann man nicht anders sagen.
Aber es war nicht immer ein gerader Weg.
Ich habe mein MBA-Studium an der Abendschule gemacht, bin nicht in Harvard gewesen,
habe kein Stipendium erhalten und auch
keine Doktorarbeit geschrieben. Ich habe
tagsüber gearbeitet und bin abends zur Uni
gegangen. Mit dem Lehrgeld als Bank-Azubi
ließen sich auch keine großen Sprünge machen. Ich habe zusätzlich als Tellerwäscher
und Kellner gearbeitet, auch später noch als
Student. Das macht einen sehr unabhängig,
und man lernt einiges über Menschen. Aber
lustig war das nicht. Viele meiner damaligen
Kommilitonen machen sich heute noch
darüber lustig, dass ich gearbeitet habe, während sie Partys gefeiert haben. Das holt man
kaum wieder rein. Dennoch, diese Erfahrung
möchte ich nicht missen.
Reuters
Oliver Bäte
Steilpass für
den Klimaschutz
Christina Figueres, Generalsekretärin der UN-Klimarahmenkonvention, UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, Laurent Fabius, Präsident der Pariser Klimakonferenz,
und der französische Staatspräsident François Hollande (v.l.) feiern den erfolgreichen Abschluss der Weltklimakonferenz
Eigentlich ist es ganz einfach: Wenn die Klimaerwärmung gestoppt werden soll, die
Wissenschaftler zum großen Teil für menschengemacht halten, müssen die Emissionen
drastisch gesenkt werden. Dieses Prinzip hat der Pariser Klimagipfel bestätigt. Dass die
Ankündigung der Allianz, aus dem Kohlegeschäft auszusteigen, dennoch für so viel Wirbel
gesorgt hat, zeigt, wie zögerlich die Finanzindustrie bisher agiert.
M ICHA EL G RIM M
Die Pariser Klimaverhandlungen wurden von den meisten Teilnehmern und Beobachtern als Erfolg gefeiert. Not
schweißt eben zusammen. Auf Kyoto mussten allerdings
viele weitere Dürren, Überschwemmungen und Smogkatastrophen folgen, bis sich die Weltgemeinschaft auf
ein gemeinsames Ziel einigen konnte: Die Erderwärmung muss begrenzt werden, mindestens auf zwei, besser noch auf 1,5 Grad. Doch was bedeutet das konkret?
Wie sollen die Ergebnisse aus den Pariser Verhandlungs-
zimmern umgesetzt werden? Und auf welche Akteure
kommt es jetzt an?
Um zu erklären, wo die Gesellschaft nach Paris steht,
greift Christoph Bals, der politische Geschäftsführer von
Germanwatch, auf eine Analogie aus dem Fußball zurück: »Aufgabe der Klimagipfel ist es, den Ball möglichst
nahe an den Strafraum zu bringen. Das ist dieses Mal
gelungen. Die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen


Allianz Journal_Das Letzte
GLOBAL
Es ist vor allem der letzte Punkt, dem der Analyst besondere Bedeutung beimisst. Lebensversicherungsgelder
als Motor für die Energiewende in einem Schwellenland
wie Indien? Warum nicht? Wenn auf multi- oder bilateraler Ebene durch Risikoübernahme die entsprechenden
Rahmenbedingungen geschaffen werden. »Ein solches
Engagement der Allianz als größter Versicherer Europas
hätte nicht nur symbolische Bedeutung«, sagt Bals.
»Es könnte den Durchbruch für die globale Energiewende bedeuten.«
Das Prinzip steckt schon im Begriff: Bei dieser
Investitionsform kommt es auf die »crowd«, die
Masse, an. Auf Deutsch wird auch immer wieder
von Schwarmfinanzierung gesprochen. Bekannt
wurde das Finanzierungs-Modell vor allem durch
die Start-Up-Szene. Junge Unternehmen werben
um Startkapital, das früher klassischerweise von
Banken zur Verfügung gestellt wurde. Doch da
immer weniger Geldhäuser dieses Wagnis eingehen, wird diese Lücke inzwischen von privaten
Investoren ausgefüllt. Ihnen winken Renditen von
fünf Prozent und mehr. Denkbar wäre auch, dass
die Investoren erst zu einem späteren Zeitpunkt
in ein Projekt einsteigen, wenn die Anfangsfinanzierung bereits gewährleistet ist. Dann ist das
Risiko auf Anlegerseite geringer.
dpa / picture-alliance
C RO W D - I N V E S T I N G
Die Marshall-Inseln, die im Schnitt nur zwei Meter aus dem Wasser ragen, sind durch den vom
Klimawandel verursachten Anstieg des Meeresspiegels besonders betroffen
Abschlusses ist also gestiegen. Die Vorlage muss nun auf
nationaler oder transnationaler Ebene, wie der EU, verwandelt werden.« Das Abwehrbollwerk der üblichen Verweigerer ist erst einmal überwunden. Mehr noch, Länder
wie die USA und Brasilien haben sich sogar der so genannten »Koalition der Ambitionierten« angeschlossen.
verdichten sich die Anzeichen, dass es den Ländern
nun ernst ist mit der Emissionsreduzierung. »Selbst aus
China kam die Nachricht, dass in den nächsten drei
Jahren keine neuen Kohleminen erschlossen werden.
Die Regierung in Peking stellt sich darauf ein, dass der
Kohleverbrauch zurückgeht«, berichtet Bals.
Das Ende des fossilen Zeitalters
Es ist also angerichtet. Der Pariser Plan fordert von
seinen Unterzeichnern, sich alle fünf Jahre neue Ziele
zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen zu setzen. Wer nicht mitzieht, muss zwar keine Strafen, aber
Glaubwürdigkeitsverluste fürchten, »so als würden
Ratingagenturen den Daumen senken«, erklärt Bals die
Spielregeln. Neben staatlichen Akteuren sieht er auch die
Wirtschaft in der Pflicht. Vor allem von den Investoren
fordert er nun die notwendige Zielstrebigkeit vor dem
Tor. So wie sie die Allianz unter Beweis gestellt habe.
Ihr Auftreten sei vielversprechend, sagt Bals.
Das neue, informelle Bündnis im Klimaringen besteht
aus mehr als 100 Staaten. Mit dabei: Industriestaaten
der EU und anderer Regionen sowie Entwicklungsländer.
Und sie alle wollten auf keinen Fall wieder mit leeren
Händen den Verhandlungstisch verlassen. Den entscheidenden Steilpass legten die kleinen Länder auf, angeführt
von den Marshall-Inseln. »Wenn die nicht so viel Druck
gemacht hätten, hätten wir nie so ein ambitioniertes
Abkommen bekommen«, sagt Gipfelteilnehmer Bals.
Die Ausgangslage sei nie besser gewesen, nun endlich
die notwendigen Regulierungen und Rahmensetzungen
zu verwirklichen.
In der Tat hatte die US-Regierung schon im Vorfeld
der Verhandlungen mit dem American Business Act on
Climate Pledge für Rückenwind gesorgt. Bisher haben
sich über 150 US-Firmen mit einem geballten Jahresumsatz von mehr als vier Billionen US-Dollar verpflichtet,
an der Dekarbonisierung mitzuwirken. Und selbst wenn
das Herzstück zukünftiger US-amerikanischer Klima- und
Energiepolitik, der Clean Power Plan, unter Federführung
von Präsident Obama immer noch hart umkämpft ist, so
22
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Als Gründe führt der Aktivist drei Punkte ins Feld:
Erstens unterwirft das Unternehmen nicht mehr nur
Randbereiche seiner Investitionen den so genannten ESGKriterien (Environment, Social, Governance/Umwelt,
Soziales, gute Unternehmensführung), sondern wendet
diese Richtlinien nun auch dort an, wo das meiste Geld
angelegt ist – im Bereich Lebensversicherungen. Zweitens sendet die Allianz mit ihrem Kohleausstieg das
Signal aus, dass das fossile Energiezeitalter zu Ende geht.
Drittens hat sie erklärt, dass sie sich noch stärker als
bisher bei der Finanzierung der globalen Energiewende
engagieren will.
Einer, der sich im Auftrag der Allianz seit Jahren mit der
neuen Klimarealität auseinandersetzt, ist Karsten Löffler.
Löffler ist Geschäftsführer von Allianz Climate Solutions,
dem Kompetenzzentrum der Allianz für das Thema Klimawandel, das für die Klimastrategie der Gruppe zuständig
ist und sich mit neuen Geschäftsfeldern in einer immer
wärmer werdenden Welt beschäftigt. Die Truppe um
Löffler ist in Europa und zunehmend auch in Schwellenund Entwicklungsländern aktiv, und das nicht erst seit
Paris. Zumeist geht es bei den Projekten um Versicherungslösungen und Beratung beim Risikomanagement
für Erneuerbare-Energien-Anlagen.
Zögerliche Akteure
»Viele der Risiken können wir managen, aber es gibt auch
solche, die außerhalb unseres Einflussbereichs liegen, vor
allem politische und Währungsrisiken«, sagt Löffler. Dann
komme es darauf an, mit öffentlichen Partnern vor Ort
gemeinsam erste Schritte zu wagen. Jeder steuert das bei,
was er am besten kann. Das senkt die Risiken für jeden
Einzelnen. »Wir kennen die Erneuerbaren, die Risiken, die
politische Agenda, und wir wissen, wie der öffentliche
Sektor tickt.« Dieses Wissen ist gefragt. Vor allem bei innovativen Finanzierungsformen wie Crowd-Investing (siehe
Kasten auf Seite 22).
Dabei sind verschiedene Spielarten denkbar. Eine wäre:
Mit Hilfe staatlicher Gelder, die die Bundesregierung zum
Beispiel aus dem Topf der internationalen Klimaschutzinitiative schöpft, werden kleinere Erneuerbare-Energienoder Energieeffizienz-Projekte angeschoben. Das können
zum Beispiel Solaranlagen in Afrika oder in Lateinamerika
sein. Partnern wie Allianz Climate Solutions würde die
Aufgabe zufallen, die Risiken zu minimieren, etwa indem
man technische Standards entwickelt. Sind die Rahmenbedingungen geschaffen, wird das Projekt Crowd-Investoren angeboten. Löffler rechnet fest damit, »dass ein
gewisser Teil des Investmentmarkts in diese Richtung
gehen wird.« Das scheint folgerichtig, denn der Klimawandel ist eine globale Herausforderung, die die unter-
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schiedlichen Akteure nur bestehen können, wenn sie
zusammenarbeiten.
Die Energiewirtschaft ist das Hauptbetätigungsfeld der
Allianz im Kampf gegen den Klimawandel und im Erschließen alternativer Anlagemärkte. Das liegt nicht nur
an der Größe der Projekte, sondern auch an der Entwicklung der Erneuerbaren Energien selbst. Der Sektor wird
immer wettbewerbsfähiger. Neue Anlagen brauchen
keine Brennstoffe oder Emissionszertifikate, sie lassen
sich also extrem kostengünstig betreiben. Mittelfristig
sollen sich die Investments der Allianz in ErneuerbareEnergie-Projekte von derzeit rund 2,5 Milliarden Euro
auf fünf Milliarden Euro verdoppeln.
Entscheidungen der Allianz haben damit noch mehr
Gewicht als zuvor. »Nach der Verkündung des Kohleausstiegs stand das Telefon nicht mehr still«, erinnert sich
Urs Bitterling, Leiter des ESG-Office der Allianz. »Dieser
Schritt hat hohe Wellen im Finanzsektor geschlagen.«
Überrascht habe ihn das schon ein wenig, schließlich
stehe das Thema Divestment schon länger auf der
Agenda. Aber – und vielleicht ist das auch der Grund für
die Wirkung – umgesetzt wurde der Kohleausstieg von
den meisten Akteuren bisher eben nur sehr zögerlich.
»Die Ergebnisse von Paris sind in gewisser Weise eine
Bestätigung für das, wovon wir schon länger ausgehen«,
sagt Bitterling. »Es gibt nun klare Absichten, CO2 aus der
Wertschöpfungskette zu eliminieren. Und wir müssen
uns in die Lage versetzten, darauf zu reagieren.«
Das klingt nach Risikomanagement. Und das ist es auch.
Gleichzeitig erzeugt die Allianz mit ihren Entscheidungen
aber natürlich auch Wirkung nach außen. Die wolle sie
keinesfalls als besserwisserischen Akt verstanden wissen,
sondern als Ergebnis eines Dialogs mit Partnern, Kunden
und der Gesellschaft, erklärt Bitterling. »Der Wandel
wird nicht erreicht, nur weil wir aus der Kohle aussteigen.
Er wird erreicht, wenn es uns gelingt, mit den EnergieUnternehmen neue Wege zu gehen.«
Kurzum, hinter jedem Risiko steht auch eine Chance.
Um diese Chancen systematisch zu erkennen, hat die
Allianz ein ESG-Scoring für ihre Investments aufgesetzt.
Unternehmen, in die die Allianz investiert, wird eine Art
Umwelt- und Sozial-Führungszeugnis ausgestellt. Damit
werden die Anlagegeschäfte nicht nur transparenter,
sie müssen sich unter anderem auch am Wandel hin zu
einer emissionsarmen Wirtschaft messen lassen. Die
Rauchzeichen der Allianz sind eindeutig:
Der Klimaschutz ist im Big Business
angekommen.
Allianz Journal_Das Letzte
Reuters
GLOBAL
Maschinenstürmer
Ich bin kein Computer, und ein Computer hat auch nicht diesen Text verfasst. Obwohl das
gar nicht mehr so abwegig ist. Es gibt bereits Maschinen, die Artikel schreiben können: Ein
Programm analysiert Daten, entscheidet, was für den jeweiligen Endkunden wichtig ist, und
kreiert den entsprechenden Inhalt. Im Moment beschränken sich die seelenlosen Schreiber
noch auf Sportberichte und News aus der Geschäftswelt. Aber sie können mehr – und das
ohne subjektive Präferenzen, ohne Kaffeepausen oder Anzeichen von Stress.
Ärzten helfen, ihre jeweiligen
Fälle zu begutachten, sind
erst der Anfang. »In der guten
alten Zeit war es undenkbar,
dass Jobs aus dem mittleren
Einkommenssegment von
Maschinen übernommen werden könnten«, sagt Hans-Jörg
Naumer, Chef des Bereichs
Capital Markets and Thematic
Research bei Allianz Global
Investors in Frankfurt. »Das war
einmal. Die künstliche Intelligenz schreitet zunehmend
voran.«
Jeder zweite Job ist durch den
Vormarsch der Computer stark
Macht sich der Mensch mit
gefährdet, jeder fünfte hat ein
dem technischen Fortschritt
irgendwann überflüssig?
mittleres Risiko, schreiben Carl
Benedikt Frey und Michael
Osborne in ihrem Buch The
Future of Employment: How
Susceptible are Jobs to Computerisation, für das sie über 700
Berufe in den USA untersucht haben. Besser sieht es für die unteren Berufsgruppen wie Reinigungsjobs aus: Bislang zeigen sie
sich weniger anfällig für die Auswirkungen der zunehmenden
Computerisierung. Allerdings kann man davon ausgehen, dass
auch das untere Segment unter Druck gerät, wenn die Mittelklasse schrumpft und dort Arbeitskräfte freigesetzt werden,
hebt Naumer hervor. Dagegen sind Arbeitsplätze, die von den
Beziehungen und Interaktionen der Mitarbeiter leben, vom
Aufstieg der Roboter nicht betroffen. Noch fehlt Maschinen der
menschliche Faktor.
LOIS HOYAL
Journalisten sind nicht die Einzigen, die von der Automatisierung
bedroht sind. Andere Jobs, vor allem im mittleren Einkommenssegment, kommen ebenfalls zunehmend unter Druck. Eine
Folge des »Zweiten Maschinenzeitalters«, so der Titel des 2014
veröffentlichten Buchs der beiden Ökonomen Erik Brynjolfsson
and Andrew McAfee.
Das erste Maschinenzeitalter basierte noch auf rein mechanischen Entwicklungen. Der Einsatz von Maschinen
brachte Produktivitäts- und Lohnsteigerungen mit
sich. Jetzt aber ist der Fortschritt digital und per-
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sonenbezogen: Die heutigen Maschinen verfügen über künstliche Intelligenz und könnten den Menschen in nicht allzu ferner
Zukunft als Arbeitskraft ersetzen.
Siegeszug der Roboter
Maschinen führen Befehle aus, können unstrukturierte Informationen entschlüsseln und eigene Entscheidungen treffen. Sie
sind zunehmend in der Lage, komplizierte Aufgaben zu erledigen,
zu denen bislang nur Menschen fähig waren. Führerlose Autos,
unbemannte Flugzeuge oder Programme, die Anwälten und

Doch die Zeichen weisen unmissverständlich darauf hin, dass
die Beschäftigtenzahl insgesamt zurückgehen wird – weniger
Arbeitsplätze für Menschen, mehr für Roboter. Die Entwicklung
wird auch dadurch vorangetrieben, dass die Weltbevölkerung
immer älter wird und der Anteil der Menschen im arbeitsfähigen
Alter sinkt. Laut UN lag der Umschlagpunkt in den Industrieländern (außer Japan) im Jahr 2013. Das heißt, seitdem scheiden
mehr Alte aus dem Arbeitsmarkt aus, als Junge hinzukommen.
Und die Zahl der Nachrücker werde in den nächsten zehn Jahren
weiter um 0,2 bis 0,3 Prozent pro Jahr abnehmen, sagt Naumer.
den. Bei fast einem Viertel der Staatsanleihen in der Eurozone
liegen die Renditen derzeit im Minusbereich. In Frankreich und
Deutschland betrifft das zwischen 50 und 70 Prozent aller
ausstehenden Staatsanleihen. In Japan sind es über 15 Prozent.
»Der schleichende Sparverlust wird wahrscheinlich anhalten
und sogar noch an Fahrt zulegen«, sagt Naumer.
Das Problem sei, dass sich mit den demographischen und technologischen Trends auch die Arbeitsmärkte veränderten. »Die
Einnahmen aus Sparguthaben und Staatsanleihen, die dringend
für die Absicherung der Renten gebraucht werden, versiegen,
und die Arbeitseinkommen sinken«, erklärt Naumer. »Wenn wir
uns das Ganze aus Anlegerperspektive ansehen, so müssen sich
die Leute, je älter sie werden und je länger sie leben, ein dickeres Polster zulegen, um im Alter ausreichend versorgt zu sein.«
Doch je niedriger die Renditen, desto schwieriger werde es,
dieses Polster aufzubauen, von dem man im Alter leben könne.
Naumer: »Die Kombination aus niedrigen Zinsen und demographischem Wandel ist ein Albtraum.«
Die drei Apokalyptischen Reiter
Was also bleibt zu tun? Naumer findet, man sollte die Maschinen
für sich arbeiten lassen. Seiner Meinung nach sollten die Leute
ihre Gehälter und Pensionen ganz oder teilweise in Aktien von
Unternehmen stecken, die die Roboter produzieren. Wenn man
sich die Zahlen ansieht, macht das durchaus Sinn. Allein zwischen
1992 und 2014 haben von Allianz Global Investors verwaltete
europäische Aktien pro Jahr um elf Prozent zugelegt – trotz der
Finanzkrisen, die die Märkte während dieser Zeit erschütterten.
Der Haken an der Sache ist laut Naumer: »Nicht jeder kann sich
das leisten.«
Eines aber ist sicher: die Kombination aus Finanzkrise, Demographie und Technologie – Naumer spricht von den drei
Apokalyptischen Reitern der Finanzindustrie – bedeutet, dass in
Zukunft Aktien eine größere Rolle spielen werden. »Jetzt ist die
Zeit, eine Brücke zu schlagen zwischen Kapital und Arbeit, und
um Aktieninvestitionen für eine breite Öffentlichkeit attraktiv zu
machen – gerade auch angesichts der auf uns zukommenden
technologischen Veränderungen«, fasst Naumer zusammen.
»In Zeiten des Wandels muss das Ziel lauten, Rücklagen aufzubauen und daraus ein sicheres Einkommen zu schaffen.«
Doch der demographische Wandel und die Automatisierung
sind nicht die einzigen Herausforderungen. Hinzu kommen
die Maßnahmen von Regierungen zum Abbau der Staatsschul-
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Geschichten aus der Allianz Welt
USA
Großbritannien
Tschechien
Polen
Dänemark
Deutschland
Russland
Italien
Ungarn
Österreich
Island
Frankreich
Kanada
Japan
Südkorea
China
Griechenland
Bulgarien
Taiwan
Mexiko
Portugal
Türkei
Philippinen
Westafrika
Kolumbien
Papua-Neuguinea
Ägypten
Libanon
Peru
Thailand
Indien
Indonesien
Argentinien
Südafrika
Laos
Brasilien
Saudi-Arabien
Australien
Sri Lanka
Neuseeland
Chile
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
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Allianz Journal_Das Letzte
GLOBAL
Herr Schneider, die Allianz investiert bis
2018 einen hohen dreistelligen Millionenbetrag in das Allianz Infrastructure
Transformation-Programm (AIT), das
größte Transformationsprogramm ihrer
Geschichte. Worum geht es dabei?
Unsere Aufgabe ist es, ein hochleistungsfähiges IT-System zu bauen, das auch unter
höchstem Druck stabil und zuverlässig läuft.
Zudem muss es sehr flexibel sein, um neue
Produkte und Anwendungen schnell integrieren zu können. Und es muss Cyberangriffe
sicher abwehren können. Die Schocks von
außen sind immens.
Gab es diese Herausforderungen vorher nicht? Warum jetzt eine so massive
Investition?
Die Sache ist sicher durch die rasante Entwicklung des Internets ins Rollen gekommen,
nochmal beschleunigt durch die mobilen Anwendungen. Damit lässt sich nun alles mit
allem in Echtzeit vernetzen. Und das ist die
große Herausforderung: Die Computerleistung wird immer größer, die Anwendungen
werden immer schneller. Heute kann man in
Millisekunden sämtliche Dokumente auf zig
Tausenden Servern durchsuchen. Umgekehrt
können aber auch Hacker in Millisekunden
jede Schwachstelle in einem IT-System aufspüren.
»Die Schocks von
außen sind immens«
Shutterstock
Die Allianz ist auf dem Weg
zum digitalen Versicherer. Für
das Grundgerüst soll Ralf Schneider
mit seinen IT-Teams sorgen. Als Chief
Information Officer der Allianz Gruppe leitet
er derzeit das größte Transformationsprogramm
in der Geschichte des Unternehmens.
FR AN K STERN
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Besteht nicht die Gefahr, dass Sie nach
Abschluss des AIT gleich wieder von
vorn anfangen müssen, weil sich die
Landschaft bis dahin schon wieder völlig
verändert hat?
Mit dem Problem haben wir ja permanent
zu kämpfen. Man kann die technischen Entwicklungen natürlich nicht auf drei Jahre im
Voraus planen. Die Systeme müssen so flexibel sein, dass man sie ohne großen Aufwand
an aktuelle Entwicklungen anpassen kann.
Zum Beispiel an den rasanten Fortschritt in
der Smartphone-Welt. Viele Allianz Mitarbeiter möchten auch auf dem Smartphone oder
Tablet Zugriff auf ihre Anwendungen haben,
um mobil mit ihnen arbeiten zu können. Darauf arbeiten wir hin.
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Hinkt ein Koloss wie die Allianz der
Entwicklung nicht immer hinterher?
Wären kleine, flexible Lösungen nicht
die bessere Variante?
Ich habe im vergangenen Jahr im Silicon
Valley einen entscheidenden Satz gelernt:
Gott hat die Welt auch nur deshalb in sechs
Tagen erschaffen können, weil er sich nicht
mit den Hinterlassenschaften der Vergangenheit herumschlagen musste, sondern
ein leeres Spielfeld vorfand. Den Luxus
haben wir nicht. Wir arbeiten zum Teil mit
dezentralen IT-Systemen der letzten 50 bis
60 Jahre. Dezentrale Lösungen sind flexibel
und schnell, aber sie führen in einem Großunternehmen zu sehr komplexen Strukturen,
die wiederum die Prozesse für das Gesamtunternehmen verlangsamen.
Würgen Sie das Innovationspotenzial
im Unternehmen mit diesem Zentralisierungsprogramm nicht ab?
Man braucht flexible Lösungen vor Ort – diese
jedoch auf einer gemeinsamen, skalierbaren
Plattform. So machen es auch Facebook,
Amazon, Apple, Google. Sie alle haben eine
gemeinsame Plattform, sind vor Ort aber
hochgradig flexibel. Wir konzentrieren uns
auf die Plattform, auf der alles andere aufsetzt. Auf der können die Leute vor Ort dann
ihre Innovationen entwickeln. Das Ziel ist
übrigens, dass lokale Innovationen von anderen Allianz Gesellschaften übernommen
werden können.
Mit dem Virtual Client wurde bei der
Allianz 2013 der mobile Arbeitsplatz eingeführt. Doch noch im letzten Jahr gab
es Beschwerden über lange Zugriffszeiten, stockende Anwendungen, Drucker
die den Dienst quittierten, und verlorene
Profildaten. Wie ist die Stimmung bei
den Nutzern derzeit?
Das mit den Profildaten war natürlich ärgerlich. Aber wir haben im vergangenen Jahr
sehr viel in den Allianz Virtual Client investiert, heute nutzen ihn bereits
über 40 000 Mitarbeiter in
zwölf Ländern. Und die
Allianz Journal_Das Letzte
GLOBAL
Ein undankbarer Job?
Das frage ich mich manchmal auch. (Lacht)
Ich bin ja für die IT schon seit 17 Jahren
verantwortlich. Am Anfang hatte mein Verantwortungsbereich ein Jahresbudget von
zehn Millionen Euro, heute liegen wir bei
3,5 Milliarden Euro. Das Einzige, was sich seit
Beginn nicht geändert hat, sind die Klagen:
zu langsam, zu teuer, nicht nutzerfreundlich
genug. Warum also macht man das? Sicher
steckt ein Stück Leidenschaft darin, aber ich
bin ja kein Masochist, der ständig »geprügelt«
werden möchte. So weit geht die Leidenschaft dann doch nicht.
Was ist es dann?
Sicher ist es dieses Hochgefühl, wenn man
als Team eine Lösung entwickelt, die einem
keiner zugetraut hat. Wenn man zum Beispiel ein globales Netzwerk für die Allianz
Gruppe auf die Beine stellt, von dem keiner
geglaubt hat, dass man es je hinkriegen wird.
Das ist wie ein Kick. Und es schweißt eine
Mannschaft zusammen, wenn man ständig
unter Feuer steht und unter diesem Druck
überzeugende Lösungen entwickelt. Ich
glaube, es ist diese Loyalität untereinander,
die die Mitarbeiter diesen Druck aushalten
30
Das Militär ließ sie als Erste aufsteigen, inzwischen aber dringen
unbemannte Flugobjekte zunehmend auch in den zivilen Sektor
vor. Das Zeitalter der Drohnen hat begonnen.
Roth
Beschwerden sind massiv zurückgegangen.
Natürlich läuft es nicht immer völlig fehlerfrei, schließlich handelt es sich um ein hochkomplexes System, doch Stabilität und
Verfügbarkeit sind signifikant gestiegen. Die
Boot-Zeiten und Bildwechsel sind heute um
ein Vielfaches schneller als zu Beginn. Daran
gewöhnt man sich natürlich sehr schnell.
Die Geschwindigkeit ist für die Kundenzufriedenheit ganz entscheidend und für uns
die größte Herausforderung. Sobald der
Browser mal etwas langsamer läuft, werden
die Leute sofort unzufrieden und vergessen,
dass sie über lange Strecken überhaupt keine
Probleme hatten.
Deutschland
Ralf Schneider
F RA N K ST ERN
lässt. Sonst würde das sicher kaum einer
machen.
Eine Klage lautet, AMOS sei im Marktvergleich zu teuer.
In den letzten Jahren lagen wir bei den Preisen
über der Benchmark. Doch im vergangenen
Jahr haben wir den Marktdurchschnitt mit
unseren Preisen unterboten. Unser Ziel ist
es, in den nächsten Jahren auch im Preisvergleich in die Spitze vorzurücken.
2014 wurde das Security Operations
Center gegründet, um die Allianz Systeme gegen Cyberattacken zu schützen.
Wie viele solcher Angriffe müssen Sie
täglich abwehren?
Es gibt ein Trommelfeuer an solchen Attacken,
die meisten sind aber relativ harmlos: Viren,
die als E-Mail-Anhänge verbreitet, PhishingDateien, die mit Dokumenten verschickt
werden und Ähnliches. Das sind Hundertausende, die aber mit wenig Aufwand
abgefangen werden können. Eine Handvoll
pro Tag überwindet die ersten Hürden, und
die oberste Kategorie sind jene, die relativ
weit vordringen, bevor wir sie unschädlich
machen. Doch noch nie ist es jemandem
gelungen, unsere Datenbestände zu korrumpieren, es gab noch keine Betriebsunterbrechungen aufgrund von Hackerangriffen, und
es wurden auch noch keine unserer Daten

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gestohlen. Im aktuellen Cyber-War gilt
natürlich immer die Einschränkung:
Soweit wir das wissen.
Wie groß ist das Team, das die Allianz
vor Cyber-Piraterie schützt?
In der AMOS haben wir zwei Einheiten, eine
in Indien mit etwa 50 Mitarbeitern und eine
ebenso große hier in München. Darüber
hinaus kooperieren wir mit externen ITFachleuten und arbeiten eng mit anderen
DAX-Konzernen im Verein Cyber Security
Sharing and Analytics an gemeinsamen Abwehrstrategien. Auch innerhalb der Allianz
Gruppe tauschen wir uns regelmäßig aus.
Wir haben große Sicherheitsabteilungen in
Deutschland und in Spanien. Auch Allianz
Life in den USA investiert viel in Cyber
Security. Der Druck ist so immens, dass die
Leute heute viel eher bereit sind, ihr Wissen
zu teilen, als früher.
Sie wollen die Zahl der Rechenzentren
von derzeit 140 auf fünf reduzieren. Wie
viele Arbeitsplätze wird das kosten?
Wir haben in Verhandlungen mit dem Allianz
SE-Betriebsrat Lösungen entwickelt, die eine
sozialverträgliche Anpassung sicherstellen.
Betriebsbedingte Kündigungen wird es nicht
geben. Ein Teil der Mitarbeiter wechselt zu IBM
oder zu anderen Partnerfirmen. Frei werdende
Stellen werden jedoch nicht neu besetzt.
microdrones
Zeit der Drohnen
Die Bandbreite reicht vom ferngesteuerten Vernichtungsschlag bis zur Präzisionsdüngung eines Weizenfelds, vom Erkundungsflug über die erogenen Zonen am
FKK-Strand bis zur Verfolgung illegaler Elfenbeinhändler.
Wie so viele Erfindungen des Menschen haben auch unbemannte Fluggeräte eine dunkle und eine segensreiche
Dimension. Nachdem das Militär die sinistere Seite be-
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reits ausgiebig ausgelotet hat, eröffnen sich inzwischen
immer mehr Möglichkeiten der friedlichen Nutzung –
die Drohne als Freund und Helfer.
»Drohnen werden in unserem Kerngeschäft weitreichende Veränderungen mit sich bringen«, sagt
Thomas Kriesmann von Allianz Global Corporate &
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Allianz Journal_Das Letzte
D EU T S C H L A ND
Senkrechtstarter
Die General Aviation-Underwriter der Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) bekommen alles auf den Tisch,
was fliegen kann – vom Flugmodell bis zum Passagierjet mit
Stern
60 Sitzen, vom Sportflugzeug bis zum Schwerlasthubschrau-
Specialty (AGCS) in München. »Deshalb sind wir als
Versicherer von Anfang an dabei.« Zum Beispiel bei der
GmbH im nordrhein-westfälischen Siegen, einer kleinen
High-Tech-Firma, deren Quadrocopter inzwischen in der
ganzen Welt herumschwirren – im Dienst der australischen Eisenbahn und der chinesischen Marine, bei der
Minensuche in Bosnien und der Vermessung von antiken Königsgräbern in Russland, bei der Beobachtung von
Wildtieren in Kenia und bei der Zählung von Pinguinen
in der Antarktis. Auch bei der Terroristenfahndung kamen
die geflügelten Spürhunde schon zum Einsatz.
2014 hatte das Logistikunternehmen DHL zusammen
mit microdrones erstmals einen »Paketkopter« aufsteigen lassen, um Medikamente über eine Strecke von
zwölf Kilometern vom Festland auf die Nordseeinsel Juist
zu befördern. Ein Jungfernflug auf kleiner Flamme: Der
fliegende Postillion konnte eine maximale Nutzlast von
1,2 Kilo stemmen. Doch die Branche denkt bereits in
ganz anderen Dimensionen. Statt ihre Transporter in den
nächsten Stau zu schicken, könnten Spediteure in einer
nicht allzu fernen Zukunft unbemannte SchwerlastCopter einsetzen. »Da entstehen gerade ganz neue
Märkte«, sagt Thomas Kriesmann, der bei der AGCS
ber. Mittlerweile zählen auch kommerzielle Drohnen – oder
microdrones-Geschäftsführer Sven Jürß zusammen mit seinem
Testpiloten Elmar Prinz
für das Underwriting im General Aviation-Bereich in
Deutschland und Osteuropa zuständig ist.
ist in Deutschland eine Haftpflichtversicherung gesetzlich
vorgeschrieben. Hobby- und Freizeitpiloten können ihre
Modelle bis fünf Kilo seit Oktober letzten Jahres in der Privathaftpflicht bei der Allianz Deutschland mitversichern.
Auf Sicht
Nur die Gesetzeslage verhindert derzeit noch den Höhenflug der ferngesteuerten Lastenträger. Unbemannte
Flugkörper unterliegen strengen Auflagen und dürfen
in Deutschland und anderen Ländern nur auf Sicht
geflogen werden – das Pilotprojekt von DHL hatte eine
Ausnahmegenehmigung. Wer Drohnen zu kommerziellen Zwecken einsetzt, muss zudem von den zuständigen
Behörden eine Aufstiegsgenehmigung einholen. Selbst
ein Hausbesitzer, der sein Dach ferngesteuert inspizieren
will, braucht dafür den amtlichen Segen. Hat er den nicht,
und sein fliegendes Auge geht auf Kollisionskurs, steht er
ohne Versicherungsschutz da.
Und die werden den Aufstieg der unbemannten Flugobjekte kaum bremsen. Pro Tag bekommen Kriesmann
und seine Kollegen schon jetzt zehn bis zwölf Anfragen
zum Thema Drohnenversicherung auf den Tisch. Und
das ist erst der Anfang. Die Möglichkeiten der Flugroboter
jedenfalls sind noch längst nicht ausgereizt. Aus der Filmindustrie sind sie bereits jetzt nicht mehr wegzudenken.
Waren für Luftaufnahmen bisher Helikopter mit Pilot und
Kameramann nötig, reicht heute ein Leichtgewicht mit
Karbonflügeln und eingebauter Kamera. Werbebranche,
Immobilienmakler, die Tourismusindustrie – alle gehen
in die Luft.
Auch für andere Einsatzfelder bietet die Drohnenperspektive unschätzbare Vorteile. Von der Inspektion von
Pipelines und Stromtrassen bis zur Verfolgung illegaler
Waldrodungen, von der Vermisstensuche in unwegsamem Gelände bis zur Vermessung von Baustellen oder
archäologischer Fundstätten – was bisher mit viel Aufwand verbunden war, wird zum Kinderspiel. Ein Grund,
weshalb Multicopter in der Miniversion inzwischen auch
unterm Weihnachtsbaum einen festen Landeplatz erobert haben.
Geburt einer neuen Industrie
Berichte über Drohnencrashs gingen schon öfter durch
die Presse. Wie im Frühjahr letzten Jahres, als ein Ge-
Bei microdrones in Siegen hat man den Trend frühzeitig
erkannt. 2005 gegründet zählt das Unternehmen heute
zu den führenden Anbietern von selbst fliegenden Senkrechtstartern in der Gewichtsklasse unter 25 Kilo. »Wir
werden gerade Zeugen der Geburt einer neuen Industrie«,
schwärmt microdrones-Chef Sven Jürß. Das mag man
kaum glauben, wenn man aus seinem Fenster sieht. Der
Firmensitz liegt an einem grasbewachsenen Hügel, hinterm Haus weiden Kühe, und am Waldesrand sagen sich
vermutlich Fuchs und Hase gute Nacht.
alle Fotos: microdrones
Die Einsatzmöglichkeiten
der Überflieger sind vielfältig
und reichen vom Schutz von
Nationalparks bis zu Suchund Rettungseinsätzen der
Polizei, von der Unfallaufnahme bis zur Expresslieferung
von Medikamenten
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Multicopter – dazu. Für den Betrieb der Senkrechtstarter
rät auf der Autobahn bei Bochum einem Fahrer in die
Windschutzscheibe knallte. Oder ein Jahr zuvor, als
ein Hexacopter bei einem Triathlon in Australien eine
Teilnehmerin verletzte. Oder 2013, als in New York ein
19-Jähriger tödlich verletzt wurde, als seine Drohne außer
Kontrolle geriet und ihn am Kopf traf. »Die Gefahr ist
nicht zu unterschätzen«, sagt Kriesmann. »Aber das sind
bisher noch Ausnahmen.«
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Allianz Journal_Das Letzte
D EU T S C H L A ND
Und genau hier hat Jürß’ Vater Ende der 90er Jahre seinen ersten Vierflügler zusammengeschraubt. Udo Jürß
hatte mit einem Freund gewettet, dass er ein Gerät mit
vier Rotoren bauen kann, das besser fliegt als ein Modellhelikopter. Und er gewann. Die »Urdrohne«, ein simples
Plastikgestell mit vier Propellern, hängt heute an der
Bürowand seines Sohnes.
Inzwischen ist microdrones in Fachkreisen in aller Welt
ein Begriff; aus der Siegerländer Bastelstube ist ein mittelständisches Unternehmen mit 25 Mitarbeitern geworden, das auf dem Gebiet der unbemannten Flugroboter
Maßstäbe setzt. In seiner Entwicklungsabteilung tüfteln
Deutsche, Tschechen und Indonesier an immer neuen
Details. In diesem Jahr kommt mit der MD4-3000 das
jüngste Produkt aus der Siegener Drohnenschmiede auf
den Markt – ein Hightechgerät, das bis zu 45 Minuten
in der Luft bleiben und dabei eine Nutzlast von drei Kilo
tragen kann.
Wenn Sven Jürß die letzten Jahre Revue passieren lässt, ist
er immer noch erstaunt, wie schnell die technische Entwicklung in dieser Zeit vorangeschritten ist. »Ich dachte,
dass mein Sohn vielleicht irgendwann mal erleben wird,
wie Pakete mit Drohnen ausgeliefert werden. Jetzt sind
dpa / picture-alliance
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wir dazu selbst in der Lage. Unglaublich.« In seiner aktuellen Zukunftsvision verfügen Häuser standardmäßig über
Versorgungsschächte, wo Drohnen ihre Pakete abliefern
können. »Die automatisierte Zustellung wird kommen«,
ist Jürß sicher. »Wahrscheinlich schneller, als man denkt.«
Amazon hat in den USA bereits einen speziellen Flugkorridor für kommerzielle Lieferdrohnen ins Gespräch gebracht, der per Computersystem überwacht werden soll.
Neue Terrorstufe befürchtet
Allerdings ist dazu eine Regelung nötig, die das programmierte Fliegen ohne Sichtkontakt durch einen Piloten
erlaubt. »Es gibt keinen Grund, warum Pipelinebetreiber,
Stromkonzerne oder Transportunternehmen diese
Technik nicht in großem Maßstab nutzen sollten«, sagt
Jürß. Für Allianz Global Corporate & Specialty würden
sich dadurch ganz neue Geschäftsfelder eröffnen: »Da
kommen gravierende Veränderungen auf uns zu«, ist
Thomas Kriesmann sicher.
Und neue Risikoszenarien. 2014 wurden über wenigstens
einem Dutzend Nuklearanlagen in Frankreich Drohnen
gesichtet. Vor dem Weißen Haus legte eine Drohne
eine Bruchlandung hin, eine andere ging auf dem Dach
des japanischen Premiers nieder. Sicherheitsexperten
befürchten bereits die nächste Eskalationsstufe des Terrorismus. Auch die Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen mit Rettungshubschraubern, Sportfliegern oder
Düngeflugzeugen steigt. Die Industrie schaltet dennoch
einen Gang höher: Nach Schätzungen der Teal-Gruppe,
einem auf Luftfahrtthemen spezialisierten Beratungsunternehmen, wird sich das Umsatzvolumen auf dem
Markt für kommerzielle und Freizeitdrohnen in den
nächsten zehn Jahren auf über 90 Milliarden Dollar mehr
als verdreifachen.
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Anfang Januar hat die chinesische Firma Ehang auf der Consumer Electronics Show
in Las Vegas die erste Drohne vorgestellt, die einen Menschen transportieren kann.
Die Ehang 184 ist in der Lage, eine Last von bis zu 100 Kilo aufzunehmen und damit
23 Minuten in der Luft zu bleiben. Höchstgeschwindigkeit: 100 km/h. Die Drohne wird
von einem Flugzentrum aus gesteuert, die Navigation erfolgt vollautomatisch
Die Schatztruhe
von Güldengossa
Geiger Edelmetalle
Ein Schloss mit kriegerischer Geschichte, Goethe und Bach als Kronzeugen und
jede Menge Gold und Silber – aus diesen Zutaten hat die Firma Geiger Edelmetalle
ein traditionsgeladenes Marketing-Konzept gebastelt. Die Sache funktioniert.
F RA N K ST ERN
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alle Fotos: Geiger Edelmetalle
Von der denkmalgeschützten Schaltwarte des ehemaligen Kraftwerks
Espenhain aus steuert Geiger heute Produktion und Vertrieb. Besonders stolz
ist Geschäftsführer Rolf Müller-Syring auf die größte Silbermünze der Welt,
die Geiger im vergangenen Jahr präsentierte
Gut möglich, dass Johann Sebastian Bach einst durch
das Portal des kleinen Barockschlosses von Güldengossa
geschritten ist und sich mit Ernst Kregel von Sternbach,
dem Hausherrn, über den Kauf von edlem Metall beraten
hat. Beide hatten Anteile an sächsischen Silberminen –
soviel steht fest. Dass Bach tatsächlich in Güldengossa
war, ist dagegen nur eine Vermutung, räumt Rolf MüllerSyring, Geschäftsführer der Geiger Edelmetalle, ein.
»Doch warum sollte der Musiker nicht beim Taufpaten
seines Sohnes vorbeigeschaut haben, der ihm zum
Kantorsposten im nahen Leipzig verholfen hatte?« Im
Nachbarort sei er 1723 zu einer Orgeleinweihung ja
schließlich auch gewesen.
Auch Goethe war in Güldengossa kein Unbekannter, hat
er doch vom Sohn des seinerzeitigen Schlossbesitzers,
einem Leipziger Bankier, Platin und Silber gekauft. Die
Kopie eines seiner Orderbriefe hängt heute im Schloss,
das der schwäbische Unternehmer Adalbert Geiger,
Inhaber der Geiger Edelmetalle, 2006 übernommen und
aufwändig restauriert hat. Mittlerweile ist das Gebäude,
vor dessen Toren 1813 die Völkerschlacht gegen Napoleon tobte, repräsentativer Stammsitz der Firma, wo
Kunden Gold-, Silber- und Kupferbarren, Medaillen und
Münzen erwerben und bei Bedarf in Schließfächern im
Kellergewölbe deponieren können. Die Allianz versichert
die Schatztruhe.
Weniger gediegen geht es zehn Kilometer weiter südlich
in Espenhain zu, mit seinen Braunkohlengruben und
Chemiebetrieben einst als dreckigste Ecke Europas ver-
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schrien. In einer ehemaligen Schaltwarte aus den 30er
Jahren, hinter Stacheldraht, Überwachungskameras,
Bewegungsmeldern und Zugangsschleuse hat Geiger
2011 seine Produktion aufgenommen. Seither werden
hier jedes Jahr Berge an Edelmetallen geprägt und gegossen. 2015 waren es nicht weniger als 250 Kilo Gold,
15 Tonnen Kupfer und 20 Tonnen Silber.
Die größte Silbermünze der Welt
Im vergangenen Jahr präsentierte die Firma auf der
Edelmetallmesse in München die mit 54 Kilo und einem
Durchmesser von 65 Zentimetern größte Silbermünze
der Welt. Preis: 89 500 Euro. Ohne Mehrwertsteuer.
Die limitierte Auflage des Schwergewichts, das von der
Elfenbeinküste herausgegeben wird, betrug 15 Stück.
»In dem Geschäft muss man immer wieder mit einer
Neuheit auf sich aufmerksam machen«, erklärt MüllerSyring, als er den Supertaler vorführt. Von der leichter
zu verstauenden Ein-Unzen-Münze mit dem Elefanten
auf der Vorderseite wurden 1000 Stück aufgelegt.
Nicht weniger stolz ist der Leipziger auf die Silbermünze
»Arche Noah«, die Geiger seit 2011 im Auftrag der
Armenischen Zentralbank prägt und weltweit vertreibt.
»Dass dafür ein kleiner Mittelständler ausgewählt wurde
statt einer staatlichen Münze, das passiert auch nicht alle
Tage«, sagt der Geschäftsführer. Geiger ist die einzige
private Prägeanstalt Deutschlands, die eine Anlagemünze
eines souveränen Staates produziert.
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Und die Nachfrage ist groß: Pro Jahr wechseln rund
eine Million Arche Noah-Münzen der verschiedenen
Gewichtsklassen den Besitzer. Die teuerste wiegt fünf
Kilo und wird auf der größten Presse geprägt, die sich
in Geigers Maschinenpark finden lässt – ein Koloss
von 40 Tonnen mit einer Prägekraft von 2,5 Tonnen.
Die Stempel aus gehärtetem Edelstahl müssen makellos
sein, jedes Staubkorn, jedes Haar könnte die Prägung
verunreinigen. Qualität, Gewicht und Reinheitsgehalt
der Silber-Münzen werden regelmäßig von der
Armenischen Zentralbank geprüft.
Sachsen aber, so ist er sicher, ist noch nicht gesprochen. Geologe Jens Kirste von der Geiger-Tochter
Leipziger Edelmetallverarbeitung sieht das genauso:
»Die oberflächennahen
Bereiche der
Mit dem Kauf des Schlosses in Güldengossa
2006 und der Verlegung seines Stammsitzes
von Baden-Württemberg nach Sachsen ist
Adalbert Geiger näher an die Ursprünge der
deutschen Silbertradition herangerückt.
Die hatte mit der Entdeckung ergiebiger
Vorkommen in der Nähe des heutigen
Freiberg im 12. Jahrhundert ihren Ausgang
genommen; 1218 wurde in Leipzig die erste
Silberbörse der Welt eröffnet. Das graue
Metall – schon von Assyrern, Griechen, Römern und Ägyptern geschätzt und zeitweise
wertvoller als Gold – versetzte das Erzgebirge in
einen veritablen Silberrausch. Mit dem Übergang
zum Goldstandard 1871 verfiel jedoch sein Wert,
der sächsische Silberbergbau verlor an Bedeutung.
Der studierte Historiker Müller-Syring kennt jedes Detail
dieser Geschichte. Das letzte Wort zum Silberbergbau in
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Die größte
Silbermünze
der Welt
Allianz Journal_Das Letzte
D EU T S C H L A ND
Amerika
beide Fotos: Geiger Edelmetalle
Old Broderick
kehrt heim
Aus dem Silbergranulat werden Barren, Medaillen und Münzen hergestellt.
Im vergangenen Jahr wurden in Espenhain rund 20 Tonnen Silber verarbeitet
Goldenes Zeitalter
Wismut, Kobalt und Nickel habe man in einem der Stollen
bereits gefunden, sagt Jens Kirste und hält ein Stück
funkelndes Erz in die Höhe. Dass Kobalt silbrig glänzt, hat
ihm bei enttäuschten Schatzsuchern einst den Namen
»Scheißspat« eingetragen. Aber auch der ist heute in der
Industrie begehrt, sagt Kirste. Bei einer Großprobe soll
in diesem Jahr eine Tonne Erz gefördert und auf seine
Zusammensetzung untersucht werden. Würde man auf
ausreichend Silber stoßen, könnte Geiger irgendwann
Förderung, Verhüttung, Verarbeitung und Vertrieb in
einer Hand vereinen.
Geiger Edelmetalle hat das Schloss von Güldengossa zu
seinem Markenzeichen gemacht, unter dem die Firma
ihre Produkte an Kunden in mehr als 30 Ländern vertreibt – von Deutschland bis Australien, von der Schweiz
bis in die USA. Fast hätte das Unternehmen sich ein anderes Qualitätssiegel suchen müssen, denn es fehlte nicht
viel, und Ort und Schloss wären dem Braunkohltagebau
zum Opfer gefallen. Kurz vor dem 400-Seelendorf aber
kamen die Bagger zum Stehen. »Die Ergiebigkeit der
Kohlenflöze war hier wohl zu gering«, vermutet MüllerSyring. Südlich von Güldengossa, da wo die Stahlmonster
einst die Erde aushöhlten, erstreckt sich heute der
Störmthaler See, ein Naherholungsgebiet.
Wie durch ein Wunder hatte das Schloss schon die
Völkerschlacht 1813 überstanden. Während die Front
mehrfach über Güldengossa hinwegrollte und das Dorf
in Schutt und Asche fiel, blieb der 1720 erbaute Herrschaftssitz verschont: Er diente beiden Kriegsparteien
als Lazarett. 200 Jahre später hat in dem barocken Gemäuer ein neues Zeitalter begonnen. Wenn alles gut
geht, ein goldenes – wie es sich für ein Schloss gehört.
Fireman’s Fund
ehemaligen Abbaugebiete sind ausgeerzt«, sagt er, »aber
in manchen Revieren werden noch große Silberlinsen und
ertragreiche Silberadern vermutet.« Um an die heranzukommen, hat sich Adalbert Geiger 2010 beim Sächsischen
Oberbergamt für ein altes Revier im Erzgebirge die Bergbaurechte gesichert.
Fireman’s Fund ist Geschichte. Und das im doppelten Wortsinn. 152 Jahre war
das Unternehmen Teil der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der USA,
die letzten 24 davon unter dem Dach der Allianz. Sein historisches Archiv wurde
im vergangenen Jahr auf öffentliche Einrichtungen und Kommunen verteilt.
Ein Teil ging an das Firmenhistorische Archiv der Allianz in München.
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J ESSICA BUCHL EIT N ER
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Allianz Journal_Das Letzte
beide Fotos: Fireman’s Fund
AM ERI KA
Mitglieder der Feuerwehr von San Francisco nahmen Old Broderick vor dem Rathaus der Stadt in Empfang
Absicherung gegen Naturkatastrophen und Unfälle und der
Deckung großer Bauvorhaben war Firemen’s Fund auch der
führende Versicherer der amerikanischen Unterhaltungsbranche, von Kinofilmen, TV-Serien und Konzerten.
Der 22. Oktober 2015 war ein warmer, sonniger Tag, was
im sonst oft nebligen San Francisco nicht so oft vorkommt.
Die Mitarbeiter der Feuerwehr von San Francisco säumten
mit ihren modernen Rettungsfahrzeugen die Straßen vor
dem Rathaus. »Old Broderick«, ein Veteran der Feuerwehrgeschichte, sollte gleich seinen großen Auftritt haben. Es
war das erste in Kalifornien gebaute Löschfahrzeug und
kehrte 160 Jahre, nachdem es das erste Feuer gelöscht hatte,
nach Hause zurück.
Der Feuerfresser
Broderick Engine No. 1 trug einst den Namen »The Fire Eater«,
der Feuerfresser, und war im Jahr 1855 der ganze Stolz der
freiwilligen Feuerwehr von San Francisco. In den 1850er
Jahren war San Francisco eine Stadt im Aufschwung, gebaut
aus Holz, Wagenplanen und Ziegelsteinen. In den Jahren
1850 und 1851 gab es sechs große Brände, die die Stadt
beinahe zerstörten. Das Feuerlöschen mit Old Broderick war
bei weitem keine leichte Aufgabe: 40 Freiwillige waren nötig,
um das Wasser aus der Maschine zu pumpen. Die meisten
Löschfahrzeuge wurden beim Großfeuer nach dem Erdbeben von 1906 zerstört. Old Broderick jedoch überstand die
Katastrophe.
»Es handelt sich hier um das wertvollste geschichtliche
Andenken in San Francisco«, sagte Donna Huggins von der
Organisation Panama Pacific International Exposition Centennial, bei der Übergabe. »Nur wenige Gegenstände haben
diese Zeiten überstanden, insbesondere nach dem Erdbeben
von 1906. Es gibt kaum ein wertvolleres Stück.«
Die Feuerwehrmannschaften standen Spalier, als das auf
Hochglanz polierte Fahrzeug vor der City Hall aufgefahren
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wurde. Die lokalen Medien waren vor Ort, um über das
Spektakel zu berichten, und Touristen blieben staunend
stehen und machten Selfies vor dem Fahrzeug. San
Francisco’s Feuerwehrchefin Joanne Hayes-White dankte
in ihrer Rede der Allianz für das Geschenk und hob das ehemalige Fireman’s Fund Heritage-Programm hervor, das in
den vergangenen Jahren die Stadt auf vielfältige Weise unterstützt hatte. In Zeiten von Budgetkürzungen sei die Feuerwehr auf finanzielle Hilfen für den Kauf von lebensrettenden
Gerätschaften angewiesen, so Hayes-White. Seit 2004
wurden dank des Programms über 32 Millionen US-Dollar an
finanziellen Hilfen für die Feuerwehren in allen 50 Staaten
gesammelt, davon fast zehn Millionen für Kalifornien.
Die Geschichte des Fireman’s Fund ist eng mit der der Stadt
San Francisco verknüpft. Die Entdeckung von Gold am
Sutter’s Fort im Januar 1848 löste einen Zustrom von Goldsuchern und Abenteurern aus der ganzen Welt aus. Gesetzlosigkeit und Kriminalität herrschten auf den Straßen, doch
die größte Bedrohung ging von Bränden aus. Daher riefen
besorgte Amtsträger eine freiwillige Feuerwehr ins Leben.
Mit dem weiteren Wachstum San Franciscos entstand auch
ein erhöhter Bedarf an Feuerversicherungen. Nur wenige
der Unternehmen an der Ostküste boten solche Versicherungen an – und schon gar nicht im erforderlichen Umfang.
Die Fireman’s Fund Insurance Company wurde im Jahr 1863
von einigen Geschäftsmännern aus San Francisco gegründet.
Die Idee war, Wohnungen, Unternehmen und Geschäfte der
City zu schützen und zehn Prozent des Nettogewinns an den
gemeinnützigen Fonds der Feuerwehr von San Francisco zugunsten von behinderten Feuerwehrmännern, von Witwen
und Waisen zu zahlen. Am 6. Mai 1863 wurde die Satzung in
Sacramento (Kalifornien) eingereicht. Mit einem Startkapital
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Eine besondere Bewährungsprobe war der 11. September
2001. Als das erste Flugzeug im World Trade Center in New
York einschlug, sorgten Art Moossmann, der damalige Vizepräsident der Transportversicherung, und sein Führungsteam dafür, dass alle Mitarbeiter heil aus dem Gebäude
kamen: 48 Etagen zu Fuß bis alle in Sicherheit waren.
Feuerwehrchefin Joanne Hayes-White zusammen
mit Feuerwehrpensionär Bill Koenig, dem Leiter des
Feuerwehrmuseums von San Francisco
von 200 000 Dollar nahm das neue Unternehmen dann
in einem winzigen Innenstadtbüro in San Francisco seine
Tätigkeit auf.
Zeuge der Geschichte
Fireman’s Fund hat im Laufe seiner Geschichte viele Katastrophen miterlebt. Eine der verheerendsten war der Großbrand
in Chicago von 1871, bei dem das Unternehmen Verluste von
über einer halben Million Dollar erlitt – mehr als seine damaligen Vermögenswerte betrugen. Dennoch sagte es zu, alle
Schadenforderungen zu begleichen, was mit Unterstützung
der Versicherungskunden innerhalb von 60 Tagen auch gelang. Die Regelung sah vor, die Hälfte der Schäden sofort und
den Rest mit einem verzinslichen Schuldschein auszuzahlen.
Das Firmenhistorische Archiv des Fireman’s Fund umfasste
rund 165 laufende Meter Unterlagen, Fotos, Bücher, Videos
sowie alte Büroartikel, einschließlich silberner Tintenfässer
aus dem 19. Jahrhundert. Vieles davon ging an Bibliotheken
und Museen. Die fünf alten Original-Feuerwehrfahrzeuge,
die an fünf Fireman’s Fund-Standorten in den USA untergebracht waren, sind jetzt an lokale Feuerwehren und
Kommunen übergeben worden. Was nicht überall ganz
leicht war.
In Alpharetta und Chicago mussten die alten Fahrzeuge
zunächst demontiert werden, um sie aus den Gebäuden
zu bekommen. In Chicago zerlegte das Geräteteam des
Feuerwehrmuseums in einer vierstündigen Operation das
komplette Fahrzeug. Das Museum hofft, es in naher Zukunft
auf Paraden und Gemeindeveranstaltungen vorführen zu
können. In einem anderen Fall wurde ein Feuerwehrwagen
aus dem Jahre 1919 über 6000 Meilen an seinen ursprünglichen Einsatzort transportiert und an eine kleine Feuerwehr
in Kansas übergeben. Der Rest des Fireman’s Fund-Archivs
geht an das Firmenhistorische Archiv der Allianz in München.
Das Unternehmen versicherte 1896 während des KlondikeGoldrauschs zwei berühmte Goldtransporte, das Flugzeug
»Spirit of St. Louis«, das Charles Lindbergh bei seinem ersten
Non-Stop-Flug von New York nach Paris im Mai 1927 steuerte, und 1930 den Bau der Golden Gate Bridge. Neben der
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Allianz Journal_Das Letzte
Asien
Schlafender Riese
F RAN K STE R N
der Absicherung von chinesischen Investitionen im Ausland haben wir uns eine gute
Position erarbeitet. Investitionen von Privatunternehmen sind dagegen eingebrochen,
vor allem im Energiesektor. Normalerweise
macht der 25 Prozent unseres Portfolios aus,
derzeit sind es nur 20. Die Zahl der Börsengänge ist ebenfalls zurückgegangen – und
damit auch der Absatz unserer finanziellen
Absicherungen.
Mark Mitchell
Mr. Mitchell, Asiens Börsen haben in den
letzten Monaten eine Achterbahnfahrt
hingelegt, Chinas Wirtschaft schwächelt.
Wie wirkt sich das auf ihr Geschäft aus?
Weniger als befürchtet. China investiert
weiterhin kräftig in den Ausbau seiner Infrastruktur, insbesondere im Bereich Schiene.
Da sind wir gut im Geschäft. Und auch bei
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Sie begleiten die Expansion chinesischer
Unternehmen ins Ausland?
Das ist derzeit unser absoluter Fokus. Wir
beobachten, wo die staatlichen und privaten
Investitionen erfolgen und bieten unsere
globalen Versicherungsprogramme an. Für
chinesische Kunden ist das ein relativ neues
Konzept, und es wird einige Zeit brauchen,
diese Idee im Markt zu etablieren. Die globale
Reichweite aber ist einer unserer wesentlichen
Vorteile gegenüber chinesischen Versicherern.
Wo investieren die Chinesen
vorwiegend?
Im Energiebereich, in der Nahrungsmittelund Getränkeindustrie, im Infrastruktursektor.
Wir begleiten viele chinesische Baufirmen,
die Projekte in Afrika, im Nahen Osten und in
Südasien übernehmen, in geringerem Umfang auch in den USA und Europa.
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Wo in Asien macht AGCS den größten
Umsatz?
In Singapur. Dabei handelt es sich vorwiegend um Rückversicherungsgeschäft, unter
anderem aus Malaysia, Thailand, Indien,
Korea und Japan. Nach Prämieneinnahmen
sind wir hinter Lloyd’s der zweitgrößte Rückversicherer in Singapur. Weniger gut sieht
es im Erstversicherungsgeschäft aus. Wir
haben Geschäftslizenzen für Singapur,
Hongkong und Japan, doch schöpfen wir
die Möglichkeiten in diesen Märkten noch
nicht genügend aus. Das Wachstum im
letzten Jahr war etwas enttäuschend, auch
wenn wir sehr profitabel waren. Unser Ziel
ist es, den Gesamtumsatz der AGCS in Asien
bis zum Jahr 2020 auf rund 500 Millionen
Euro zu verdoppeln.
Australien gehört nicht zu Ihrem
Geschäftsbereich?
Eine der Anomalien unserer derzeitigen Aufstellung. Die meisten unserer Wettbewerber
und vor allem die meisten unserer Makler
operieren in der Region Asien-Pazifik, was
Australien einschließt. Wir steuern unser
Geschäft getrennt: Asien von Singapur aus,
Australien von London.
Angesichts unsicherer Konjunkturaussichten scheint die Verdopplung der
Einnahmen bis 2020 recht ambitioniert.
Wie wollen Sie das schaffen?
Die Rahmenbedingungen sind nicht einfach.
Unser Geschäft hängt maßgeblich von der
wirtschaftlichen Großwetterlage ab. Doch
viele Regierungen in der Region versuchen
derzeit, ihre Wirtschaft durch Infrastrukturinvestitionen anzukurbeln. Davon können
wir profitieren. Trotz der aktuell verhaltenen
Konjunkturprognosen stellen wir weiter Leute
ein, vor allem, um unseren Kundenservice
zu verbessern. Zugleich verstärken wir die
Kooperation mit Allianz Gesellschaften in
der Region. Mit Euler Hermes läuft die Zusammenarbeit bereits hervorragend, und
seit kurzem sind wir als Rückversicherer der
Allianz Malaysia für deren Transport- und
Schiffsversicherungsgeschäft tätig.
Gibt es Pläne, in neue Märkte zu
expandieren?
Im vergangenen Jahr haben wir in Myanmar
(Burma) als eines der ersten ausländischen
Versicherungsunternehmen ein Repräsentationsbüro eröffnet. Derzeit begleiten wir
als Rückversicherer internationale Allianz
Kunden, die in dem Land tätig sind. Dabei
arbeiten wir mit der größten Versicherungsgesellschaft des Landes zusammen. Noch ist
Myanmar weitgehend abgeschottet, doch
wenn sich der Markt irgendwann öffnet,
könnten wir unser Büro in Rangun in eine
Geschäftsstelle umwandeln. Eine Repräsentanz zu diesem frühen Zeitpunkt ist auch
ein Zeichen, dass wir es ernst meinen mit
unserem langfristigen Engagement in Asien.
Noch steckt der Versicherungsmarkt von
Myanmar in den Kinderschuhen. Doch Fachleute gehen davon aus, dass sich die Prämieneinnahmen in 15, 20 Jahren im MultimilliardenDollar-Bereich bewegen werden.
Um in Burma erfolgreich Geschäfte
zu betreiben, braucht man gute Beziehungen zum Militär. Das könnte ein
Reputationsrisiko darstellen.
Es gibt Privatpersonen und Unternehmen, für
die weiterhin Sanktionen gelten. Wir haben
ein sehr gründliches Auswahlverfahren für
Firmen, mit denen wir eventuell zusammenarbeiten wollen, das alle Hinderungsgründe
berücksichtigt. Eine Marktanalyse hat gezeigt,
dass von den 1000 Top-Firmen des Landes
für uns 50 bis 60 als Geschäftspartner in
Frage kommen.
beide Fotos: Stern
Mark Mitchell, Chef von Allianz Global Corporate &
Specialty (AGCS) in Asien, über Wachstum in Zeiten
schwacher Konjunktur und über Wege aus dem
Schattendasein.
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Allianz Journal_Das Letzte
Stern
AS I EN
Auch wenn die chinesische Wirtschaft derzeit schlingert, sieht
Mark Mitchell gute Chancen für den Ausbau des Geschäfts in Asien.
Im vergangenen Jahr eröffnete AGCS eine Repräsentanz in Burma
AGCS in Asien
Allianz Global Corporate & Specialty
(AGCS) hat in Asien insgesamt rund
300 Mitarbeiter und ist seit acht Jahren
mit Geschäftsstellen in Japan, Hongkong
und Singapur vertreten. Daneben sind
AGCS-Mitarbeiter unter dem Dach der
Da wird das nötige Wachstum für eine
Verdopplung des Umsatzes bis 2020 also
eher nicht herkommen.
Wir haben verschiedene Eisen im Feuer. In
China, wo unter dem Dach der Allianz China
rund 30 AGCS-Mitarbeiter tätig sind, haben
wir unsere Geschäftsziele drei Jahre in Folge
übertroffen. Südkorea, wo wir derzeit nur als
Rückversicherer tätig sind, wäre ein interessanter Markt fürs Erstversicherungsgeschäft.
Allianz Asia Pacific (AZAP) prüft ebenfalls
Möglichkeiten, neue Märkte zu erschließen.
Bei einigen würden wir uns gern dranhängen.
Welche?
Die Philippinen zum Beispiel. Dort haben wir
keine Erstversicherungslizenz, sind aber als
Rückversicherer bereits sehr erfolgreich unterwegs. Darüber hinaus erleben wir derzeit eine
verstärkte Nachfrage nach Spezialangeboten.
Als ich 1999 nach Asien kam, war der Markt
sehr übersichtlich: Normale Sachversicherungen und die Arbeiterunfallversicherung
waren die gängigsten Produkte. Heute gibt
es eine Vielzahl von Nischenangeboten für
alle möglichen Bereiche. Da sehe ich für uns
große Chancen.
Was hat AGCS, was andere nicht haben?
Wir arbeiten zum Beispiel gerade daran,
das Fachwissen, das Fireman’s Fund über
Jahrzehnte im Entertainment-Business aufgebaut hat, für Asien zu erschließen. Noch in
diesem Jahr werden wir ein entsprechendes
Angebot auf den Markt bringen. Da sind wir
so gut wie konkurrenzlos.
Denken Sie an Bollywood?
Nicht nur. Fünf der zehn größten Film- und
Fernsehproduktionsfirmen der Welt haben
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ihren Sitz in Asien. Aus Indien, China, Korea,
Japan und Hongkong kommt die Hälfte
aller Film- und TV-Produktionen weltweit.
Bisher haben wir dieses Potenzial nicht
genutzt. Dann sehe ich auf dem Gebiet der
Umwelthaftpflicht große Möglichkeiten. In
einigen Ländern wie China oder Südkorea
wird darüber diskutiert, eine Versicherungspflicht für Umweltschäden einzuführen. Das
würde einen riesigen Markt eröffnen. Seit
neuestem bieten wir unseren Kunden auch
Unterstützung im Krisenmanagement an,
wir haben Versicherungen gegen Entführung und Erpressung im Angebot oder auch
den Schutz im Falle von Rückrufaktionen für
fehlerhafte Produkte.
Allianz China sowie von Bajaj Allianz in
Indien tätig. Asienweit betreut der Industrieversicherer der Allianz Gruppe rund
7000 Unternehmen. Seit 2014 wird die
Einheit von dem Australier Mark Mitchell
geführt, der zuvor von Hongkong aus
zwei Jahre lang das Chinageschäft der
AGCS leitete. Bevor er zur Allianz wechselte, war Mitchell unter anderem für
CHUBB und Royal Sun Alliance in Asien
tätig. Im vergangenen Jahr lagen die Prämieneinnahmen der AGCS in Asien bei
rund 250 Millionen Euro, die Gewinnmarge
überstieg die Pläne um das Fünffache.
Der Industrie- und Spezialversicherer ist
in Asien an einer Vielzahl hochkarätiger
Sehr aktuelles Thema.
Lange Zeit war das Kundeninteresse an
einer solchen Absicherung in Asien eher
verhalten. So krass Fälle wie bei VW für das
betreffende Unternehmen sind, sie sorgen
zumindest dafür, dass Kunden die drohenden Gefahren stärker wahrnehmen und wir
mehr Gehör für unsere Vorschläge finden.
Die AGCS ist als eigenständige Einheit
erst seit acht Jahren in Asien unterwegs.
Ist dieser späte Einstieg ein Handicap?
Wir müssen uns auf breiter Front erst noch
einen Namen machen. Viele im Markt betrachten uns als eine Art schlafender Riese,
auch wenn unsere Wachstumsraten – 2014
lagen sie bei über 25 Prozent – durchaus
registriert werden. Die Zusammenarbeit
mit internationalen Maklerhäusern läuft
sehr gut. Nachlegen müssen wir bei der
Kooperation mit lokalen Vermittlern. In
Hongkong zum Beispiel werden 40 Prozent
des Industrieversicherungsgeschäfts über
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Infrastrukturprojekte beteiligt, darunter
am Bau der längsten Brücke der Welt von
Hongkong nach Macao, am Ausbau des
internationalen Flughafens in Singapur
sowie an einer Reihe von U-Bahn-Bauten
in Chinas Megacitys. Im letzten Jahr konzipierte Mitchells Team ein Versicherungsprogramm für die Geschäftsaktivitäten
des französischen Energieversorgers
Engie in Asien und im Nahen Osten. Engie
ist nach Prämienvolumen der derzeit
größte Kunde der AGCS Asien.
W W W. AG C S . A L L I A N Z .C O M
Gemüse auf
Rundkurs
globale Maklerfirmen abgewickelt, weitere
40 Prozent aber über lokale Anbieter. In der
internationalen Szene kennt und vertraut
man uns. Auf lokaler Ebene müssen wir dieses Vertrauen noch gewinnen.
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kurs werden sie gleichmäßig mit Licht, Wasser und Nährstoffen
versorgt. Die Vertikalmethode erzielt im Vergleich zum
traditionellen Landbau bis zu zehnmal höhere Erträge.
90 Prozent seines Nahrungsmittelbedarfs deckt Singapur
über Importe ab. Was die Versorgung seiner 5,5 Millionen
Einwohner mit Gemüse angeht, ließe sich die Abhängigkeit
deutlich reduzieren, sagt Ngiam Tong Tau, Vorsitzender von
Sky Urban Solutions, der Muttergesellschaft von Sky Greens.
»Wir könnten die Selbstversorgung auf diesem Gebiet leicht
von derzeit sieben auf 30 Prozent steigern. Die Regierung
müsste uns nur mehr Land zur Verfügung stellen.« Land aber
ist das Einzige, woran es in Singapur mangelt.
Stern
Nach Berechnungen der Vereinten Nationen
werden im Jahr 2050 auf der Erde knapp zehn
Milliarden Menschen leben, fast sieben Milliarden
davon in Städten. Um alle versorgen zu können,
müsste die Nahrungsmittelproduktion bis dahin
um 70 Prozent steigen, sagen Experten. Singapur
zeigt, wie es geht.
F RAN K ST E R N
Unschlagbar niedrig
Singapur gilt in vielen Bereichen als Vorreiter; als Trendsetter
in Sachen Landbau dürften den Stadtstaat bislang die Wenigsten auf dem Schirm gehabt haben. Und doch läuft im
Schatten der berühmten Skyline gerade ein Feldversuch ab,
der die Landwirtschaft revolutionieren könnte. Im August
erhielt das Projekt den mit 100 000 Euro dotierten Index
Award, dem wichtigsten Design-Preis der Welt.
Während London in den Untergrund geht und in alten
Luftschutzanlagen aus dem 2. Weltkrieg tief unter der Stadt
Gemüse züchtet, strebt man in Singapur eher himmelwärts.
Auf einem 3,65 Hektar großen Areal im Nordwesten der
Insel startete Jack Ng vor sechs Jahren unter dem Namen Sky
Greens die erste vertikale Farm der Welt. Deren Herzstück
sind neun Meter hohe Aluminiumgestelle, auf denen Wannen
mit Gemüsepflanzen rotieren. Auf ihrem gemächlichen Rund-
20 Mitarbeiter ernten derzeit pro Tag rund eine Tonne Gemüse
Das Problem haben andere Staaten nicht. Dort fehlt es eher
an guten Böden oder an ausreichend Wasser – oder an beidem. Für sie könnte das Modell von Sky Greens die Lösung
sein. Für den Betrieb der Gemüsetürme, die immerhin 1,7
Tonnen wiegen, wird lediglich die Energie einer 60-Watt-Birne
benötigt; der Wasserverbrauch liegt mit fünf Prozent im
Vergleich zum traditionellen Landbau unschlagbar niedrig.
Und die Technik ist so genial wie einfach. Saudi-Arabien und
Ghana haben bereits Interesse angemeldet. China hat schon
gekauft, genauso wie Frankreich, das das System in Polynesien
einsetzen will.
Der Weg in die Verkaufsregale ist kurz, die Nachfrage groß.
Bis Ende dieses Jahres soll die Tagesproduktion auf fünf Tonnen
gesteigert und die Zahl der Türme auf 2000 verdoppelt
werden.
wird schon mit Plattformen experimentiert, die im Wasser
verankert oder auf Hausdächern und Parkdecks installiert
werden können.
Schrebergarten auf Abruf
Auch wenn Singapur mit seiner Einwohnerzahl nicht an die
zehn Millionen einer Megacity heranreicht, so orientieren
sich doch viele an seinen urbanen Lösungen, zum Beispiel
im Nahverkehr. Auch der Ende letzten Jahres erschienene
Allianz Report zum Thema Megacitys stellt den Stadtstaat als
Modell einer idealen Metropole vor. Doch in vielen Regionen
schreitet die Urbanisierung weit weniger geordnet voran als
auf der südostasiatischen Insel.
Geht es nach Jack Ng und Ngiam Tong Tau, ist das Potenzial
von Sky Greens auch in Singapur noch längst nicht ausgeschöpft. Derzeit ernten die 20 Mitarbeiter der Firma pro Tag
über eine Tonne an verschiedenen Salat- und Gemüsesorten,
die über Singapurs größte Supermarktkette vertrieben werden.
Gab es 1950 mit New York und Tokio gerade zwei Megacitys
auf der Welt, werden es 2030 über 40 sein. Vor allem in
Schwellenländern Asiens und Afrikas entwickeln sich immer
mehr Ballungsräume – viele davon weit entfernt von der
Gartenstadt, in die sich Singapur gerade mit viel Aufwand
verwandelt. Stattdessen schießen immer mehr chaotische
Konglomerate aus dem Boden – mit den üblichen Begleiterscheinungen wie Slums, Verkehrskollaps und mangelhafter Wasserversorgung.
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Sky Greens (auch Seite 45)
Die Gemüsetürme
sind neun Meter hoch
und verbrauchen wenig
Energie und Wasser.
Bis Ende des Jahres
soll ihre Zahl auf 2000
verdoppelt werden
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Jack Ng, der als Sohn von Kleinbauern die Knochenarbeit auf
dem Feld noch selbst kennengelernt hat, beschäftigte bei der
Entwicklung des Vertikalsystems noch ein anderer Gedanke:
Statt den Rücken beim Pflanzen und Ernten krumm machen
zu müssen, lässt sich die Arbeit am Rotationsbeet im Stehen
oder sogar im Sitzen erledigen. Damit ist sie auch für ältere
und behinderte Städter geeignet – die Pflanzenwannen werden einfach auf die gewünschte Höhe hochgefahren.
Da freilich endet die Sky Greens-Vision noch längst nicht.
»Unser Traum ist es, zusammen mit Architekten und
Stadtplanern Apartmenthäuser zu entwickeln, an deren
Außenwänden unsere vertikalen Gärten angebracht sind«,
sagt Ngiam Tong Tau. »Stellen Sie sich das vor: Bei Bedarf
fahren Sie eines der Beete vor Ihrem Küchenfenster hoch
und ernten, was Sie gerade zum Kochen brauchen.« Der
Schrebergarten auf Abruf.
Derweil bastelt Jack Ng zusammen mit Wissenschaftlern
der Universität von Singapur und der Polytechnischen
Hochschule weiter an Verbesserungen seines Vertikalsystems. Mittlerweile ist er bei Version 14 angelangt.
Mag die Gartenstadt für viele ein ferner Traum bleiben, so
könnte das Konzept des vertikalen Landbaus jedoch auch
ärmeren Ländern helfen, den Druck zur Erschließung neuer
Agrarflächen zu mindern. »Mit unseren Pflanzentürmen
kann die Gemüseproduktion an die Peripherie der Städte
rücken oder sogar in ihre Mitte«, erklärt Ngiam Tong Tau.
Flächen dafür gebe es – auch in Singapur. Bei Sky Greens
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Allianz Journal_Das Letzte
AS I EN
Ece Berkün – Türkin und Weltbürgerin, Mathematikerin,
alleinerziehende Mutter. Über die ungewöhnliche Karriere
einer ungewöhnlichen Frau.
Zwischen den
Welten
F RA N K ST ERN
Über ihr erstes graues Haar habe sie sich gefreut, sagt Ece Berkün. Sie liebt solche Sätze. Sätze, bei denen
man sich fragt, wie jemand nur auf so was kommt? Ein graues Haar ist kein Grund zur Freude, es ist der
deprimierende Vorbote des Alters, von hier an geht’s bergab. Nicht in ihren Augen. »Die Perspektive
ändert sich, wenn man sich die Alternative vor Augen führt«, sagt sie. »Und die Alternative wäre, jung zu
sterben. Ein graues Haar zeigt, dass man etwas erlebt hat, dass man eine Geschichte erzählen kann. Ich
kann eine Menge Geschichten erzählen.«
Über die Geburt ihrer Tochter zum Beispiel und das, was sie auslöste. Wie sie ihr durchorganisiertes Leben
auf den Kopf stellte und ihre Prioritäten verschob. Als Allianz Projektberaterin war Ece Berkün damals
ständig zwischen München und Mailand unterwegs, am Wochenende fuhr sie nach Heidelberg zu ihrem
Mann. »Es war eine hektische Zeit«, sagt sie. Familienzuwachs war da eigentlich nicht vorgesehen, zumal
sie gerade befördert worden war.
»Ich erinnere mich, wie mein Mann und ich im Auto saßen und darüber sprachen, noch ein, zwei Jahre
zu warten«, erzählt Berkün. Doch Planung ist das eine, das Leben das andere – zu diesem Zeitpunkt ist sie
bereits schwanger. Das Kind veränderte ihre Welt von Grund auf. »Es war ein kleines Lebens-Beben«, sagt
sie. Ein Beben, das die Schwerpunkte in ihrem Leben verschob und sie ihre Erwartungen an die Zukunft neu
justieren ließ. Als sich der Staub legt, beginnt Berkün, für sich und ihre Tochter die Puzzleteile zu ordnen.
Als Mathematikerin hat sie gelernt, dass es für alles eine Lösung gibt. Im Reich der Zahlen und Formeln
wie im richtigen Leben. Manche sind schmerzlich.
Altmodisch und verstaubt
Mathematik war in der Schule nicht unbedingt ihr Lieblingsfach. Sie mag Literatur, kann gut formulieren und
schreiben. Das wäre auch eine Möglichkeit gewesen. Doch Berkün denkt vom Ende her, logisch, nüchtern,
analytisch. Ein Zug, der ihr in ihrer späteren Rolle als Projektberaterin zugute kommen wird. Mathematik,
so die Rechnung, eröffnet vielfältige berufliche Optionen – und es ist nie langweilig. Mit diesem tröstlichen
Gedanken stand sie das Studium durch und machte an der Uni in Istanbul ihren Abschluss.
»Ich erinnere mich heute an keine der Theorien mehr, mit denen wir uns damals herumschlugen«, sagt die
40-Jährige, »doch ich verließ die Uni mit einem anderen Bewusstsein, mit einer anderen Art zu denken.«
Und dann landet sie ihren ersten Job bei einer Versicherung – ein Fehlgriff, wie es scheint. Altmodisch und
verstaubt kam ihr die Branche vor, sagt Berkün, nichts, wo sie es auf Dauer würde aushalten können.
Stern
In der Welt der globalen Konzerne
ebenso zu Hause wie im Familienbetrieb – Ece Berkün
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»Ich kam von einer der Top-Universitäten des Landes und hatte Größeres, Aufregenderes im Sinn«, blendet
sie zurück. Als etwas in die Jahre gekommenes Sprungbrett mochte der Laden wohl dienen – ein bisschen
Geld verdienen, ein paar Sachen kaufen, und sich dann was Vernünftiges suchen, das war
der Plan. Wer sich heute mit Ece Berkün unterhält, könnte den Eindruck gewinnen, es gäbe
kaum etwas Spannenderes als die Assekuranz.
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Allianz Journal_Das Letzte
Einer ihrer ersten Chefs hatte sie damals gewarnt. Das Versicherungsgeschäft sei wie ein Virus –
einmal angesteckt, komme man nicht mehr davon los. Ein ansteckendes Virus? denkt man
ungläubig. Im Ernst? Doch was es auch war, das sie fasziniert hat, mittlerweile ist Ece Berkün seit
17 Jahren dabei, 13 davon bei der Allianz. Sie kann zuhören – für einen Berater keine schlechte
Eigenschaft. Doch die zierliche Frau mit dem entwaffnenden Lächeln kann auch argumentieren.
Klar, überzeugend. Sie schafft es, die eigenen Prämissen, die unverrückbar scheinen, zumindest
zu hinterfragen. Wer mit ihr diskutieren will, sollte jedenfalls gut vorbereitet sein.
© 2013, Scott Adams, Inc./Distr. Universal Uclick/Distr. Bulls
privat
AS I EN
Blick von außen
Für ihr erstes Projekt zieht sie 2003 für ein Jahr nach Thailand. Das nächste führt sie für ein Jahr
nach Kanada, 2005 ist sie für sechs Monate in Brasilien. Ein Leben zwischen den Welten. Die
Geburt ihrer Tochter 2009 aber verändert alles. »Sie ist das Beste, was mir je passiert ist«, sagt
die alleinerziehende Mutter heute. München wird für die kleine Familie zur Heimat, doch als
das Mädchen beginnt, auf türkische Fragen deutsch zu antworten, entscheidet sich Berkün
für eine Kehrtwende: Sie bricht ihre Zelte in Deutschland ab und geht mit ihrer Tochter zurück
in die Türkei. »Ich wollte nicht, dass sie ihre Muttersprache vergisst.« Wurzeln sind ihr wichtig.
»Sie ist das Beste, was mir je
passiert ist« – Ece Berkün mit
ihrer Tochter Zeren
Der andere Grund, zurückzugehen, war ihr Vater. »Ich hatte mir immer gewünscht, einmal mit
ihm zusammenzuarbeiten. Er ist der geborene Unternehmer«, sagt sie. »Ich wusste, ich kann
eine Menge von ihm lernen.« Für drei Jahre steigt Berkün als Managerin in der Firma ihres Vaters
in Izmir ein, einer Druckerei mit 40 Angestellten. Es ist das Gegenstück zum globalen Konzern:
keine Lenkungsausschüsse, keine Abstimmungsorgien, keine Meeting-Marathons. »Stößt man
irgendwo auf ein Problem, entwickelt man eine Lösung und am nächsten Tag setzt man sie
um«, beschreibt Berkün den Alltag im Familienbetrieb. »Du sagst, wo es langgeht.« Der Allianz
bleibt sie jedoch auch während dieser Phase erhalten – einen Teil ihrer Zeit ist sie als Beraterin
mit dem Blick von außen weiter für ihren alten Arbeitgeber tätig.
Letztes Jahr hat der ihr ein Angebot unterbreitet, das ihre Abenteuerlust neu geweckt hat.
Heute lebt Ece Berkün mit ihrem Kind in Singapur, wo sie das Beratungsteam Allianz Consulting Asia leitet. Bevor sie zusagte, reiste sie mit der Tochter nach Singapur. Sie zeigte ihr die
Stadt, sie sahen sich Schulen und Wohnungen an. Dem Mädchen gefiel der Gedanke an das
Abenteuer, und so stand der Entschluss fest.
Der Start in Singapur verlief dann allerdings holpriger als erwartet: Die Umzugsfirma, die sich
für den Aufbau der Möbel nicht zuständig fühlte; die neue Wohnung, in der die Lichtschalter
nur gelegentlich funktionierten und in der sich das Fenster im Kinderzimmer nicht verriegeln
ließ, was im zehnten Stock durchaus Grund zur Sorge ist; der Anfahrtsweg zum Büro, der sich
als zeitaufwändiger herausstellt als vom Wohnungsmakler dargestellt. »Es sind die vielen kleinen
Haken, die unglaublich viel Zeit und Energie kosten«, sagt Berkün. Glücklicherweise hatte sie
Kollegen und Freunde, die ihr halfen, die kleinen und größeren Probleme zu lösen.
Mittlerweile haben sich Mutter und Tochter in der neuen Umgebung eingelebt. Berküns Arbeitspensum ist hoch, noch ist sie dabei, eine gesunde Balance zwischen Job und Kind zu finden.
Wenn sie heute junge berufstätige Frauen sieht, die vor der Frage »Kind oder Karriere« stehen,
kann sie deren Zweifel gut nachvollziehen. Sie hatte sie ja auch. Doch die Entscheidung für ihr
Kind, sagt sie, habe sie nie bereut. »Ein Kinderlachen lässt jeden Zweifel verschwinden.«
Das Allianz Journal im Internet:
W W W. A LLI A NZ .C O M/J O U R N A L
Zeit der Drohnen
Das Militär ließ sie als Erste
aufsteigen, inzwischen aber
dringen unbemannte Flugobjekte zunehmend auch in den
zivilen Sektor vor. Das Zeitalter
der Drohnen hat begonnen.
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Ab April finden Sie
Noch macht ihr das Nomadenleben Spaß, das sie alle paar Jahre an eine andere Ecke der Welt
führt. Doch irgendwann, sagt sie, wolle sie zurück in ihre Heimat. Wurzeln sind ihr wichtig.
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uns dann unter fol
W W W .W O R LD -
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