Untitled - Doris Margarete Schmidt

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Untitled - Doris Margarete Schmidt
F
ingerfood
begleitet von Prof. Dr. Hanne Loreck und Prof. Raimund Bauer
in Gedanken an Andrea Tippel
DIE VERSCHIEDENSTEN FORMEN GELANGEN GLEICHZEITIG UND GEMISCHT IN DAS MENSCHLICHE AUGE, UND
DOCH WERDEN SIE DORT ERSTAUNLICHERWEISE IMMER WIEDER IN DIE GLEICHE ANORDNUNG ZURÜCKVERSETZT,
DIE SIE AUF DEN DINGEN HATTEN.
Hans Belting zur Optik Abu Ali al-Hasan ibn al-Haithams, 10. Jh u. Z., in Hans Belting, Florenz und Bagdad,
München: Beck. 2009, S.118
THIS ARTICLE CONTAINS CHINESE TEXT. WITHOUT PROPER RENDERING SUPPORT, YOU MAY SEE QUESTION MARKS,
BOXES, OR OTHER SYMBOLS INSTEAD OF (CHINESE) CHARACTERS.
Wikipedia
THREE HUNDRED AND FIFTY LEAGUES FURTHER WEST IS A MOUNTAIN CALLED MOUNT SKY. IT HAS A GREAT
AMOUNT OF GOLD AND JADE, AND GREEN MALE-YELLOW. THE RIVER BRAVE RISES HERE AND THEN FLOWS SOUTHWEST TO EMPTY INTO HOTWATER VALLEY. THERE IS A GOD HERE WHO LOOKS LIKE A YELLOW SACK. HE IS SCARLET LIKE CINNABAR FIRE. HE HAS SIX FEET AND FOUR WINGS. HE IS MUDDLE THICK. HE HAS NO FACE AND NO EYES.
HE KNOWS HOW TO SING AND DANCE. HE IS IN TRUTH THE GREAT GOD LONG RIVER.
Autorschaft unbekannt, The Classic of Mountains and Seas, 4.-1.Jh v. u. Z. ,Übersetzung aus dem Chinesischen
von Anne Birrell, London: Penguin Classics, 1999, S.26
FIVE HUNDRED FORTY LI FARTHER WEST STANDS CELESTIAL MOUNTAIN. IT CONTAINS AN ABUNDANCE OF METAL
AND JADE , AND THERE IS GREEN REALGAR. THE EMINENT RIVER EMANATES FROM IT AND FLOWS SOUTHWEST
INTO HOT VALLEY. THERE IS A GOD HERE WHOSE FORM RESEMBLES A YELLOW SACK WITH A RED AURA LIKE CINNABAR. HE HAS SIX LEGS AND FOUR WINGS AND EXISTS IN A STATE OF CONFUSION WITH NO FACE AND NO EYES.
HE KNOWS HOW TO SING AND DANCE FOR HE IS, IN FACT DIJANG.
Autorschaft unbekannt, The Classic of Mountains and Seas, 4.-1.Jh v. u. Z. ,Übersetzung aus dem Chinesischen
und Herausgabe von Richard E. Strassberg, A Chinese Bestiary: Strange Creatures from the Guideways through
Mountains and Seas, Berkley: University of California Press, 2002, S.112
THE EMPEROR OF THE SOUTH SEA WAS CALLED SHU [BRIEF], THE EMPEROR OF THE NORTH SEA WAS CALLED HU
[SUDDEN], AND THE EMPEROR OF THE CENTRAL REGION WAS CALLED HUN-TUN [CHAOS]. SHU AND HU FROM TIME
TO TIME CAME TOGETHER FOR A MEETING IN THE TERRITORY OF HUN-TUN, AND HUN-TUN TREATED THEM VERY
GENEROUSLY. SHU AND HU DISCUSSED HOW THEY COULD REPAY HIS KINDNESS. ALL MEN, THEY SAID, HAVE SEVEN
OPENINGS SO THEY CAN SEE, HEAR, EAT, AND BREATHE. BUT HUN-TUN ALONE DOESN‘T HAVE ANY. LET‘S TRYING
BORING HIM SOME! EVERY DAY THEY BORED ANOTHER HOLE, AND ON THE SEVENTH DAY HUN-TUN DIED.
Chuang Tzu, 4.Jh v. u. Z., Übersetzung aus dem Chinesischen von Burton Watson, The Complete works of Chuang Tzu, New York: Columbia University Press,1968, S.97
THE EMPEROR OF THE SOUTH SEA WAS FAST, THE EMPEROR OF THE NORTH SEA WAS FURIOUS, THE EMPEROR OF
THE CENTRE WAS HUN-T´UN. FAST AND FURIOUS MET FROM TIME TO TIME IN THE LAND OF HUN-T´UN, WHO
TREATED THEM VERY GENEROUSLY. FAST AND FURIOUS WERE DISCUSSING HOW TO REPAY HUN-T´UN´S BOUNTY.
ALL MEN HAVE SEVEN HOLES THROUGH WHICH THEY LOOK, LISTEN, EAT, BREATHE; HE ALONE DOESN´T HAVE ANY.
LET´S TRY BORING THEM.
EVERY DAY THEY BORED ONE HOLE, AND ON THE SEVENTH DAY HUN-T´UN DIED.
Chuang Tzu, 4.Jh v. u. Z., Übersetzung aus dem Chinesischen von A.C.Graham, Chuang-Tzu The Inner Chapters,
London: Unwin Paperbacks, 1986, S.99
SMASH YOUR FORM AND BODY, SPIT OUT HEARING AND EYESIGHT, FORGET YOU ARE A THING AMONG OTHER
THINGS, AND YOU MAY JOIN IN GREAT UNITY WITH THE DEEP AND BOUNDLESS. UNDO THE MIND, SLOUGH OFF
SPIRIT, BE BLANK AND SOULLESS, [...] DO NOT ASK WHAT ITS NAME IS, DO NOT TRY TO OBSERVE ITS FORM.
Chuang Tzu, Watson, S.122
山海經 oder 山海经 oder 山海经 oder KLASSIKER DER BERGE UND MEERE (eine der wörtlichen Übersetzungen) oder
SHĀNHǍIJĪNG (eine der phonetischen Umschriften) ist ein MULTIVOKAL [Birrell] überlieferter Text, der nicht in einer
Disziplin handhabbar ist, ist er doch unter Umständen entstanden, die Mythos und Geschichte nicht als Begriffe
voneinander differenzierten. Durch die Zeiten wurde der KLASSIKER als topografisch/ astronomisch/ naturwissenschaftlich/ ethnologisch/ poetisch/ mythologisch/ historisch lesbares oder gar zu lesendes Werk gedeutet. So
springen zwischen Aufsicht und Durchsicht, Fläche und Strang einige Wesen herum, die sich immer von bekannten
Worten und Formen speisen - und auch selbst von den Lesenden gegessen oder gesehen werden könnten, mit
Effekten, die genau notiert sind.
THE RIVER VIEW CONTAINS NUMEROUS PATTERNED FLYING-FISH WHICH LOOK LIKE CARP. THEY HAVE A FISH´S
BODY BUT A BIRD´S WINGS; THEY HAVE BRIGHT BLUE MARKINGS AND A WHITE HEAD WITH A SCARLET MOUTH.
THESE FLYING-FISH OFTEN TRAVEL TO THE WEST SEA AND SPORT IN THE EAST SEA. THEY FLY BY NIGHT. THEY
MAKE A NOISE LIKE A LUAN CHICKEN. THEY HAVE SWEET-AND-SOUR TASTE. IF YOU EAT SOME, IT WILL CURE MADNESS. IF SEEN BY PEOPLE, IT IS AN OMEN OF BOUNTIFUL HARVEST OVER ALL UNDER THE SKY.
The Classic of Mountains and Seas, Birrell, S.22
Die Beschreibungen bewegen sich- anhand eines Weltbildes- die Berge einer quadratischen Erde entlang und über
die Regionen jenseits und innerhalb der Meere hinweg. Denn die Meere, in innere und äußere geteilt, trennen die
quadratische Erde von den Enden der Welt: den vier Wildnissen, die vom Orientierungspunkt der Mitte aus die
Richtungen Süden, Westen, Norden, Osten ausgemachen. Die Berge sind die Erde, separiert durch zwischengeschaltete Distanzen, unbeschriebenes Gebiet, Wasser in Form von Flüssen.
Die Variation eines sprachlichen Vorgangs hält die Gegenden samt allem, was kreucht und fleucht, zusammen.
Zu einem Berg mit einem Namen, der in Zahlen so und so viel weiter in einer Richtung liegt als der zuvor beschriebene Berg, gesellen sich Mineral- und Metallvorkommen und Jadearten, die sich durch Farbe, Menge und ihre Lage
auf dem Berg auszeichnen. Dazu gesellt sich ein Fluß mit einem Namen, der wohin fließt, meist in ein Tal mit einem
Namen, dazu gesellen sich Pflanzenarten, mit Früchten, die, in Aussehen und Eigenschaften an Früchte mit Namen
erinnern, oder an etwas Anderes bestimmbares. Die Pflanzen haben das Aussehen dieses und jenes Baums, aber
ihre Blätter sind soundso. Wie Früchte, die etwa so aussehen und wiederrum so schmecken. Wenn Früchte oder
Blätter gegessen oder nah an der Haut getragen werden, erzielen sie eine Wirkung. Dazu gesellen sich Wesen, die
in Erscheinung und Eigenschaften an Tiere oder Menschen erinnern, aber die Zusammenstellung ihrer Körper ist
eine Neukombination aus Benennbarem. Hinzu gesellt sich hier und dort eine Gottheit, die auch als eklektisches
Gebilde auftritt. Aussehen und Gewohnheiten der Menschen, die in den Wildnissen leben, was sie essen und wie
sich ihr Land nennt, berufen sich auf Spielarten der eigenen Physiognomie. Tiere geben Laute von sich und ihre
Namen werden genannt. Oft rufen sie auch durch die Laute sich selbst, die eigene Bezeichnung aus. Ihre akustischen Ankündigungen haben keinen logisch erscheinenden Zusammenhang mit ihren Folgen: so kommt macht
Geräusche wie ein Baby und isst Menschen relativ oft vor. Wenn ein Tier essbar ist, folgt etwas aus dem Verzehren.
Es wird gesagt, ob es Menschen isst und manchmal ist es nennenswert, ob die Menschen von oben oder von unten
an verschlungen werden. Welche Bedeutung es hat, wenn man es sieht. Die Ähnlichkeiten, die die Wesen aus dem
Blick der Welt abstecken, die einzelnen Teile, passen nicht zueinander und stehen in einer ziemlich erfrischenden
und unbekannten Zusammenstellung da.
Das Arbeiten mit reinem Vergleichsvokabular erinnert an ein Sprechen über Wein, das keine eigenen Subjekte hat,
sondern ständig nach etwas schmeckt.
Distanzen, Berge, Flüsse, Pflanzen, Wesen, in Schemen zusammengehöriger landschaftlicher Gruppierungen be-
schrieben, sind lose gehalten in einer wilden Aufzählung, aus der anscheinend nichts folgen muss und die nirgends
hinführt, sondern eine ziemlich schnelle Reise durch ein Gebiet ist, welches als Weder-Noch identifiziert werden
kann. Es erscheint als freie Bewegung durch ein Gleichzeitiges, das es schlichtweg gibt. Vor ihrer schriftlichen Verfestigung haben diese Landschaften an mehreren Orten beweglich koexistiert und sich in eine Ahnung geschleust,
die die Rückkehr zu einem oder parallelle Rückkehr zu mehreren dieser Gebiete aufschließt. Sie sind da.
WAS UNMÖGLICH IST, IST NICHT DIE NACHBARSCHAFT DER DINGE, SONDERN DER PLATZ SELBST, AN
DEM SIE NEBENEINANDERTRETEN KÖNNTEN. DIE TIERE, I) DIE SICH WIE TOLLE GEBÄRDEN, K) DIE MIT EINEM GANZ
FEINEN PINSEL AUS KAMELHAAR GEZEICHNET SIND, KÖNNTEN SICH NIE TREFFEN, AUSSER IN DER IMMATERIELLEN
STIMME, DIE IHRE AUFZÄHLUNG VOLLZIEHT, AUSSER AUF DER BUCHSEITE, DIE SIE WIEDERGIBT. WO KÖNNTEN SIE
NEBENEINANDERTRETEN AUSSER IN DER ORTLOSIGKEIT DER SPRACHE?
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971, S.19 , Foucault zitiert aus dem
Text El idioma analítico de John Wilkins von Jorge Luis Borges, Otras Inquisiciones, Buenos Aires: Sur, 1952
Illustrationen zu diesem Text, dessen erste Niederschriften um das vierte bis erste Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung vermutet werden, sind seit 1597 in Form einer Serie von Holzdrucken erhalten. Die Platten vereinen
verschiedene Wesen, die jeweils naheliegenden Bergen zugeordnet sind. Pflanzen und Bäume sind sehr selten zu
sehen. Für sich stehen sie da, auf einzelnen Stücken Boden, das Schriftbild ihrer Bezeichnungen nahe an den Körpern. Die Bewegung des Wassers, das als Isolierendes dazwischen liegt, schmiegt sich in leicht versetzten Kurven
an den Stein, ähnelt der Zeichnung seiner Struktur, aber wird durch dünnere, längere Pinselstriche als ganz anderes Material ausgemacht. Die Distanz Stein/ Wasser wird durch Abstände und Andersartigkeit sichtbar.
Über den Berg Zhang´e wird gesagt, dass es dort kein Gewächs, aber Yao und Jade und viele seltsame Dinge gebe.
THERE ARE MANY STRANGE THINGS HERE. Das dort heimische Zheng macht Geräusche wie Steine, die aneinander
schlagen. Der Schwung seines fünffachen Schwanzes schafft einen Übergang zu einem Felsen, auf dem Bifang sein
Gleichgewicht zwischen einem Bein und halbgeöffneten Flügeln hält. Die Felsen, auf denen die Vögel Bifang und
Chi weilen, anstatt wie einige der anderen Flügelgestalten auf reinem Papier zu fliegen, sind eine Art Luftfelsen,
denn sie stehen relativ unverbunden, ohne sich annähernde Schraffuren, im Nichts. Im Gegensatz zu den meist
nach vorne ausgerichteten Gesichtern menschenähnlicher Wesen auf anderen Platten, schauen die Fünf hier mit
den Gesichtern zueinander, beziehungsweise in eine leere Mitte ihrer Übergänge.
Und damit ist auch eine erste grobe Ausrichtung des formlosen Hundun vorgenommen, das, so hingestellt, alle
Gliedmaßen entsprechend anlegt.
THERE IS AN ANIMAL HERE WHICH LOOKS LIKE A WILD CAT. IT HAS ONLY ONE EYE BUT THREE TAILS. ITS NAME IS
THE BAWLER. IT MAKES A NOISE LIKE ALL THE SOUND PUT TOGETHER.
The Classic of Mountains and Seas, Birrell
Hundun hat viele Namen und steht für viel: Chaos vor den Differenzen (und Referenzen) der Dinge, das bereits alle
Dinge beinhaltet, bevor sie Dinge sind. Hundun kann tanzen und singen. Wie das gehen soll, ist nicht vorstellbar,
aber einem gelben Sack, dessen Inhalt sich unendlich der Erschließbarkeit entzieht, müssen wir glauben, dass alles
geht. Hundun ist ein Konzept-Körper, in den Chaos und der Ursprung von Gesang und Tanz passen. In unmittelbarer Nachbarschaft, einen Holzdruck weiter, taucht ein Tier auf, das akustisches Chaos ist. Schreier macht Laute,
die klingen als hätten sich alle Töne, alle Geräusche zusammen getan. In einer anderen Übersetzung scheint es
eher so, dass es alle möglichen Laute machen kann. Dass sie sich nur in dem Tier überlagern. Ein Sound, der durch
Mark und Bein geht und aus dem nichts (Einzelnes) heraushörbar ist. Zerteilen und Organisieren der akustischen
Informationen, die alle auf einmal vorplatzen, ist so wenig möglich wie Form in den Sack Hundun hinein zu sehen. Hundun ist eine Vor-Form, die in der Zeit der Formen gedacht wird, also im Späteren eine Idee darstellt, von
etwas, das nichts war, aber erste Ansätze von etwas hat und auf den eigenen Füßchen steht. Die Gedankenfigur
wird immer verfehlt und verrät in ihrer Darstellung die Sehnsucht nach ihrer Unerreichbarkeit. Flügel und Zehen
geben eine Richtung vor. Das nach vorn ist in der Figur schon vorhanden, denn sie wird durch eine Rückprojektion
erziehlt, die die Blickrichtungen der Beschreibenden, Zeichnenden und Betrachtenden bereits mit einschließt.
So steht das von innen gedachte in einer äußerlichen Landschaft. In dem Sack Hundun ist alles drin, was es gibt
(bevor es es gibt). Die multiplen Katzen im Sack werden gekauft, bevor Äußeres und Inneres getrennt und gezeichnet sind. (Also: bevor es Katzen gibt) Irgendjemand gestaltet die Gestalt Hundun, legt den Sack-Körper an,
jemand sieht Ungeformt als Form und weiß, dass was drinnen ist (alles), Gelb wird zu einer Farbe und Zinnober
kann brennen, weil es Holz ist, und dieses Brennen erzeugt ein Rot, das sichtbar wird in der direkten Abgrenzung
zu Hundun, obwohl es nicht als Farbe da ist, sondern als Aura, als Kontrast. Diese Gestalt brennt, wie Zinnober,
weil sie eine Aura hat, die an ein Holz erinnert, in dem Moment, in dem es entholzt wird (Flamme). Die brennende Aura Hunduns in ihrer Übergriffigkeit ist so nur sprachlich formulierbar. Diese Grenze zwischen Subjekt und
Umgebung ist unendliches Werden (unendlich weit und endlos teilbar). Und die Linie, auf die sie in der Zeichnung
zurückgeführt sein soll, unerreichbar weit entfernt.
Hundun ist in der sogenannten mündlichen Überlieferung wohl viel exakter transportiert worden als in der schriftlichen und bildlichen Festlegung. Die Idee des Hundun ist, das liegt in der Natur der Sache, also einigen Angriffen
ausgesetzt, die im wahrsten Sinne des Wortes, Griffe ansetzen an das undingbare Ding.
Dass die Betrachtenden wissen, wo Hundun einen Kopf hätte, ist nicht die Idee von Hundun, aber eine Annäherung
der Idee an die Betrachtenden, die das Chaos weit von sich weisen müssen, um es sehen zu können. Wenn Hundun
in den Aufzeichnungen beziehungsweise Übersetzungen von Worten und Grammatik maskulin adressiert wird, ist
das auch eine erste Anzeichnung von Bohrlöchern oder einem vorne/ hinten/ oben/ unten. Eine Laufrichtung gibt
PEOPLE CALL SOME THINGS STRANGE YET THEY KNOW NOT WHY THEY CALL THEM SO; THEY CALL SOME
THINGS FAMILIAR, YET THEY KNOW NOT WHY EITHER. WHAT IS THE REASON BEHIND THIS? A THING IS NOT STRANGE IN ITSELF; IT DEPENDS ON ME TO MAKE IT STRANGE. IT IS FROM THIS ME THAT THIS STRANGENESS RESULTS; IT
IS NOT THE THING THAT IS FUNDAMENTALLY STRANGE.
Guo Pu, Zhu Shanghaijing xu (Kommentar zum Shanghaijing) 3.Jh u. Z., zitiert aus Richard E. Strassberg, A Chinese Bestiary: Strange Creatures from the Guideways through Mountains and Seas, S.17
Ein Tattoo auf Mias Bein, das nichts mit Hundun zu tun hat. Geometrisch- abstrakte Form, mit Zehen auf den Boden des Figürlichen versetzt.
Objekte in der Hafencity in Hamburg: Die Formen sind immer zu zweit und an verschiedenen Orten auf einer Promenade an der Elbe zu finden. Sie sind begehbar und damit sich kein Regenwasser an den tiefen Stellen sammelt,
gibt es Löcher, durch die es abfliesen kann, um zwischen den Pflastersteinen zu versickern. Die reduzierte Form
besteht aus Wölbungen nach oben und unten.
es schon, wenn erzählt wird.
Hundun erscheint in sich abgeschlossen, ist Unform, oder die einfachste Art, verschiedene Bewegungsfeatures
zusammenzubringen. Ein Aufbau, der keine Eigenschaften ermöglicht, sondern nur Möglichkeiten: fliegen und
laufen, könnte man folgern, aber singen und tanzen steht im Text. Angezeichnet ist in Hundun auch schon das,
was als Erstes passiert: eine Hoizontale. Himmel und Erde trennen sich, Unten und Oben werden ausmachbar, bis
man langsam weiß, wo einem der Kopf steht. Die Horizontale, die im Ansatz von Flügeln und Füßen steckt, im Stehen der Füße, im Nach-Oben der Flügel, ist so ein andauerndes WERDEN, wie es Félix Guattari und Gilles Deleuze
in Tausend Plateaus beschreiben. Oben und Unten trennen sich in einem unabgeschlossenen Prozess, um sich
dauernd vergewissern zu können, wo ich denn bin.
HEAVEN TURNS CIRCLES, YES!
EARTH SITS FIRM, YES!
SUN AND MOON VIE FOR A PLACE, YES!
<OTHER> COMES FROM <IT>, <IT> LIKEWISE GOES BY <OTHER>.
WITHOUT AN OTHER, THERE IS NO SELF, WITHOUT SELF NO CHOOSING ONE THING RATHER THAN ANOTHER.
Chuang-Tzu, The Inner Chapters, Graham, S.49, S. 52, S.51
Der Text, so flächig die Landschaft, hat eine Laufrichtung, und der Fluß fließt von a zu b, während Hundun mit den
Zehen fest auf dem Boden verankert ist, bevor es einen Grund für Schwerkraft gibt. Die angezeichnete Bewegungsrichtung ist eine erste Art von solchen Löchern, von solchen Griffen oder Haltepunkten wie sie Hu und Shu an Hundun anbringen möchten, um es adressierbar zu machen. Vorher sind Hu und Shu willkommene Gäste bei Hundun,
beherrschen sie doch Norden und Süden, kommen sie in der Mitte zusammen. Hundun wird als gastfreundlich
beschrieben, aber für Freundschaft reicht es Hu und Shu noch nicht, und sie beschließen, die Öffnungen zur Außenwelt, wie sie sie bei allen Menschen gesehen haben, hineinzubohren, damit Hundun endlich jemand wird. Bevor
Hundun ansprechbar und anschaubar ist, ist nichts anzufangen damit. Sie bringen ein System an, das sie bereits
kennen, um Hundun der eigenen Perspektive habhaft zu machen. Die LöcherFläche erinnert an GESICHTHAFTIGKEIT, von einer ABSTRAKTEN MASCHINE ZUR ERSCHAFFTUNG DES GESICHTS herausgebildet.
VOR ALLEM KEINE BERUFUNG AUF EIN SUBJEKT, DAS BEREITS VORHANDEN WÄRE ODER ENTSTEHEN KÖNNTE, OHNE
DIESE MASCHINE ZU DURCHLAUFEN, DIE ZUR ERSCHAFFUNG DES GESICHTS GEHÖRT.
Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Übersetzung aus dem Französischen von Gabriele Ricke und
Ronald Voullié, Berlin: Merve, 1992, S.235
Es ist auch ein Mitleid, das Hu und Shu empfinden, beziehungsweise, das sie eben nicht empfinden können, weil
Hundun nicht sieht, was Hu und Shu sehen, weil sie nicht wissen, was Hundun sieht, hört, fühlt, riecht, zu kommunizieren hat. Die Unerträglichkeit der Sache liegt bei Hu und Shu, die gerne wissen möchten, was das sein soll
und vor allem, was das soll. Sie beschließen einen regelrechten Angriff auf das ungreifbare Ding. Pragmatisch:
Ansetzen von Griffen, einen Punkt machen, öffnen und reinschauen. In den Vorhandlungen zum Verstehen zerfällt
schon das Konzept Hundun.
(A VERY LONG SILENCE.)
BUT YOU HAVE FRIENDS.
(A LONG SILENCE.)
YOU HAVE A LOT OF FRIENDS.
(SEHR LANGES SCHWEIGEN.)
ABER SIE HABEN DOCH FREUNDE.
(LANGES SCHWEIGEN.)
SIE HABEN SEHR VIELE FREUNDE.
WHAT DO YOU OFFER YOUR FRIENDS TO MAKE THEM SO SUPPORTIVE?
WAS GEBEN SIE IHREN FREUNDEN, DASS SIE SO HILFSBEREIT SIND?
(A LONG SILENCE.)
(LANGES SCHWEIGEN.)
WHAT DO YOU OFFER YOUR FRIENDS TO MAKE THEM SO SUPPORTIVE?
WAS GEBEN SIE IHREN FREUNDEN, DASS SIE SO HILFSBEREIT SIND?
(A LONG SILENCE.)
WHAT DO YOU OFFER?
(SILENCE.)
(LANGES SCHWEIGEN.)
WAS GEBEN SIE?
(SCHWEIGEN.)
Sarah Kane, 4.48 Psychosis, in: Complete Plays, London : Methuen, 2001
Wenn Gesicht und Blick des anderen den eigenen Blick empfangen, nicht ins Beliebige laufen lassen, bekommt der
eigene Blick eine Notwendigkeit, weil ihm eine Richtung vorgegeben und bis zu einem Punkt nachverfolgt werden
kann. Weil es einen Empfänger- Punkt gibt, existiert auch ein Sender-Punkt. Der Blick in eine Pupille (unfassbares
schwarzes Loch) ist wie der Blick anhand einer Perspektive (flüchtende Konzentration) eine Rückversicherung der
eigenen Position und Person. Entfernungen können so konstituiert, bemessen, qualifiziert und zu den eigentlichen
Akteuren werden. Die Anfragen an das Objekt, die die Blicke stellen, hat es schon integriert.
DIE AZTEKISCHEN SKULPTUREN SIND VON ALLEN SEITEN BEARBEITET, EINSCHLIESSLICH DER UNTERSEITE, AUCH
WENN SIE MEHRERE TONNEN WIEGEN, DENN DER BETRACHTER DES OBJEKTS IST EBENSOWENIG EIN INDIVIDUUM WIE
SEIN GESTALTER; DIE DARSTELLUNG VERMITTELT UNS WESENHEITEN UND KÜMMERT SICH NICHT UM DIE EINDRÜCKE EINES MENSCHEN. DIE EUROPÄISCHE LINEARPERSPEKTIVE ENTSTEHT ZWAR NICHT AUS DEM BEMÜHEN, EINEN
ALLEINIGEN UND INDIVIDUELLEN BLICKWINKEL AUFZUWERTEN, DOCH SIE WIRD IM VEREIN MIT DER INDIVIDUALITÄT
DER DARGESTELLTEN OBJEKTE ZU EINEM SYMBOL DAFÜR.
Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas Das Problem des Anderen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S.148
Wenn es nach der binären Logik das Eine oder das Andere gibt, wenn es die Gottheit des Südmeers und die Gottheit des Nordmeeres gibt, bleibt Hundun AUSGESCHLOSSENE MITTE. PRINCIPLE OF THE EXCLUDED MIDDLE heißt
im Englischen die Folgerung einer Regel der klassischen Logik, nach der Gegensätze sich ausschließen und immer
nur entweder Eines oder ein Anderes gelten kann. Für Hundun bleibt möglicherweise Hegels INDIFFERENTE MITTE,
die zum Einen und zum Anderen gehört, sie unterscheidet und sich auch von ihnen unterscheidet.
Ausgerechnet sieben Tage lang werden von Süden und Norden her sieben Öffnungen in Hundun gebohrt, und am
siebten Tag stirbt Hundun, wird zuerst noch weniger. In verschiedenen mythologischen Erzählungen separieren
sich die bipolaren Kräfte yin und yang, die teilen. Hundun ist keine Masse, die a l l e s ausstanzt, sondern durchäuft
Prozesse der Transformation, polymorphe Gestalten, Einzelnes, beständiges Umformulieren und Neueinteilen. In
der Benennung, ebenfalls die Gottheit Long River zu sein, fließt steter Wandel mit. Die Farbe Gelb steht in der chinessichen Symbolik für die Mitte und das Land China. Auch der Gelbe Fluß legt nahe, dass es sich hier um Hundun,
Long River, Muddle Thick handelt.
Als Ovid in den METAMORPHOSEN flüchtige und mehrstimmige Erzählungen zusammenträgt, häuft sich, vor der
Entstehung der Grundbedingungen, ROHE, UNGEORDNETE MASSE auf, ein Zustand, in dem KEINEM DING DIE EIGENE GESTALT BLEIBT und dessen Vorgänge nicht wahrnehmbar sind, weil dazu noch nicht an Licht zu denken ist. Im
Gespräch mit Ovid (FASTI) bezeugt Janus eine ursprüngliche Ungeteiltheit, zu deren Zeit Janus selbst EINE RUNDE
MASSE UND EIN BÜNDEL OHNE FORM gewesen sei. Als kleine Erinnerung hätte sich eine Ununterscheidbarkeit von
vorne und hinten erhalten.
THEN JANUS, AMAZING IN HIS DOUBLE APPEARANCE, SUDDENLY PRESENTED HIS PAIR OF FACES TO MY EYES.
…, AND HE UTTERED THESE WORDS TO ME FROM HIS FRONT-FACING MOUTH:...THE ANCIENTS- FOR I´M A PRIMITIVE PHENOMENON- USED TO CALL ME CHAOS. SEE OF HOW FAR A TIME I SING THE HISTORY! THE BRIGHT AIR
HERE AND THE THREE ELEMENTS THAT REMAIN, FIRE, WATER, EARTH, USED TO BE JUST ONE HEAP. WHEN ONCE
THIS MASS SEPERATED, BECAUSE OF DISCORD IN ITS PARTS, AND BROKE APART INTO NEW HOMES, FLAME SOUGHT
THE HEIGHT, A NEARER PLACE CAUGHT AIR, AND EARTH AND SEA SETTLED IN THE MIDDLE REGION. AT THAT TIME
I, WHO HAD BEEN A ROUND MASS AND A BULK WITHOUT FORM, RESORTED TO A SHAPE AND LIMBS APPROPRIATE
TO A GOD. EVEN NOW, SMALL INDICATION OF MY ONCE CHAOTIC SHAPE, WHAT´S IN FRONT AND BEHIND IN ME
APPEARS THE SAME.
Ovid, Fasti, 1. Jh. u. Z. ,Ovid: Times and Reasons, A new translation of Fasti, Übersetzung aus dem Lateinischen
von Anne Wiseman und Peter Wiseman, New York: Oxford University Press, 2011, S. 3
7) DAS GLEICHMÄSSSIGE INNESTEHEN ZWISCHEN ZWEI ENTGEGENGESETZTEN BEGRIFFEN
8) MITTEL, DER ZWISCHENRAUM ZWISCHEN ZWEI TRENNENDEN GEBIETEN, DAS WAS ZWISCHEN ENTGEGENGESETZTEM, TRENNEND, ODER VERBINDEND LIEGT: MITTEL, INTERMEDIUM B) IM MITTEL STEHEN, DAZWISCHEN STEHEN, VERMITTELND
Grimmsches Wörterbuch zur Mitte
Der Januskopf hat keinen Background. Es fehlt jegliche Möglichkeit für Hintergedanken. Janus ist der Übergang,
immer im Übergang begriffen. Ist gleichzeitig Anfang und Ende, da wo sich Anfang und Ende gar nicht mehr so
fremd zeigen, sondern als Gegensätze eben zwei Seiten einer Medaille sind. Zwischen Anfang und Ende befindet
sich a l l e s, aber Anfang und Ende sind sich fast wieder ähnlicher als alles allem ist oder sein kann. Gleichzeitig
sind Janus, Janus sind Blicke, Blicke die hinausgehen zu zwei Seiten. Das Entgegengesetzte schließt sich in der
Mitte in einem Übergang, der in der sparsamsten Variante durch eine Vertikale dargestellt sein kann, die innerhalb eines morphenden ungestalteten Hervorwölbens von Locken als Bestimmende Blicke lenkt, aus der Mitte der
konkreten Seiten- Blicke heraus blickt. Diese Mitte, im blinden Fleck des Janus, die ebenso zum Einen wie zum
Anderen gehört, ist Bewegung in der Sprungkraft des Haares, ist BESTÄNDIGES WERDEN, wie Deleuze/ Guattari es
beschreiben. Die Annäherung an eine vertikale Teilung, die aber eben nicht stattfindet, oder immer im Stattfinden
ist, die auf jeden Fall kein Ende findet, ist auch mit dem Slash verwandt. Der Slash ist eine Verabredung, die das
Aufeinandertreffen der Worte möglich macht. Slash beschreibt multiples Werden zwischen den Begriffen, betrifft
beide. So ist das Gebilde Slash/Splash (zum Beispiel) auch Janus. Wenn ich, in einer Zeichnung, ins Wasser springe,
ist vielleicht ein Splash! zu sehen. Dann ist Splash eine Darstellung der Differenz und der Annäherung zwischen
Wasser und Ich. Eine Übergriffigkeit, wie Hunduns brennende Aura.
Die Profile der Gesichter, die schauen, sind mindestens ein wenig verschieden voneinander, als würde die Perspektive, die sie haben, sie wiederum prägen und in ihre Richtungen lenken. Ein Gegensatz trifft immer nur fast zu, und
nur aus der jeweiligen Perspektive, die höchstens 2-D ist. Das Doppelte bleibt doppelt und kein Rundumschlag,
der Übergang zwischen dem Einem und dem Anderen öffnet aber alle Dimensionen. Es ist nicht fassbar, das Janus
Ding, können wir ihm doch in kein Gesicht schauen, liegt es eher als Schema vor uns. Es ist nicht zum Anschauen
sondern Wegschauen. Oder Weggeschautwerden vom angeschauten Bild.
Janus steht, neben dem Ausgang/Eingang noch in einem besonderen Tor: Janus steht für den Kalender, ist Jahr/
Jahr und macht überhaupt eine Unterscheidung eines Jahres und eines anderen Jahres möglich, führt einen Rhythmus des Festlegens ein, der die Sonne genau anhand des Punktes festmacht, an dem sie sehr lose ist, ungreifbar,
in ihrer Wendung, wenn sie die eine und die andere gleichzeitig ist. Janus sagt im Fasti zu Ovid, auf dessen Nachfrage hin, dass die Wintersonnenwende der erste Tag der neuen Sonne und der letzte Tag der alten Sonne sei, und
deshalb als Jahreswechsel geeignet. An diesem Tag stehen zwei Sonnen am Himmel.
Die Richtungen, die von Janus ausgehen, machen den besonderen Kopf notwendig. Er nennt Ovid die praktische
Begründung, Herausgehende und Hineinkommende gleichzeitig zu sehen. Hecate, die die griechischen Kreuzungen beherrscht, sieht in drei Richtungen. Die Körper der Figuren Hecate und Janus weiten sich aus zu Räumen, die
durch ihre (Kontroll) Blicke erfasst und angeeignet werden. Hecate, der nachgesagt wird, sie mache sich durch ein
Bellen der Hunde bemerkbar, und habe brennende Fackeln mit sich, dehnt sich weiterhin akustisch aus und trägt
eine verzehrende Hitze vor sich her.
Aufteilung und Einteilung, durch die, auch in den von Ovid zusammengetragenen Erzählungen, die Welt entsteht,
trennen zuerst Schweres und Leichtes in Unten und Oben, vier Elemente finden ihren Platz und werden dort definiert.
Die chinesische Mythologie beschriebt eine viereckige Erde, deren vier Ecken als Richtungsweisende dienen, vom
Zentrum des Vierecks aus ausgerichtet. Dahinter liegende Meere und fremde Gebiete enden mit den äußeresten
Enden der Welt, welche die Pole des Kompasses ausmachen. Zentrum ist die Mitte und Richtungen weisen zu Anderem, das sich vom Ausgangspunkt in Graden unterscheidet. In die Richtungen, die die eigene Welt einspannen,
breitet sich der eigene Hinterkopf, von seiner Stelle verdrängt, aus.
ALL WORKS OF ART ARE FOUNDED ON A CERTAIN DISTANCE FROM THE LIVED REALITY WHICH IS REPRESENTED.
THIS <DISTANCE> IS, BY DEFINITION, IN-HUMAN OR IMPERSONAL TO A CERTAIN DEGREE; FOR IN ORDER TO APPEAR TO US AS ART, THE WORK MUST RESTRICT SENTIMENTAL INTERVENTION AND EMOTIONAL PARTICIPATION,
WHICH ARE FUNCTIONS OF <CLOSENESS>. IT IS THE DEGREE AND MANIPULATING OF THIS DISTANCE, THE CONVENTIONS OF DISTANCE, WHICH CONSTITUDE THE STYLE OF THE WORK.
Susan Sontag, On Style, 1965, in: Against interpreatation and Other Essays, London: Penguin Classics, 2009, S.30
THE FOLLOWING ESSAY DESCRIBES BRIEFLY THE USE OF DISILLUSION IN THE CHINESE THEATRE. THE SAME PRINCIPLE WAS RECENTLY EMPLOYED IN GERMANY IN AN ATTEMPT TO ATTAIN AN EPIC FORM OF THEATRE FOR NONARISTOTELIAN DRAMA, I.E. PLAYS THAT DO NOT DEPEND FOR THEIR EFFECT ON AWAKENING THE SAME FEELINGS
IN THE AUDIENCE AS THOSE SUPPOSEDLY ACTUATING THE PLAYERS.
THE TRANSFERENCE OF THIS EMOTION TO THE SPECTATOR, THE EMOTIONAL CONTAGION, DOES NOT FOLLOW
AUTOMATICALLY. THE EFFECT OF DISILLUSION INTERVENES, RESULTING NOT IN THE ABSENCE OF EMOTION, BUT
IN THE CREATION OF EMOTIONS WHICH DO NOT NEED TO BE IDENTFIED WITH THOSE OF THE CHARACTER. THE
SPECTATOR MAY FEEL JOY AT THE SIGHT OF SORROW, DISGUST AT THE SIGHT OF ANGER.
IN THE FIRST PLACE, IT IS DIFFICULT WHEN WATCHING CHINESE ACTORS TO RID OURSELVES OF THE FEELING OF
ESTRANGEMENT THAT THEY EXCITE IN US AS EUROPEANS. BUT WE MUST REMEMBER THAT THEIR ACTING HAS THE
SAME EFFECT ON THEIR CHINESE SPECTATORS [...]
Bertolt Brecht, The Fourth Wall of China. An essay on the effect of disilussion in the Chinese Theatre, Übersetzung aus dem Deutschen von Eric Walter White, in: Life and Letters To-Day, London, 1936, Nr. 6, zitiert aus
Bertolt Brecht, Werke, Band 22, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S.960, S.964,S.965
AUCH DAS VERWENDEN VON DIALEKTEN KANN ALS V-EFFEKT VERSTANDEN WERDEN.
Wikipedia
Das Erwecken DERSELBEN Gefühle, das Fühlen, was die anderen fühlen, ist schier unmöglich, eine Begegnung, die
sich selbst aufheben würde und sofort beendet wäre. Das Formen der Distanz wird zur eigentlichen Disziplin.
Bertolt Brecht macht an seiner Fremdheit der chinesischen Schauspielkultur gegenüber einen brauchbaren Effekt
aus. Nachdem er diesen Abstand bemerkt, beschreibt er ihn und macht ihn benutzbar. Dazu muss er unterstellen,
dass DAS SELBE Prinzip woanders und bei Anderen greift.
Der VERFREMDUNGSEFFEKT überspielt Fremdheiten nicht länger, sondern unterstreicht sie dort, wo sie immer im
Theater saßen. Die Körper im Publikum können verortet und gesehen werden, genauso wie die Körper der Darstellenden. Die Verabredung, im Theater zu sein, wird zu einer erfahrbaren Situation, weil sich die beteiligten Individuen und Geschichten auseinanderdividieren dürfen und sich wechselseitig DENKEND SEHEN. Durch eingebrachte
Abstände, die der Verfremdungseffekt braucht, vervielfachen sich Möglichkeiten an Nuancen der Blicke. Und die
Unterscheidung zwischen darstellenden und dargestellten Personen und dem Text machen Mischwesen möglich,
die überschneidend Verschiedenes sagen können und zu denen die Einzelnen im Publikum eine sich ständig annähernde und entfernende Haltung haben. Sprechen und Hören wird multidimensional, ein und derselbe Text durch
verschiedene Sprech- und Hörpunkte, die auf ihn angewendet werden, zu einem frei zugänglichen, eklektischen
Reichtum. Im Dazwischen stehen Schauende und Spielende gleichsam ratlos da. Die Räume, die entstehen, wenn
plötzlich alles fremd ist, auch das Selbst sich selbst, sind Werkstätten zur Umgestaltung der Verhältnisse (wenn
Verhältnisse Formen von Distanzen sind) in der Welt. Die Texte liegen als Zitate vor den Sprechenden, die, als bewusste Second Handler, sich selbst dabei zusehen, wie sie oder die Sprache an manchen Stellen zugreifen.
Wenn das Aristotelische per se darauf zielt, die selben Gefühle im Publikum zu erwecken, die auf der Bühne ge-
spielt werden, beziehungsweise davon ausgeht, dass sich in der Konsequenz an Dargestelltes bestimmte Emotionen ergeben, die quasi berechenbar sind, dann könnte trotzdem sein, dass nicht auf eine einwandfreie Funktion
dieses Systems gebaut werden kann, sondern in Fehlern, Unsauberkeiten und Zufällen, selbstbezogenen Konditionierungen parallel viel Anderes transportiert wird. Diese Nebenschauplätze der Aufmerksamkeit sind stark individuelle Zugänge. Es herrscht ein unkontrollierbares Chaos an Empfundenem im Zuschauerraum.
WIR SIND DER DISKURS DER ANDEREN, ist eine der ersten Feststellungen in Jean Luc Godards LA CHINOISE.
Nur von außen bemalte Türen in der Pariser Altbauwohnung einer großindustriellen Elterngeneration weisen einen ziemlich groben Farbauftrag auf. Sie sind nicht blau oder rot geworden, sondern sichtlich bemalt. Kürzlich
erworbene Farbe und cleaner gesellschaftlicher Hintergrund sind gleichberechtigte Verhandlungspartner. Wie das
monotone Wiedergeben von Überzeugungen und Zitaten durch die Figurierenden stellen sie oberflächliche Aneignungen dar. Text wird monoton geleiert, damit er entpersonalisiert Schemen und Bilder, die ihm immanent sind,
zur Schau stellt. Stimmliches Gestalten der Sprache auf ein Mindestes beschränkt, lässt das Verstehen den großen
Raum für Unverständnis.
Leiern von Text wird in der Schule gelehrt, um Rythmen in Gedichten ausfindig zu machen. Durch Lösen vom Inhalt, ein Auflösen in Klang, der labbrig fällt, wird die Ordnung der Betonungen erkennbar. Das Interesse daran,
ein zugrundeliegendes Gebilde ausfindig zu machen, liegt in der Vermutung, dass es immer mitschwingt. Durch
Auszählen wird eine wiedererkannte Form herausgeschält, die nun als Etwas über das Gedicht feststeht.
Begriffe sind Metrum und Versmaß und Versfuß. Der Sprachkörper fußt auf der Messbarkeit des rythmischen Einteilens, Takt für Takt in eine Zeitlichkeit hinein getrennt.
Jorge Luis Borges erzählt, wie John Wilkins in den 1660ern zur Formulierung seiner Universalsprache Unterteilungen der Welt vornahm, WIE JEDE KLASSIFIAKTION DES UNIVERSUMS, WILLKÜRLICH UND MUTMASSLICH. Wilkins
Universalsprache basiert darauf, Vokale und Konsonanten in Silben und im Wort anhand eines Rastersystems von
Differenz und Zugehörigkeit aneinanderzureihen, so dass aus einer Bezeichnung mehrere am Bezeichneten erkannte Charakteristika im wahrsten Sinne des Wortes ablesbar sind und die Bezeichnung das Bezeichnete somit
direkt charakterisiert. Das Sprechen komplett entspricht.
Weil Abu Ali al-Hasan ibn al-Haitham, latinisiert Alhanzen, die Frage nicht auflösen kann, warum die Formen der
Dinge sich, nach der transformativen Übertragung durch Licht, in der Bildlichkeit wieder richtig herum anordnen,
vermutet er eine punktweise Wahrnehmung. Beim ins-Auge-Fallen werden Gesetze der Lichtbrechung umgesetzt,
die an den einzelnen Seh-Strahlen greifen und alle Formen Punkt für Punkt an Ort und Stelle versetzen.
Da es anscheinend DIE GLEICHE ANORDNUNG ist, DIE SIE AUF DEN DINGEN HATTEN, ist nicht entscheidbar, ob es
die willkürliche Ordnung ist, die auf die Dinge angleichend zugeht, oder ob die Dinge es sind, die mit ihrer abgemachten Ordnung ins Auge fahren.
DENN WENN NICHTS WEITER ALS DIES GESCHÄHE, MÜSSTE DAS AUGE IN DER LAGE SEIN, DIE SEHEINDRÜCKE AUSZUWÄHLEN ODER SIE ANDERS ZU MISCHEN, ALS SIE VORHER WAREN.
Belting, Florenz und Bagdad, S.118
Die Rythmen der Raster versetzen in Schwingung. Eine Mannigfaltigkeit an Ordnungen fällt in einen irisierenden
Effekt und ein Wirrwarr an Folien sorgt für horrendes Knistern.
Ihre Überlagerungen changieren und die Orientierung ist zu verlieren.
Abbildungen
Reproduktionen chinesischer Holzdrucke, 16. Jh. u. Z. aus: Richard E. Strassberg, A Chinese Bestiary: Strange Creatures from the Guideways through Mountains and Seas, Berkley: University of California Press, 2002
Photographie Mia Sanchez
Photographie Doris Margarete Schmidt
Marmorfigur Cupido und Psyche, Ostia
und
Nachzeichnung einer Münze mit Janus- Abbildung aus: Stewart Perowne, Römische Mythologie, Wiesbaden: Vollmer, 1969
Stills aus Jean-Luc Godard, La Chinoise, Frankreich, 1967

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