Riese in Ketten

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Riese in Ketten
ALLIANZ GROUP
Journal
Deutsche Ausgabe 2 | 2014
Riese in Ketten
Brasilien – ein Land im Reformstau
Der Atem des Monsters
Die Hagelflieger von Rosenheim
Ibrahim
9
23
»Von Lügnern umstellt«
Über die dunklen Seiten der Macht

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Allianz Journal 2/2014
Allianz | Shutterstock | Ibrahim | Roth
Inhalt
IMPRESSUM
Allianz Journal 2/2014
(Juni)
Zeitschrift für Mitarbeiter
der Allianz Gesellschaften
Herausgeber Allianz SE
Verantwortlich für
den Herausgeber
Emilio Galli-Zugaro
Chefredaktion
Frank Stern
Layout volk:art51
Produktion repromüller
Anschrift der Redaktion
Allianz SE
Redaktion Allianz Journal
Königinstraße 28
80802 München
Tel. 089 3800 3804
[email protected]
Das für die Herstellung
des Allianz Journals
verwendete Papier wird
aus Holz aus nachhaltiger
Waldbewirtschaftung
hergestellt.
16
23
Alte Hasen treffen auf Newcomer: Am 17. Juli fällt in Zürich der
Startschuss für die Allianz Sports
Eine Frage des Glaubens: die Hagelflieger von Rosenheim im Kampf
gegen die Natur
KURZ BERICHTET
4
Neues aus der Allianz Welt
DEUTSCHLAND
18 Leben in der Zwischenwelt
Nicht Land, nicht Meer – im spröden Reich
der Halligen
23 Der Atem des Monsters
Die Hagelflieger von Rosenheim
MEINUNGEN
9
»Von Lügnern umstellt«
Managementtrainer Manfred Kets de Vries
über die dunklen Seiten der Macht
E U RO PA
26 In der roten Zone
Wie sich die Schweizer auf Naturkatastrophen
vorbereiten
G LO B A L
13 Fokus Großstadt
Auf dem Weg zur digitalen Versicherung
16 Fit für Zürich
Die Allianz Sports vor dem Start
2
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44
50
Von der Schwäbischen Alb ins Reich der Mitte –
und darüber hinaus
Ein Sozialprojekt der Allianz Brasilien in São Paulo gibt FavelaKindern eine Chance
B R A S I L I E N S PE Z I A L
28 Riese in Ketten
Brasiliens marode Infrastruktur wird zum
Wachstumshemmnis
32 Jung, schwarz, tot
Kampf um Menschenrechte in einem
zerrissenen Land
36 »Wir hoffen auf Reformen«
Helga Jung über Erwartungen und Probleme
im größten Land Lateinamerikas
38 Zwischen Favela und Formel 1
Allianz Seguros – ein Spiegel Brasiliens
42 »Treffen kann es jeden«
Ein Überfall und seine Folgen
44 Die Welt hinter der Mauer
Chancen für Favela-Kinder

AMERIK A
48 Süchtig nach der Pille
Medikamentenmissbrauch in den USA
ASIEN
50 Spätzle süß-sauer
Von einer, die Schwaben gegen Asien tauschte
GESELLSCHAFT
52 Sisyphus in Gummistiefeln
Vor uns die Sintflut – Strategien für einen
wirksamen Hochwasserschutz
55

Dilbert
3
Allianz Journal 2/2014
K U RZ
B ERI C H T E T
Allianz
Weniger Piratenangriffe
PERSONALIEN
Die Zahl der Schiffshavarien ist im vergangenen Jahr gegenüber 2012 um 20 Prozent gesunken und bewegte sich zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Jahren unter der Marke von 100.
Das geht aus dem im März veröffentlichten Report Safety and Shipping Review 2014 von Allianz
Global Corporate & Specialty (AGCS) hervor, der alle weltweit gemeldeten Schiffsuntergänge
ab 100 Bruttoregistertonnen untersucht. Danach gingen 2013 insgesamt 94 Schiffe verloren.
Im Jahr 2012 waren es noch 117. Auch die Zahl der Piratenangriffe ging zurück. Nach Angaben
des International Maritime Bureau wurden im vergangenen Jahr 264 Überfälle gemeldet, elf
Prozent weniger als ein Jahr zuvor. Entgegen dem Trend wird es rund um Indonesien dagegen
immer unsicherer. In den letzten fünf Jahren stieg die Zahl der Übergriffe dort von 15 auf 106
an. Eine Besorgnis erregende Entwicklung zeigt sich auch im Golf von Guinea. Vor der Küste
Somalias, der einstigen Pirateriehochburg, dagegen gingen die Überfälle nicht zuletzt wegen
der verstärkten Schutzmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft erheblich zurück. Kam
es 2011 noch zu 160 Angriffen, lag die Zahl 2013 nur noch bei sieben.
AU S G E ZEI C HN E T
Die Allianz Island gehört
zu den finanzstärksten Unternehmen des Landes. Laut einer
Untersuchung des Branchendienstes Creditinfo zählt die
Allianz Tochter zu dem einen
Prozent, die die Liste der rund
33 000 in Island registrierten
Firmen anführen.
Allianz Capital Partners
(ACP) ist vom Fachmagazin
»Infrastructure Investor« mit
dem Preis für das weltweit
beste Infrastrukturgeschäft des
Jahres ausgezeichnet worden.
Das Blatt würdigte damit die
Übernahme des tschechischen
Gasnetzbetreibers NET4GAS,
die zusammen mit ACPs
Konsortiumpartner Borealis
im August 2013 abgeschlossen
wurde.
Global Innovation Awards 2014
Auf dem Allianz International in Brüssel sind die
Gewinner des Innovationswettbewerbs Global
Innovation Awards 2014 bekanntgegeben
worden. Die Preise wurden in den Kategorien
Digitalisierung, Kooperation auf globaler und
lokaler Ebene sowie für außergewöhnliches
Mitarbeiterengagement vergeben.
Sieger in der Kategorie Digitalisierung, für die
27 Bewerbungen aus 23 Ländern eingingen,
wurde Bajaj Allianz General. Die indische
Allianz Gesellschaft wurde für ihre innovative
Mobilentwicklung EEZEE TAB ausgezeichnet,
die die Policenverwaltung erheblich vereinfacht und auch die Möglichkeit der sicheren
Onlinebezahlung beinhaltet.
Der Preis für die beste übergreifende Zusammenarbeit wurde für das Lebensversicherungskonzept »Perspektive« der Allianz Deutschland
vergeben, das in enger Kooperation mit Group
Actuarial, Group Risk, AIM und Global Life &
Health entwickelt wurde. Für diese Kategorie
lagen 13 Bewerbungen aus zehn Ländern vor.
Für ihre Leistungen bei der Verbesserung des
Mitarbeiterengagements wurden in diesem
Jahr gleich drei Gruppengesellschaften ausgezeichnet. Hier standen die Allianz Ungarn,
Allianz Taiwan Life und Allianz Worldwide Care
gemeinsam auf dem Siegertreppchen (unser
Foto, v.l.).
W W W. AG C S . A L L I A N Z .C O M
Amerika
Afrika
Indien
Südostasien
Ferner Osten
18
79
26
128
13
Verlagerung der
Piraterie-Aktivitäten in
den Golf von Guinea
Mit
106
Überfällen führte Indonesien
im Jahr 2013 die globale Hitliste
der Piratenangriffe an
7
Angriffe vor Somalia
im Jahr 2013. Zwei Jahre
zuvor waren es noch
Anstieg der Piratenangriffe in
indonesischen Gewässern um
700%
160
Allianz
Nord-Süd-Dialog in Alexandria
Die Bibliothek von Alexandria
Identität im Widerstreit kultureller und religiöser Prägungen war das Thema einer Konferenz,
die die Allianz Kulturstiftung im April gemeinsam mit der ägyptischen DOUM Foundation in
der Bibliothek von Alexandria veranstaltet hat. Als Titel für die Tagung hatten die ägyptischen
Partner den Titel »Identitäten in Bewegung« (Identities in Motion) gewählt und dazu rund 80
arabische und europäische Journalisten, Schriftsteller und Wissenschaftler zu Workshops eingeladen. Die Ergebnisse wurden anschließend in einer öffentlichen Veranstaltung diskutiert.
Gestartet war die Reihe von Nord-Süd-Dialogen im östlichen Mittelmeer 2012 in Triest, gefolgt
von einem Symposium in der albanischen Hauptstadt Tirana. Den nächsten Nord-Süd-Dialog,
dessen Zusammenhalt zunehmend durch blutige Konflikte gefährdet ist, plant die Allianz
Kulturstiftung für das kommende Frühjahr in Thessaloniki.
H T T P S ://K U LT U R S T I F T U N G . A L L I A N Z . D E
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innerhalb von fünf Jahren
(2009: 15 Angriffe)
Quellen: International Maritime Bureau (IMB), AGCS
Preis für Mitarbeitergeschäft
Beim nächsten Allianz International (AZI)
wird erstmals ein Preis für besonders innovative Aktionen im Mitarbeitergeschäft
verliehen. Gesucht werden Initiativen, die in
besonderer Weise Mitarbeiter als Kunden
ansprechen und dazu beitragen, die Identifikation mit der Allianz und ihren Produkten
zu stärken.
Bewerbungen müssen bis Dezember dieses
Jahres eingereicht werden. In die Beurteilung fließen drei Kriterien ein: Ausbau des
Mitarbeitergeschäfts, Kundennutzen und
Resonanz bei den Mitarbeitern, wozu die
Erhöhung von Identifikation und Empfehlungsbereitschaft zählen.
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Manfred Knof, zuvor Vorstandsmitglied der Allianz
Deutschland AG verantwortlich für das Ressort Operations,
hat im April die Nachfolge
von Bruce Bowers als Leiter
der Allianz in Mittel- und
Osteuropa und dem Nahen
Osten (CEEMA) angetreten.
Bowers hat die Allianz Gruppe verlassen, wird ihr aber als
Berater weiter zur Verfügung
stehen.
Nachfolger von Manfred Knof
wurde Andree Moschner,
zuvor im Vorstand der Allianz
Deutschland AG verantwortlich für das Ressort Vertrieb
und Vorstandsvorsitzender
der Allianz Beratungs- und
Vertriebs-AG. Moschner ist
weiterhin für das Allianz
Banking zuständig.
Joachim Müller ist seit
1. April neuer Vorstands
vorsitzender der Allianz
Beratungs- und Vertriebs-AG
und zugleich im Vorstand
der Allianz Deutschland AG
für das Ressort Vertrieb
verantwortlich.
Manfred Knof, Solmaz Altin,
CEO der Allianz Sigorta in der
Türkei, Robert Franssen, CEO
von Allianz Benelux, Doug
Hodge, CEO von PIMCO, und
Severin Moser, CEO der
Allianz Suisse, werden zudem
Mitglieder des International
Executive Committee (IEC)
der Allianz. Mohamed ElErian gehört dem Gremium
weiter an.
5
Allianz Journal 2/2014
Allianz
K U RZ
B ERI C H T E T
Allianz
vor AXA
Am Ball
Die Allianz hat im Februar für 110 Millionen
Euro 8,33 Prozent
am FC Bayern
München erworben und baut ihre
Partnerschaft mit
dem deutschen Fußballrekordmeister damit
weiter aus. So soll die Präsenz in der weltberühmten Allianz Arena und im Markenauftritt des FC Bayern verstärkt und über
die Webseite des Clubs Versicherungsprodukte für Fans angeboten werden. Darüber
hinaus will die Allianz im Stadion neue
Dienstleistungen anbieten, um die Attraktivität insbesondere für Familien zu erhöhen.
Die 2005 eröffnete Allianz Arena ist mit ihren
jährlich 3,2 Millionen Besuchern mittlerweile
die unangefochtene Nummer eins unter
Bayerns Attraktionen, noch vor Schloss Neuschwanstein, das es pro Jahr auf 1,4 Millionen
Gäste bringt.
Markenschutz in Hongkong
Über 8500 Markenrechtsexperten
aus aller Welt sind im Mai zur Jahreskonferenz der International Trademark
Association (INTA) in Hongkong zusammengekommen. Auch die Allianz,
die seit Jahren aktiv in dem Verband
mitwirkt, war wieder vertreten. Zu den
Themen, die in diesem Jahr auf der
Tagesordnung standen, gehörten unter
anderem erfolgreiche Strategien zum
Markenschutz in der digitalen Welt und
Möglichkeiten zur Durchsetzung von
Markenrechten in Schwellenländern.
Die Allianz nutzte die Gelegenheit und
lud vor Ort 30 internationale Markenrechtler zum »Allianz Trademark Workshop« in die Gebäude von Allianz Global
Investors ein. Tobias Unterguggenberger und Steffen Drögsler, bei der Allianz
Gruppe für das Thema Markenschutz
zuständig, diskutierten mit den Markenanwälten erfolgreiche Strategien zum
Markenschutz und konkrete Fragen zur
Umfirmierung von Einheiten der MondialGruppe zu Allianz Global Assistance.
G I N > L E G A L &C O M P L I A N C E > T R A D E M A R K C O R N E R
W W W. F C B AY E R N . D E
Shutterstock
Marke
1
Telekom
30,6
2
BMW
29,0
3
Volkswagen
27,1
4
Mercedes-Benz
24,2
Markenwert
2014
(Mrd. USD)
5
Allianz
20,4
6
Siemens
20,4
7
Deutsche Bank
13,5
8
SAP
13,4
9
ALDI
12,9
10
Porsche
11,4
11
DHL
11,2
12
E.ON
9,6
13
Bosch
9,2
14
Adidas
7,8
15
Audi
7,1
16
BASF
6,4
17
Nivea
6,1
18
Munich Re
5,7
19
Bayer
5,2
20
Daimler
5,1
Wert von fast 105 Milliarden Dollar
unangefochten an der Spitze der erfolgreichsten Marken. Es folgen Samsung
(75 Milliarden), Google (68 Milliarden)
und Microsoft (62 Milliarden).
W W W. B R A N D F I N A N C E .C O M
Mitarbeiter werben Mitarbeiter
Die Allianz hat für 440 Millionen Euro einen Teil des Sachversicherungsgeschäft des italienischen
Versicherungsunternehmens Unipol Sai übernommen und baut damit ihren Marktanteil in
diesem Segment erheblich aus. Das Geschäft umfasst über 700 Agenturen, 500 Mitarbeiter,
1,5 Millionen Kunden und ein Prämienvolumen von 1,1 Milliarden Euro. Die Allianz Italien zählt
mit ihren 5000 Mitarbeitern und über sechs Millionen Kunden zu den größten Versicherungen
Italiens. Hinzu kommen rund 2000 Versicherungsvertreter, 1600 Finanzberater, ein Netz von
1500 Filialen von Bankpartnern sowie der Direktversicherer Genialloyd. 2013 erwirtschaftete die
Allianz Italien Bruttoprämien von knapp 12,5 Milliarden Euro, vier Milliarden davon in der Schadenund Unfallversicherung.
Mit einer landesweiten Kampagne in eigener Sache ist Allianz Bajaj in Indien
ins neue Jahr gestartet. Unter dem Motto »I’m the Brand Ambassador« (Ich bin
Markenbotschafter) wurde unter der Belegschaft zwischen Januar und März
intensiv für Allianz Policen geworben. Auf Postern und im
Intranet priesen Mitarbeiter, Geschäftsstellenleiter, Vertriebsmanager, Marketingexperten und der Vorstandschef selbst
die Vorzüge der Hausprodukte an. Auf Schauspieler wurde
bewusst verzichtet. Während der Zeit der Kampagne konnten Mitarbeiter für sich und ihre Kinder, Ehepartner und
Eltern Versicherungen mit attraktiven Rabatten abschließen.
Danach wurden die Sonderkonditionen wieder auf die Belegschaft beschränkt. Im Laufe der Kampagne stieg die Zahl
der Mitarbeiter mit Allianz Policen von 44 Prozent auf über
96 Prozent.
W W W. A L L I A N Z . I T
W W W. B A J A J A L L I A N Z .C O M
Allianz baut Marktanteil in Italien aus
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Die Allianz hat die französische Versicherungsgruppe AXA von der Spitzenposition
unter den wertvollsten Versicherungsmarken der Welt verdrängt. Beim Ranking
»Brand Finance Global 500« kommt die
Allianz in diesem Jahr auf einen Markenwert von gut 20 Milliarden Dollar, AXA
wurde mit 19 Milliarden Dollar bewertet.
Dass die Allianz ihren Markenwert gegenüber dem Vorjahr um 62 Prozent steigern
konnte, führten die Autoren von Brand
Finance unter anderem auf den gestiegenen Bekanntheitsgrad der Marke, die
große Treue ihrer Kunden und öffentlichkeitswirksame Sponsoring-Maßnahmen
wie der Allianz Arena in München zurück.
Unter den deutschen Marken insgesamt
führt die Telekom mit 30 Milliarden Dollar
Markenwert vor BMW (29 Milliarden),
Volkswagen (27 Milliarden) und MercedesBenz (24 Milliarden). Wie schon im Vorjahr
liegt Apple im globalen Ranking mit einem
Rang
D
2014
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Eine sichere Bank
Euler Hermes baut bei der Erweiterung seines Geschäfts in Malaysia
auf die Hongkong and Shanghai
Banking Corporation (HSBC). Wie
beide Seiten im Februar bekanntgaben, wird Euler Hermes exklusiver
Anbieter von Kreditversicherungen
für Firmenkunden der Großbank.
Die entsprechenden Policen werden
über die lokale Allianz Gesellschaft,
Allianz General, vertrieben.
HSBC und Allianz Tochter Euler
Hermes arbeiten bereits seit 2008 in
Brasilien, Mexiko, den USA und den
Vereinigten Arabischen Emiraten zusammen, im vergangenen Jahr wurde
die Partnerschaft auf Frankreich,
Hongkong, Singapur, die Türkei und
Großbritannien ausgedehnt. Euler
Hermes, größter Kreditversicherer
der Welt, ist seit dem Jahr 2000 in
Asien und dem pazifischen Raum
aktiv und heute über Niederlassungen oder lokale Partner in
Australien, China, Hongkong, Indien,
Indonesien, Japan, Korea, Malaysia,
Neuseeland, Singapur, Taiwan und
Thailand vertreten.
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Allianz Journal 2/2014
K U RZ
B ERI C H T E T
Meinungen
Nur für Frauen
Allianz
Versicherung auf Rädern
Näher am Kunden: Anuj Agarwal (re.), Chef von Allianz Bajaj Life, beim Start des ersten Allianz Mobils
Allianz Bajaj Life macht mobil: Die
indische Lebensversicherungstochter
der Allianz Gruppe hat seit Januar ein
Fahrzeug im Einsatz, das in Poona und
Umgebung Hilfe und Beratung zu allen
Versicherungsfragen bis an die Haustür
bringt. Mit »Service auf Rädern« kann
von der Adressänderung über die
Vertragsverlängerung bis zur Beitrags-
zahlung alles bequem zu Hause erledigt
werden. Allianz Bajaj Life reagierte mit
dem Angebot auf Klagen von Kunden,
die Probleme haben, die nächste Allianz
Niederlassung zu erreichen. Das Allianz
Mobil fährt nun regelmäßig Siedlungen
an, die bis zu 30 Kilometer von der nächsten Filiale entfernt sind.
W W W. B A J A J A L L I A N Z .C O M
Bajaj Allianz hat Anfang des Jahres in
Poona die erste nur mit Frauen besetzte
Niederlassung ins Leben gerufen – ein
Novum in Indiens Versicherungsindustrie. Damit soll für weibliche Beschäftigte
und Vermittler ein förderliches Arbeitsumfeld geschaffen werden, teilte das
Unternehmen in einer Pressemitteilung
mit. Die Frauenniederlassung soll insbesondere weiblichen Fachkräften eine
Arbeitsmöglichkeit bieten, die zuvor aus
familiären Gründen aus dem Berufsleben
ausscheiden mussten, hieß es weiter.
»Wir möchten diesen Frauen die Möglichkeit geben, ihre professionelle Laufbahn wieder aufzunehmen, ohne dabei
familiäre Prioritäten zu gefährden«,
erklärte Bajaj Allianz-Chef Tapan Singhel
bei der Eröffnung. Krippenplätze, Abholservice, Heimarbeitsplätze und
flexible Arbeitszeiten gehören mit zum
Angebot im Frauenbüro. Zusätzlich zur
Anfangsbesetzung von fünf Mitarbeiterinnen wurden zehn Vertreterinnen
rekrutiert. Bis Ende des Jahres soll die
Zahl auf 60 erhöht werden. Bajaj Allianz
hat angekündigt, ähnliche Niederlassungen auch in anderen Großstädten
Indiens zu eröffnen.
W W W. B A J A J A L L I A N Z .C O M
Korrektur
Grüne Allianz
Im Beitrag über das Mitarbeitergeschäft im letzten
Allianz Journal (»Botschafter in eigener Sache«)
wurde die Zahl der Mitarbeiter, die bei der Allianz
Irland mindestens eine Allianz Versicherung abgeschlossen haben, mit etwa 40 Prozent angegeben
(2012). Korrekt hätte die Zahl 86 Prozent lauten
müssen. 2013 waren es bereits 89 Prozent der
irischen Mitarbeiter, die sich für Produkte der Allianz
entschieden hatten. Die Weiterempfehlungsbereitschaft liegt mittlerweile bei 95 Prozent.
Die Allianz hat im Februar die Prinzipien der Vereinten Nationen für
nachhaltige Versicherungen (UN Principles for Sustainable Insurance/
PSI) unterzeichnet und sich damit verpflichtet, in ihrer Geschäftstätigkeit soziale und Umweltbelange zu beachten und den Regeln guter
Unternehmensführung zu folgen. »Dies ist ein wichtiger Schritt auf
unserem Weg zum nachhaltigsten Versicherer und Vermögensverwalter«, so Allianz Chef Michael Diekmann. Seit Anfang des Jahres
gelten bei der Allianz strengere Kriterien für das Versicherungsgeschäft,
insbesondere in so sensiblen Bereichen wie Rüstungsindustrie, Infrastruktur, Bergbau, Öl und Gas sowie Landwirtschaft.
»Von Lügnern umstellt«
Shutterstock
Was macht gute Manager aus? Was ist ihr Antrieb im Leben,
was motiviert sie, jeden Morgen aufzustehen? Wir sprachen mit
Manfred Kets de Vries, Professor für Führungskräfteentwicklung
an der Wirtschaftshochschule INSEAD, über Sex, Geld und Glück.
INTERVIEW: FRANK STERN
W W W. A L L I A N Z . I E
W W W. A L L I A N Z .C O M
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9
INSEAD
M EI NUN G E N
Herr Professor, Sie unterrichten die
Managerelite von Weltkonzernen.
Was können Sie denen beibringen,
was sie nicht schon wissen?
Ein Großteil der leitenden Führungskräfte
nutzt sein Potenzial nicht annähernd aus.
Viele Manager, insbesondere solche in
höchsten Positionen, entwickeln sogar
selbstzerstörerische Tendenzen, weil sie
dem Hybrisfaktor erliegen. Zweitens holen
sie nicht das Beste aus ihren Leuten heraus.
Drittens arbeiten die meisten Führungsteams nicht effektiv, weil ihre Leistungen
durch unterschwellige Konflikte gebremst
werden. Und schließlich ähneln viele Organisationen einem Gulag. Kein Platz, wo man
gern arbeiten möchte. All diese Fehlfunktionen können ziemlich teuer werden. Ich
versuche, Wege aufzuzeigen, wie Menschen
das Beste aus sich herausholen können und
wie sich bessere Arbeitsorganisationen
schaffen lassen.
Was ist unter Hybrisfaktor zu verstehen?
Der Begriff kommt aus dem Griechischen
und beschreibt einen Zustand von übertriebenem Stolz und Arroganz. Unter leitenden
Managern ist das ein ziemlich verbreitetes
Phänomen. Hybris und Narzissmus sind
wie Zwillinge. Natürlich braucht man etwas
Narzissmus, wenn man ganz nach oben will.
Er fördert das Selbstbewusstsein. Aber Narzissmus kann auch außer Kontrolle geraten.
Gefährlich wird es dann, wenn Position und
Charakter nicht zusammenpassen, denn das
kann das Leben vieler Menschen beeinträchtigen. Macht korrumpiert und absolute
Macht korrumpiert absolut, wusste schon
Lord Acton. Manche Top-Manager verlieren
die Verbindung zur Realität. Sie leben wie in
einem Spiegelsaal und hören nur noch das,
was sie hören wollen. Und die Gemeinde
der Ja-Sager bestärkt sie darin. Wir sollten
immer daran denken, dass Unternehmen
keine demokratischen Institutionen sind.
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Allianz Journal 2/2014
Man braucht funktionierende Kontrollmechanismen.
Zum Beispiel?
Aufsichtsräte können helfen, aber häufig
funktionieren sie nicht gut. Dann gibt es die
Presse, die als ausgleichende Macht ebenfalls eine große Rolle spielt. Doch das Entscheidende ist eine Kultur der gesunden
Respektlosigkeit gegenüber dem Chef.
Führungskräfte müssen eine Kultur schaffen,
in der ihre Leute eine Stimme haben. Es gibt
Manager, die klug genug sind, eine solche
Kultur in ihrer Organisation zu etablieren.
Das ist deshalb so wichtig, weil Menschen
die Neigung haben, Vorgesetzten nach dem
Mund zu reden. Ich sage immer, sobald man
eine leitende Position erreicht hat, ist man
von Lügnern umstellt. Das offene Wort flieht
die Macht.
Dann sind Sie der Hofnarr, der als
Einziger wagt, dem König die Wahrheit
zu sagen?
Ja, in der Rolle bin ich ziemlich oft. Ich bin
der weise Narr. Hofnarren werden nach
einer gewissen Zeit normalerweise einen
Kopf kürzer gemacht. Aber ich komme
recht oft damit durch.
In Ihren Büchern beschäftigen Sie sich
auch mit den dunklen Seiten von
Führungskräften. Was unterscheidet
sie vom Durchschnitt?
Sie sind gefährdeter, weil sie größere Verantwortung tragen. Wie gesagt, der Hybrisfaktor kann das Leben vieler Menschen
beeinflussen. Ich weiß nicht, wie das bei der
Allianz ist, aber ich treffe in meiner Arbeit
auf Vorstandschefs, die in einer Parallelwelt
leben, mit Privatlift, eigenem WC, eigenem
Esszimmer und Privatjet. Der Grad der Loslösung vom echten Leben ist beängstigend.
Um aus diesem Spiegelsaal auszubrechen,
müssen sie zunächst einen klaren Blick auf
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ZUR PERSON
Manfred Kets de Vries, 1942 in den Niederlanden geboren,
ist Außerordentlicher Professor für Führungskräfteentwicklung an der Wirtschaftshochschule INSEAD in Fontainebleau,
Singapur und Abu Dhabi. Er hat an der McGill University
und der Ecole des Haute Etudes Commerciales in Montreal,
an der European School for Management and Technology
(ESMT) in Berlin und an der Harvard Business School gelehrt.
Kets de Vries, Vater von vier Kindern, ist Autor, Ko-Autor und
Herausgeber von über 40 Büchern, darunter »Sex, Money,
Happiness and Death: The Quest for Authenticity« (2009).
Die Financial Times, Le Capital, die Wirtschaftswoche und
The Economist bezeichneten ihn als einen der weltweit
führenden Experten im Bereich Führungskräfteentwicklung.
W W W. K E T S D E V R I E S .C O M
sich selbst gewinnen. Sie müssen begreifen,
was da mit ihnen passiert. An dieser Stelle
komme ich ins Spiel.
Selbstreflexion macht aus einem
Narzissten noch keine verantwortungsbewusste Leitfigur.
Um die Arbeit von Managern zu bewerten,
befrage ich normalerweise die Menschen
in ihrem Arbeitsumfeld. Doch in manchen
Kulturen äußern Menschen nur sehr zögerlich ihre wahre Meinung. Das sind die Befragungen, in denen derjenige, über den ein
Urteil abgegeben werden soll, Traumnoten
bekommt. Ich gehe darüber hinaus und versuche, auch Partner, Familienmitglieder und
Freunde in die Befragung einzubeziehen.
Mir haben Manager schon erzählt, dass alle
um sie herum Idioten seien, der Vorgesetzte,
Mitarbeiter, Kollegen – alles Idioten. Doch
wenn ich Ihnen dann entgegenhalte, dass ihre
erwachsene Tochter mir gesagt hat »Mein
Vater ist ein Idiot«, kann das der entscheidende Punkt sein, der eine Wende einläutet.
Hört sich an, als stünde an der Spitze
der Wirtschaftswelt ein Haufen mental
instabiler Leute.
Ich sage immer, jeder ist normal, bis man
ihn besser kennt. Machen wir uns nichts vor:
Sie schauen auf den ersten Blick ganz normal
aus, aber meine Erfahrung sagt mir, sobald
man ein wenig an der Oberfläche kratzt und
danach fragt, was jemanden anmacht, was
ihn motiviert, was die tiefsten Beweggründe
für seine Handlungen sind, stößt man in den
meisten Fällen auf einige Überraschungen.
In einem Ihrer Bücher heißt es, dass wir
von Sex, Geld, Streben nach Glück und
Angst vor dem Tod getrieben werden.
Reden wir über Sex. Sie schreiben,
Frauen seien genetisch programmiert,
nach Männern mit hohem Sozialstatus
Ausschau zu halten, während Männer
den schnellen Sex suchen. Sie müssen bei
Feministinnen ja ganz groß ankommen.
Ich weiß nicht, was ich auf Ihre letzte Bemerkung antworten soll, aber eines steht fest:
Ich bin umgeben von Frauen. Ich bin immer
vehement für Frauenrechte eingetreten,
doch an einer Sache kommen wir halt nicht
vorbei: Männer können nicht gebären. Es
gibt bestimmte biologische Funktionen und
Erfahrungen, die Männer nicht haben. Vielleicht hören Feministinnen das nicht gern,
doch hier geht es darum, wie wir von der
Natur programmiert wurden. Frauen werden
schwanger, und in diesem Zustand sind sie
keine guten Jäger. Vom evolutionsgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet suchen
Frauen Männer mit athletischer Statur, weil
sie das zu guten Jägern macht, und Männer,
die bereit sind, die Versorgung von Mutter
und Kind zu übernehmen – kinderfreundliche Männer.
Und was sagen die Gene der Männer?
Männer suchen gut gebaute Frauen, denn
das ist ein Zeichen von Fruchtbarkeit. Es gibt
in unseren Genen einen Bereich, der von der
Natur her vorprogrammiert ist. Das habe ich
in meinem Buch erläutert. Aber das heißt ja
nicht, dass wir uns nicht über unsere primitiven Impulse erheben könnten. Hätten wir
den primitiven Urzustand nicht hinter uns
gelassen, wäre das heute noch eine ziemlich
raue Welt. Wir mussten lernen zu kooperieren. Aufgrund des biologisch vorgeprägten
Zusammenspiels von Mutter und Kind haben
Frauen vielleicht die feineren Antennen,
wenn es um Beziehungen geht. Aber das
bedeutet ja nicht, dass Männer nicht lernfähig sind. Ich glaube, dass diese höhere

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Sensibilität vielleicht auch der Grund dafür
sein könnte, dass Frauen zum Beispiel in vernetzten Organisationen bessere Ergebnisse
erzielen. Die Managerinnen, mit denen ich
bisher zu tun hatte, waren im Allgemeinen
kompetenter als Männer.
Das scheint sich noch nicht überall
rumgesprochen zu haben.
Leider sind viele Organisationen nicht sehr
frauenfreundlich. Dabei ist Vielfalt ungemein
wichtig. Wer schnelle Entscheidungen
wünscht, muss nur ein paar graue Herren
in einen Konferenzraum stecken, und er
bekommt sie. Wer aber nach kreativen
Lösungen für eine Aufgabe sucht, braucht
Vielfalt in einem Team. Nicht nur das
Geschlecht spielt dabei eine Rolle, auch
das Alter, die Kultur, der fachliche Hintergrund. Was nicht ganz einfach ist, denn
normalerweise suchen wir unsere Kollegen
danach aus, ob sie uns nah und ähnlich
sind. Weniger nach ihren Fähigkeiten.
Sie behaupten, dass die Bürowelt der
neue Brennpunkt für Untreue sei.
Hört sich nach einer Menge Ärger am
Arbeitsplatz an.
11
Shutterstock
M EI NUN G E N
Wir alle haben unsere Wünsche und
Fantasien. Noch mal, es gibt Unterschiede
zwischen Männern und Frauen. Ich rede
über solche Faktoren wie den Wunsch nach
Stabilität und nach Abwechslung. Männer
haben allgemein mehr sexuelle Träume.
Im Arbeitsumfeld ist es besser, das Thema
zu unterdrücken, um mögliches Konfliktpotenzial zu reduzieren. Aber natürlich spielt
Sexualität immer eine Rolle. Und für Manager, die meist unter Zeitdruck stehen, ist das
Büro ein logischer Anbahnungsort.
Und viele von ihnen leiden, so schreiben
Sie jedenfalls, unter dem Wohlstandsermüdungssyndrom. Sie sind ihres Reichtums überdrüssig. Arme reiche Leute.
Das ist jetzt nicht unbedingt die beste Beschreibung. Natürlich ist es besser, reich und
unglücklich zu sein, als arm und unglücklich.
Aber es passiert eben nicht selten, dass
Menschen, die eine Menge Geld machen,
auf dem Weg nach oben ihr Ziel aus den
Augen verlieren. Sie werden satt und träge,
ihnen fehlt der Antrieb im Leben.
Ich darf Sie mal zitieren: »Menschen,
die nichts besitzen, fühlen sich freier
und reicher.« Die Habenichtse dieser
Welt werden erfreut sein, das zu hören.
An dem Satz ist dennoch etwas dran. Je
mehr man besitzt, desto mehr Probleme
kann man bekommen. Der reichste Mensch
ist eigentlich Buddha, der jedem weltlichen
Besitz entsagt hat.
Allerdings sind dafür wohl nur die
Wenigsten von uns geschaffen.
Die anderen versuchen, die richtige
Work-Life Balance hinzubekommen,
den Ausgleich zwischen Beruf und
Familie.
Global
Ich mag diesen Begriff Work-Life Balance
nicht. Das klingt, als ob Arbeit und Leben
zwei unterschiedliche Sphären sind. Ich
glaube, Life Balance wäre der angemessenere Terminus. Arbeit macht einen großen
Teil unseres Lebens aus, wobei Arbeit für
verschiedene Leute durchaus etwas Unterschiedliches bedeuten kann. Doch die
eigentliche Frage ist, ob man genügend Zeit
hat, Beziehungen zu pflegen, die einem im
Leben besonders wichtig sind. Diese Frage
spielt vor allem für Menschen um die 30 eine
Rolle. Es sind die Jahre, in denen man beruflich vorankommen will, aber in denen viele
auch darüber nachdenken, eine Familie zu
gründen. Da muss man konsequent sein
und Grenzen abstecken, damit genügend
Zeit bleibt für Freunde und Familie.
Wäre es nicht die Aufgabe der Personalabteilungen, dafür zu sorgen, dass die
Mitarbeiter genügend Zeit für Familie
und Freizeit haben?
Solche Dinge sollte man nicht auf die Personalabteilungen abwälzen. Um diese Frage
muss man sich ganz oben kümmern, die
Haltung der Vorstandschefs ist entscheidend. Sie müssen verstehen, dass Menschen
ein Privatleben brauchen, wenn sie im Beruf
erfolgreich sein sollen. Diejenigen, die den
Ausgleich zwischen Beruf und Familie hinbekommen, erzielen am Ende die besseren
Ergebnisse.
Fokus Großstadt
Shutterstock
Die Allianz ist in guter Verfassung, aber sie verliert Kunden. Und die, die sie hat,
altern schneller als die Bevölkerung insgesamt. Auf dem Allianz International
(AZI) in Brüssel kamen Ende März neben den Glanzseiten der Gruppe auch ihre
Problemzonen zur Sprache. Die Zukunft der Versicherung, so die Botschaft aus
Belgien, liegt in den Großstädten und in der Smartphone-Welt.
FRANK STERN
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Allianz Journal 2/2014
GLOBAL
Noch nie in der 20-jährigen Geschichte des AZI hat
die große Weltpolitik den Ablauf der Veranstaltung so
direkt beeinflusst wie dieses Mal. Statt wie geplant im
Juni in Sotschi zum G8-Treffen der führenden Industrienationen zusammenzukommen, trafen sich die Staatsund Regierungschefs der G7-Staaten unter dem Eindruck
der Krim-Krise ohne Russland Ende März in Brüssel –
zeitgleich mit dem Allianz International. Am Anreisetag
der AZI-Teilnehmer war der Flughafen der belgischen
Hauptstadt zeitweilig geschlossen und die Innenstadt
gesperrt, so dass einige Vorstandschefs und Manager der
Allianz auf ihrem Weg zum AZI erstmal steckenblieben.
Die Überschneidung beider Ereignisse hatte durchaus
Symbolkraft, ist die Allianz mit ihrer globalen Präsenz
doch auch sonst von den politischen und wirtschaftlichen
Turbulenzen in der Welt unmittelbar betroffen. Ein Umstand, auf den auch Allianz Chef Michael Diekmann in
Brüssel hinwies. Ob Finanzkrise oder Arabischer Frühling,
ob Spannungen in Thailand oder eben die Krimkrise –
nichts, das nicht auch auf die Allianz Welt ausstrahlen
würde.
geschäft in Westeuropa und den USA. Trotz positiver
Entwicklungen in Deutschland und Italien gingen die
Kundenzahlen weiterhin zurück, so Diekmann. Auch
die Profitabilität des Lebensversicherungsgeschäfts
sei unbefriedigend.
Der will Maximilian Zimmerer, im Allianz Vorstand für
das Lebensversicherungsgeschäft und die Kapitalanlagen
der Gruppe zuständig, in den kommenden Monaten mit
neuen Produktklassen und stärkerer Diversifizierung der
Anlagen auf die Sprünge helfen. Keine leichte Aufgabe:
Die niedrigen Zinsen, die die Gewinnmargen nach unten
ziehen, werden nach allgemeiner Einschätzung noch
längere Zeit im Keller bleiben.
»Wir sind in guter Verfassung«, unterstrich Diekmann in
seiner Eröffnungsrede vor den über 200 Teilnehmern mit
Blick auf die Ergebnisse der Gruppe im vergangenen Jahr.
Doch er kam auch sehr schnell auf die Schwachpunkte
zu sprechen, mit denen die Gruppe derzeit zu kämpfen
hat. Dazu zählt unter anderem das Sachversicherungs-
In seiner Rede mahnte Michael Diekmann mehr Ehrgeiz
im Unternehmen an. Für sein Gefühl sind viele Gruppengesellschaften bei der Formulierung ihrer Ziele zu zögerlich. »Steckt die Marken möglichst weit und nehmt die
damit verbundenen Herausforderungen an«, sagte der
Allianz Chef und forderte die AZI-Teilnehmer auf, nicht
beide Fotos: Stern
Schrumpfende Kundenzahlen
Negative Marktentwicklungen und ein teilweise irrationaler Preiswettbewerb schlagen auch auf die Ergebnisse
der Allianz Gruppe durch. Doch einige Probleme seien
hausgemacht, hob Allianz Vorstand Oliver Bäte in Bezug
auf das Firmengeschäft hervor: »In diesem Segment
verlieren wir Geld. Einzige Ausnahme: Großbritannien.«
Mit einem ambitionierten Programm soll der Trend umgekehrt und das Firmengeschäft in den nächsten Jahren
auf den Wachstumspfad zurückgeführt werden.
nur auf Vorgaben des Holdingvorstands zu warten.
»Es gibt noch immer viel unternehmerische Freiheit,
um Dinge selbst zu bestimmen und umzusetzen. Soll
niemand behaupten, wir hätten keinen Spielraum für
Wachstum. Nur in sieben von 35 großen Versicherungsmärkten gehören wir derzeit zu den Top drei.«
Für das laufende Jahr stellte Diekmann einen Aufgabenkatalog vor, der neben der Aufwertung des
Firmengeschäfts, der verbesserten Kooperation mit
Maklerhäusern und dem Ausbau des Bankenvertriebs
auch Schwerpunkte wie die größere Präsenz in Großstädten und die Entwicklung attraktiver Angebote für die
»Smartphone-Welt« umfasst – der nächste Schritt hin
zu einem digitalen Versicherer, wie er auch Allianz Chief
Operating Officer (COO) Christof Mascher vorschwebt.
Auf dem Weg zum digitalen Versicherer
Mascher zufolge wird sich die Allianz der nächsten
Generation durch vier Komponenten auszeichnen:
digitale Produktangebote, hochentwickelte Instrumente
zur Datenanalyse, flexibler Kundenzugang über verschiedene Kanäle und ein hoher Automatisierungsgrad.
Manuelle Prozesse sollen weitgehend zurückgefahren
werden. Mascher: »Wir müssen unsere Geschäftsmodelle von Grund auf ändern.«
Das schließt nach den Worten von Allianz Vorstand Clem
Booth auch die verstärkte Verknüpfung der verschiedenen
Allianz Einheiten ein. Große Erwartungen setzt Booth
daher in das One Allianz-Projekt, das auf die enge Kooperation zwischen den globalen Allianz Einheiten untereinander wie auch mit den lokalen Gruppengesellschaften
abzielt. In Großbritannien hatte Booth das Konzept vor
drei Jahren einem ersten Testlauf unterzogen. Inzwischen
wird es bereits in 15 Ländern umgesetzt. Mit dem im
Januar erfolgten Start von Allianz Worldwide Partners
(AWP), dem Zusammenschluss von Allianz Global Assistance, Allianz Global Automotive sowie Allianz Worldwide
Care und der französischen Global Health, hat die Idee
auch organisatorischen Ausdruck gefunden.
Allianz Chef Diekmann machte deutlich, dass die Zukunft
der Allianz nicht so sehr in Zukäufen liegt, obwohl im
vergangenen Jahr einige vielversprechende Übernahmen
in Frankreich, Belgien und der Türkei gelungen sind. Der
Schlüssel für den Erfolg der Gruppe liegt seiner Überzeugung nach im Wachstum von innen heraus. »Wir sind
in all den Märkten präsent, in denen wir vertreten sein
wollten«, sagte Diekmann. Jetzt komme es darauf an, die
Vorteile auszuspielen, die die globale Organisation biete.
Zwei Punkte sind in seinen Augen von besonderer
Bedeutung: der Ausbau des Marktanteils in den Megacitys dieser Welt sowie das Andocken der Allianz an
die Smartphone-Welt – nicht zuletzt, um für jüngere
Kundengruppen attraktiv zu bleiben. Derzeit schreitet
die Alterung der Allianz Kundenbasis schneller voran
als die der Gesamtbevölkerung.
Digitaler Baukasten
Ein Beispiel für die Allianz der Zukunft stellten Roberto Felici und Lorella Sdrigotti von der Allianz
Italien mit ihrem Projekt Allianz1 vor, das im November letzten Jahres in 200 Agenturen an den
Start ging. Seit Februar wird es in Italien flächendeckend angeboten. Es erlaubt Kunden, an einem
Touchpad ihre Idealversicherung aus 13 Einzelmodulen mit einer Handbewegung selbst zusammenzustellen und in Echtzeit zu verfolgen, wie sich durch Hinzufügen oder Auslassen einzelner BauMitarbeiter der Allianz Italien stellten
in Brüssel Allianz1 vor, eine Versicherung,
die man am Bildschirm aus 13 Einzelmodulen zusammenstellen kann
steine der Preis der Kombiversicherung ändert – schnell, einfach, benutzerfreundlich. Bis Ende März
waren bereits 15 000 dieser Modularpolicen verkauft. »Damit«, so Allianz Chef Diekmann, »bringt
uns Italien einen großen Schritt voran.«
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Allianz Journal 2/2014
GLOBAL
Startklar
Die Sportdirektoren Thomas Reutener und Andreas Schwaller zu den Vorbereitungsarbeiten für die Allianz Sports.
Herr Reutener, Herr Schwaller, die Allianz Sports in Zürich
stehen unmittelbar vor der Tür. Wie weit sind Sie mit den
Vorbereitungen?
Thomas Reutener: Wir sind voll auf Kurs. Mein Zuständigkeitsbereich sind die Anlagen, und da steht alles bereit. Die Bewilligungen
sind erteilt.
Andreas Schwaller: Auch bei der Organisation der Wettkämpfe
ist die Detailplanung abgeschlossen. Jetzt können die Sportler
kommen.
Andreas Schwaller
Thomas Reutener
Sind die Allianz Sports eine Veranstaltung wie jede andere
oder gibt es Besonderheiten?
Andreas Schwaller: Ich war dieses Jahr bei den Olympischen
Spielen in Sotschi. Natürlich sind die Allianz Sports etwas kleiner,
aber im Grunde genommen geht es um das Gleiche: sich in die
Athleten hinein zu versetzen und den Ablauf darauf auszurichten.
Wann und wo kommen die Athleten an? Wo ziehen sie sich um?
Wo können sie sich aufwärmen? Was brauchen sie während der
Wettkämpfe? Was, wenn es regnet oder 35 Grad heiß ist? Was
braucht es nach dem Wettkampf? Diese und viele weitere Fragen
gilt es zu beantworten, um perfekte Spiele zu organisieren.
Thomas Reutener: Außergewöhnlich für mich ist das internationale Organisationsteam. Während bei lokalen Sportveranstaltungen
alles vor Ort besprochen wird, sind bei den Allianz Sports Leute aus
München, Budapest, Mailand und Zürich beteiligt. Das macht es
speziell, herausfordernd und spannend.
Gibt es einen speziellen Wunsch, den Sie mit den Sports
verbinden?
Andreas Schwaller: Mir ist sehr wichtig, dass wir mit den Wettkampfanlagen, Schiedsrichtern und Helfern dafür sorgen, dass alle
Athleten ihre beste Leistung bringen können.
Thomas Reutener: Ich wünsche mir faire Spiele und eine super
Stimmung. Alle Teilnehmer sollen sich als Sieger fühlen, auch
wenn sie nicht auf dem Podest stehen.
Allianz
Fit für Zürich
Kurz vor den Allianz Sports in Zürich stehen die nominierten Teilnehmer in den
Startlöchern. Eine lange Vorbereitungszeit geht zu Ende, die Spannung steigt.
KARIN NEAL
Die Mitarbeiter der Allianz Suisse sind schon voll eingestimmt auf die Allianz Sports. Auf Bildschirmen im Gebäude
läuft seit Wochen ein Trailer, der das 25-köpfige Schweizer
Team für die Allianz Sports vorstellt, die am 17. Juli beginnen.
Zu ihm gehört auch Allianz Suisse-Chef Severin Moser.
Die so oft gepriesene Schweizer Gründlichkeit ist auch am
Zustand der Sportstätten in Wallisellen und der Organisation
insgesamt abzulesen. Alles ist startklar (siehe nebenstehendes
Interview). In Zürich werden sich die »alten Hasen« wiedersehen und gegeneinander antreten – aber auch ein paar
Neuzugänge werden dabei sein. Monika Fischer, erfolgreiche
Läuferin der Allianz Sports 2006 und 2010 für Team Deutschland Süd, meint: »Wir haben immer wieder tolle Nachwuchsleute. Besonders bei den Frauen sind jedes Jahr neue Namen
dabei, die überdurchschnittlich gut abschneiden.«
Ein alter Hase ist Alain Decorde, seit 1972 Mitarbeiter der
Allianz France. Für ihn sind die Sports schon Tradition. Bereits
zum siebten Mal ist er nun dabei. Er gilt als der König des
100-Meter-Laufs und schwang auch bei den letzten Sports
in Budapest stolz die französische Flagge. »Ich fühle mich
echt komisch dabei, nach so vielen Jahre zu denken, dass
dies vielleicht meine letzten Sports sein werden. Ich hatte so
viel Spaß all die Jahre. Aber ich glaube, ich kann die jungen
und vielversprechenden Athleten nicht länger ignorieren«,
sagt er mit einem Augenzwinkern.
für mich. Ich bin mit vielen Kollegen aus der ganzen Welt
zusammengekommen. Die ganze Atmosphäre war perfekt.«
Auch Joe Thom, der mit seinen Kollegen aus den USA 2002
in Mailand die Silbermedaille im Volleyballwettbewerb der
Männer holte, freut sich schon sehr auf Zürich. »Deutschland
Nord ist das Team, das es zu schlagen gilt«, sagt er. Dafür
nimmt sein Team schwierige Trainingsbedingungen auf sich.
Denn die bunt zusammengewürfelte Mannschaft muss
Spieler aus Kalifornien, New York und Minnesota zusammenziehen. Ganze zweimal konnten sie zusammen trainieren.
Vor der Eröffnungsfeier gehen wie jedes Mal die Halbmarathonläufer an den Start. Jörg Richter aus Leipzig vom
Team Deutschland Nord war vor vier Jahren in Budapest der
Überraschungssieger: »Die schönsten Siege sind immer die
unerwarteten«, findet er. Allianz Suisse-Chef Severin Moser,
der auch für den Halbmarathon qualifiziert ist, wird die
Allianz Sports am 17. Juli eröffnen: »Ich freue mich sehr
darauf, die Mitarbeiter aus aller Welt in meiner Heimat zu
begrüßen«, sagt der gebürtige Schweizer. »Ich hoffe, uns
gelingt eine perfekte Organisation, so dass wir gemeinsam
faire und spannende Wettkämpfe erleben können.«
Bereit für den Startschuss: die Sport-Welt Wallisellen
bei Zürich erwartet die Allianz Athleten
Auch diesmal sind wieder etwa 1000 Allianz Mitarbeiter
aus aller Welt bei den Sports dabei. Mariona Costa Bonjoch,
Schwimmerin aus Spanien, und mit fünf Goldmedaillen einer
der Stars im Jahr 2010, erinnert sich voller Begeisterung: »Die
Allianz Sports in Budapest waren ein gigantisches Ereignis
Monika Fischer
Allianz | Neal | Google
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Alain Decorde
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alle Fotos: Stern
Deutschland
15 Häuser, eine Kirche, ein Leuchtturm und eine Schule außer Dienst – Oland
ist die älteste von zehn Halligen, die sich seit Jahrhunderten vor SchleswigHolsteins Westküste knapp über Wasser halten. Es gab Zeiten, da lagen noch
Dutzende der kleinen Marschinseln verstreut im Wattenmeer. Doch die
Nordsee holte sich eine nach der anderen, zerriss die Großen und verschlang
die Kleinen. Um die letzten wogt ein zäher Kampf.
FRANK STERN
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Allianz Journal 2/2014
D EU T S C H L A ND
diesen Traum nicht mehr. Das Taufbecken in der Olander
Kirche hat nur noch musealen Wert, und seit die drei Töchter
der Kühn-Familie in Dänemark aufs Internat gehen, ist auch
die Halligschule geschlossen. »Schreiben Sie besser: Die
Schule ruht«, bittet Angelika Kühn.
B I O S P H Ä R E N R E S E R VAT WAT T E N M E E R
Die zehn heute noch existierenden Halligen liegen im Biosphärenreservat
Wattenmeer an der Westküste Nordfrieslands in Schleswig-Holstein. Es
erstreckt sich von der dänischen Grenze bis zur Elbmündung. 2009 wurde
es von der UNESCO als Weltnaturerbe anerkannt. Oland ist die älteste
Hallig im Wattenmeer, sie wurde erstmals 1231 urkundlich erwähnt.
W W W.U N E S C O. D E / WAT T E N M E E R _ S H . H T M L
Der Himmel liegt auf dem Watt, als wollte er das Leben unter
sich begraben. Das Land ringsum blass und fahl, die Farben
wie ausgewaschen. Mit einer offenen Güterlore, die von den
Anfängen des Eisenbahnzeitalters zu künden scheint, geht
es auf dem Küstenschutzdamm hinüber ins spröde Reich der
Halligen. Theodor Storm nannte sie einst »schwimmende
Träume«. Die nordfriesische Tourismusbranche zehrt bis
heute davon. Dagebüll, die letzte Festlandsbastion, bleibt
zurück und versinkt nach und nach im Nebel.
Wenn Sturmfluten die Hallig nicht gerade Landunter setzen, ist Oland knapp drei Kilometer lang und bis zu einem
Kilometer breit. Kein Baum, kein Strauch, nur Wiesen und
Himmel. Und mittendrin die Warft, der mit Häusern bebaute
Überlebenshügel, auf den sich die Menschen bei Gefahr wie
in eine Wagenburg zurückziehen. So wie im vergangenen
Dezember, als das Meer über die Halligwiesen rollte, als es
Welle um Welle den Wall hinaufkletterte und wütend seine
Gischt über die Dammkrone schleuderte. »Der Sturm war
wie ein Brüllen«, erzählt Christa Peters, eine der 20 Bewohner von Oland. »Da kann einem schon mulmig werden.«
»Man braucht Menschen wie die Kühns, damit die Halligen
bewohnbar bleiben«, sagt Allianz Generalvertreter Volker
Prinz, der die Familie seit Jahren betreut. Auto, Traktor, Unfall
und Leben, die Privathaftpflicht und noch eine für Boot und
Anhänger – fast alles haben sie bei ihm versichert. Nur bei
Elementarschäden hält sich die Allianz auf den Halligen
zurück – wie andere Versicherer auch. »Das Risiko von Hochwasser und Überschwemmungsschäden ist dort extrem
hoch«, sagt Prinz.
Angelika Kühn
Seit Alters her dienen die Halligen als eine Art Wellenbrecher. »Sie halten die Gewalt des Meeres vom Festland ab«,
erläutert Prinz. »Deshalb wird auch so viel in ihren Erhalt
gesteckt.« Nur sind es immer weniger, die die Arbeit vor Ort
schultern. Seit Angelika Kühn auf die Hallig übersiedelte, ist
nichts mehr im arbeitsfähigen Alter nachgekommen. Die
letzten 20 Jahre nicht. Feuerwerksfreie Silvesterfeste, das
Biikebrennen Ende Februar, mit dem der Winter ausgetrieben
wird, und die Ringelganstage im Mai sind die Höhepunkte
des Jahres. Wer sich für ein Leben auf der Hallig entscheide,
sagt Christa Peters, müsse ziemlich gut mit sich selbst auskommen können.
Im Hamsterrad
Im Oktober letzten Jahres hat die Natur mit Orkan Christian der Versicherungsbranche im Norden dennoch einen
Denkzettel verpasst. »Die Inseln hat es damals gar nicht so
stark erwischt«, berichtet Prinz. »Auf dem Festland dagegen
sind wir wie im Hamsterrad gelaufen.« Allein von seinen
knapp 1400 Kunden meldeten 350 Schäden an Fassaden,
Schornsteinen, Zäunen. Bäume wurden gleich reihenweise
wie Streichhölzer geknickt. Auch die Allianz Werbetafel vor
seinem Büro in Bredstedt hat sich verabschiedet.
Eine von Frank Kühns Stärken. Mit 18 zog er vom Festland
zu seinen Großeltern nach Oland, doch die Weichen waren
lange vorher gestellt. »Ich mochte schon immer gern hier
sein«, sagt er. »Schon als Kind.« Die Freiheit, die endlose
Weite, die Meereseinsamkeit – Kühn hat das Hallig-Gen.
Ein wenig hofft er vielleicht darauf, dass es auch einer seiner
Enkel in sich tragen wird. Später mal. Dass seine Töchter
zurückkehren, damit rechnet er nicht wirklich. »Ist ja
auch schwer hier«, sagt er. »Und was sollten sie denn hier
machen? Sind ja alles Mädchen.«
Frank Kühn
Als er vor 28 Jahren beim Landesbetrieb Küstenschutz,
Nationalpark und Meeresschutz anheuerte, waren sie noch
zu acht. Acht Mann für eine Hallig. Haben auf Oland zusammen Dämme gebaut und Lahnungen, haben die Halligkante mit Steinbefestigungen verstärkt und die Lorengleise
instandgesetzt. Jetzt sind sie noch zu zweit. Manchmal
kriegen sie einen Mann von der Nachbarhallig Langeneß
ausgeliehen, und wenn es ganz eng wird, kommt auch
Hilfe vom Festland. Und dann fegt wieder ein Sturm übers
Watt, treibt das Meer auf die Wagenburg zu und nimmt
die Dämme auseinander. Es ist ein ständiger Kampf.
Das Urbild eines Friesen
Alle 14 Tage bringt Pastor Matthias Krämer mit der Kirchenlore geistlichen Beistand von Langeneß nach Oland herüber.
Allzu viele Seelen sehnen sich an diesem Sonntag jedoch
nicht nach Zuspruch. In der kleinen Kirche, die 1824 von einer
inzwischen untergegangenen Warft hierher versetzt wurde,
haben sich gerade mal vier Einheimische und zwei Touristen eingefunden. Krämer, der entfernt an einen schlanken
Tom Jones erinnert, steht am Fenster und blickt hinaus zum
Glockenstapel, wo seine Helferin Katharina vehement und
ausdauernd zum Gottesdienst läutet. Später wird Fiede
Nissen ihn und Gottes Wort mit dem Postschiff noch nach
Gröde übersetzen. Die zweite Messe an diesem Sonntag.
alle Fotos: Stern
Und doch hat sie diese Zwischenwelt – nicht Land, nicht
Meer – seit jeher fasziniert. Vor elf Jahren schließlich kam
sie von Föhr herüber, einer richtigen Insel, keine zehn Kilometer entfernt, und blieb. »Die Hallig war immer mein
Lebenstraum«, sagt die alte Dame. Allzu viele träumen
Sie und ihr Mann, beide Jahrgang 1967, zählen mit zu
den Jüngsten auf Oland. Im Sommer 1994 hatten sie sich
auf der Nachbarhallig Gröde kennengelernt. Die gebürtige
Wilhelmshavenerin war im Urlaub, Frank Kühn fuhr mit dem
Boot rüber, und viel mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu
sagen. Hat es ihn große Überredungskunst gekostet, sie nach
Oland zu locken? »Nö, eigentlich nicht«, sagt Kühn. »Sie hat
per Telefon ihren Job gekündigt und ist gleich hiergeblieben.«
Es ist ein guter Ort, um Kinder großzuziehen. Es war.
»Man braucht Leute
wie die Kühns«,
sagt Allianz Vertreter
Volker Prinz
Nissen, mit Kapitänsmütze, wettergegerbtem Gesicht und
grauem Bart das Urbild eines Friesen, ist eine Institution.
Jahrzehntelang hat er die Halligen Langeneß, Gröde, Habel
und Oland per Lore und Boot mit Post und eben auch mit
Pfarrern versorgt. Bei Wind und Wetter. Nur Landunter oder
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Allianz Journal 2/2014
beide Fotos: Stern
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schwerer Eisgang konnten ihn von seiner Tour abhalten.
Im Oktober geht er in Pension. Ein Nachfolger hat sich noch
nicht gefunden.
Es ist neblig draußen. Erst am Nachmittag wird sich die
Sonne bis nach Oland durchgekämpft haben und den Blick
freigeben auf das Niemandsland und die auflaufende Flut.
Angelika Kühn wird dann dick eingepackt in Pullover und
Jacke neben dem reetgedeckten Leuchtturm sitzen und
einem erklären, dass das aufgeregte Gefiepe, das vom Watt
herüberdringt, von Austernfischern stammt, die gerade ihre
Trillerbalz abhalten, dass es die Silbermöwe und nicht die
Lachmöwe ist, deren Stimme sich wie Gelächter anhört, und
dass die tote Taube, die einer ihrer Feriengäste gefunden hat,
ein Eisvogel ist.
Früher habe er noch Rinder gehabt, erzählt Frank Kühn
später bei einem Rundgang durch das Innere der Wagenburg mit ihren Gärtchen, den weißen Zäunen und der alten
Tiertränke in der Mitte. Eigenes Vieh aber hat auf Oland
schon lange keiner mehr. Kühn war der Letzte, der seine
Rinder abgegeben hat. Dafür steht nun den Sommer über
»Pensionsvieh« auf den Salzwiesen. Wird im Mai vom
Lorenfahrt zur Warft auf Hallig Oland
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Der Atem des Monsters
Die Flutmarken zeigen an, was Landunter auf der Hallig bedeuten kann
Festland her übers Watt auf die Hallig getrieben – »wie die
Tagestouristen«, sagt Kühn – und im Oktober wieder zurück.
Bringt etwas Geld in die Kasse. Die Besichtigungstour endet
am Friedhof. Seine Großeltern sind hier begraben.
Als sich die Nacht übers Watt legt und Deutschlands kleinster Leuchtturm sein gleißendes Licht wie einen Hilferuf in
die Dunkelheit sendet, stellt sich plötzlich ein Gefühl des
Verlorenseins ein, wie es vielleicht nur Stadtmenschen auf
einer Hallig empfinden können. Draußen lauert das Meer
auf einen günstigen Moment. Wie seit ewiger Zeit.
Am nächsten Morgen wirkt Oland noch verletzlicher als
sonst. Der Nebel hält die Sonne zäh auf Abstand, es ist kalt.
Als Frank Kühn unten am Fuß der Warft den Motor der Lore
anlässt, verfliegt die letzte Hoffnung auf eine weniger frostige Rückfahrt: Es ist wieder die offene. »Ist doch viel schöner
als ein geschlossener Wagen«, macht Angelika Kühn zum
Abschied Mut. »Man ist der Natur so viel näher.« Hat gut
reden in ihrer dicken Jacke. Das Fahrzeug, das längst nicht
so alt ist, wie es aussieht, setzt sich in Bewegung. Mit 25 PS
geht es auf den Küstenschutzdamm zu. »Deutz-Motor«, sagt
Frank Kühn. Die Hallig bleibt zurück – karg, einsam, schön.
Nicht jeder ist dafür geschaffen.
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In den letzten Jahren ist Angelika Kühn zu einer passionierten
Vogelkundlerin geworden. »Das ist unglaublich spannend«,
versichert sie und geht hinüber zu ihrem Fangnetz, in dem
sich gerade ein Rotkelchen verheddert hat. Schon in der
dritten Saison beringt sie Singvögel, um zusammen mit
anderen Hobby-Ornithologen zu untersuchen, wie sich die
Artenzusammensetzung in der Region verändert. Vor allem
aber führt sie Buch über den Bestand an Ringelgänsen, die
hier im Frühjahr auf ihrem Weg nach Sibirien einige Zeit
Station machen. »Bummelig 2000 Tiere« hat sie in diesem
Frühjahr gezählt, sagt sie. »Vogelgucken«, nennt es ihr Mann.
Sie fliegen, wenn andere ihre Maschinen in den Hangar schieben. Wenn sich am Alpenrand
die Wolkenberge auftürmen und zu atmen beginnen, steigen die Hagelflieger von Rosenheim
auf und jagen mitten hinein in die brodelnde Wetterküche – dahin, wo das Monster Luft holt.
FRANK STERN
Hagelschläge und die damit verbundenen Schäden abwenden.
Theoretisch jedenfalls. Früher hätten die Leute Sturmglocken
geläutet, sagen Skeptiker. Heute »impften« sie für 230 000 Euro
pro Saison die Wolken. Die Wirkung sei die Gleiche.
Von Amts wegen ist Georg Vogl eigentlich für den Schutz
der Natur zuständig: Landratsamt Rosenheim, Zimmer 307,
Sachgebiet III/3. Doch zwischen April und September führt
der 55-Jährige eine Gruppe von Freiwilligen an, die rund um
Rosenheim, Miesbach und Traunstein und bis hinüber nach
Österreich den Kampf mit der Natur aufnehmen.
Es ist eine Glaubensfrage. War es schon immer. Als das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) 1993 nach sechs
Jahren akribischer Untersuchungen feststellte, dass eine Wirkung der Hagelfliegerei auf das Wettergeschehen rund um
Rosenheim nicht nachzuweisen sei, ging die Bevölkerung für
ihre Eispiloten auf die Barrikaden. Denn ihrer unverrückbaren
Überzeugung nach retteten die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten regelmäßig Ernte, Haus und Hof. Innerhalb von
Sobald sich in dieser Zeit auf dem Radar eine Gewitterfront
abzeichnet, machen sie ihre beiden Propellermaschinen startklar und fliegen, bewaffnet mit Silberjodidgeneratoren, dem
Unwetter entgegen. Wenn es ihnen gelingt, die Gewitterwolken rechtzeitig zu erreichen und die Generatoren punktgenau
im Auftriebskanal der Wolken zu zünden, können sie schwere
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Allianz Journal 2/2014
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alle Fotos: Stern
Die Rosenheimer Hagelabwehr wurde 1975 ins Leben
gerufen, nachdem ein Hagelunwetter im August 1974
allein im Chiemgau Schäden von 23 Millionen D-Mark
verursacht hatte. Die zuvor praktizierte Hagelbekämpfung mit Silberjodidraketen vom Boden aus musste
1973 nach einer Verschärfung des Sprengstoffgesetzes
eingestellt werden.
Pro Saison sind die Hagelflieger mit ihren beiden
Maschinen an etwa 20 Tagen im Einsatz. Die Kleinflugzeuge sind mit jeweils zwei Tanks ausgerüstet, die
unterhalb der Tragflächen angebracht sind und je
20 Liter einer Silberjodid-Acetonlösung enthalten.
Damit die Abwehr erfolgreich ist, muss der Pilot direkt
in den Aufwindkanal der Gewitterfront fliegen und dort
das Gemisch zünden. Durch den Aufwind werden die
Silberjodidteilchen dann bis zu 15 Kilometer hoch in die
Wolken geschleudert. Der durch die Verbrennung entstehende Rauch enthält zahllose Kondensationskeime,
die die Bildung größer Hagelkörner in einem frühen
Stadium verhindern sollen.
Als Antwort auf die Kritik an der Methode von Seiten der
Wissenschaft wurde 1994 in Rosenheim der »Verein zur
Erforschung der Wirksamkeit der Hagelbekämpfung«
gegründet. Er zählt heute über 8000 Mitglieder.
14 Tagen kamen 30 000 Unterstützerunterschriften für die Fortführung der Wolkenimpfung zusammen. Ein außerordentlicher
Kreistag beschloss daraufhin mit 52 zu vier Stimmen, dass die
Hagelabwehr fortgesetzt wird. Wissenschaft hin oder her.
Schwarzwald und Schwäbischer Alb ist ein etwa 40 Kilometer
breiter Korridor vom Allgäu bis zum Chiemgau besonders
häufig von Eisschlägen betroffen. Vogls Kampfzone. Im Schnitt
sind er und seine fünf Kollegen – ein Berufsschullehrer, ein
Polizist, ein Architekt, ein Unternehmer und ein ehemaliger
Berufspilot – in der Hagelsaison an rund 20 Tagen im Einsatz,
um die Wolkenungetüme zum Abregnen zu zwingen, bevor
sie über das Alpenvorland herfallen.
»In der physikalischen Theorie gibt es tatsächlich klare Hinweise,
dass es machbar ist«, sagt Meteorologe Markus Stowasser von
Allianz Re in München. »Doch es ist unheimlich schwierig, die
Wirkung wissenschaftlich nachzuweisen.« Das ewige Problem
der Rosenheimer Hagelflieger: Sie können nicht belegen, dass
ihr Einsatz die Bildung auch nur eines Hagelkorns verhindert.
»Dazu müsste man unter genau gleichen Bedingungen eine
Wolke einmal impfen und einmal unbehandelt lassen und
dann die Ergebnisse vergleichen«, beschreibt Stowasser das
Dilemma. Doch die Natur lässt eine solche Versuchsanordnung
nicht zu. Nur unter Laborbedingungen zeigt sich, dass Silberjodidpartikel zu verstärkter Kondensation führen und damit
der Bildung großer Hagelkörner entgegenwirken. Zumindest
die Theorie ist auf Seiten der Gläubigen.
Ganz ungefährlich ist die Sache für die Hagelflieger nicht.
Bei Windgeschwindigkeiten von 30 Metern pro Sekunde
kommt selbst eine zwei Tonnen schwere Maschine wie die
Partenavia, ein robustes Flugzeug aus italienischer Produktion, zuweilen ins Schlingern. »Ich glaube, jeder Pilot, der in
Aufwindschläuche einer Gewitterwolke hineinfliegt, wird
schon mal einen Adrenalinschub gespürt haben«, sagt Vogl.
»Aber Situationen kurz vor knapp gab es bei uns noch nicht.«
Gelegentlich passiert es, dass er in der Früh von einer Wetterwarnung aus dem Bett geholt wird, doch meist lässt der Gewittergott erst nachmittags oder am frühen Abend die Muskeln
spielen. Für einen wie Vogl, der es auf dem Weg zum Flugplatz
Vogtareuth um diese Zeit zunächst mit dem Rosenheimer
Berufsverkehr aufnehmen muss, eher ungünstig. »Bis ich aus
der Stadt bin, brauche ich manchmal eine dreiviertel Stunde«,
sagt der Verwaltungsamtsrat, der schon seit über 30 Jahren
gegen den Hagel anfliegt.
Kampfzone Chiemgau
Unter allen Schadenereignissen gehören Hagelstürme für die
Versicherungswirtschaft zu den kostspieligsten. »Andreas«,
ein Tief, das im Juli letzten Jahres über Baden-Württemberg
und Niedersachsen hinwegzog, schlug allein bei den Versicherern nach Angaben des Gesamtverbands der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) mit 2,7 Milliarden Euro zu Buche.
Insgesamt gingen Werte in Höhe von 3,6 Milliarden Euro zu
Bruch. Wintergärten, Dächer, Fassaden, Autos – es war der
teuerste Hagelschaden, den Deutschland je erlebt hat.
Doch selbst wenn die Piloten die Wetterfront erreichen, bevor
sich eine Superzelle entwickelt, ist der Erfolg nicht garantiert.
»Wir sind vor Jahren mal eine Gewitterfront angeflogen, bei
der wir partout keinen Aufwindkanal fanden«, beschreibt Vogl
einen dieser Fehlversuche. »Eine Stunde lang irrten wir bei
äußerst schlechter Sicht in dem Wolkenbrei herum. Die Zelle
Durch die Staueffekte an den Alpen ist Süddeutschland
bevorzugte Einschlagszone. Neben einem Gebiet zwischen
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W W W. H AG E L A B W E H RRO S E N H E I M . D E
Georg Vogl (li.) und Andreas Kotschenreuther vor ihrer
zweimotorigen Partenavia, Baujahr 1985
stand über uns, wurde auch von den Meteorologen gemeldet
und vom Radar gemessen – doch wir wussten einfach nicht,
in welcher Höhe diese Wolke ansaugt und wo wir unsere
Generatoren zünden sollten.«
Wenn es dann kracht und trotz Hagelabwehr schwere Eiskugeln Häuser und Felder und Autos zerschlagen, kommt
natürlich immer wieder mal die Frage auf, ob man sich für die
anfangs erwähnten 230 000 Euro nicht doch besser eine hübsche Sturmglocke zulegen sollte. »Wir bräuchten Instrumente,
mit denen wir den Aufwindkanal einer Gewitterwolke gezielt
ansteuern und dort unsere Ladung ausbringen können«, sagt
Vogl. »Eine Art Hagel-Navi, das uns auch bei schlechter Sicht
an die richtige Stelle führt.«
ein Kürzel, auf das nur Techniker verfallen konnten. »Damit
wollen wir den Piloten einen Röntgenblick durch die Wolken
ermöglichen«, erläutert Zentgraf das Projekt.
ROBERTA soll dafür sorgen, dass Vogl und seine Crew über eine
spezielle Datenverbindung ständig Zugriff auf die aktuellen
Informationen des Deutschen Wetterdienstes haben, die ihnen
an einem Monitor im Cockpit genau das Hagelzentrum einer
Wolkenformation anzeigen. Gleichzeitig werden während des
Fluges meteorologische Daten und technische Messgrößen
aufgezeichnet, an denen sich über eine längere Zeitdauer die
Wirkung des Cloud Seeding auf die Bildung von Hagelzellen
ablesen lassen soll. Auf diese Weise, so die Hoffnung, gelingt
vielleicht der langersehnte Nachweis, dass die Wolkenimpfung
mehr ist als bayerische Folklore.
Röntgenblick durch die Wolken
Vielleicht muss er nicht mehr lange darauf warten. An der
Fachhochschule Rosenheim arbeitet derzeit ein Team um Professor Peter Zentgraf an einem System, das die Zielgenauigkeit
der Hagelabwehr erheblich steigern könnte. Das Projekt wurde
ROBERTA getauft, was für ROsenheims meteorologische
Besonderheiten: Eine Regelungs-Technische Aufgabe steht –
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Auch wenn Vogl auf seine Methode schwört, für den Fall, dass
eine Hagelwolke die Abwehrfront durchbricht oder er und
seine Kollegen im Berufsverkehr stecken bleiben, hat er vorgesorgt: Haus und Auto sind bei der Allianz gegen Hagelschläge
versichert.
W W W. R O B E R TA . F H - R O S E N H E I M . D E
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Shutterstock
Allianz Journal 2/2014
Europa
Kettenreaktion aus. »Tatsächlich können Erdrutsche als Folge
dieser Ereignisse manchmal mehr Schaden anrichten als ein
Hochwasser, ein Erdbeben oder eine Eruption allein.«
In der roten Zone
In den USA hat im März einer der größten Erdrutsche der vergangenen 30 Jahre
einen ganzen Ort verschüttet. Die Katastrophe war zwar nicht zu verhindern,
wohl aber vorhersagbar. Wie? Ein Blick in die Schweiz zeigt, wie sich Menschen
in bergigen Regionen auf Naturkatastrophen vorbereiten.
Der Erdrutsch von Oso ist nicht nur einer der schwersten in der
jüngeren Geschichte der USA; er wurde von Geologen geradezu erwartet. Warum keine entsprechenden Warnsysteme installiert wurden, muss noch geklärt werden. »Fest steht, dass
kleinere Rutschungen an dieser Stelle immer wieder beobachtet
wurden – zuletzt 2006«, berichtet Katherine Wenigmann. Die
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Absolute Sicherheit wird es in den Bergen nicht geben. Selbst
in der Schweiz, im Musterland für den Umgang mit Naturgefahren, richten Erdrutsche nach Angaben der WSL jährlich einen
Schaden von rund 20 Millionen US-Dollar an. Statistisch gesehen
kommt dabei ein Mensch ums Leben. Schuld daran ist allerdings
nicht unbedingt die Umwelt. »Wenn sich das Risiko erhöht, dann
nicht primär wegen einer Häufung der Naturgefahren, diese
Prozesse sind im Alpenraum relativ gut erkannt, sondern weil
die Konzentration von Sachwerten in gefährdeten Gebieten zunimmt und wir hohe Ansprüche an die Verfügbarkeit von Infrastruktur und Verkehrswegen haben«, sagt Bründl.
Fatale Kettenreaktion
Die Natur zähmen, ohne sie zu zerstören – die Schweiz hat viel
investiert, um diesen Weg beschreiten zu können. In Bezug auf
Menschenleben haben die Schweizer ein Schutzziel definiert.
Das Risiko, durch eine der Naturgefahren ums Leben zu kommen,
darf im Alpenland für jeden Einzelnen pro Jahr nicht größer sein
als 10-5. Grundlage für die Berechnung dieses abstrakten Werts
ist das normale Sterberisiko einer bestimmten Altersgruppe.
Von 100 000 fünfzehnjährigen Personen zum Beispiel sterben
im Laufe eines Jahres in der Schweiz laut Statistik etwa zehn. Das
ergibt eine Sterberate von 0,0001 oder anders ausgedrückt von
10-4. Im Zusammenhang mit Naturgefahren darf sich dieses
Risiko um nicht mehr als zehn Prozent erhöhen, was am Ende
10-5 ergibt. Wird dieser Grenzwert von der Natur überschritten,
greifen die Behörden ein.
Grundsätzlich können Erdrutsche überall auf der Welt auftreten.
»Zu den am meisten gefährdeten Gebieten zählen die Alpen, die
Westküste der USA und Kanadas, Mittel- und Südamerika, Japan,
China, Indien und Indonesien,« erklärt Wenigmann. Jährlich sterben allein in den USA bis zu 50 Menschen bei Erdrutschen. Die
Schäden übersteigen dabei eine Milliarde US-Dollar. Die Auslöser
sind vielfältig. Zu den üblichen Verdächtigen zählt Wenigmann
aber Wasser, Erdbeben und Vulkane. Sie lösen eine fatale
Bründl unterscheidet vier Maßnahme-Typen. »Die Wichtigste
ist die Raumplanung«, sagt er. »Sie hat in der Schweiz eine
lange Tradition.« Gefahrenkarten geben Aufschluss darüber,
wo die Menschen das Feld besser der Natur überlassen. Diese
Gebiete sind rot markiert. »In blau markierten Regionen ist
Bauen grundsätzlich erlaubt, allerdings mit Auflagen. Das heißt
zum Beispiel, dass Gebäude dort verstärkte Rückwände haben
oder auf Fenster verzichten müssen«, führt Bründl weiter aus.
MICHAEL GRIMM
Der Hang oberhalb des Örtchens Oso im US-Bundesstaat
Washington war schon zuvor für seine Instabilität berüchtigt. Am
22. März dieses Jahres kam es zu einer Katastrophe, die sich lange
abgezeichnet hatte. Innerhalb weniger Sekunden stürzten etwa
zehn Millionen Kubikmeter Erdreich von einem Steilhang am Ufer
des Stillaguamish-Flusses ins Tal hinab. Wochenlange Regenfälle
in Kombination mit der Erosionsarbeit des Flusses hatten den
Hang kollabieren lassen. Das breiige Gemisch aus Lehm, Sand
und Gestein begrub Dutzende Häuser unter sich, insgesamt eine
Fläche von mehr als 2,5 Quadratkilometer. 45 Menschen kamen
ums Leben.
Deshalb spricht der Geograf Michael Bründl auch von so
genannten »gravitativen Prozessketten«. Bründl ist Leiter der
Forschungsgruppe Lawinendynamik und Risikomanagement
am Davoser Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF)
der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und
Landschaft (WSL). Mit Prozessketten meint der Forscher die
Aneinanderreihung von Ereignissen, die in Summe schließlich
zu katastrophalen Ausmaßen führen können. Ein Szenario: In
einen Gletschersee weit oberhalb eines Tals stürzen Gesteinsmassen. Eine Art alpiner Tsunami könnte die Folge sein. Die
Flutwelle bringt den See zum Überlaufen. Das Wasser setzt
eine Mure in Gang, die schließlich ein Dorf verschüttet.
Bauingenieurin und Hydrologin arbeitet in einem auf Naturkatastrophen spezialisierten Team der Allianz Re in München
(NatCat). Im Vergleich zu Überschwemmungen oder Stürmen
betreffen Erdrutsche verhältnismäßig kleine Gebiete. Doch ihre
Entstehung ist nicht weniger komplex, ihre Wirkung oft verheerend. Deshalb erscheinen auch Erdrutsche auf dem Radar
der Naturkatastrophen-Forschung der Allianz Re.
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In den gelben und weißen Flächen ist das Risiko gering bis gar
nicht vorhanden. Auf diese Weise sind in der Schweiz bisher
rund 80 Prozent der Gefahrengebiete erfasst. In den 1960er
Jahren wurde mit der Kartierung von Gefahren begonnen.
Bründl rechnet damit, dass dieser Prozess in den nächsten Jahren
abgeschlossen sein wird.
Auf Grundlage der Gefahrenkarten greifen die übrigen Maßnahmen. Dort, wo die Gefahr lauert, an der Grenze zwischen
menschlichen Interessen und Urgewalt, greifen bautechnische
Konstruktionen. Schneenetze zum Beispiel sollen die Entstehung
von Lawinen verhindern. Siedlungen werden mit Dämmen
geschützt, die Muren und Erdrutsche entweder ablenken oder
auffangen. Drahtgitter entlang von Straßen verhindern Steinschlag. Instabile Felspakete werden mit Hilfe von Beton fixiert.
An anderer Stelle wird die Natur zum Verbündeten. Wälder
schützen auf natürlich Weise vor Lawinen und Erdrutschen.
Auenlandschaften schützen vor Hochwasser.
Sensoren im Gestein
Schließlich bleibt die organisatorische Komponente. Alle Maßnahmen zusammen sind nutzlos, wenn die Bevölkerung im Notfall nicht gewarnt wird. Unterstützt werden die Krisenmanager
in der Schweiz dabei von Hightech. Sensoren in Hängen oder
im Gestein nehmen winzige Veränderungen wahr. Mit Hilfe der
Frühwarnsysteme können Straßen rechtzeitig gesperrt oder
Siedlungen evakuiert werden.
Von einem derartigen Schutz können Menschen in anderen
Bergregionen der Welt nur träumen. Busfahrten im Himalaya
oder in den Anden sind teilweise immer noch Himmelfahrtskommandos. Sicherheit hat ihren Preis. Viele Länder haben weder die
finanziellen, noch technischen Mittel. Deshalb exportieren die
Eidgenossen ihr Katastrophenvorsorge-Know-how in alle Welt.
In anderen Regionen wurde es schlicht versäumt, rechtzeitig
Maßnahmen zu ergreifen. Nach den wiederholt starken Überschwemmungen in Europa hat die EU nun die Entwicklung
von Hochwasserrichtlinien angeordnet. Grundlage dafür bilden
Risikokarten nach dem Schweizer Vorbild.
WWW.SLF.CH/INDEX_DE
Reuters
Katastrophe mit
Ansage: Die Steinund Schlammlawine
riss 45 Einwohner
von Oso in den Tod
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VENEZUELA
KOLUMBIEN
Brasilien
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Brasilia
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PAZIFIK
CHILE
PARAGUAY
Rio de Janeiro
São Paulo
ARGENTINIEN
URUGUAY
Ibrahim
Reuters
Es hatte das Jahr Brasiliens werden sollen:
Gastgeber der Welt, jung, bunt, leistungsstark.
Statt dessen gingen in den vergangenen
Monaten Hunderttausende Brasilianer gegen
Verschwendung, Missmanagement und
Korruption auf die Straße. Ein Zeichen für
die Zerrissenheit des Landes, sagen manche.
Ein Zeichen politischer Reife, meinen andere.
Wahrscheinlich stimmt beides.
TEXTE BRASILIEN SPEZIAL: FRANK STERN
Lange Zeit schien es, als könnte nichts und niemand
den Aufstieg des Riesen bremsen. Die Wirtschaft wuchs
rasant, Investoren standen Schlange – Brasilien galt als
das Land der Zukunft. Inzwischen haben Finanzexperten die größte Volkswirtschaft Südamerikas unter die
»Fragilen Fünf« eingereiht – neben Indien, Indonesien,
Südafrika und der Türkei. Im März stufte Standard &
Poor’s die Kreditwürdigkeit des Landes herab. Der Motor
ist ins Stocken geraten.
Riese in Ketten
In einer aktuellen Studie kommt Kreditversicherer Euler
Hermes zu dem Schluss, dass viele der Probleme hausgemacht sind. Während die Binnennachfrage in den
vergangenen Jahren von einer verbraucherfreundlichen
Steuerpolitik, vom starken Reallohnzuwachs und von
massiven Kapitalzuflüssen aus dem Ausland angekurbelt
Die Wasserfälle von Iguazu an der Grenze
zu Argentinien. 80 Prozent seines Stroms
gewinnt Brasilien aus Wasserkraft
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Allianz Journal 2/2014
beide Fotos: Ibrahim
B RAS I L IE N
S P EZI A L
beide Fotos: Stern
Das legendäre Maracanã in Rio
de Janeiro. 1950 verlor Brasilien im
damals größten Stadion der Welt
das Endspiel der Fußball-WM gegen
Uruguay – ein nationales Trauma
Andre Saigh (li.) und Henrique Campos
wurde, hinken die Investitionen in die Infrastruktur des
Landes und die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen
Wirtschaft seit Jahren hinterher. Korruption und Bürokratie verschärfen das Dilemma zusätzlich.
Miguel Pérez Jaime. »Sie sind ein Zeichen der Reife des
Landes und Ausdruck einer gesunden Demokratie.«
Marode Infrastruktur
Inzwischen stützt sich die Regierung vermehrt auf Kooperationen mit Privatunternehmen, so genannte Public
Private Partnerships (PPP), und vergibt Betreiberkonzessionen an Industriekonsortien, um die Modernisierung
der Wirtschaft zu beschleunigen. Straßen und Schienenwege, Häfen und Flughäfen, Staudämme, Stromtrassen
und Kraftwerke sollen mit einem hohen Anteil an Privatinvestitionen in den nächsten Jahren neu gebaut oder erweitert werden. An vielen Vorhaben wie der Erweiterung
des Internationalen Flughafens von Rio oder dem Ausbau
der Ringautobahn um São Paulo sind Allianz Seguros
und AGCS als Erst- und Rückversicherer beteiligt.
Mit den Folgen haben nicht zuletzt Brasiliens Bauern und
Viehzüchter zu kämpfen. Das Land ist einer der führenden
Exporteure von Kaffee, Soja, Zucker, Fleisch, Mais und
Tabak, die Landwirtschaft zählt zu den wettbewerbsfähigsten der Welt. »Nur geht der Vorteil auf unseren löchrigen
Straßen und in den veralteten Häfen mit ihren zu geringen
Verladekapazitäten wieder verloren«, erklärt Saighs Kollege
Henrique Campos von Allianz Global Corporate & Specialty
(AGCS) in Rio de Janeiro. »Die marode Infrastruktur ist zu
einem Wachstumshemmnis geworden.«
Um die verstopften Routen im Süden und Südosten des
Landes zu umgehen, sehen die staatlichen Planungen
vor allem den Ausbau der Straßen aus den Agrarzentren
im Landesinneren Richtung Norden vor. »Dort ist die
Verkehrsdichte geringer, und man kann die Landwirtschaftsgüter schneller und kostengünstiger über die
großen Flüsse zu den Überseehäfen an der Atlantikküste
transportieren«, erläutert Henrique Campos. AGCS und
Allianz Seguros wollen bei diesen Projekten eine ebenso
wichtige Rolle spielen wie bereits im Energiesektor.
Seit die Brasilianer zu Hunderttausenden auf die Straßen
gehen und gegen die Zustände protestieren, scheinen
die Planungen für viele überfällige Bauprojekte etwas
schneller voranzukommen. »Die Demonstrationen haben
die Defizite im Land deutlich gemacht. Man sollte sie
nicht ignorieren«, unterstreicht Allianz Seguros-Chef
Um seinen wachsenden Energiebedarf zu decken, setzt
Brasilien vor allem auf Wasserkraft. 80 Prozent seines
Stroms stammen aus dieser Quelle – eine Abhängigkeit,
die sich gerade rächt. Seit Monaten herrscht im Süden
und Südosten des Landes anhaltende Dürre, viele Stauseen sind fast leer. Dafür fluteten Anfang des Jahres
Andre Saigh hat als Vertriebschef für das Firmen- und
Industriegeschäft von Allianz Seguros einen recht
guten Einblick in die Schwächen des Systems. Eigentlich
habe der Markt seit geraumer Zeit mit umfangreichen
Investitionen in die Infrastruktur gerechnet, in Straßen,
Kraftwerke, Flughäfen, erzählt der gelernte Betriebswirt
in seinem Büro in São Paulo. »Doch der große Schub ist
bislang ausgeblieben.«
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schwere Regenfälle den Westen Brasiliens. Der Bundesstaat Acre war teilweise von der Außenwelt abgeschnitten, Tausende Menschen mussten evakuiert werden.
Brasiliens nationaler Netzbetreiber ONS sah sich sogar
gezwungen, die Turbinen des San Antonio-Kraftwerks
herunterzufahren, um die sich stauenden Wassermassen
schneller abfließen zu lassen. Weitere Engpässe in der
Energieversorgung waren die Folge.
Breiter Energiemix
Seit einiger Zeit nun versucht die Regierung, die Stromversorgung des Landes breiter aufzustellen. Künftig
sollen Wärmekraftwerke und Windparks stärker zum
Energiemix beitragen. Auch die Allianz spürt den Strategiewechsel. »Die Regierung investiert gerade eine Menge
Geld in den Bereich Windenergie«, sagt Andre Saigh. »Vor
allem im Nordosten, wo die Windverhältnisse besonders
günstig sind.« Allianz Seguros und AGCS sind bei etlichen
Projekten als Versicherer mit von der Partie.
Ist die Windenergie weitgehend unumstritten, so scheiden
sich an den zwölf Fußballstadien, die zur WM neu gebaut
oder modernisiert wurden, die Geister. Vier davon – das
Estádio Minerão in Belo Horizonte, die Arena Fonte Nova
in Salvador de Bahia, die Arena da Amazonia in Manaus
und das Estádio das Dunas in Natal – sowie das Trainingscamp der deutschen Nationalmannschaft Campo Bahia
sind Allianz versichert.
ein wichtiger Teil des Lebens, doch angesichts der Defizite im Land fragten sich viele, ob das Geld für die WM
nicht besser für andere Projekte verwendet worden
wäre. Dennoch ist der Spanier optimistisch, dass die
Weltmeisterschaft ein Erfolg wird. »Allerdings«, so Jaime
Pérez, »hängt viel davon ab, ob es der Regierung gelingt,
für Sicherheit zu sorgen und gleichzeitig den Menschen
Raum zu lassen, ihre Anliegen öffentlich zu vertreten.«
Was, wenn nicht?
WWW.AGCS.ALLIANZ.COM/GLOBAL-OFFICES/BRAZIL
»Noch vor einigen Jahren galt die WM vielen hier als
Chance«, sagt Allianz Seguros-Chef Pérez Jaime. »Das
hat sich um einiges geändert.« Fußball sei zwar weiter
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Allianz Journal 2/2014
B RAS I L IE N
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Jung, schwarz, tot
Seit 83 Jahren blickt Cristo Redentor –
1100 Tonnen schwer und 30 Meter
hoch – auf Rio de Janeiro, auf Elend
und Schönheit, auf Mord und Samba,
die Arme zur Seite gestreckt, als sei
er etwas ratlos. »Ich weiß doch auch
nicht«, scheint er zu sagen.
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»Brasilien ist eine rassistische Gesellschaft«, sagt Alexandre
Ciconello von Amnesty International (AI) in Rio de Janeiro.
»Es ist ein Erbe der Vergangenheit, das uns nicht loslässt.«
Der Anwalt mit den italienischen Vorfahren, der früher
unter anderem für die Weltbank tätig war, nimmt sich da
nicht aus. Wenn ihm ein Schwarzer auf der Straße entgegenkommt, hält auch er unwillkürlich seine Brieftasche
fest. »Schwarz bedeutet Armut und Kriminalität«, sagt
Ciconello. »Das ist in unserem Denken tief verwurzelt.«
Brasilien war 1888 das letzte Land der westlichen Welt,
in dem der Sklavenhandel offiziell abgeschafft wurde.
Doch auch 126 Jahre danach ist die Gesellschaft tief
gespalten. Es gibt kaum ein Land, in dem der soziale
Status so eng mit der Farbe der Haut verknüpft ist wie
Brasilien. Schwarze verdienen weniger als Weiße, sind
schlechter ausgebildet und sterben früher. Nur bei
Samba und Karneval spielen sie die Hauptrolle. Mehr
als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung hat heute
afrikanisches Blut in den Adern.
Vor dem Büro von Amnesty International im Stadtteil
Laranjeiras lungern ein paar farbige Straßenkinder
herum. Passanten machen sicherheitshalber einen Bogen
um sie, und irgendjemand ruft die Polizei. Die rückt mit
Maschinenpistolen an. »So was gab es hier noch nie«, sagt
Ciconello und lächelt ein wenig verlegen. »Das ist eigentlich eine sehr sichere Gegend.« Die Kindergang weicht der
staatlichen Übermacht.
Sehr wahrscheinlich, dass sie aus einer der zahllosen
Favelas stammt, die sich an den Flanken der Hügel rund
um Rio festklammern. Manche sagen, es gibt in der Stadt
700 dieser Armenviertel, andere meinen, es sind 1000.
Genau weiß es keiner. »Brasilien ist ein wunderschönes
Land«, sagt Ciconello. »Wir haben Meer und Strände, wir
haben den Amazonas und den Regenwald. Wir haben
riesige Ressourcen, sind bunt und kreativ. Weniger Ungleichheit, weniger Korruption, weniger Polizeigewalt –
wir könnten eine bessere Gesellschaft sein.«
Polizeigewalt – eines der wichtigsten Themen, mit
denen sich der Jurist derzeit beschäftigt. In zehn Jahren
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»Das ist eigentlich
eine sehr sichere
Gegend« – die Zentrale
von Amnesty International
in Rio de Janeiro
AMNESTY INTERNATIONAL IN RIO
2011 eröffnete Amnesty International in Rio de Janeiro
ein Landesbüro für Brasilien. Inzwischen sind 14 feste
Mitarbeiter für die AI-Sektion tätig. Als Direktor wurde
der brasilianische Historiker Atila Roque berufen. Hauptaktionsfelder der Organisation sind öffentliche Sicherheit
und Polizeigewalt, die Rechte der indigenen Bevölkerung,
die Zwangsumsiedlungen, die Platz schaffen sollen für
Bauprojekte zur Fußball-WM und zur Olympiade 2016,
und die ungesühnten Verbrechen während der Militärdiktatur (1964 –1985). »Menschenrechtsaktivisten sind
in Brasilien in einer prekären Lage«, sagt Roque.
»Menschenrechtsverletzungen werden kaum geahndet
und große Teile der Bevölkerung stehen dem gleichgültig gegenüber. Sie akzeptieren Gesetzlosigkeit und
Gewalt als etwas Normales.« Vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober will Amnesty verstärkt mit Vorschlägen
zur Reform des Polizeiapparates an die Öffentlichkeit
gehen.
seien allein in Rio 10 000 Menschen von Polizisten getötet worden, sagt er. In Notwehr. Die meisten schwarz,
jung und arm. »Und die Gesellschaft nimmt es hin«,
sagt Ciconello. »Die Leute schert es nicht, wenn es einen
Schwarzen erwischt. In weniger als fünf Prozent der Fälle
wird Anklage erhoben. Verurteilt wird kaum keiner.«
Ordem e progresso steht auf der brasilianischen Fahne:
Ordnung und Fortschritt. Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 sah es einige Zeit so aus, als könnte der
Anspruch Wirklichkeit werden. Das fünftgrößte Land
der Welt hat sich zur sechstgrößten Volkswirtschaft
hochgearbeitet, und in den letzten zwölf Jahren sind
über 40 Millionen Menschen aus den unteren Rängen der
Klassengesellschaft in die Mittelschicht aufgestiegen.
Doch ausgerechnet die Weltmeisterschaft kratzt nun
am Lack des bunten Schmelztiegels, in dem alle Samba
tanzen und traumhaften Fußball spielen. Brasilien gehört
weiterhin zu den Ländern mit der krassesten Ungleichverteilung von Einkommen oder Vermögen.
HTTP://ANISTIA.ORG.BR
Und leistet sich derzeit für zehn Milliarden Euro die
teuerste Fußballweltmeisterschaft aller Zeiten. Mehr als
die Hälfte der Brasilianer meinte vor dem Anpfiff, dass
die WM dem Land mehr Schaden als Nutzen bringen
wird. Hunderttausende gingen gegen Korruption und
die Verschwendung öffentlicher Gelder auf die Straße.
Brasilianer, die gegen die Fußball-WM im eigenen Land
protestieren – hätte sich wohl auch mal keiner träumen
lassen.
beide Fotos: Ibrahim
In Brasilien werden jedes Jahr 50 000 Menschen ermordet, 25 Tote auf 100 000 Einwohner. Fünf mal mehr als
in den USA, 30 mal mehr als in Deutschland. Meist
handelt es sich bei den Opfern um junge schwarze Männer. »Brasilien. Ein Land der Zukunft«, schrieb einst der
Schriftsteller Stefan Zweig.
Allianz Journal 2/2014
alle Fotos, auch Seite 32-33: Stern (wenn nicht anders angegeben)
B RAS I L IE N
S P EZI A L
Atila Roque
»Viele hatten gehofft, dass es im Zuge der Weltmeisterschaft einen Modernisierungsschub geben würde«, sagt
AI-Mann Ciconello, »Straßen, Bahnstrecken, Flughäfen,
auch Krankenhäuser und Schulen – die Infrastruktur
sollte in großem Maßstab von der WM profitieren.«
Alexandre Ciconello
zusammen mit seinen
Kolleginnen Ligia Batista
(li.) und Luciana Abento
Versprochen war es.
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Allianz Journal 2/2014
Helga Jung
»Wir hoffen
auf Reformen«
Helga Jung, im Allianz Vorstand unter anderem
für das Versicherungsgeschäft in Lateinamerika
zuständig, über Erwartungen und Hoffnungen und
über die drängendsten Probleme im größten Markt
der Region, Brasilien.
INTERVIEW: FRANK STERN
Frau Jung, wie sind Sie mit der
Geschäftsentwicklung der Allianz
in Brasilien zufrieden?
Letztes Jahr sind wir – in lokaler Währung –
knapp 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr
gewachsen und haben unser operatives Ergebnis um 14 Prozent gesteigert. In Euro sieht
das Ergebnis nicht ganz so gut aus, was an der
Abwertung des brasilianischen Reals liegt.
Der Wirtschaftsaufschwung in Brasilien
ist ins Stocken geraten. Inzwischen wird
das Land neben der Türkei, Indien, Südafrika und Indonesien zu den »fragilen
Fünf« gezählt. Teilen Sie die Skepsis
einiger Analysten?
Das Wirtschaftswachstum in Brasilien blieb
2013 in der Tat mit 2,3 Prozent hinter den
Erwartungen zurück. Die Inflation war höher
als erwartet, und die Zentralbank hat die
Zinsen seit Januar 2013 von 7,25 Prozent auf
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10,5 Prozent erhöht. Für 2014 rechnen wir
mit einer weiteren Abkühlung des Wachstums auf rund zwei Prozent – trotz FußballWeltmeisterschaft. Um die brasilianische
Wirtschaft anzukurbeln, sind dringend
Reformen nötig, mit denen wir jedoch nicht
vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober
rechnen. Mittel- und langfristig bleiben wir
trotz dieser Entwicklung optimistisch und
sind von den positiven Wachstumsperspektiven für Brasilien überzeugt.
Investoren haben sich in letzter Zeit
in Scharen zurückgezogen.
Das Wachstumspotenzial des Landes ist
nach wie vor groß. Brasilien ist die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt mit einer
Bevölkerung von fast 200 Millionen Menschen. Doch es sind Reformen und Investitionen nötig, beispielsweise in Bildung
und Infrastruktur. Das Land verfügt über
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eine stark wachsende Mittelschicht, deren
Konsumbedürfnisse weiter steigen werden.
Dies wird sich positiv auf das Wachstum auswirken. Auch für die Versicherungsbranche
sehen wir weiteres Wachstumspotenzial,
denn die Versicherungsdurchdringung ist
mit 1,7 Prozent etwa im Schaden-/Unfallbereich noch relativ niedrig. Im weltweiten
Vergleich liegt Brasilien auf Platz 42.
Seit Anfang 2011 hat die brasilianische
Landeswährung gegenüber dem Dollar
rund 30 Prozent an Wert verloren. In
São Paulo, Rio de Janeiro und anderen
Städten gab es Demonstrationen und
Straßenschlachten. Was erwarten Sie
für die Zukunft?
Kernproblem sind die fehlenden Reformen
in den Sozialsystemen, wie zum Beispiel
Bildung und Gesundheit. Das erfordert Investitionen. Solange diese Schritte nicht
Stern
Allianz
B RAS I L IE N
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erfolgen, werden wir vermutlich weitere
Proteste sehen. Darüber hinaus haben die
steigenden Zinsen 2013 die Kredite für Industrie und Konsumenten weiter verteuert. Damit
sich die Situation beruhigt, müssen überfällige
Reformen eingeleitet werden. Wir hoffen,
dass dies nach den Wahlen im Oktober passieren wird.
Gegen eine Vielzahl von Kongressmitgliedern wird wegen Korruption und
anderer Delikte ermittelt. Wie behält
man als Unternehmen in so einem Land
eine saubere Weste?
Als Allianz Gruppe haben wir einen gruppenweiten Verhaltenskodex sowie klare Antikorruptions- und Compliance-Richtlinien, die
alle Mitarbeiter weltweit in allen Märkten zu
erfüllen haben. Das gilt auch für Brasilien.
In den letzten Jahren sind Millionen Brasilianer in die Mittelschicht aufgestiegen.
Doch viele von ihnen sind hoch verschuldet. Droht ihnen der erneute Abstieg?
Die Verschuldung der privaten Haushalte
beträgt in Brasilien aktuell rund 45 Prozent.
In Europa liegt diese Quote bei über 80 Prozent und in den USA sogar deutlich über 100
Prozent. Die Arbeitslosenquote in Brasilien
befindet sich mit 4,3 Prozent auf einem
Rekordtief. Aktuell herrscht ein Mangel an
Arbeitskräften und die Reallöhne steigen.
Auch der Blick auf die notleidenden Kredite
privater Haushalte zeigt einen positiven
Trend: Sie sind seit einem Höchststand von
rund acht Prozent Anfang 2012 auf etwa 6,5
Prozent gesunken. Solange diese Situation
anhält, sehen wir keine Konsumentenkreditkrise auf uns zukommen.
2003 hat sich die Allianz Brasilien aus
dem Lebensversicherungsgeschäft
verabschiedet, 2008 war sie dann wieder
dabei. Warum dieses Hin und Her?
Unser Angebot im Bereich Lebensversicherungen beschränkt sich auf Risikolebensversicherungen, wobei aktuell Unternehmen
noch den Großteil unserer Kunden ausmachen. Unser Lebensgeschäft hat sich in den
letzten Jahren erfolgreich entwickelt und ist
2013 um 65 Prozent gewachsen. Produkte
im Bereich der kapitalbildenden oder fondsgebundenen Lebensversicherungen bieten
wir nach wie vor nicht an.
In Brasilien sind Banken mit ihren Versicherungstöchtern auch im Krankenversicherungsgeschäft unangefochtene
Spitzenreiter. Wie schlägt sich die
Allianz?
Bradesco und Sul América sind die dominanten Wettbewerber auf dem brasilianischen
Krankenversicherungsmarkt. Zusammen
kontrollieren sie über 80 Prozent. Die Allianz
konnte 2013 ein Wachstum von knapp 18 Prozent erzielen und liegt gegenwärtig auf Rang
vier. Die große Herausforderung im Krankenversicherungsgeschäft ist die Profitabilität.
Letztes Jahr lag die Inflationsrate für medizinische Leistungen bei über 15 Prozent und
unsere Schaden-/Kostenquote bei 106 Prozent. Das wollen wir in diesem Jahr verbessern.
Entwicklung des brasilianischen Bruttoinlandsprodukts seit 2006
7,5
6,1
4,0
5,2
2,7
-0,3
2006
2007
2008
2009
2,3
0,9
2010
2011
2012
2013
2,0
2014
(Prognose)
in Prozent / Quelle: Weltbank und Euler Hermes
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Allianz Journal 2/2014
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Antonio Scorza | Shutterstock.com
alle Fotos: Stern (wenn nicht anders angegeben) | Allianz
Millionen Brasilianer haben in den
vergangenen Jahren die Armut hinter sich
gelassen, doch der Aufschwung ist ins
Stocken geraten
Zwischen
Favela und
Formel 1
Ibrahim
Wer etwas über Brasilien erfahren will, über Höhen und Tiefen, über Ambitionen
und Rückschläge, für den ist die Allianz Seguros nicht die schlechteste Anlaufstelle: Wie kaum eine andere Institution spiegelt die brasilianische Allianz Tochter
das ganze Spektrum an Entwicklungen in Südamerikas größter Volkswirtschaft
wieder – zwischen Favela und Formel 1.
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Es gibt wahrscheinlich nur wenige, die sich in den Straßen
einer Favela ebenso auskennen wie in der Boxengasse beim
Großen Preis von Brasilien. Ramon Gomez ist einer von
ihnen. Gomez, bei Allianz Seguros für das Privatkundengeschäft zuständig, hat beide Seiten im Blick: das soziale
Engagement am unteren Ende der Gesellschaft und die
Möglichkeiten, die sich der Allianz als Sponsor der Formel 1
am oberen Ende bieten. Der Vertriebsmanager erlebt den
Zwiespalt zwischen beiden Polen hautnah.
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alle Fotos: Ibrahim (wenn nicht anders angegeben)
Stern
Miguel Pérez
Jaime
auf einen Schlag sieben Systeme durch eine einheitliche
Plattform ersetzt. »Aber es war doch komplizierter als
erwartet«, räumt Pérez Jaime ein.
Felipe Gomes
Und das hatte Folgen. Dass Marcelo Blay, einer der erfolgreichsten unter Brasiliens insgesamt 70 000 Versicherungsmaklern, der Allianz auch über diese Durststrecke die Treue
gehalten hat, lag nicht zuletzt an dem Ruf, den sie sich in den
letzten Jahren erarbeitet hat. »Die Allianz ist eine tolle Firma«,
sagt der Chef von Minuto Seguros, dem Pionier unter Brasiliens
Online-Maklern. »Wir können ihre Produkte verkaufen, ohne
uns Sorgen darüber machen zu müssen, ob sie ihre Versprechen auch einhält.« Der 47-Jährige ist nicht der einzige, der von
den Vorzügen seines Partners überzeugt ist: Im vergangenen
Jahr wählte das Fachmagazin Cobertura die Allianz Seguros
zur besten Versicherungsgesellschaft des Landes.
São Paulo – ein Land für sich
Graffiti-Künstler Eduardo Kobra schuf an einer Hochhauswand in der Avenida
Paulista von São Paulo diese Hommage an den weltberühmten brasilianischen
Architekten Oscar Niemeyer
In diesem Spannungsfeld bewegt sich das ganze Unternehmen. Und wie Brasilien selbst macht auch die Allianz
Seguros mit ihren 1400 Mitarbeitern gerade einen nicht
ganz reibungslosen Wandel durch. Nicht nur, dass es mit
Miguel Pérez Jaime Ende letzten Jahres einen Wechsel an
der Spitze des Unternehmens gab, zeitgleich lief die Einführung einer neuen IT-Plattform an, wie sie auch schon
in Spanien, Portugal und Kolumbien im Einsatz ist. »Insbesondere am Anfang gab es dabei einige Probleme«, sagt
Helga Jung, die im Allianz SE-Vorstand unter anderem für
Lateinamerika zuständig ist (siehe auch das Interview auf
S. 36). Ganz überraschend war das nicht, schließlich wurden
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Den Faden würde Vertriebsleiter Ramon Gomez gern
möglichst schnell wieder aufnehmen. »Im Moment ist es
schwierig für uns«, sagt er. »Aber die neue Plattform bringt
wichtige Vorteile. Sie ist die Voraussetzung, dass wir künftig
schneller wachsen als der Markt.« Darauf setzt auch Marcelo
Blay, einer von 14 000 Maklern, mit denen Allianz Seguros
landesweit zusammenarbeitet. Mit 90 Prozent der Prämieneinnahmen sind sie der wichtigste Vertriebskanal. Bislang
macht Blay zehn Prozent seines Umsatzes mit Allianz Produkten. »Das ließe sich steigern«, meint der gelernte Maschinenbauingenieur, der erst vor knapp vier Jahren ins Maklergeschäft
eingestiegen ist. »Im Moment verkaufe ich für Allianz Seguros
nur Kfz-Policen. Ich habe 40 000 Kunden, da wäre noch einiges
mehr drin.«
Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg von Millionen Brasilianern
hat in den letzten Jahren auch die Nachfrage nach Versicherungen deutlich zugenommen. Während die Wirtschaft insgesamt schwächelt, verzeichnet die Assekuranz weiterhin
zweistellige Zuwachsraten. »Und nun versuchen alle, Produkte für die neue Mittelschicht zu entwickeln, die sich rechnen«,
erläutert Allianz Seguros-Vorstand Felipe Gomes, der vor
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Ramon Gomez
Versicherung in grün
zwölf Jahren von seiner Heimatstadt Rio nach São Paulo
kam. Man merkt ihm den Schmerz darüber noch heute
manchmal an. »São Paulo ist ein Land für sich«, sagt Gomes,
der bei Allianz Seguros für Marktmanagement und Strategie
zuständig ist. Und mit 20 Millionen Menschen, die in der
Metropolregion leben, gar nicht mal ein sehr kleines. Ein
Großteil der Versicherungsbeiträge in Brasilien werden hier
erwirtschaftet.
Seit zwei Jahren bietet Allianz Seguros als Teil ihrer Gebäude- und
Hausratversicherung die fachgerechte Entsorgung von defekten
oder ausrangierten Möbeln und Haushaltsgeräten an. Sind die
Sachen noch funktionstüchtig, werden sie an Sozialprojekte oder
Favela-Bewohner abgegeben. Sind sie kaputt, werden sie recycelt.
Über 100 000 Wohnungs- und Hauseigentümer und 70 000 Firmen
haben das Angebot bis Mai dieses Jahres bereits in Anspruch genommen. Dabei kamen mittlerweile fast 100 Tonnen an ausrangierten
Möbeln und elektrischen Geräten zusammen.
Auch Allianz Seguros testet, mit welchen Produkten sie bei
neuen Kundengruppen punkten könnte. Breit angelegte Befragungen sollen helfen, deren Bedarf und Wünsche herauszufinden. Derzeit läuft ein Pilotprojekt für den Vertrieb einer speziell
für die untere Mittelschicht entwickelten Unfallversicherung –
Familia Segura, Sicherheit für die Familie. Auch in der Favela da
Caixa D’Agua, in der die Allianz seit 20 Jahren ein Jugendprojekt
unterstützt, ließ Gomes untersuchen, ob sich ein Angebot dort
lohnen könnte. »Doch dafür ist es wohl noch zu früh«, fasst er
das Ergebnis zusammen. »Bei vielen fehlt einfach das Wissen,
wie sich auch mit wenig Geld Vorsorge betreiben lässt.«
Daneben hat Allianz Seguros ein Beratungstelefon eingerichtet,
über das Kunden Tipps zum Energiesparen und zur Reduzierung
des Wasserverbrauchs bekommen. Das kann sich lohnen: Wegen
der anhaltenden Dürre in einigen Landesteilen und der geringen
Wassermenge in den Stauseen ist die Stromversorgung seit Monaten
angespannt. In São Paulo bietet der Wasserversorger Sabesp Firmen
und Privatpersonen 30 Prozent Rabatt auf die Wasserrechnung,
wenn die Kunden ihren Verbrauch um wenigstens 20 Prozent senken.
Seither erlebt Allianz Seguros einen Ansturm auf ihre Spar-Hotline.
WWW.ALLIANZ.COM.BR
Ein Defizit, das die Finanzbildungsinitiative My Finance Coach
beheben will, die die Allianz vor einigen Jahren in Deutschland
mit ins Leben gerufen hat. Mittlerweile hat sie Nachahmer in
aller Welt gefunden. »Im vergangenen Jahr haben wir in Brasilien damit begonnen, an öffentlichen und privaten Schulen,
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berichtet Ingo Dietz, Vizepräsident der deutsch-brasilianischen Handelskammer und bei Allianz Seguros für Kontakte zu Politik und Wirtschaft zuständig.
»Zehn Prozent der Allianz Seguros-Mitarbeiter standen
bereits vor einer Klasse«, sagt der Deutsche, der mit seiner Familie seit drei Jahren in Brasilien lebt. Auch Angelo
Colombo, Chef von Allianz Global Corporate & Specialty
(AGCS) Brasilien ist mittlerweile Finance-Coach, und noch
in diesem Jahr soll Mondial Assistance dazustoßen, mit
ihren 2200 Beschäftigten die weltweit größte Landesgesellschaft von Allianz Global Assistance.
Gemischte Gefühle
Es ist nicht das einzige Gebiet, auf dem das Kooperationskonzept One Allianz funktioniert. Allianz Seguros arbeitet
bei der Absicherung zahlreicher Infrastrukturprojekte eng
mit AGCS als Rückversicherer zusammen, greift bei seinen
Kfz-Policen auf den Pannenservice von Mondial zurück und
steuert im Gegenzug Unfall- und Gepäckversicherung zu
deren Reiseschutzpaket bei. Mondial wiederum entwickelt
gerade gemeinsam mit Global Automotive ein erweitertes
Garantieprodukt für brasilianische Autokäufer, das Ende
Juli auf den Markt kommen soll. »Die Kooperation der verschiedenen Allianz Einheiten macht natürlich überall Sinn«,
sagt Allianz Seguros-Chef Pérez Jaime. »In einem Land wie
Brasilien aber ist sie entscheidend.«
alle Fotos: Ibrahim (wenn nicht anders angegeben)
B RAS I L IE N
S P EZI A L
Marcelo Blay
Um im Marktranking weiter nach vorn zu rücken – gegenwärtig steht die Allianz Brasilien an sechster Position – setzt
Pérez Jaime vor allem auf den Ausbau des Privatkundengeschäfts. Mit einer Marktdurchdringung, die 2012 laut
Swiss Re im Lebensversicherungsgeschäft gerade mal zwei
Prozent und in der Sachversicherung knapp 1,7 Prozent
betrug, bietet Brasilien erhebliches Wachstumspotenzial.
Nicht zuletzt in der Kfz-Versicherung: Manche Prognosen
sagen bis 2020 einen Anstieg der Fahrzeugzahlen um bis
zu 70 Prozent voraus.
Bis Ende des Jahres will Miguel Pérez Jaime mit der Allianz
Seguros wieder an die Form vor Einführung der neuen ITPlattform anknüpfen. »Die automatisierten Abläufe werden
uns in die Lage versetzen, in Zukunft effizienter und flexibler
zu agieren«, sagt er und hebt die Bemühungen seiner Mitarbeiter hervor, die Maschine möglichst schnell wieder auf
Touren zu bringen. »Es ist eine sehr junge Mannschaft, im
Schnitt 32 Jahre«, so Pérez Jaime. »Ihre Loyalität zur Allianz,
»Treffen kann es jeden«
Als Vincent Bleunven gerade ins Auto
steigen wollte, standen sie plötzlich hinter ihm. Morgens um neun, mitten im
Zentrum von São Paulo, keine 100 Meter
von seiner Wohnung entfernt. »Ist schon
ein paar Jahre her«, sagt der Chef von
Mondial Assistance in Brasilien. »Aber
eine Waffe am Kopf – so was vergisst
man nicht.«
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Es war nicht das erste Mal, das Vincent
Bleunven Opfer eines Überfalls wurde, aber
dieser hat sich besonders in sein Gedächtnis
eingegraben. Auch deshalb, weil er selbst
dabei so ziemlich gegen alle Regeln verstieß,
die man in so einem Fall befolgen sollte. Das
war nicht sonderlich klug. Sein Glück, dass
auch die Räuber nicht die Hellsten waren.
In Städten wie São Paulo oder Rio de Janeiro
gehört Quicknapping inzwischen zu einer
gängigen Methode der Geldbeschaffung.
»Treffen kann es jeden«, sagt Bleunven,
»egal wie umsichtig man sich verhält.« Die
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Opfer werden mit Waffengewalt kurzzeitig
entführt, um Lösegeld zu erpressen oder um
mit ihrer Kreditkarte am nächsten Bankautomaten das Konto abzuräumen. So auch in
Bleunvens Fall: Die Täter zwangen ihn in den
Wagen und nahmen ihm die Kreditkarte ab.
Dann fuhren sie zu einer Bank.
Normalerweise hätte nun einer von ihnen
zum Automaten gehen und das Geld abheben müssen, während der andere im
Wagen das Opfer in Schach hält. Bleunvens
Entführer aber trauten sich wohl gegenseitig nicht über den Weg und machten sich
Allianz | Stern
E-mergency
Ingo Dietz, Vizepräsident der Deutsch-Brasilianischen Handelskammer. Die Einrichtung vertritt 700 deutsche Unternehmen
Zwei Drittel aller Autofahrer in Brasilien haben keine
Kaskoversicherung – und damit im Notfall auch keinen
automatischen Anspruch auf Pannenhilfe. Mondial
ihre Lust, neue Ideen zu entwickeln und umzusetzen, ist
schon beeindruckend. Ich habe noch nie in einer so inspirierenden Atmosphäre gearbeitet.«
Assistance, die brasilianische Tochter von Allianz Global
Assistance, hat daraus eine Geschäftsidee entwickelt:
E-mergency, ein Angebot für den Notfall, das man per
Smartphone und Internet auch vom entlegensten Ort
Nur beim Thema Fußball tut sich noch eine Kluft auf.
Einerseits fühlt sich Pérez Jaime zunehmend mit seiner
neuen Heimat verbunden. Andererseits ist Blut eben doch
dicker als Wasser. »Ich muss zugeben«, sagt der gebürtige
Spanier, »was die Weltmeisterschaft angeht, habe ich
gemischte Gefühle.«
anfordern kann. Nur wenige Klicks und der Abschleppwagen ist auf dem Weg, die Koordinaten des liegengebliebenen Fahrzeugs werden per Smartphone übertragen, die Bezahlung erfolgt online. Gleichzeitig wird
ein Jahresangebot für den Mondial-Pannenservice unterbreitet. Anfang 2015 soll E-mergency online gehen.
Möglicherweise bewahrt ihn ja die deutsche Nationalmannschaft vor allzu großen Gewissensqualen.
beide zur Bank um die Ecke auf. Dabei ließ
einer der Täter auch noch den Autoschlüssel
fallen, was Bleunven im Rückspiegel beobachtete. Nachdem sie außer Sichtweite
waren, schnappte er sich den Schlüssel und
fuhr davon. Am Ende gingen die Entführer
leer aus: Bleunven hatte ihnen eine falsche
Geheimzahl genannt. »Das war allerdings
nicht sehr clever«, sagt Bleunven heute.
»Wenn sie mich erwischt hätten, hätten sie
mich wahrscheinlich erschossen.«
Sicherheitsexperten raten im Fall eines Überfalls, den Anweisungen der Täter unbedingt
Folge zu leisten. Das ist keine Garantie, dass
man mit dem Leben davonkommt, erhöht
aber die Chancen. Bleunven folgt seit dem
Vorfall grundlegenden Sicherheitsregeln,
die die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines
WWW.MONDIAL-ASSISTANCE.COM.BR
Raubüberfalls zu werden, senken sollen:
keinen auffälligen Schmuck wie Ringe oder
teure Uhren; Autotüren immer verriegeln;
wann immer möglich, die mittlere Fahrspur
benutzen; nachts an leeren Kreuzungen
nicht bei Rot anhalten. »Und wenn mir das
nächste Mal jemand eine Pistole an den
Kopf hält«, sagt er, »werde ich mit Sicherheit
die richtige Geheimzahl meiner Kreditkarte
nennen.«
Bleunven lebt schon seit vielen Jahren mit
seiner brasilianischen Frau und drei Kindern
in São Paulo und fühlt sich inzwischen
mehr als Brasilianer denn als Franzose. »Die
Menschen hier sind von Natur aus freundlich, das Leben ist voller Dynamik, es wird
nie langweilig«, beschreibt er die Vorzüge
des Landes. Nur dass sich die Brasilianer
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anscheinend so fatalistisch mit der hohen
Kriminalitätsrate abfinden, damit hat er
seine Probleme. »Früher bin ich abends
gern spazieren gegangen. Hier nie. Nie!
Für Brasilianer ist Verbrechen Teil des
Lebens. Es gehört für sie dazu. Von Polizei
und Regierung erwarten sie sich schon
lange keine Hilfe mehr.«
Und es gibt noch einen zweiten Punkt, in
dem sich der Wahl-Brasilianer von seinen
neuen Landsleuten unterscheidet: Sein
Fußballherz schlägt weiter für Frankreich.
»Auch wenn sie wohl keine Chance haben«,
sagt er. Die zweite Generation hat diesen
Gewissenskonflikt überwunden: Bleunvens
Söhne fiebern für Brasilien. Ohne Wenn
und Aber.
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Die Welt
hinter der Mauer
alle Fotos: Ibrahim
Jean-Marie Monteil
Rose Oliveira
Es ist eine Enklave, eine Insel inmitten eines Meers aus Armut und
Fatalismus. Hinter einer blauen Mauer in der Avenida Alfredo Ribeiro
de Castro im Nordosten von São Paulo lernen Kinder, sich in einer
Welt zu behaupten, die sie eigentlich schon abgeschrieben hat.
»Ich weiß, wie schwer es ist, wenn man aus armen Verhältnissen kommt«, sagt Jean-Marie Monteil und schaut
hinunter auf die Häuser der Favela da Caixa d’Água,
einem der zahlreichen Elendsviertel von São Paulo. Vor
20 Jahren begann Monteil damit, den Kindern der Siedlung, in der 25 000 Menschen leben, einen Ausweg zu
eröffnen. Damals war er noch Chef der brasilianischen
Niederlassung der Versicherungsgruppe AGF (Assurances Générales de France), die zwei Jahre später von der
Allianz übernommen wurde.
Die Allianz »erbte« damals auch Monteils Jugendprojekt,
das heute unter dem Namen ABA (Associação Bene-
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ficente dos Funcionários do Grupo Allianz Seguros) zu
ihrer brasilianischen Tochter gehört, wie der Zuckerhut
zu Rio. Der gebürtige Franzose, der vor 50 Jahren nach
Brasilien kam, hat in seiner Kindheit Armut selbst kennengelernt. Vielleicht nicht in dem Ausmaß, wie er es
später in seiner Wahlheimat erlebte, aber doch genügend, um zu wissen, wie sehr sie die Psyche prägt und
die Perspektive verengt. »Wenn du die Welt verändern
willst, fang mit den Kindern an«, lautet ein Ausspruch
Mahatma Gandhis. Monteil hat ihn zu seiner Lebensaufgabe gemacht. »Es geht darum, den Kindern eine
Chance zu geben«, sagt der 78-Jährige. »Wir wollen
ihnen zeigen, dass es andere Lebensentwürfe gibt.«
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»Wir geben ihnen eine Chance« – ABA
ermöglicht den Kindern und Jugendlichen
der Favela eine Start ins Leben, den ihnen
ihre Familien nicht geben können und den
ihnen die Gesellschaft verweigert
Rakelly Canuto
dos Santos
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alle Fotos: Ibrahim
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S P EZI A L
20 Jahre ABA
Die Anfänge der Associação Beneficente dos Funcionários do Grupo Allianz Seguros (ABA), des Gemeinnützigen Vereins der Mitarbeiter der Allianz Seguros
Gruppe, reichen bis ins Jahr 1994 zurück. Gegründet
wurde er vom damaligen Chef der brasilianischen
AGF-Tochter, Jean-Marie Monteil, der die Geschicke
der Initiative als Vorsitzender weiterhin maßgeblich
mitbestimmt. »Wir wollen den Kindern eine breit
gefächerte Bildung vermitteln und vor allem ihr
Selbstwertgefühl stärken«, sagt Monteil. Zuneigung,
Disziplin und das offene Gespräch zählt er dabei zu
den wichtigsten Erfolgsfaktoren.
Im Laufe der Jahre haben rund 6000 Kinder und
Jugendliche der Favela da Caixa d’Água im Alter zwischen vier und 18 Jahren von dem außerschulischen
Angebot, das von Tanz und Musik über Sport und Schach
bis hin zu Computerkursen und Berufsberatung reicht,
profitiert. Getragen wird die Initiative hauptsächlich
von Allianz Mitarbeitern. »Jeder im Unternehmen steht
dahinter«, sagt Allianz Seguros-Chef Miguel Pérez
Jaime. »Auch viele unserer Makler unterstützen das
Projekt.« Im August dieses Jahres feiert ABA seinen
20. Jahrestag.
Für Rakelly Canuto dos Santos könnte das den entscheidenden Unterschied ausmachen. Wenn das Mädchen tanzt, sieht es aus wie eine kleine Prinzessin, die
sich der Bürde ihrer Krone bewusst ist. Ernst, konzentriert, aufmerksam. Ihre Eltern kamen vor Jahren aus dem
Nordosten Brasiliens nach São Paulo und sind mit ihren
Träumen irgendwann in der Caixa d’Água gestrandet.
Rakelly aber könnte es schaffen. Im November wurde
die Fünfjährige bei ABA aufgenommen. Die Warteliste
ist lang.
Es ist eine anfangs fremde Welt, in die sie und die anderen
Kinder hinter der blauen Mauer mit den Schmetterlingen
eintauchen. Eine Welt, wie sie sein könnte. Musik, Malerei,
Tanz – »ABA ist ein Refugium, in dem die Kinder lernen,
sich durch die Kunst auszudrücken«, beschreibt es Direktorin Rose Oliveira. »Wir arbeiten mit dem Herzen.« Klingt
ein wenig esoterisch, doch wer beobachtet, wie die Mädchen und Jungen einen Videoclip drehen, wie sie einen
Tanz einstudieren oder ein Theaterstück proben, versteht.
»Hier entwickeln sie das Selbstwertgefühl, das sie brauchen
in einer Welt, die nicht auf sie wartet«, sagt die Psychologieprofessorin. Wer viel Glück hat in seinem Leben, begegnet
in jungen Jahren einem Menschen wie ihr.
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Zwölf fest angestellte Lehrkräfte sind für die Kinder
und Jugendlichen da und stellen das umfangreiche
außerschulische Zusatzprogramm sicher, zu dem auch
Computerkurse und für die Älteren die Berufsberatung
gehören. Einer von den zwölf ist Rodrigo Motto, der
den ABA-Schülern van Gogh & Co. nahebringt. Motto
ist Maler und kennt das Umfeld, aus dem die Kinder
kommen, aus erster Hand – er lebt selbst in der Favela
und weiß aus eigener Erfahrung, welche Wirkung Kunst
gerade dort haben kann. Zweimal pro Jahr veranstaltet
ABA für Eltern, Allianz Mitarbeiter und Makler eine Vernissage, in der die Bilder der Schüler ausgestellt werden.
Kein Künstler, der da nicht aufgeregt wäre.
Viele ABA-Schüler gehen mit 18 auf die Universität. »Für
sie ist es ganz natürlich, sich hohe Ziele zu setzen«, sagt
Rose Oliveira nicht ohne Stolz. »Und sie können ohne
Weiteres mit ihren Altersgenossen aus den besseren
Schichten mithalten«, setzt ABA-Vorsitzender Monteil
hinzu. Etliche von ihnen haben ihren Kommilitonen
sogar etwas voraus: Letztes Jahr lud die Allianz erstmals
50 ABA-Schüler zum Großen Preis von Brasilien in die
Boxengasse. Wer kann schon von sich behaupten, dass
er Lewis Hamilton schon mal die Hand geschüttelt hat?
Auch bei der Eröffnung des neuen Allianz Stadions in
São Paulo, die für Ende August geplant ist, werden viele
ABA-Kinder auf den Rängen sitzen.
An einem Wochenende jedes Monats laden Jean-Marie
Monteil und seine Frau eine Gruppe von ABA-Schülern
auf ihre Farm ein, 300 Kilometer von São Paulo entfernt.
Für viele der Kinder ist es der erste Ausflug in die Natur
überhaupt. »Es ist nichts Großes, aber oft sind es die kleinen Dinge, die man in Erinnerung behält«, sagt Monteil.
Und sei es nur wegen der blütenweißen Bettwäsche,
die seine Frau jedes Mal aufzieht und die manche ihrer
Gäste so verblüfft, dass sie es kaum wagen, sich darauf
zu setzen.
Auf dem Weg vom Flughafen Guarulhos in die Innenstadt fliegt in einiger Entfernung die Favela da Caixa
d’Água vorbei. São Paulo empfängt seine Gäste mit
einem flüchtigen Blick in seinen Hinterhof. Irgendwo
dort, verborgen im Gewirr der Straßen und Gassen,
steht eine blaue Mauer mit Schmetterlingen darauf.
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Allianz Journal 2/2014
Amerika
prüfungen durch freie Mediziner sowie Datenerfassung und
toxikologischen Tests wichtige Hilfe, um falscher Medikation
und dem Abzweigen von Medikamenten vorzubeugen.
Shutterstock
Opiathaltige Medikamente und die resultierende Abhängigkeit treiben
die Ausgaben der amerikanischen Versicherungsbranche in die Höhe.
Allianz Tochter Fireman’s Fund versucht, die Kosten unter Kontrolle zu
halten und Patienten vor der Sucht zu bewahren.
Eine Wunderwaffe, um die Abhängigkeitsraten und die
Folgekosten zu senken, gibt es nicht. 2013 rief Fireman’s
Fund ein Team ins Leben, dem Schadenexperten, Mitarbeiter
der Spezialuntersuchungseinheit SIU (Special Investigations
Unit), von FFIC beauftragte Labore und die Rechtsabteilung
angehören. Sie sollten das Thema Opiatabhängigkeit untersuchen und einen Aktionsplan aufstellen.
JESSICA BUCHLEITNER
Süchtig
nach der Pille
Amerikaner machen nur fünf Prozent der Weltbevölkerung
aus, konsumieren nach Angaben des US-Zentrums für Krankheitskontrolle (Center for Disease Control) aber 50 Prozent
der Medikamente und 80 Prozent der Betäubungsmittel.
Die Einzelhandelsumsätze für verschreibungspflichtige
Medikamente sind in den USA in den letzten zehn Jahren von
72 Milliarden Dollar auf 250 Milliarden Dollar hochgeschnellt.
Im gleichen Zeitraum hat sich der Durchschnittspreis für
Pillen, Kapseln und Tropfen von 30 Dollar auf 68 Dollar mehr
als verdoppelt.
Die Assekuranz in den USA verzeichnet den gleichen Trend.
In den letzten elf Jahren hat sich der Anteil der verschreibungspflichtigen Medikamente an den Gesamtkosten der Berufsunfallversicherung von zehn Prozent im Jahr 2000 auf 19 Prozent im Jahr 2011 fast verdoppelt. Der Grund dafür ist eine
schleichende Gefahr, die für die Branche nur schwer zu
gestiegen«, sagt Dan Rufenacht, Leiter des Bereichs Berufsunfallversicherung bei Fireman’s Fund (FFIC). »Wir kriegen
Kostenübernahmeanträge für Behandlungen auf den Tisch,
wo opiathaltige Schmerzmittel eigentlich nicht nötig gewesen wären. So erhielt zum Beispiel ein Patient gegen seine
Rückenschmerzen ein starkes Betäubungsmittel, das normalerweise nur nach chirurgischen Eingriffen verwendet
wird, obwohl er nie operiert wurde. Das kann zu Abhängigkeit führen.«
Das Team stieß auf fünf Ursachen, die dem Problem zugrunde liegen und die Kosten in die Höhe treiben. Zum einen
sind das Ärzte, die sich nicht an die Richtlinien für das Vorgehen bei bestimmten Verletzungen halten. So werden zum
Beispiel Opiate verabreicht, obwohl sie für das Krankheitsbild
eigentlich nicht vorgesehen sind, oder es wird eine volle
Monatsdosis für ein Medikament verschrieben, das nur
einige Tage eingenommen werden sollte.
einzudämmen ist: die Abhängigkeit von opiathaltigen
Medikamenten.
Keine Wunderwaffe
Dabei ist es mindestens genauso schwierig, dem Problem des
Missbrauchs auf die Spur zu kommen, wie ihn zu beseitigen.
Opiathaltige Schmerzmittel werden normalerweise nur nach
schweren Verletzungen mit daraus resultierenden chronischen Schmerzen, nach Operationen und der nachfolgenden
Schmerzkontrolle sowie zur allgemeinen Schmerzbehandlung eingesetzt. Alle drei Szenarien können zur Abhängigkeit
führen.
»Im vergangenen Jahrzehnt ist die Verwendung von opiathaltigen Medikamenten bei der Behandlung von Verletzungen, die unter die Berufsunfallversicherung fallen, merklich
Zweitens kommt es nicht selten vor, dass Patienten mehrere
Schmerzmittel verschrieben bekommen, was zu einer übermäßigen Einnahme mit entsprechendem Suchtfaktor führen
kann. Der dritte Kostentreiber ist die Verschreibung von
Markenmedikamenten in Fällen, in denen auch generische
Arzneimittel ausreichen würden.
Kritisch wird es auch, wenn Ärzte aus ihrem Vorrat Medikamente ausgeben, die die Kosten für den Versicherer in die
Höhe treiben und zudem schwierig zu überwachen sind. Zu
guter Letzt kommt noch hinzu, das manche Patienten ihre
Schmerzmittel abzweigen und damit illegal Handel treiben.
Auf Grundlage dieser fünf Faktoren erstellte das FFIC-Team
eine Liste mit den häufigsten Missbrauchsszenarien und
entwickelte für ihre Schadenregulierer mögliche Gegenmaßnahmen. Dabei spielt die Zusammenarbeit mit externen
Dienstleistern und Medizinlaboren eine wichtige Rolle. Sie
liefern mit ihren unabhängigen Untersuchungen, mit Fall-
Der wichtigste Hebel für all diese Fragen sind laut Rufenacht
die verschreibenden Ärzte. Sie erreiche man am besten über
die Dienstleister und Labore, mit denen sie zusammenarbeiten. »Als Versicherer haben wir nur einen beschränkten Einfluss auf das Problem. Deshalb ist es entscheidend, mit den
Ärzten ins Gespräch zu kommen«, erklärt Rufenacht.
»So lässt sich zum Beispiel die Medikation abklären, die ein
versicherter Patient erhält. In einigen Staaten können wir
Verschreibungen sogar anfechten.«
Soziale Verantwortung
Debra Drake, die das FFIC-Team zusammen mit Rufenacht
leitet, ist für die Programme zur Ausgabendämpfung und für
den Kontakt zu Dienstleistern und freien Laboren zuständig.
Um die Kosten und die Suchtgefahren im Griff zu behalten, sei
es von entscheidender Bedeutung, diese mit einzubeziehen,
sagt Drake. »Unsere Partner in diesem Bereich können uns
bei der Datenerfassung und der Analyse der Medikamenteneinnahme unterstützen«, fügt sie hinzu. »Zudem können
ihre Fachleute mit den verschreibenden Ärzten abstimmen,
welche Medikamente für Patienten die richtigen sind.«
Die behandelnden Ärzte stünden einer Zusammenarbeit
mit FFIC offener gegenüber, wenn sie aussagekräftige Daten
vorgelegt bekämen und sich mit anderen Medizinern austauschen könnten, so Drake. »Wir wollen Patienten nicht die
angemessene medizinische Versorgung vorenthalten«, ergänzt Rufenacht. »Natürlich sind Medikamente oft notwendig.
Doch es gab einige Fälle, da wären die Patienten heute nicht
mehr am Leben, wenn wir nicht eingegriffen hätten.«
Zu seiner Arbeit gehöre auch soziale Verantwortung, sagt
Rufenacht, der in seiner Laufbahn schon einige verheerende
Suchtfälle gesehen hat. »Wenn Patienten medikamentenabhängig werden, beeinträchtigt das ihr Leben auf Jahre«,
sagt der Manager. »Unser Ziel besteht nicht nur darin, Kosten
zu senken, sondern vorzubeugen und Ärzten und Patienten
Behandlungsalternativen anzubieten, die für eine bessere
Lebensqualität sorgen.«
WWW.FFIC.COM
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Allianz | Stern
Roth
Asien
Menschen, die im Jahr des Pferdes
geboren wurden, sagt man nach,
besonders abenteuerlustig zu
sein. Vielleicht ist am chinesischen
Horoskop ja etwas dran, auf Christine
Nagel trifft es jedenfalls zu: Von einer,
die Schwaben gegen Asien tauschte.
Das Bürogebäude der Allianz in Singapur
Christine Nagel
FRANK STERN
Spätzle süß-sauer
Metzingen. Gepflegtes Städtchen am Fuß der Schwäbischen
Alb. Es ist vielleicht nicht ganz fair, die zahlreichen Firmen-Outlets als die größte Attraktion des Ortes zu bezeichnen, doch seit
es hier die Marken-Schnäppchen gibt, ist die Zahl der Besucher
beträchtlich gestiegen. »Hugo Boss-Stadt«, sagt Christine Nagel
und lacht. Sie stammt aus Metzingen, doch wusste sie schon
früh, dass es eine Welt jenseits der Schwäbischen Alb gibt: ihr
Vater kam beruflich viel herum – Südamerika, Russland, China.
Vor allem China, das exotischste Land von allen, weckte schon
früh ihre Phantasie – und es ließ sie nicht mehr los. Eines Tages
wollte sie dorthin, eintauchen in die Kultur, die Sprache, die
Geschichte. »Es war das Fremdartige, das mich angezogen hat«,
sagt sie im Rückblick. 1991 kommt sie als Studentin das erste Mal
ins Reich der Mitte und hört an der Fudan-Universität in Shanghai Vorlesungen in Volkswirtschaft – auf Chinesisch. Sechs Jahre
später wird sie zurückkehren und mit einem kleinen Team die
erste Allianz Lebensversicherung in China aus der Taufe heben.
Dass Asien zu ihrer zweiten Heimat werden würde, war damals
noch nicht abzusehen. Inzwischen ist es 17 Jahre her, dass sie
Deutschland verlassen hat. Ihre Kinder, 13 und zehn, sprechen
besser Englisch als Deutsch. »Was Asien angeht, war ich die
treibende Kraft«, sagt sie. Ihr Mann, ebenfalls Volkswirt-
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Allianz Journal 2/2014
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schaftler, hatte eher Amerika im Auge. Doch allzu viel Überredungskunst, die andere Richtung einzuschlagen, brauchte
es offenbar nicht.
Es dauerte allerdings ein knappes Jahr, bis ihm seine Firma
einen Job in Shanghai bieten und er ihr folgen konnte. »Dennoch hatten wir großes Glück«, sagt Nagel. »Da gibt es ganz
andere Beispiele. Oft muss sich ja ein Partner entscheiden,
ob er seinen Job in der Heimat aufgibt und die eigene Karriere
hintenanstellt.« In der Vergangenheit war das meist die Frau.
oberflächlich, und Italiener können sich nicht von ihrem Spiegelbild losreißen. Jeder begegnet dem Anderen mit bestimmten stereotypen Vorstellungen, jeder hat seine Schubladen.
Selbst diejenigen, die sich für völlig unvoreingenommen halten,
hegen im tiefsten Inneren und oft unbewusst gewisse Vorurteile. Psychologen sprechen von implicit bias.
Singapur, Finanzviertel. Im September letzten Jahres hat die
Allianz hier ihre neue Asienniederlassung bezogen. Die rund
500 Mitarbeiter der hier versammelten elf Tochtergesellschaften kommen aus 27 Ländern. »Wer im Ausland leben und
arbeiten möchte, sollte sich von Vorurteilen möglichst schnell
freimachen«, sagt Nagel. »Sonst ist er fehl am Platz.«
Doch abschrecken lassen sollte sich davon ihrer Ansicht nach
niemand. Der Organisationsaufwand sei zwar größer, aber unüberwindliche Hürden gebe es selten. »Man sollte neugierig
sein und offen gegenüber anderen Kulturen und Lebensweisen,
auch offen gegenüber anderen Arbeits- und Führungsstilen«,
rät sie allen, die einen Auslandsaufenthalt ins Auge fassen. Den
Außeneinsatz nur als Schritt auf der Karriereleiter abzuhaken,
hielte sie für eine verschenkte Gelegenheit: »Nicht alles läuft
immer glatt, es wird einem viel Eigeninitiative abverlangt. Doch
wer sich auf ein Land und seine Menschen einlässt, für den ist
diese Erfahrung ungemein bereichernd.«
Für sie zählt die Arbeit, die jemand leistet, nicht die Hautfarbe, die
Religion oder das Geschlecht. Und mit ihrer Maxime »Behandle
andere so, wie auch du behandelt werden möchtest« ist sie
immer gut gefahren. »Letztlich sind wir alle Menschen mit relativ
gleichgearteten Bedürfnissen«, sagt sie. »Ob Chinese oder Inder
oder Deutscher – jeder möchte mit Respekt behandelt werden.«
Vier Jahre blieben sie und ihr Mann in Shanghai, drei davon
leitete sie dort das Repräsentationsbüro der Allianz. 2001 dann
der Wechsel nach Singapur, damals noch die familienfreundlichere Option. »In Shanghai hat sich in der Zwischenzeit allerdings viel getan«, sagt Nagel. »Ich bin mir nicht sicher, ob diese
Aussage heute noch so stimmt.« Eine Wahl zwischen beiden
Städten mag sie nicht treffen. »Jede hat ihren Reiz«, antwortet
sie diplomatisch auf eine entsprechende Frage. Ein Zeichen,
wie sehr ihr die asiatische Art bereits zur zweiten Natur geworden ist?
Vom 14. Stock der Allianz Zentrale am Marina View blickt man
hinunter auf einen der größten Containerhäfen der Welt – und
auf etliche Baustellen. Singapur verändert ständig sein Gesicht,
nichts scheint von Dauer. Ein Spiegelbild des rasanten Wandels
auf dem gesamten Kontinent, den auch Nagel und ihre drei
Mitarbeiter hautnah miterleben, schließlich sind sie für die
strategische Entwicklung des Sachversicherungsgeschäfts in
China, Indien, Indonesien, Laos, Malaysia, Sri Lanka und Thailand zuständig. Aktuell geht es vorrangig darum, in den sieben
Märkten das Privatkundengeschäft anzukurbeln. Für Christine
Nagel bedeutet das nicht zuletzt: reisen.
Womit wir beim Thema Vorurteile wären: Chinesen, das
ist bekannt, scheuen das offene Wort, Amerikaner sind
Geht man nach dem chinesischen Horoskop, kommt das ihrer
Natur entgegen. Menschen, die im Jahr des Pferdes geboren
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wurden, sagt man nach, besonders abenteuerlustig und reisefreudig zu sein. 1966, ihr Geburtsjahr, war so ein Pferdejahr.
»Ich versuche aber, die Geschäftsreisen auf ein- bis zweimal
im Monat zu beschränken und dann nicht allzu lange weg zu
sein«, sagt sie. Auch ihr Mann ist beruflich gelegentlich unterwegs, doch bislang hat die Koordination immer irgendwie
geklappt. »Heute, wo meine Kinder größer sind, ist es natürlich
leichter«, erzählt die Managerin. Schwieriger sei es mit Kleinkindern: »Da ist man manchmal zwischen Berufspflichten und
Familie hin- und hergerissen.«
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Christine Nagel jedenfalls hat es nie bereut, sich in die Welt
hinter der Schwäbischen Alb gewagt zu haben. Dass Singapur
ihre letzte Station bleibt, davon ist kaum auszugehen. »Wir
haben hier Fuß gefasst und möchten unseren Kindern bis zum
Ende ihrer Schulausbildung ein gewisses Maß an Stabilität
geben«, sagt sie. »Doch danach? Wer weiß? Neugierig bin ich
jedenfalls immer noch.«
Und ihr Mann? »Der auch.«
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Snutterstock
Sisyphus in
Gummistiefeln
Hochwasser haben die Widerstandsfähigkeit der Menschen schon immer auf die Probe gestellt.
Neu ist die Dimension. Immer öfter, immer stärker – die Wassermassen spülen die Erkenntnis frei,
dass sich der Mensch mit Engstirnigkeit nicht gegen die Natur behaupten kann. Bei den diesjährigen
Benediktbeurer Gesprächen ging es daher nicht nur um die Erweiterung von Flussbetten, sondern
auch um den Blick über den eigenen Tellerrand.
MICHAEL GRIMM
Die Solidarität war auch beim Hochwasser im Juni 2013 wieder
riesig. Politiker in Gummistiefeln. Wiederaufbauversprechen
in Milliardenhöhe. Feuerwehren aus allen Teilen der Republik.
Tausende freiwillige Helfer beim Sandsackschleppen. Aber reicht
das, um mit künftigen Hochwasserereignissen fertig zu werden?
Flutkatastrophen haben eine magische Wirkung. Sie schmieden
Koalitionen zwischen Interessengruppen, die sich in Normalpegelzeiten mit Unverständnis begegnen. Was tragisch ist, denn
dieser gesellschaftliche Pakt ist das einzig Wirksame, was der
Mensch der Natur entgegenzusetzen hat.
Das Juni-Hochwasser im letzten Jahr wird nicht das letzte gewesen sein. Experten zufolge werden sie bis 2050 sogar zweibis dreimal häufiger auftreten. Doch vielleicht war es die letzte
Flut, nach der gesagt wurde, man sei nicht vorbereitet gewesen.
Diese Hoffnung durfte man zumindest haben angesichts des
Mottos der diesjährigen Benediktbeurer Gespräche: »Vor uns die
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Sintflut – wie gehen wir mit den immer häufiger auftretenden
Hochwasserereignissen um?« Dass sich hinter dieser Frage eine
Aufforderung an die Gäste aus den Bereichen Landwirtschaft,
Naturschutz und Politik verbarg, daraus machte der Geschäftsführer der Umweltstiftung, Lutz Spandau, keinen Hehl. »Allen
Beteiligten ist bewusst, dass wir ein anderes Flächennutzungsmuster brauchen. Aber keiner will den ersten Schritt machen.«
Flüsse brauchen Raum. Jeder Quadratkilometer unbebaute
Überflutungsfläche mildert die Flut. Der technische Hochwasserschutz in den Städten mit Sandsäcken, Spuntwänden und Pumpwerken reicht nicht aus. So einfach ist das, und doch so schwer.
Hinweis der Natur«, endlich etwas zu tun. Der Wettermann des
Deutschen Fernsehens führte dem Publikum vor Augen, welchen
Einfluss der Mensch auf die Umwelt und damit auch auf sein
eigenes Schicksal hat – angefangen beim ungezügelten Verbrauch fossiler Rohstoffe über die Erwärmung der Meere und
das Schwinden des arktischen Eises bis hin zur Schwächung des
Jetstreams und die daraus resultierenden, länger andauernden
Großwetterlagen.
Schwindendes Interesse
Die Argumentationskette hätte kaum prägnanter sein können,
die Beweislast kaum erdrückender. Und trotzdem schwindet das
Interesse der Bevölkerung am Thema Klimawandel. Hielten den
2006 noch 62 Prozent der Befragten für relevant, waren es laut
Plöger im letzten Jahr nur noch 39 Prozent. Und das, obwohl in
diesem Zeitraum allein Süd- und Ostdeutschland von drei großen
Hochwasserereignissen heimgesucht wurde. Wie kann das sein?
Einer, der sich von Berufs wegen regelmäßig die gleiche Frage
stellt, ist Lutz Trümper, leidgeprüfter Oberbürgermeister von
Magdeburg. In immer kürzeren Abständen muss er seine Stadt
vor immer höheren Elbepegeln schützen. Doch sein größter
Feind ist nicht etwa das Wasser, es ist vielmehr das kollektive
Vergessen. »Hochwasserdemenz« nennt Trümper das eigenartige Verhalten, das die Gesellschaft in ihrer Handlungsfähigkeit
lähmt. Sobald die letzten Schäden beseitigt sind, ist die letzte
Flut wieder vergessen. Dann beginnt die Sisyphusarbeit von
vorn. Ein Beispiel: Beim Rekordhochwasser im Juni 2013 wurden
13 Millionen Euro für Sandsackverbauungen entlang der Uferkante des Stadtteils Werder ausgegeben. Eine dauerhafte Mauer
anstelle des Promenadengeländers würde nur 3,5 Millionen
Euro kosten. »Doch dann erhielt ich einen Hinweis, dass das
Geländer denkmalgeschützt ist.« Gut möglich also, dass die
Menschen beim nächsten Sandsackbefüllen wieder ihre Solidarität beweisen können.
Landwirte, die sich gegen so genannte Polder, künstlichen Überflutungsflächen, auf ihrem Grund und Boden wehren; Bürger die
sich gegen Veränderungen des vertrauten Stadtbilds wehren;
Naturschützer, die sich gegen Eingriffe in sensible Flusslandschaften wehren; Politiker, die sich gegenseitig die Verantwortung
zuschieben – die Wehrhaftigkeit wäre weitaus größer, würden
alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Dass sie das immer noch
nicht ausreichend tun, liegt für Trümper zu einem großen Teil
am Naturschutz. Aktuell kämpft der Bürgermeister dafür, den
künstlich angelegten Umflutkanal der Stadt aus einem so genannten Fauna-Flora-Habitat (FFH) zu boxen. Der Schutzstatus
verhindere wichtige Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen, so der Oberbürgermeister.
Tatsächlich fällt dem Naturschutz beim Thema Hochwasser
eine besondere Rolle zu. Und nicht immer wird sie als konstruktiv empfunden, wie zum Beispiel von Wolfgang Haber.
alle Fotos: Roth (wenn nicht anders angegeben)
Gesellschaft
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Allianz Journal 2/2014
Klimawandel ist keine Modeerscheinung – TV-Meteorologe Sven Plöger
rechts: Reinhard Vogt und Gerd Sonnleitner
Hochwasserschutz ist deswegen eine so große Herausforderung,
weil sich die Gefahr lange, bevor das Wasser wieder einmal bis
zum Dachgiebel steht, zusammenbraut. TV-Meteorologe Sven
Plöger rief allen Anwesenden ins Bewusstsein, dass der Klimawandel keine Modeerscheinung ist, sondern »ein freundlicher
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Allianz Journal 2/2014
beide Fotos: Roth
© 2012, Scott Adams, Inc./Distr. Universal Uclick/Distr. Bulls
G ES EL LSCHAFT
Lutz Trümper (linkes Foto re. zusammen mit Olaf Tschimpke) beklagte die
»Hochwasserdemenz« seiner Mitbürger. Bild oben: Lutz Spandau
Schonungslos legt die Natur die Schwächen des Verwaltungssystems offen. Schon 1997 hatte sich Wolfgang Haber besorgt
über das Behördengerangel in Krisenzeiten gezeigt. Thema der
Benediktbeurer Gespräche damals: »Schlägt die Natur zurück?«
Die Antwort 17 Jahre später muss lauten: Ja. In Bezug auf Hochwasser sogar besonders heftig. Als eines der Hauptübel hatte
Haber die mangelnde Kommunikation und Kooperation zwischen
den einzelnen Interessengruppen ausgemacht. Hat sich das
seither gebessert?
Der renommierte Landschaftsökologe und ehemalige Vorsitzende des Kuratoriums der Allianz Umweltstiftung sagte
am Rande der Veranstaltung zum Einfluss des Naturschutzes:
»Wenn das so weitergeht, wird in 50 Jahren ein Gerichtshof
für Menschenrechte entscheiden müssen, wer Vorrang hat:
der Mensch oder bestimmte Teile der Natur.«
Hochwasser-TÜV fürs Eigenheim
Einer, der es gewohnt ist, sich gegen diese Art von Vorwürfen
zu wehren, ist Olaf Tschimpke. Entsprechend offensiv ging der
Präsident des Naturschutzverbands Deutschland (NABU) in
die Debatte. Wer habe denn die wenigen Rückdeichungen in
Deutschland bezahlt? Der Naturschutz! »Es ist leicht, den Naturschutz zum Sündenbock zu machen, wenn man sich politisch
nicht gegen Landbesitzer in hochwassergefährdeten Regionen
durchsetzen kann.« Die Spitze richtete sich gegen Podiumsgast
Gerd Sonnleitner. Der Ehrenpräsident des Deutschen Bauernverbands hatte in seiner Rede zuvor mehr Verständnis für die
Landwirte gefordert, die ihrerseits für so vieles herhalten müssten, nun auch noch für den Hochwasserschutz.
Wasser braucht Fläche. Davon haben die Landwirte viel. Doch
die zögern, ihren Grund für das Gemeinwohl überfluten zu lassen, so lange ihnen dafür keine Ausgleichsflächen zur Verfügung
gestellt werden. Tschimpke forderte daher größere gemeinsame
Anstrengungen, um Retentionsräume zu schaffen. Das schließe
auch die Reform von so mancher Behörde mit ein. Die Wasserstraßenverwaltung zum Beispiel habe genug finanzielle Mittel,
um Flächen zu renaturieren. Doch sie stecke das Geld immer
noch in den Erhalt von Wasserstraßen, auf denen kein Verkehr
mehr stattfände.
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Eine positive Antwort darauf gab Reinhard Vogt, Leiter der
Hochwasserschutzzentrale Köln. Stolz berichtete er von der
Entwicklung von Hochwasserkarten, Rückhaltebecken und dem
Hochwasserpass, eine Art Hochwasser-TÜV fürs Eigenheim.
Doch das Wichtigste sei es, die Bevölkerung zu beteiligen. Der
Erfolg scheint ihm Recht zu geben: Auf das Jahrhunderthochwasser im Dezember 1993 folgte 1995 noch ein schlimmeres.
Trotzdem fielen die Schäden niedriger aus. Baulich habe man
nicht viel verändert, nur die Bevölkerung besser vorbereitet.
»Heute haben die Leute sogar die Kinderzimmer gefliest«, sagte
Vogt. Die Bevölkerung habe ihre Heizungen teilweise von Öl auf
Gas umgestellt, Stromverteileranlagen vom Keller in die oberen
Stockwerke gelegt. Mittlerweile gibt es in Köln zehn Bürgerinitiativen, die sich für Hochwasserschutz engagieren. Und da
Hochwasser keine Stadt- oder Ländergrenzen kennt, haben sich
die Rhein-Anrainer auf eine enge Zusammenarbeit verständigt.
So bleibt allen genug Zeit, sich auf die nächste Wasserschlacht
vorzubereiten.
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Deutsche Ausgabe 2 | 2014
Redaktionsschluss für das
Allianz Journal 3/2014 ist der
20. August 2014.
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