Die jüdische Freischule in Berlin - eine bildungshistorische Analyse

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Die jüdische Freischule in Berlin - eine bildungshistorische Analyse
Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin 1778-1825 im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer
Kultusreform. Eine Quellensammlung. Herausgegeben von Ingrid Lohmann, mitherausgegeben von Uta Lohmann, unter
Mitarbeit von Britta L. Behm, Peter Dietrich und Christian Bahnsen (Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland, Bd. 1/1
und 1/2). Münster, New York, München, Berlin 2001, S. 13-84 (Bd.1/1). Auf die Seitenzahlen im Buch wird durch Angabe in
Klammern mit Doppelpunkt (14:) verwiesen. Hinweise auf weitere Bände der Schriftenreihe (vgl. Fußnoten) sind aktualisiert;
Stand Herbst 2002. Die Literaturangaben finden sich im Teillband 1/2.
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Ingrid Lohmann
Die jüdische Freischule in Berlin –
eine bildungstheoretische und schulhistorische Analyse.
Zur Einführung in die Quellensammlung
Die jüdische Freischule in Berlin wurde 1778 gegründet. Als sie 1825 geschlossen wurde,
hatte sie nahezu ein halbes Jahrhundert überdauert; die verbliebenen Lehrer und Schüler
gingen in die neugegründete Knabenschule der jüdischen Gemeinde über. Diese
Gemeindeschule wurde 1826 eröffnet und bestand bis zur Schließung durch die
Nationalsozialisten im Jahre 1942. - Als 1993 das Gymnasium der Jüdischen Gemeinde zu
Berlin seine Pforten öffnete, wurde an jene Anfänge moderner jüdischer Erziehung in
Deutschland erinnert und das neue Gymnasium ausdrücklich auch in die Tradition der
Freischule gestellt. Bis heute hat die Berufung auf jene geschichtliche Epoche, in welcher
die Öffnung des Judentums zur deutschen Gesellschaft begann, einen hohen Stellenwert;
der Wunsch zum friedlichen interkulturellen Zusammenleben in Deutschland, zum
Neuanfang ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Schrecken des Zweiten Weltkriegs
und des Nationalsozialismus wird damit unterstrichen. Der Rekurs auf die Freischule hat
also auch ganz aktuelle Bezüge. Aber was wissen wir tatsächlich über sie? Was wissen wir
über die jüdische als Teil der deutschen Bildungsgeschichte in jener Epoche?
Während in den letzten anderthalb Jahrzehnten die Geschichte jüdischer Schulen und der
Erziehung im Nationalsozialismus um einiges aufgehellt worden ist, gibt es kaum
Untersuchungen, die Schulen und Bildung der Juden im Übergang zur Moderne, in der
Epoche der Aufklärung und der preußischen Reformen um 1800 zum Gegenstand haben.
Die unserer Fragestellung am nächsten liegenden Studien sind in hebräischer Sprache
verfaßt: Zu nennen ist der grundlegende Artikel von Ernst A. Simon, Der pädagogische
Philanthropismus und die jüdische Erziehung (1953), daneben die klassische Studie von
Mordechai Eliav, Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter von Aufklärung und
Emanzipation (1960) sowie neuerdings der Aufsatz von Shmuel Feiner,
Erziehungsprogramme und gesellschaftliche Ideale im Wandel - Die Freischule in Berlin,
1778-1825 (1995).1 In der hiesigen Geschichtswissenschaft gibt es eine Reihe von
Analysen zu Aspekten der deutsch-jüdischen Bildungsgeschichte; hervorzuheben sind die
Untersuchungen von Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe.
Jüdische Studenten und (14:) Erziehungswesen in Bayern 1804-1933 (1989, 1994), und
Dorothee Schimpf, Emanzipation und Bildungswesen der Juden im Kurfürstentum Hessen
1807-1866 (1994). Daneben gibt es weitere Regionalanalysen zum jüdischen Schulwesen
etwa in Hamburg (Randt 1991, 1995, Pritzlaff 1994) oder in Württemberg (Däschler-Seiler
1996) sowie die verdienstvolle Bestandsaufnahme jüdischer Schulen in Berlin im Zeitraum
1712-1942 von Jörg H. Fehrs (1993). Und selbstverständlich haben jüdische Aufklärung
1
Die Aufsätze von Simon und Feiner sowie Auszüge aus Eliavs Buch hat Uta Lohmann übersetzt. - Die
genannten Schriften erscheinen in deutscher Übersetzung in dieser Schriftenreihe, die Artikel von Simon und
Feiner im fünften Band, Eliavs Studie (vollständig übersetzt von Maike Strobel) als zweiter Band.
und Erziehung in historischen Gesamtdarstellungen ihren Platz, so zuletzt in der
vierbändigen Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit; die Beiträge von Breuer und
Graetz im ersten sowie von Jersch-Wenzel und Meyer im zweiten Band (1996) bieten auch
ausgezeichnete Grundlagen für das Verständnis des in der vorliegenden Quellensammlung
versammelten Materials. Sehr hilfreich hierfür sind daneben David Sorkin, The
Transformation of German Jewry, 1780-1840 (1987) sowie Steven M. Lowenstein, The
Berlin Jewish Community. Enlightenment, Family, and Crisis, 1770-1830 (1994). Eine
lesenswerte Ergänzung bilden ferner die von Monika Richarz unter dem Titel Jüdisches
Leben in Deutschland herausgegebenen Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780-1871
(1976). Gleichwohl fehlt es, wie der Blick zum Beispiel in das Handbuch der deutschen
Bildungsgeschichte (Jeismann/ Lundgreen 1987) erweist, an Auseinandersetzungen mit der
deutsch-jüdischen Bildungs- und Schulgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts - ein
Manko, das sich unter anderem auf die sektorale Betrachtungsweise zurückführen läßt,
welche in der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung dominiert (dazu Herzig 1990).2
Es gibt einige grundlegende schul- und bildungshistorische Untersuchungen, die aus der
Geschichts- und aus der Erziehungswissenschaft stammen und für die Interpretation des
vorliegenden Materials heranzuziehen sind, obwohl auch in ihnen die jüdische
Bildungsgeschichte so gut wie keine Rolle spielt. Die wichtigsten sind Karl Ernst
Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des
Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787-1817 (1974), Detlef K.
Müller, Sozialstruktur und Schulsystem. Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im
19. Jahrhundert (1977), Achim Leschinsky und Peter Martin Roeder, Schule im
historischen Prozeß. Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und
gesellschaftlicher Entwicklung (1979/ 1983), Peter Lundgreen, Sozialgeschichte der
deutschen Schule im Überblick (1980), Herwig Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik.
Von der Aufklärung bis zur Gegenwart (1982) sowie Hans-Georg Herrlitz, Wulf Hopf und
Hartmut Titze, Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart (1981/ 1993). Dazu
kommen die von Ulrich Herrmann herausgegebenen Aufsatzsammlungen Schule und
Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichte der Schule im Übergang zur
Industriegesellschaft (1977) und "Die Bildung des Bürgers". Formierung der bürgerlichen
Gesellschaft und die Gebildeten im 18. Jahrhundert (1982), ferner seine Schrift Aufklärung
und Erziehung. (15:) Studien zur Funktion der Erziehung im Konstitutionsprozeß der
bürgerlichen Gesellschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland (1993) sowie
schließlich Frank-Michael Kuhlemanns Modernisierung und Disziplinierung.
Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794-1872 (1992).3 Nützliche
Hinweise für die Analyse der (jüdischen) Handlungsschulen in Berlin um 1800, in deren
Licht die Freischule näher zu untersuchen wäre, geben außerdem Willi Karo, Renate
Egdmann, Hermann Wagner und Klaus Wiese in ihrer Berliner Berufsschulgeschichte. Von
den Ursprüngen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (1993).
2
Für eine umfassende Bestandsaufnahme des aktuellen erziehungs- und geschichtswissenschaftlichen
Forschungsstandes zum deutsch-jüdischen Erziehungs- und Bildungswesen ist auf die eingehende Analyse zu
verweisen, die Britta L. Behm (1998) im Rahmen ihrer Untersuchung von Moses Mendelssohns Sprach- und
Bildungsauffassung vorgenommen hat.
3
Grundlegend für die Auseinandersetzung mit der preußischen Reformära, wenn auch weder spezifisch für
deutsch-jüdische noch für Bildungs- und Schulgeschichte, ist nach wie vor Reinhart Kosellecks Preußen
zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis
1848 (1967), zu ergänzen um Annegret Brammers Untersuchung von Judenpolitik und Judengesetzgebung in
Preußen 1812 bis 1847 (1987).
2
Zu den methodischen Erfordernissen, die sich gegenwärtig abzeichnen, gehört eine größere
Bewußtheit gegenüber der Notwendigkeit von Multiperspektivität. So ist nicht nur die
Blindheit der genannten Untersuchungen gegenüber der Mädchen- und Frauenbildung mit
Recht kritisiert und die überfällige theoretische und historiographische Aufarbeitung von
Erziehung und Bildung im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse inzwischen begonnen
worden.4 Behm (1998) hat außerdem darauf aufmerksam gemacht, daß im Rahmen der
deutsch-jüdischen geschichtswissenschaftlichen Forschung nicht nur die genannten
bildungshistorischen Untersuchungen, sondern auch die bildungstheoretischen Analysen
erziehungswissenschaftlicher Provenienz bislang weitgehend ignoriert werden. Dies trägt
dazu bei, daß die Auseinandersetzung mit dem für die moderne bürgerliche Gesellschaft
konstitutiven Bereich der Bildung wissenschaftlich halbiert wird, so daß sich auch aus
diesem Blickwinkel das Manko einer 'sektoralen' Betrachtungsweise erweist. Zwar ist
unbestritten, daß sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der
Erziehungswissenschaft die verstärkte Hinwendung zur sozialgeschichtlichen Analyse des
deutschen Bildungswesens zu grundlegenden perspektivischen Erweiterungen geführt hat
(Kuhlemann 1992, 11ff) - und insofern auch zur Überwindung disziplinär halbierter
Analyse. Daß die jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland in den damit erreichten
Forschungsstand eingeschrieben wird, steht jedoch noch weithin aus. Während gegenüber
den früher oft ausschließlich ideengeschichtlichen Untersuchungen seit den siebziger und
achtziger Jahren mit Recht die Notwendigkeit sozialgeschichtlicher Analysen betont
wurde, weisen diese ihrerseits im Hinblick auf kulturelle und religiöse Differenzen eine
Lückenhaftigkeit auf, die heute nicht mehr zufriedenstellt.5 Und um diese Erwägung
abzuschließen: Gerade weil der von Osterhammel (1996) vorgelegte Entwurf einer
transkulturell
vergleichenden
Geschichtswissenschaft
dem
Erfordernis
der
Multiperspektivität ansonsten sehr entgegenkommt, fällt umso mehr ins Auge, daß darin
die europäisch-jüdische bzw. deutsch-jüdische Geschichte als Gesichtspunkt nicht
vorkommt. (16:)
Ansatzpunkte für die geforderte Multiperspektivität bieten in diesem Buch - neben den
Kriterien der Quellenauswahl - die Vorworte von Shmuel Feiner und Michael A. Meyer
zusammen mit der vorliegenden Einführung: Die in diesen drei Artikeln jeweils
vertretenen Interpretationen der Freischule sind durchaus unterschiedlich, ja in mancher
Hinsicht gegensätzlich, aber die Verfasserin und die Verfasser sehen zum gegenwärtigen
Zeitpunkt keinen Anlaß, die vorhandenen Differenzen zu glätten.
Wenn man an die genannten Analysen anknüpfen und historiographisch wie auch
bildungstheoretisch heute weiterkommen will, müssen allerdings neue Voraussetzungen
geschaffen werden. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht geht es darum, den erreichten
Stand der bildungs- und schulhistorischen Forschung sowie der Analyse von
Aufklärungspädagogik und klassischer Bildungstheorie in die Auseinandersetzung mit der
Moderne einzubringen. Und dies wiederum setzt voraus, sich nicht mehr damit
zufriedengeben, daß bis dato praktisch keine historiographische, geschweige denn eine
theoretische Integration der jüdischen Schul- und Bildungsgeschichte in die allgemeine
Bildungsgeschichte Deutschlands existiert - obwohl die Epoche zwischen 1770 und 1830
4
Vgl. allgemein Pia Schmid 1986, ferner Margret Kraul im Vorwort der Herausgeberinnen der Reihe
Einführung in die pädagogische Frauenforschung, die mit den von Elke Kleinau und Christine Mayer
publizierten Bänden über Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts (1996) eröffnet wurde. Zum
Einbezug der Kategorie des Geschlechts in der industriepädagogischen Historiographie Mayer 1999.
5
Bei Kuhlemann (1992, 182) etwa in der Form, daß die Berliner jüdische Gemeindeschule in das
Volksschulwesen Berlins um 1830 auf eine beiläufige Weise eingereiht wird, die wiederum nicht zur
geforderten integralen Betrachtung im Sinne Herzigs führt.
3
in der Erziehungswissenschaft als grundlegend für moderne Bildungstheorie und die
Begrifflichkeit heutiger Pädagogik überhaupt, mit einem Wort: als klassisch gilt (vgl. etwa
Blankertz 1982, 89ff, Klafki 1985, Beiträge in Tenorth 1986; zur bildungstheoretischen
Auseinandersetzung mit diesem Manko Peukert 1990, 1992, 1994, 1998, zur Kritik des
Konzepts der Schulerziehung außerdem Petrat 1987).
Spätestens im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Bemühungen um eine theoretische
Fundierung interkultureller Bildung (vgl. Gogolin u.a. 1994, 1997, 1998) stellt sich jedoch
die Frage, ob die deutsch-jüdische Bildungsgeschichte für die Entwicklung jener
klassischen Theorien und Konzepte so bedeutungslos war, daß sie schadlos theoretisch
vernachlässigt werden kann. Oder anders gefragt: Sind jene klassischen pädagogischen
Begriffsbestände unberührt von der deutsch-jüdischen Geschichte um 1800, und können
sie insofern unbesehen für gegenwärtige Theorie-Entwicklungen herangezogen werden?
Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive geht es darum, nach den Gesichtspunkten zu
fragen, die sich aus den Rekonstruktionen der deutsch-jüdischen Geschichte für die
Auseinandersetzung mit dem modernen Bildungsbegriff ergeben, nicht zuletzt, um daraus
Lehren für gegenwärtige und künftige Bemühungen um gesellschaftliche Integration in
multikulturellen Gesellschaften zu ziehen - auch wenn diesen Fragen nachzugehen hier
nicht der Ort ist (vgl. dazu Lohmann 1996a, 1998).
Jeder Versuch jedoch, sich mit den Anfängen moderner jüdischer Bildung und Erziehung
in Deutschland zu beschäftigen, stößt binnen kurzem auf eine desolate Quellenlage. Dies
trifft auch für die Freischule zu, obgleich sie in der Literatur unbestritten als die erste
moderne jüdische Schule überhaupt sowie als Modell für zahlreiche Neugründungen
jüdischer Schulen zu Beginn der Moderne gilt (Kurzweil 1987, Bruer 1991, Fehrs 1993,
Feiner 1995, Graetz 1996). Die vorliegende Quellensammlung soll diese Lücke schließen.
(17:)
Gesichtspunkte für die Auswahl der Quellen
Freischulen lassen sich mindestens bis ins frühe 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Zustande
kamen sie meist aufgrund privater Stiftungen für bestimmte Gruppen von Zöglingen, die
eher aus verarmten bürgerlichen als aus den unteren, nichtbürgerlichen Schichten
stammten.6 Eliav nennt als ein frühes Beispiel die Schule der 1695 in Halle gegründeten
Franckeschen Stiftungen, deren Besuch für mittellose Kinder unentgeltlich - frei7 - war.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden auch in Berlin freie Schulen errichtet, und um
die Mitte des 18. Jahrhunderts gab es, nach Angaben von Eliav, dort zwölf solcher Schulen
in verschiedenen Stadtvierteln. 1780 besuchten etwa tausend Kinder in Berlin Freischulen
(Eliav 1960, 71).8
6
Vgl. etwa für Hamburg Neddermeyer 1847, 400ff.
7
Ein Blick in die Wortgeschichte enthüllt weitere Dimensionen: frei gehört mit verwandten Wörtern in
indogermanischen Sprachen zu der Wurzel prai- 'schützen, schonen, gern haben, lieben', z.B. altslawisch: prijati 'günstig
sein, beistehen', gotisch: freidjan 'schonen' ('Freund'), althochdeutsch: fridu 'Schutz, Friede'. Aus der Grundbedeutung der
indogermanischen Wurzel entwickelten die Germanen 'frei' als Begriff der Rechtsordnung: 'zu den Lieben gehörig' und
daher 'geschützt' sind die eigenen Sippen- und Stammesgenossen, die 'Freunde': "sie allein stehen 'frei', d.h. vollberechtigt
in der Gemeinschaft, im Gegensatz zu den fremdbürtigen Unfreien (Unterworfenen, Kriegsgefangenen)". Aus diesem
rechtlich-sozialen Begriff ergab sich nach mancherlei Umwandlungen "der Gedanke der äußeren politischen wie der
inneren geistig-seelischen Freiheit und weiter die allgemeine Anwendung des Adjektivs im Sinne von 'nicht gebunden,
unbelastet, unabhängig, nicht beengt oder bedeckt'" (Duden, Etymologie).
8
Vgl. zur damaligen Schulfinanzierung Leschinsky/ Roeder 1976, 126ff, zu Parochial-, Privat- und
Armenschulen Kuhlemann 1992, 180ff und passim.
4
In diesem Quellenband steht die 1778 in Berlin von Isaac Daniel Itzig und David
Friedländer gestiftete Freischule Chinuch Nearim im Mittelpunkt. Sie ist diejenige
schulische Bildungseinrichtung, die am grundlegendsten und aspektreichsten mit dem
Eintritt des Judentums in die Moderne verbunden war. Ihr kommt damit - weit über Berlin
und Preußen hinaus - für die jüdische Schulgeschichte in Deutschland und in Europa
Bedeutung zu, ja in bestimmter Hinsicht sogar noch im heutigen Israel, in Verbindung
nämlich mit der grundlegenden Problematik des Verhältnisses von säkularer
Wissensvermittlung und religiöser Erziehung (Bar-Lev 1979, 1982, 1991).
Die vorliegende Quellensammlung enthält nicht nur Dokumente, die die Freischule direkt
betreffen. In Anknüpfung an Herzigs methodische Forderung eines integralen Ansatzes im
Bereich der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung (Herzig 1990)9 sind über Quellen zur
Schulgeschichte im engeren Sinne hinaus Materialien aufgenommen, die die Freischule in
ihr geschichtliches Umfeld, in den Prozeß der Modernisierung des Judentums, in die
preußische Bildungspolitik um 1800 einbetten. Zu diesem Zweck stehen neben den
Schulakten z.B. Autobiographien jüdischer (18:) Aufklärer (zur Bedeutung dieses
Quellentyps Graetz 1996, 305)10 und programmatische Schriften zur jüdischen
Erziehung11, Aktenstücke aus der Bildungsverwaltung des preußischen Staates sowie zur
Auseinandersetzung um die - eng miteinander verknüpften - Reformen des jüdischen
Kultus und Unterrichts, ferner Zeitungsmeldungen über die Freischule,
Schulbuchrezensionen aus dem Umfeld der Maskilim u.a.m. - Während der Anfangsjahre
der Gemeindeschule begannen in den Ministerien für Inneres sowie für Kultus und
Unterricht Verhandlungen über eine neue Judenordnung; darin spielten auf Seiten des
Ministeriums Altenstein die Beratungen über jüdische Schulen eine zentrale Rolle. Diese
Verhandlungen sind in Auszügen ebenfalls aufgenommen, weil sie die Dilemmata
hervortreten lassen, in denen sich die Bildungspolitik des preußischen Staates bereits seit
dem Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate
vom 11. März 1812, dem sogenannten Emanzipationsedikt, befand. Den Anhang des
Bandes schließlich bilden Auszüge aus der älteren Sekundärliteratur. Sie sind für diese
Sammlung ausgewählt worden, weil sie den hohen Symbolwert erkennen lassen, den der
Beginn der modernen jüdischen Erziehung für die angestrebte soziale Integration der
Judenschaft schon im 19. Jahrhundert hatte. Die darin vorwaltende Sichtweise ist die der
Verklärung, abgehoben von den konkreten historischen Widersprüchen und
Interessengegensätzen, in denen diese Texte selbst wie auch jene Anfänge standen. Sie
zeigen außerdem, wie gering das Wissen um die Anfänge schon vor 1900 war: Es gab hier
keine Kontinuität der Übermittlung. Dies erweisen auch die ebenso mühe- wie
verdienstvollen Rekonstruktionen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von
9
Letztlich müßten, um diesem methodischen Erfordernis Rechnung zu tragen, zum Beispiel die
Entwicklungsprozesse jüdischer und christlicher Schulen, hier in Berlin um 1800, parallel betrachtet werden,
etwa im Hinblick auf Transformationsprozesse entsprechend der klassischen modernen Bildungskonzeption
(dazu Lohmann 1984, 1986). Dies ist in diesem Band weder möglich noch angestrebt, aber in der Tat eine
uneingelöste historiographische und theoretische Aufgabe.
10
Während die Aufnahme der Autobiographie Lazarus Bendavids in diesen Quellenband sich von selbst
versteht, ist Isaac Euchels Autobiographie hier von Interesse, weil sie mit einem der Freischule
nahestehenden pädagogischen Projekt im Zusammenhang stand und somit Einblick ins diesbezügliche
Selbstverständnis der Maskilim verschafft. Euchels Überlegungen dürften jenen der Freischulprotagonisten in
vieler Hinsicht nahegestanden haben.
11
Hier nur Schriften mit direktem Schulbezug. An dieser Stelle sei auf die in Vorbereitung befindliche
Veröffentlichung weiterer erziehungstheoretisch zentraler Programmschriften der Haskala (zum Teil in
Übersetzung aus dem Hebräischen) voraussichtlich im sechsten Band dieser Schriftenreihe hingewiesen.
5
Ludwig Geiger, dem Chronisten der Berliner jüdischen Gemeinde, und im ersten Drittel
des 20. Jahrhunderts von Moritz Stern, ihrem Bibliothekar, unternommen wurden.
Die Auswahl der Quellen zur Freischule selbst ist in diesem Band so vollständig wie
möglich: Jedes im Zuge der Erarbeitung dieser Dokumentation bekannt gewordene
zeitgenössische Schriftstück, das die Freischule direkt betrifft, ist aufgenommen. Wie sich
noch zeigen wird, hat sich dieser Grundsatz bewährt, denn wichtige Zusammenhänge, in
denen die Freischule gestanden hat, treten dadurch erst hervor. Ferner: Fast alle aus dem
Handschriftlichen übertragenen Aktenstücke stehen mit diesem Band erstmals zur
Verfügung. Bei ihrer Transkription wurde auf Angleichungen in Rechtschreibung,
Zeichensetzung und Grammatik an heutige Gebräuche sowie auf Korrekturen von Fehlern
und Eigenheiten durchweg verzichtet.12 Auch die meisten hier aufgenommenen gedruckten
Quellen stammen aus Archivbeständen und sind anderweitig heute kaum mehr zugänglich.
Bis auf wenige Ausnahmen sind Quellen, die durch neuere Publikationen bereits gut
zugänglich sind, nicht aufge- (19:) nommen worden, wie z.B. die Schriften Moses
Mendelssohns in der Jubiläumsausgabe (JubA) oder Friedländers Lesebuch zum Besten
der Freyschule in der kommentierten Neuausgabe von Zohar Shavit. Aus diesem Grund ist
aus der wichtigen Schrift Christian Wilhelm von Dohms Über die bürgerliche
Verbesserung der Juden (1871/73), die im Reprint von 1973 zur Verfügung steht, hier nur
ein kleiner Ausschnitt aufgenommen. Für diese Sammlung wurden einige Texte aus dem
Haskala-Hebräischen übersetzt, das heute auch für Ivrit-Sprechende nicht mehr ohne
weiteres verständlich ist. Und schließlich entspricht es unseren Editionsgrundsätzen, die
ausgewählten Quellen in der Regel ungekürzt zu dokumentieren. - Die vorliegende
Sammlung bietet damit erstmals eine umfassende Grundlage für die Rekonstruktion dieses
Kapitels der deutsch-jüdischen Bildungsgeschichte.
Das heißt andererseits nicht, daß die vorhandenen Archivbestände zur deutsch-jüdischen
Bildungs- und Schulgeschichte um 1800 damit erschöpft wären; dies ist nicht einmal
annähernd der Fall. So sind die für diese Sammlung herangezogenen Akten, beispielsweise
der vormaligen preußischen Kultusbehörden, stets unter dem Fokus Freischule
durchgesehen worden, wenn sich dieser auch, wie erhofft, als zentral erwiesen hat.
Hingegen sind Archivalien anderer jüdischer Schulen in Berlin nicht in Betracht gezogen
worden. So ist - stellvertretend für alle Desiderate, die selbstredend auch ein voluminöser
Band wie dieser weiterbestehen läßt - darauf hinzuweisen, daß die übrigen jüdischen
Schulen, einschließlich derjenigen für Mädchen, welche die Geschichte Berlins um 1800
verzeichnet, nur am Rande berücksichtigt sind; und so gut wie gar nicht kommen hier jene
Schulen in Betracht, die anderenorts - wie es heißt, nach dem Vorbild der Freischule eingerichtet wurden: in Breslau, Dessau, Frankfurt am Main, Hamburg, Kassel, MärkischFriedland, Prag, Seesen, Strelitz, Triest, Wien, Wolfenbüttel und weiteren Orten.13 In der
historischen Schulforschung ist längst kritisiert worden, daß man von den vergleichsweise
breit untersuchten preußischen Verhältnissen oftmals ohne weiteres auf die Entwicklung in
den übrigen deutschen Ländern geschlossen hat; Untersuchungen wie die von Apel (1984)
und Apel/ Klöcker (1986) stehen für die Bemühung darum, diese Blickverengung zu
revidieren. Eine gleichlautende Kritik bezüglich der jüdischen Schulen kann es derzeit
nicht geben: Ausgerechnet für Preußen und seine Provinzen mangelt es in dieser Hinsicht
an bildungs- und schulhistorischen Regionalanalysen.
12
Vgl. im übrigen die Hinweise zur Transkription am Schluß des Bandes.
Unter der Leitung von Rudolf Keck, Universität Hildesheim, werden derzeit die Jacobson-Schule in
Seesen und die Samson-Schule in Wolfenbüttel untersucht, vgl. Keck 1997; weitere Angaben über
Einzeluntersuchungen jüdischer Schulen im Literaturverzeichnis.
13
6
Aus zwei Gründen können die Anfänge der Freischule aber auch in dieser
Quellensammlung nicht zufriedenstellend dokumentiert werden. Zum einen fehlt der erste
Band der Acta Generalia der Freischule, der die Unterlagen ihrer internen Verwaltung bis
1806 enthielt. Zwar stellte schon Ludwig Geiger in seiner Geschichte der Juden in Berlin
fest, daß es für "die Geschichte der Freischule... in der ersten Zeit ihres Bestehens durchaus
an Quellen" fehle (Geiger 1871 II, 136f), aber seit wann der erste Band als verschollen
gelten muß, ist unklar; Moritz Stern lag er wohl noch vor. Zum anderen war die Regelung
der Schul- und Erziehungsangelegenheiten, (20:) als Teil des religiösen Lebens, bis zum
Edikt vom 11. März 1812 alles in allem Sache der Gemeinden selbst (für Süd- und
Neuostpreußen wurde bereits 1797 eine Neuregelung erlassen). Die preußische
Administration hatte noch kaum damit begonnen, die jüdischen Schulen zur Kenntnis zu
nehmen; sie begann damit eigentlich erst, als Unterstützungsgesuche der Freischuldirektion
eingingen. Die Quellenlage verbessert sich in dem Maße, wie das jüdische Schulwesen in
den Zuständigkeitsbereich der preußischen Administration überstellt wurde.
Für die traditionellen Einrichtungen jüdisch-religiösen Lehrens und Lernens Heder,
Talmud Tora, Jeschiva, Beth ha-Midrasch in Europa im 18. Jahrhundert hingegen gilt dies
nicht: Hier fehlt es bislang nicht nur an Quellen, sondern vor allem an Untersuchungen, die
den Standards empirisch-historischer Bildungsforschung genügen könnten (entsprechende
Vorhaben sähen sich allerdings auch großen methodischen Problemen gegenüber).14 Das
idealisierende Bild, das man sich vom traditionellen jüdischen Lehren und Lernen in
früheren Epochen heute zuweilen macht, ersetzt die Analyse keineswegs. - Daneben gibt es
ebenfalls kaum Quellen, die Aufschluß über die Position des Traditionalismus in der hier
in Rede stehenden Thematik geben. Die in diesem Band dokumentierten Stellungnahmen
des damaligen Vize-Oberlandrabbiners Meyer Simon Weyl und einige weitere, bei denen
gleichzeitig der Kontext einigermaßen deutlich wird, haben einen gewissen
Seltenheitswert. Dieses Manko birgt die Gefahr einer unkritischen Übernahme von
Positionen, wie sie um 1800 von Maskilim gegen den Traditionalismus geltend gemacht
wurden.
Aber Forschungen zur deutsch-jüdischen Bildungsgeschichte sehen sich heute nicht nur
leicht in Gefahr, entweder den Traditionalismus gegen die Aufklärung oder die Aufklärung
gegen den Traditionalismus in Schutz nehmen zu wollen - Haltungen, die entweder die
explizite Auseinandersetzung mit der Moderne ersetzen sollen oder damit verwechselt
werden. Infolge des nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzugs gegen die europäischen
Juden stehen sie auch in Gefahr, vorangegangene Epochen auf die eine oder andere Weise
darauf zu reduzieren, Vorgeschichte des späteren Geschehens zu sein. Als Dimension
erziehungswissenschaftlich-bildungstheoretischer Untersuchung steht deutsch-jüdische
historische Bildungsforschung insofern vor methodischen Herausforderungen, die nicht zu
unterschätzen, aber auch nicht länger zu vermeiden sind.
Zu den folgenden Abschnitten der Einleitung
In dieser Einleitung geht es darum, die Eckdaten der Freischulentwicklung kenntlich zu
machen und die Schule auf der Grundlage des Materials in ihren historischen
14
Das von Josef Meisl (1962) herausgegebene Protokollbuch der Jüdischen Gemeinde Berlin (1723-1854)
gibt übrigens für die Schulgeschichte unmittelbar nichts her, und auch sonst ist über Aktenführungen zur
damaligen Schulentwicklung in der Berliner jüdischen Gemeinde bisher nichts bekannt.
7
Zusammenhang zu stellen. Dies kann nur in Umrissen geschehen, erschöpfend zu (21:)
behandeln ist diese Schulgeschichte hier nicht. Weitergehende Interpretationen und
ausführliche Auseinandersetzungen mit einzelnen Aspekten müssen späteren Publikationen
überlassen bleiben; dazu sei auch auf die bisherigen und die in Vorbereitung befindlichen
Veröffentlichungen aus dem Freischulprojekt hingewiesen. Auch die in diesem
Quellenband versammelten, vielfältigen Details, die der Freischulgeschichte Farbe
verleihen und für professions-, alltags- oder mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen
herangezogen werden können, sind hier nur summarisch gewürdigt.
Die Geschichte der Freischule läßt sich in fünf Abschnitte einteilen, die auf der Basis einer
pragmatischen Kombination von freischulspezifischen Daten, bildungsgeschichtlich
relevanten Geschehnissen und zufälligen äußeren Ereignissen zustandekommen: erstens
die Vorgeschichte im engeren Sinne, beginnend mit dem Plan zur Gründung einer
jüdischen Armenkinderschule in Berlin (1761-1778); zweitens die Gründungsphase der
Freischule und die Zeit des Direktorats von Isaac Daniel Itzig (1778-1806); drittens die
Phase teils tatsächlicher, teils scheinbarer Konsolidierung unter dem Direktorat von
Lazarus Bendavid bis zu Süverns 'Tolerationsverfügung' vom 22. Juni 1816; in diese Phase
fällt als bildungsgeschichtliches Schlüsselereignis Paragraph 39 des Edikts vom 11. März
1812 (1806-1816); viertens die Phase eines Einbezugs der Freischule in die
Auseinandersetzung um die Grundsätze preußischer Bildungspolitik im Umgang mit den
jüdischen Schulen sowie in den Konflikt um die jüdische Kultusreform (1816-1825) und
schließlich fünftens die Nachgeschichte mit dem Übergang zur Gemeindeschule und den
beginnenden staatlichen Verhandlungen über eine neue Judenordnung bis zum Ende der
Ära Altenstein bzw. der Regentschaft Friedrich Wilhelms III. (1825-1839).15
Mit diesem Abschnitt wird, wie erwähnt, die Freischulgeschichte im engeren Sinne
verlassen, aber für die Interpretation des Geschehens ist er unerläßlich. Denn es könnte der
Eindruck entstehen, als ob sich mit der Gründung der Gemeindeschule doch erst einmal
alles sozusagen zum Guten wendete, zumal die Freischuldirektion selbst sie stets
angestrebt hatte. Dazu kommt, daß Lowenstein das Ende der Modernisierungskrise der
Berliner jüdischen Gemeinde um 1830 ansetzt. Aber das Ende der Modernisierungskrise
der Berliner jüdischen Gemeinde ist nicht das Ende des bildungsgeschichtlichen Kapitels,
um das es hier geht. Gerade die Verhandlungen um eine neue Judenordnung lassen die
Entwicklung, die mit dem Edikt vom 11. März 1812 in bestimmte Bahnen gelenkt wurde,
in ihrer Zwiespältigkeit hervortreten. Dem neununddreißigsten Paragraphen dieses Edikts
kommt dabei eine Bedeutung zu, die kaum überschätzt werden kann. Auf diesen
Paragraphen ging zurück, daß bereits seit 1812 die Rede davon war, es müßten endlich
entsprechende Verhandlungen aufgenommen werden. Ohne daß dies je zu offiziellen
Ergebnissen geführt hätte, wurde mit diesem Paragraphen jedoch fortwährend Politik
gemacht, es wurden Strukturentscheidungen getroffen, die den gesamten Vormärz
überdauerten, und Juden waren dabei keineswegs untätig. - Im übrigen sind die Übergänge
(22:) zwischen den so umrissenen Abschnitten fließend, denn die Faktoren, die die
Freischulgeschichte unmittelbar bestimmten, Modernisierung des Judentums und
preußische Bildungspolitik, waren durchgängig wirksam.
15
Altenstein und Friedrich Wilhelm III. starben 1840; daher haben wir die für unsere Fragestellung
zentralen, ab 1809 geführten Acta betreffend die Verbesserung der bürgerlichen Verhältnisse der Juden,
ihres Cultus und Schulwesens sowie die Einrichtung neuer und die Erhaltung schon bestehender Synagogen
für die vorliegende Quellensammlung nur bis zum sechsten Band ausgewertet, und dieser endet 1839.
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Vorgeschichte
Nachdem die Juden hundert Jahre zuvor aus Preußen vertrieben worden waren, wurde
1671 fünfzig aus Wien vertriebenen jüdischen Familien die Ansiedelung im Raum BerlinBrandenburg gestattet (71)16. Sie unterlagen einer äußerst restriktiven Gesetzgebung, deren
Zielsetzung es ihrerseits war, die Zuwanderung quantitativ zu begrenzen und auf
wohlhabende Familien zu beschränken. Die Wirtschaftstätigkeit dieser Familien sollte wie die anderer Zuwanderer, deren Ansiedelung gefördert wurde (Hugenotten, Böhmen) der Entwicklung einer Region zugute kommen, die noch unter den Folgen des
Dreißigjährigen Krieges, unter Entvölkerung und brachliegender Ökonomie litt. Infolge
dieser gesetzgeberischen Maximen war die Berliner jüdische Gemeinde zwar wohlhabend,
aber anfangs auch sehr viel kleiner als die Gemeinden etwa in Hamburg oder Frankfurt.
Die Berliner jüdische Gemeinde war traditionstreu und, von gelegentlichen Streitigkeiten
zwischen einigen führenden Familien abgesehen, eher unauffällig. Verschiedene Faktoren
begünstigten jedoch, daß gerade von Berliner Juden der Anstoß zu einem tiefgreifenden
ökonomischen und kulturellen Wandel der Judenschaft insgesamt ausging (vgl. zum
folgenden Toury 1977, Lowenstein 1994).
Entwicklungen in der Berliner Judenschaft im 18. Jahrhundert
Aufgrund der aktiven Einwanderungspolitik der preußischen Regenten hatte sich die
Berliner Bevölkerung zwischen 1680 und 1700 von etwa 9.800 auf 28.500 verdreifacht.
Trotz der Zuzugsbeschränkung für die Kurmark (Mark Brandenburg) lebten allein in
Berlin um 1700 ungefähr eintausend Juden; um 1800 waren es etwa dreieinhalbtausend
(71, 173). Obwohl die Gilden der christlichen Kaufleute wiederholt Restriktionen der Zahl
der Juden wie auch ihrer ökonomischen Aktivitäten forderten, wurde die ursprüngliche
Zahl zugelassener Familien auf hundert bis hundertzwanzig erhöht. Die Berliner
Judenschaft bestand aus Familien mit einem Kapitaleigentum zwischen eintausend und
zwanzigtausend Talern, darunter waren die führenden Familien der Hofjuden Liebmann,
Gumpertz und Magnus. Von den 120 Familienoberhäuptern des Jahres 1737 waren fast die
Hälfte im Kleider- und Tuchhandel, weitere als Pfandleiher, Geldwechsler und
Silberlieferanten sowie als publique Bediente - Rabbiner, Kantor, Schächter usw. - tätig.
Die reichsten Familien betrieben Seidenhandel und Geldgeschäft, nur eine war im
Manufakturwesen. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wandten sich jüdische Familien
auf Druck des Königs vermehrt dem Manufaktur- und Verlagswesen, der Samt-,
Baumwoll- und Seidenfabrikation zu. (23:)
Seit 1728 unterlag die gesamte Judenschaft der Solidarhaftung, d.h. statt des ursprünglich
von jeder Familie zu zahlenden sogenannten 'Schutzgeldes' war die geforderte Summe
fortan von allen gemeinsam zu erbringen. Die Steigerungsrate macht die wachsende
Bedeutung der Berliner Juden deutlich: Hatten die preußischen Juden im Jahre 1728
15.000 Taler Schutzgeld zu zahlen, davon die Berliner Gemeinde 2.610 Taler, also
ungefähr ein Sechstel, so belief sich die geforderte Gesamtsumme seit 1765 auf 25.000
Taler. Davon wurde 1773 etwa ein Drittel, nämlich 8.210 Taler, allein von den jüdischen
Familien Berlins aufgebracht. Weitere Abgaben kamen hinzu, wie zum Beispiel die von
16
Hier und im folgenden wird durch ihre jeweilige Ordnungsziffer auf die Dokumente in diesem Band
verwiesen.
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Friedrich II. geforderten siebzig Taler je Familie für das Recht zur Ansiedelung des
zweiten Kindes, ferner Leibzoll, Porzellansteuer, Kalenderpacht u.a.m. - Seit dem
Generaljudenreglement von 1750 bestand außerdem Solidarhaftung für Diebstähle,
Bankrotte und Steuerschulden. Sich dieser Gesetzesregelungen zu entledigen, war ein
vorrangiges Anliegen der neuen ökonomischen Elite der Judenschaft, die in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand. Mit der Verwirklichung dieses Anliegens begann,
wie sich zeigen sollte, unausweichlich die Auflösung der traditionellen
Gemeindestrukturen.
Berlin war eine Stadt mit raschem Bevölkerungswachstum, die sich als Zentrum des
Militärs, von Handel und Verwaltung sowie des schnell wachsenden Manufakturwesens
entwickelte, aber auch als Stadt der Migranten, der fremden Kolonien, der Offenheit für
Neues, des Kosmopolitismus. Nicht zuletzt die Vielschichtigkeit der Bevölkerung und das
Fehlen eines alteingesessenen Patriziats förderten die Entstehung eines lebendigen
intellektuellen Klimas. Händler und Kaufleute, Offiziere, Staatsbeamte, die große Zahl der
in Berlin stationierten unverheirateten Soldaten, der königliche Hof mit seinen Bällen, das
Theater, die von Frauen der oberen Schichten, vor allem von Jüdinnen geführten,
berühmten Salons, die Kaffeehäuser, Clubs und Lesegesellschaften - sie alle trugen zum
sozialen und intellektuellen Leben Berlins und zu neuen Formen der Sozialität wie auch
der Religiosität bei. La religion de Berlin wurde, wie Lowenstein anmerkt, zum Synonym
für einen aufgeklärten Deismus. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts bildeten sich zahlreiche
aufklärerische Gesellschaften, darunter 1749 der Montagsclub, 1755 das Gelehrte
Kaffeehaus, in den 1780er Jahren die Mittwochsgesellschaft. Publizistische Organe wie die
Berlinische Monatsschrift und die in Königsberg gegründete hebräische Zeitschrift
HaMeassef (Der Sammler) kamen hinzu. Auf jüdischer Seite gehörte, neben den sich
bildenden Sozietäten für hebräische Sprache und Literatur, insbesondere eine Gesellschaft
in diesen Zusammenhang, die sich einer Reform der jüdischen Knabenerziehung
annehmen wollte: Chevrat Chinuch Nearim.
Die neue ökonomische Elite
Anfänge eines ökonomischen und kulturellen Wandels in der berlinisch-preußischen
Judenschaft lassen sich bis in die 1730er Jahre zurückverfolgen. Aber der eigentliche
Modernisierungsschub begann nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763).
Die Entstehung der neuen ökonomischen Elite der Judenschaft war sein direktes Resultat,
und das wichtigste Element dabei war "die nicht sehr erbauliche Geschichte der
Münzjuden" (Lowenstein 1994, 25). Insbesondere drei Fami- (24:) lien, die Itzig, Ephraim
und Fließ, waren von Friedrich II. mit der Geldbeschaffung zur Finanzierung des Krieges
gegen Österreich, Frankreich und Rußland beauftragt worden, und sie erfüllten diesen
Auftrag durch Münzverschlechterung. Durch Beimischung minderwertiger Metalle wurden
höhere Gewinne erzielt, so beim Verkauf eines Silbertalers beispielsweise im Jahre 1761
vierzig statt vierzehn Taler. Inflation und ökonomische Destabilisierung waren die Folge.
Der Aufruhr in der Bevölkerung richtete sich vor allem gegen die jüdischen
Auftragnehmer des Monarchen. Ephraimiten wurden die minderwertigen Taler genannt.
Nur die Familie Veitel Heine Ephraims hatte zuvor schon der jüdischen Oberschicht (d.h.
der höchsten Steuerklasse) angehört. Im Gefolge des Siebenjährigen Krieges rückten nun
auch die Familien Itzig und Fließ dahin auf. Die Kluft zwischen Arm und Reich und die
Dominanz der Oberschicht in der Gemeinde wurden so groß wie nie zuvor. Wurden 1754
noch einundzwanzig Prozent der Gemeindesteuern durch die fünf Prozent umfassende
Oberschicht erbracht, so zahlte diese im Jahr 1764 bereits dreiundvierzig Prozent des
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Steueraufkommens der Gemeinde. Allein die drei Familien der genannten
Münzunternehmer brachten im selben Jahr mehr als ein Viertel aller Steuern auf. Daniel
Itzig war der reichste unter ihnen. "Zum ersten Mal hatte die Berliner Judenschaft Männer
in ihrer Mitte, die buchstäblich Millionäre waren" (Lowenstein 1994, 27).
Friedrich II. forderte von dieser Gruppe, daß sie die erzielten Gewinne in Manufakturen
anlegte, und so prosperierte in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Krieges die
Produktion von Seide und anderen Luxusgütern, und zahlreiche neue Gewerbe entstanden.
Zwar geriet die Seidenfabrikation in den 1780er Jahren in eine Krise. Aber alles in allem
ersetzte die neue Elite der Münzmillionäre und Manufaktureigentümer die traditionelle
jüdische Oberschicht. Die paternalistische Wirtschaftspolitik des preußischen
Reformabsolutismus begünstigte die neue Wirtschaftsweise der Banken und Manufakturen
gegenüber den Gilden und Zünften der christlichen Kaufleute und Handwerker. Die
Geldgeschäfte wurden komplexer und weitreichender; auf Kosten der Pfandleiher ging die
Kreditvergabe mehr und mehr in die Hände von Bankiers über; Privatbanken entstanden.
Berlin wurde zum Finanzzentrum. 1765 wurden acht Juden als staatlich anerkannte Mäkler
(Geldhändler) vereidigt. "Die finanzielle Bedeutung der Juden an der Wende zum 19.
Jahrhundert wird aus der Tatsache ersichtlich, daß das Komitee, welches 1803 die Berliner
Börse gründete, zu gleicher Zahl aus jüdischen und christlichen Repräsentanten bestand"
(Lowenstein 1994, 29).
Noch während des Siebenjährigen Krieges verlieh Friedrich II. seinen Münzjuden einen
rechtlichen Sonderstatus. Lowenstein erörtert ihn als Generalprivileg neuer Art: Hatte das
frühere Generalprivileg im wesentlichen das Niederlassungsrecht aller Kinder einer
Familie zum Inhalt, so erbrachte das neue, erstmals 1761 verliehene, außerdem die Rechte
christlicher Kaufleute und Bankiers und damit eine fast vollständige Rechtsgleichheit
sowie die Aufhebung praktisch aller ökonomischen Restriktionen. Daniel Itzig und Veitel
Heine Ephraim gehörten zu den ersten Generalprivilegierten dieser Art. Zwischen 1761
und 1786 erhielten insgesamt fünfzehn (25:) jüdische Familien Berlins das neue
Generalprivileg, darunter 1773 die Witwe des Seidenmanufakturisten Isaac Bernhard,
deren Geschäfte Moses Mendelssohn führte. Nach dem Tode Friedrichs II. erhielten es
weitere zehn Bankiers- und Manufakturbesitzerfamilien von Friedrich Wilhelm II. Im Jahr
1791 schließlich erhielt Daniel Itzig das Naturalisationspatent und damit uneingeschränkte
Gleichstellung mit den Christen für sich und seine Familienangehörigen.
Damit waren nicht nur erhebliche Differenzen im Rechtsstatus der Juden entstanden;
vielmehr dominierte die neue Elite, die ökonomisch sehr viel bedeutender und mächtiger
war als die alte Oberschicht, bald die gesamte Gemeinde. 1762 schlug sich dies in einer
Änderung des Wahlmodus für die führenden Gemeindeämter nieder. Unter anderem wurde
das passive Wahlrecht für das Amt eines Ältesten an ein Mindestkapital geknüpft. Der
Kernpunkt der Änderungen in den Wahlmodalitäten für den Gemeindevorstand nach dem
Siebenjährigen Krieg bestand darin, daß die faktisch schon zuvor bestehende Vorherrschaft
der Reichen nun auch kodifiziert wurde. Dies trug mit dazu bei, daß die alte
Führungsschicht in nahezu jeder Hinsicht durch die neue der Bankiers und
Manufakturbesitzer abgelöst wurde. Trotzdem wurde der Gemeindevorstand im letzten
Drittel des 18. Jahrhunderts noch nicht von Reformbefürwortern majorisiert; erst im ersten
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts setzte sich der neugewählte Gemeindevorstand mehrheitlich
aus reichen Modernisierern zusammen (Lowenstein 1994, 67).
Von der alten Oberschicht der Berlinischen Judenschaft unterschied sich die neue
ökonomische Elite in mehrfacher Hinsicht: Sie war akkulturationsfreudig und näherte sich
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im Lebensstil dem Adel sowie der auch auf christlicher Seite entstehenden
Wirtschaftsbourgeoisie an (Kocka 1987); sie befürwortete religiöse Reformen, unterstützte
die Aktivitäten der jüdischen Aufklärer, der Maskilim, und schützte sie vor dem
Bannspruch traditionsorientierter Rabbiner. So machte zum Beispiel Daniel Itzig auf
Drängen seines Sohnes Isaac Daniel und seines Schwiegersohns David Friedländer seinen
Einfluß gegen die geplanten Repressalien des Rabbinats geltend, als Hartwig Wessely
wegen seiner aufklärerischen Erziehungsschrift Worte des Friedens und der Wahrheit in
Bedrängnis geriet (31, 100).
Wie die neue ökonomische Elite entfaltete sich auch die jüdische Aufklärung, Haskala,
nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges. Noch um 1760 konnte nur eine Handvoll
jüdischer Intellektueller Berlins als Maskilim bezeichnet werden (Lowenstein nennt
Mendelssohn, Aron Salomon Gumpertz, Israel Samoscz, Abraham Kisch und Marcus
Elieser Bloch). Zusammen mit Wessely, der seit 1774 in Berlin lebte, war Moses
Mendelssohn, Philosoph, Kaufmann und führender Kopf der Haskala, bestrebt, die
Aufklärung unter den Juden auf moderate Weise voranzubringen; beide bemühten sich um
einen allmählichen Wandel (vgl. auch Pelli 1974, 1979). Erst nach Mendelssohns Tod ging
mit der Umstrukturierung der jüdischen Oberschicht eine aktivere, nach innen wie nach
außen forderndere Politik einher. Deren zentrale Zielsetzung war die rechtliche
Gleichstellung der Juden mit den Christen, und der führende politische Repräsentant dieser
Bestrebungen war David Friedländer. (26:)
Die neue jüdische Oberschicht in Berlin war also durch die Verleihung erweiterter
Privilegien in den Jahren nach dem Siebenjährigen Krieg mit den rechtlichen
Erfordernissen zur Ausdehnung ihrer ökonomischen Aktivitäten ausgestattet. Ausdruck des
gestiegenen Selbstbewußtseins dieser Schicht wurde die Orientierung an den
sephardischen Juden, die 1492 und 1497 aus Spanien und Portugal vertrieben worden
waren (Volkov 1991, U. Lohmann 1998a, 97). Durch die von 'edlen Grundsätzen
beseelten' Regierungen der Toskana, Hollands und Englands hatten die vertriebenen
Sephardim bald 'alle möglichen Erleichterungen' erhalten und waren - so die Encyclopédie
Diderots und D'Alemberts (Bd. 19, 193) - zu Kommunikationsvermittlern zwischen den
'fortgeschrittensten Nationen' geworden: unverzichtbar in allen Ländern Europas, wo der
Handel herrschte. Daß man dies für die aschkenasische Judenschaft, zu welcher die
preußischen Juden überwiegend zählten, keineswegs behaupten konnte, war der neuen
jüdischen Oberschicht zunehmend ein Dorn im Auge.
Die Mehrheit der preußischen Juden hielt unverrückt an der Tradition fest, befolgte die
Halacha - das 'Zeremonialgesetz' - hielt also z.B. Sabbatgebot und Speisevorschriften
getreulich ein, scherte sich nicht um Auffälligkeiten der äußeren Erscheinung, in
Barttracht, Kleidung und Sprache, und sie blieb auch auf den Klein- und Trödelhandel
fixiert, in den sie seit Jahrhunderten abgedrängt war. Diese Haltung, zusammen mit dem
minderen Rechtsstatus, welcher die kulturelle und soziale Isolierung der Mehrheit der
jüdischen Einwohner Preußens verstärkte, hinderte ihren Einbezug ins moderne
Wirtschaften - in die neuen Produktionsformen, die neuen Verfahren des Kreditierens und
Kontrakteschließens, kurz: in die entstehende kapitalistische Eigentumsgesellschaft
(Heinsohn/ Steiger 1996; Herrlitz u.a. 1993, 15ff).
Damit setzte das beharrliche 'Kleben am Alten' seitens der traditionstreuen Mehrheit der
unternehmerischen Tätigkeit der neuen ökonomischen Elite der Judenschaft ausgerechnet
vor der eigenen Haustür Grenzen. In dieser Lage erschienen eine bürgerlich-nützliche
Qualifizierung und reformierte moralisch-religiöse Unterweisung der eigenen
12
Glaubensgenossen, erschien die Erziehung junger Juden als das Mittel der Wahl: Wenn
jene neuen ökonomischen Aktivitäten, die infolge des Krieges eröffnet waren, nicht rasch
wieder an ihr Ende stoßen sollten, dann galt es, weitere Teile der jüdischen Bevölkerung
darin einzubeziehen. Dann mußten junge Juden in die Lage versetzt werden, "das
eingeschränkte Gewerbe ihrer Väter gegen eine freiere bürgerliche Beschäftigung" zu
tauschen (101). Eine der zentralen Forderungen der Aufklärung: Freiheit der Verfügung
des Einzelnen über seine Person und sein Vermögen, das Fundament des neuen
Bildungsdenkens, entsprach auch und gerade den wirtschaftlichen Bestrebungen der neuen
jüdischen Wirtschaftsbourgeoisie.
Für die traditionell-religiöse Mehrheit der Juden galt dies keineswegs. Es ist aus heutiger
Sicht zu betonen, daß die Bildungskonzeption selbst, also der gesamte Ansatz einer
Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft durch Vorgänge, wie wir sie im
deutschen Sprachgebrauch seither als Bildung bezeichnen, den Lebenswelten der alten
Gesellschaft und ebenso der traditionstreuen Mehrheit der Juden eher fremd war. Das
moderne Bildungsdenken stellte auch für die meisten Ange- (27:) hörigen der jüdischen
Bevölkerung zunächst einen tiefen Bruch dar und konnte nicht einfach ans traditionelle
jüdische Lernen angeknüpft werden.17 Feststellungen wie die, 'daß Bildung und Erziehung
im Judentum traditionell einen hohen Stellenwert einnehmen', treffen so nicht zu. Es ist
wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, daß man es beim modernen Bildungsdenken mit
einem bestimmten Modus der Relationierung von Individuum, Wissen und Welt zu tun hat.
Darüber klärt übrigens nicht erst die deutsch-jüdische Bildungsgeschichte auf. Axmacher
(1987) hat Vergleichbares am Widerstand von Handwerkern gegen die neue Bildung
gezeigt, die ihnen im 19. Jahrhundert zugedacht wurde.
Fast alle Initiativen zur 'Verbesserung des Unterrichts und der Erziehung' jüdischer Kinder,
die - soweit bisher bekannt - die preußische Geschichte in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts aufweist, gehen auf die Familien der Münzunternehmer und Bankiers zurück.
Zu nennen ist die Gründung einer Industrieschule durch Benjamin Veitel Ephraim in
Verbindung mit der Manufaktur Brabanter Spitzen in Potsdam. Diese Schule zielte auf
Industriosität, Gewerbefleiß, jedoch, anders als später die Berliner Freischule, sicher nicht
auf eine reformierte sprachlich-religiöse Unterweisung. 1779 nahm Benjamin Ephraim
arbeitsuchende jüdische Mädchen und Frauen aus den kurz zuvor annektierten polnischen
Gebieten in seiner Spitzenmanufaktur auf. Wie es heißt, gelang es ihm mit dem Hinweis
auf die Nützlichkeit seiner 700-1500 Beschäftigten für den Staat, die Ausweisungsbefehle
Friedrichs II. abzuwenden (Encyclopaedia Judaica 6, 810). In seiner Schrift Ueber einige
verkannte wenigstens ungenützte Mittel zur Beförderung der Indüstrie, der Bevölkerung
und des öffentlichen Wohlstandes wies Joachim Heinrich Campe im Kontext seiner
Vorschläge zur Einrichtung nützlicher Volksschulen auf Ephraims Industrieschule hin: "In
jeder Volksschule müßte [...], außer dem eigentlichen Lehrer, noch irgend eine andere
verständige Person männlichen Geschlechts seyn, welche die Kinder in mechanischen
Arbeiten übte; aber gesetzt nun auch, daß weder der Staat noch die Gemeinde die Kosten,
welche die Ansetzung einer solchen Person erfordert, zu tragen im Stande wäre: sollte sich
in jedem Lande nicht irgend ein Manufacturist finden, der die Besoldung derselben gegen
die Erlaubnis übernähme, die Hände der Kinder dafür unentgeldlich für seine Fabrik zu
nützen? [...] Daß kein Schade für ihn dabei seyn würde, das wird erforderlichen Falls Herr
Benjamin Veitel Ephraim in Berlin bezeugen können, der seit vielen Jahren schon die
17
Vgl. dazu Richarz 1974, Carlebach 1977, Bruer 1991, 128ff, Breuer 1996, 201ff. - Die im Laufe des 19.
Jahrhunderts beginnenden Versuche der Neoorthodoxie, Tradition und Moderne in der jüdischen Erziehung
zusammenzubringen, untersucht Thomas Kollatz (1998) am Beispiel 'deutscher Predigten'.
13
Kinder des Potsdammischen Waisenhauses mit Fabrikarbeiten beschäftiget, und
vermuthlich seine Rechnung dabei findet, weil er sonst schon lange damit würde aufgehört
haben" (Campe 1786/ 1969, 19f; dazu auch Boschau 1912, 27). Wie Krünitz' Enzyklopädie
(54) und Friedrich Gedike (70) erweisen, galt jedenfalls auch die Ephraimsche
Industrieschule als Freischule.
Ein weiterer Schulplan der Münzunternehmer galt der Errichtung einer
Armenkinderschule. Dieses von Veitel Heine Ephraim und Daniel Itzig in den Jahren
1761/62 verfolgte Vorhaben gilt als Vorläufer der Freischulgründung; der Plan wurde (28:)
allerdings nicht realisiert. Und schließlich ist als Schulreforminitiative der
Münzunternehmerfamilien die Berliner Freischule von 1778 selbst zu nennen. Bis zu
seinem Tode war Daniel Itzig ihr wichtigster Financier, und ihre erste Herberge fand die
Schule in seinem ehemaligen Wohnhaus im Geckhol (71), einer jener Straßen, die
bevorzugt von Juden bewohnt wurden, weil sie nahe bei der 1714 gegründeten Synagoge
in der Heidereutergasse lagen.
Der Plan einer Armenkinderschule von 1761
In bestimmter Hinsicht barg der Vorstoß zur Gründung der Armenkinderschule, den Veitel
Heine Ephraim und Daniel Itzig im Jahre 1761 unternahmen, in sich bereits den Zwiespalt
von (gemeinde-) öffentlicher und privater Schule, in dem sich zeit ihres Bestehens auch die
Freischule befand. Zwar verwiesen Ephraim und Itzig in ihrer Eingabe an den König
darauf, daß die gewünschte Schulgründung dem 'Jüdischen Reglement' entspräche. Nach
dem Judenreglement von 1750 waren Erziehungs- und Schulangelegenheiten als Teil des
religiösen
Lebens
jedoch
ausschließlich
Sache
der
Gemeinden,
deren
Selbstbestimmungsrecht sich auf alle inneren Angelegenheiten erstreckte (wobei die
Gemeindeautonomie ihrerseits die finanzielle Vorteilnahme des preußischen Staates aus
der Wirtschaftstätigkeit der Juden sicherte). Die Genehmigung des Berliner
Gemeindevorstands wurde von den Initiatoren des Plans jedoch wohl nicht erbeten; sie
wäre wahrscheinlich verweigert worden, denn der Vorstand war zu der Zeit noch
mehrheitlich mit Traditionalisten besetzt. Stattdessen suchten Itzig und Ephraim bei einer
königlich preußischen Behörde, nämlich dem Generaldirektorium, um Genehmigung nach.
Damit wurde erstmals unter Umgehung der Zuständigkeiten des Vorstands der Berliner
Gemeinde ein Vorstoß zur Reform der jüdischen Erziehung unternommen.
Es ist anzunehmen, daß das biblische Lexikon Milim le-Eloah (Berlin 1760; dt. Wörter für
Gott) von Juda Leib ben Joel Minden in der geplanten Schule als Lehrbuch verwendet
werden und als Grundlage für die angestrebte Verbindung von Unterrichts- und
Religionsreform dienen sollte. Milim le-Eloah war das erste Buch, in welchem Bibelverse
außer in Hebräisch auch in Deutsch mit hebräischen Buchstaben erklärt wurden. Im
Vorwort berief sich Joel Minden darauf, daß er von vielen Angehörigen seines Volkes
Klagen über die traditionellen Bibellehrer - meist aus Polen, Litauen oder Böhmen
stammende Schulmeister (226) - gehört habe; sie "machen die Kinder der Israeliten
straucheln, bevor sie wissen, Böses zu verwerfen und Gutes zu wählen", und sie verdürben
"die lieblichen Worte unserer Torah durch ein Kauderwelsch"18. - Bereits bei jenem Plan
einer jüdischen Armenkinderschule stand die Absicht im Zentrum, eine Institution zu
schaffen, die zur Heranbildung eines jüdischen bürgerlich-nützlichen Erwerbsstandes
beitragen würde: nicht nur, um der christlichen Bevölkerung wie den preußischen
Behörden zu zeigen, daß auch die Juden tugendhafte Bürger sein und zum allgemeinen
18
Zitiert nach Werner Weinbergs Einleitung zu Mendelssohn, JubA 15,1, XXV.
14
Besten beitragen konnten, sondern vor allem, um für die Erweiterung der eigenen
ökonomischen Aktivitäten (29:) über "qualificirte Leute" zu verfügen (6). Was immer die
Gründe dafür waren, daß die Armenkinderschule von 1761 nicht zustande kam: dieses
Motiv wurde nicht hinfällig.
Bildungshistorisch bedeutsam ist dieser nicht realisierte Schulplan aus zwei Gründen. Zum
einen unternahmen hier erstmals Angehörige der jüdischen Oberschicht den Versuch,
mithilfe eines in jüdischen Gemeinden nicht vorhandenen, neuen Schultyps einen
jüdischen mittleren Erwerbsbürgerstand zu schaffen. Zum anderen war dies der erste
Versuch, die Schulerziehung aus der traditionell-religiösen Lebenswelt der jüdischen
Gemeinde und ihrer rechtlichen Zuständigkeit herauszulösen.19 Nicht Tradition und
Herkommen, Rabbinat oder Gemeindevorstand sollten den Zuschnitt der Schule
bestimmen. Das war ein Novum.
Es kann daher nicht überraschen, daß sich in der preußischen Verwaltung zunächst
niemand für zuständig hielt. Eine Argumentation, auf deren Basis über das Gesuch zu
entscheiden war, mußte behördlicherseits erst entwickelt werden. Das Generaldirektorium
interessierte sich, bevor es den Plan genehmigte, vor allem für die fremdenpolitischen
Aspekte: Worin die angedeuteten Religionsmotive bestünden; wieviele Kinder
aufgenommen werden sollten, ob auch auswärtige und für welche Dauer; ob auswärtige
Juden als Lehrer zuziehen müßten (sprich: ob durch Einwanderung von Lehrern und
Schülern etwa die zugelassene Zahl der Juden in der Stadt unter der Hand vergrößert
werden sollte); ob die gedachten Unterkünfte zulasten bestehender Abgabepflichten
gegenüber dem Staat gingen (4). Genau genommen verstieß die Genehmigung ebenso wie
schon das Gesuch selbst gegen geltendes Recht; der Antrag hätte ohne weiteres
abgewiesen werden müssen.
Ausschlaggebend wurde aber ein anderer Gesichtspunkt, nämlich der im Sinne
aufklärerischen Toleranzdenkens legitimierte Grundsatz, daß alles, was der
Jugenderziehung diene, "ohne Rücksicht auf Religionsverschiedenheit zu befördern" sei
(3). Damit wurden, vermutlich erstmalig in der deutsch-jüdischen Bildungsgeschichte,
Erziehung und Bildung als Universalien gesetzt, als moralisch höheres Gut im Sinne des
'Gemeinwohls'. Die jüdischen Religionsangelegenheiten wurden dadurch implizit - mit
dem preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) auch explizit - als Partikularinteresse
definiert und das Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Gemeinde hintangestellt. Auch
Lazarus Bendavid berief sich später auf jenen Grundsatz (489, 546).
Levin Josephs 'Plan zur Etablierung einer besseren Ordnung der jüdischen Schulen' von
1772
Anders als das Schulgründungsvorhaben von Ephraim und Itzig scheiterte der Reformplan
des Potsdamer Schulmeisters Levin Joseph an der Ablehnung der Behörden. Schon dieser
Sachverhalt ist aufschlußreich. Daß dieser Plan existierte, (29:) zeigt aber auch, daß es
neben den Initiativen der Münzunternehmer doch auch weitere Reformvorstöße gab; daher
läßt sich Josephs Plan mit jener innerjüdischen Erziehungskritik in Verbindung bringen,
die vereinzelt schon im 17. und frühen 18. Jahrhundert geäußert worden war (Kohler 1919,
Ozer 1947). Levin Josephs Plan enthielt Motive, wie sie auch bei bekannteren Maskilim
programmatisch im Vordergrund standen: Er betonte die Notwendigkeit einer
19
Rotraud Ries (1998, 142) vermutet angesichts der "Häufigkeit von Schulgründungen und
Bildungsimpulsen gerade im Norden", daß diese für die Akkulturationsweise der Hofjuden im nord- und
mitteldeutschen Raum im 18. Jahrhundert eine größere Rolle spielten als für die süddeutsch-österreichischen
Hofjuden.
15
methodischen Aufeinanderfolge von Tora- und Talmudstudium - wichtig sei vor allem ein
gründlicheres Bibelstudium und die Beachtung des jeweils erreichten Kenntnisstandes der
Kinder - und eines Unterrichts in deutscher und hebräischer Sprache sowie in den schönen
Wissenschaften, um "lächerliche und schwärmerische Begriffe" (17) zurückzudrängen.
Dies war gegen die traditionellen Schulmeister gemünzt, die in der Regel aus Polen
stammten. Gegen sie teilte Joseph mit den meisten Maskilim eine heftige Abneigung.
Wenn man den Standpunkt der Reform vertrat, hatten Levin Josephs Vorschläge in
mancher Hinsicht Hand und Fuß. Er beabsichtigte, die religiöse Unterweisung, wie sie in
den kleinen jüdischen Gemeinden um Berlin, in der Kurmark, gang und gäbe war, zu
beaufsichtigen und zu vereinheitlichen und dabei den Einfluß der polnischen
Talmudgelehrten zurückzudrängen. Die preußischen Behörden allerdings unterstellten, daß
den Potsdamer Lehrer nichts als Geldgier treibe, und erkannten ihm die Legitimation zur
Schulreform rundweg ab. In seinem Fall gab es keine Bereitschaft, vom geltenden
Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Gemeinden in Erziehungs- und Schulsachen
abzusehen. - Von der Lage der Erziehung in den kurmärkischen jüdischen Gemeinden
nahm die preußische Administration ansonsten erst über dreißig Jahre später wieder Notiz:
als "die Itzigsche Freischule" für die anzustrebende Umgestaltung der jüdischen Schulen
als "Musteranstalt" ins Spiel gebracht wurde (174; zur Landschulreform in der Kurmark
Leschinsky/ Roeder 1983, 102ff).
Besonders ein Aspekt dieser Vorgeschichte der Freischule ist für die weitere Entwicklung
zentral. Mit der zunächst unproblematisch erscheinenden Maxime, 'alles, was der
Jugenderziehung dienen kann, ohne Rücksicht auf Religionsverschiedenheit zu fördern',
wurden Bildung und Erziehung als Universalien gesetzt. Dies jedoch war ambivalent.
Denn auf der einen Seite wurden die Juden damit zwar in den aufklärerischen
Begründungszusammenhang eines allgemeinen Menschen- und Bürgerrechts einbezogen,
d.h. es wurde anerkannt, daß auch Juden gute Menschen und nützliche Bürger sein und
zum Gemeinwohl beitragen konnten. Auf der anderen Seite brach das
Modernisierungsprojekt der Aufklärung in die Lebenswelten der alten Gesellschaft ein, in
diesem Fall: in die religiöse Unterweisung als integralen Bestandteil der jüdischen
Tradition, die aus dem Gemeindeleben als Ganzem nicht herausgelöst werden konnte, ohne
dieses selbst tendentiell aufzulösen. Die Gemeindeautonomie in Schul- und
Erziehungsfragen zu unterlaufen, bedeutete außerdem die Verletzung geltenden Rechts.
Indem dies zugunsten einer Jugenderziehung geschah, die auf das als höheres Gut gedachte
Staats- und Gemeinwohl bezogen wurde, wurde die jüdische Religion als besonderes,
mithin nachrangiges Gut definiert. Hiermit brach einer jener Konflikte zwischen 'System'
und 'Lebenswelt' auf, wie sie die Geschichte der Moderne so zahlreich durchziehen. In
diesem speziellen (31:) Konflikt war überdies die Möglichkeit angelegt, daß der
Universalismus, das moralisch höhere Gut des 'allgemeinen Besten', als Argument gegen
die Juden gewendet werden konnte, wenn sie nicht von ihrem Partikularismus abließen
(Lohmann 1996a; 1998).
Gründung und Frühphase der Freischule bis 1806
Berlin, das Zentrum der preußischen Aufklärung, wurde auch Zentrum der jüdischen
Aufklärung. Viele jüdische Intellektuelle waren bereits dort, weitere lockte der wachsende
Ruf der Stadt als Ort geistiger Auseinandersetzung an. Das Haus Fromet Guggenheims und
Moses Mendelssohns wurde zu ihrem geistigen Mittelpunkt. Insbesondere in den 1770er
Jahren kamen viele Maskilim nach Berlin bzw. kehrten dorthin zurück, darunter der Arzt
16
und Gelehrte Markus Herz (1770), der Seidenmanufakturist David Friedländer (1771), die
hebräischen Schriftsteller Isaac Satanow (1771), Salomon Dubno (1772) und Naphtali
Hartwig Herz Wessely (1774), der Schulreformer Herz Homberg (1770-72 und 1778-79)
(vgl. Altmann 1973, 346ff, Lowenstein 1994, 37). Die jüdische Aufklärung hatte somit
nicht nur einen Ort, sondern bald auch einen Namen: Berliner Haskala. Einige ihrer
wichtigsten Protagonisten stammten aus Podolien, Galizien und Litauen und gingen später
dorthin zurück. Am einflußreichsten jedoch waren die Maskilim aus den deutschen
Ländern und Berlin selbst, Markus Herz, Lazarus Bendavid, Saul Ascher, Wolff
Davidsohn u.a., neben Isaac Abraham Euchel, Friedländer und Wessely, die aus
Kopenhagen und Königsberg stammten.
In der Literatur ist die Frage, ob die Entstehung der neuen ökonomischen Elite ursächlich
der jüdischen Aufklärung vorausging, kontrovers behandelt worden. Euchel hätte sie so
beantwortet: Großmütige Fürsten hatten es für gut befunden, den Juden neue ökonomische
Freiheiten einzuräumen - für ihre moralische Verbesserung zu sorgen, war nunmehr
Aufgabe der Maskilim (67). Wie im Verhältnis der christlichen Neobourgeoisie zu ihren
aufklärerischen Intellektuellen, so bestanden auch auf jüdischer Seite erhebliche
Differenzen zwischen den neuen Reichen und den Maskilim (zum folgenden Lowenstein
1994, 33ff). Dies betraf nicht nur die geographische und soziale Herkunft sowie die Besitzund Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch die jeweiligen Ideale. Einerseits wäre die
Haskala ohne die tatkräftige Unterstützung der ökonomischen Oberschicht kaum
aufgekommen: Die meisten Maskilim waren, da ihnen (im Unterschied zu christlichen
aufstrebenden jungen Intellektuellen) Positionen im Regierungs-, Kirchen- oder
Justizdienst nicht offenstanden, als Geschäftsführer, Buchhalter oder Hauslehrer bei
reichen jüdischen Kaufleuten tätig (die sich, wie auf christlicher Seite auch, nicht selten
selber aufklärerisch betätigten). Wichtige Schriften, die die Haskala hervorbrachte, wurden
von den Angehörigen der ökonomischen Elite subskribiert.
Auf der anderen Seite standen die Maskilim dem ostentativen Luxus und den Idealen ihrer
Gönner eher reserviert gegenüber. Nur wenige von ihnen stammten selbst aus
wohlhabenden Familien, darunter Lazarus Bendavid, ein Enkel des Samtfabrikanten (32:)
und Gemeindeältesten Hirsch David. David Friedländer gehörte als einziger zur fünf
Prozent umfassenden Kategorie der Reichen in der Berliner Gemeinde. Moses
Mendelssohn und Markus Herz hingegen waren Söhne armer Toraschreiber, wenn sie es
später auch zu einem gesicherten Lebensunterhalt brachten. Mendelssohn etwa hatte, trotz
der freundschaftlichen Beziehungen, die er zu Veitel Heine Ephraim aufrechterhielt,
dessen Angebot zur Beteiligung an den Münzgeschäften stets zurückgewiesen, und auch
Bendavid äußerte sich kritisch über Normen und Lebensstil der Reichen (502, 504).
Die Motivation der Reichen zur Unterstützung der Maskilim hatte ihre Wurzeln jedoch
sicher auch in den lebensweltlichen Praktiken der jüdischen Tradition. Darin rangiert
Vermögen als Statuskriterium hinter Gelehrsamkeit, und ein Reicher, der die mizwe des
Lernens nicht voll erfüllt, kann dies durch die Erfüllung anderer Gebote, insbesondere
durch die Förderung des (Talmud-) Studiums junger Gelehrter, ausgleichen. Reichtum war
als Statuskriterium insbesondere dann akzeptabel, wenn er "dem Primärkriterium
Gelehrsamkeit dienstbar gemacht" wurde (Zborowski/ Herzog 1991, 55). Umgekehrt
bezogen manche Maskilim ihr Selbstbewußtsein und bisweilen auch das Empfinden ihrer
Superiorität gegenüber ihren reichen Gönnern aus demselben Element der Tradition.
Bestärkt wurde dieses Empfinden seitens der jüngeren unter ihnen durch den Konflikt
zwischen den Generationen, in diesem Fall in Form einer Ablehnung der Werte, des
Lebensstils, des Reichtums der Altvorderen.
17
Von Vorläufern abgesehen, konstituierte sich die jüdische Aufklärung, Haskala, ab der
Mitte des 18. Jahrhunderts, und zentrale Daten ihrer Entwicklung markieren Schriften
Mendelssohns, vor allem seine Bibelübersetzung (1778-1783) sowie seine Schrift
Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), daneben Wesselys
Sendschreiben Worte des Friedens und der Wahrheit (1782) und die Gründung der
Zeitschrift HaMeassef in Königsberg (1783). In der Literatur ist mehr oder weniger
unstrittig, daß die Haskala eine Erneuerungsbewegung auf den Gebieten der Religion,
Kultur und Sprache sowie der sozialen Beziehungen der Judenschaft zur umgebenden
Gesellschaft war, auch, daß sie zwischen 1770 und 1800 in Berlin ihr Zentrum hatte.
Jedoch:
War die Freischule ein Projekt der Haskala?
In seiner grundlegenden Schrift zum Thema rechnet Eliav sie ihr ohne weiteres zu: "Das
erste Werk der Maskilim auf dem Gebiet der Erziehung war die Einrichtung einer freien
Schule für arme Kinder in Berlin mit dem Namen Chinuch Nearim (Knabenerziehung).
Nach dem erwähnten Mißerfolg des Plans von Ephraim und Daniel Itzig zur Errichtung
einer Armenschule im Jahr 1761 wurde der Plan 1778 erneut von David Friedländer, dem
Schwiegersohn Itzigs, und von den führenden Berliner Maskilim aufgegriffen, und auch
diesmal hauptsächlich aus Sorge um die Erziehung und Aufklärung der Armenkinder. [...]
Friedländer handelte vermutlich nach Anleitung Mendelssohns, welcher die
Entwicklungen der Anstalt mit großem Interesse verfolgte" (Eliav 1960, 71). (33:)
Kurzweil (1987, 18), der sich bei seiner Skizze der Freischule auf Eliavs Untersuchung
stützt, vertritt die Auffassung, daß die moderne Zielsetzung der Freischule über das
aufklärerische Reformkonzept Hartwig Wesselys sogar hinausging, und Lowenstein (1994,
36f) bezeichnet Reformaktivitäten im Erziehungsbereich einschließlich der Freischule als
eines der Haupttätigkeitsfelder der Maskilim. Demgegenüber insistiert Feiner darauf, daß
es ein Irrtum wäre, die Schule als ein Projekt Moses Mendelssohns anzusehen, und wenn
die Freischule auch im Kontext von Aufklärung und Säkularisierung zu interpretieren sei,
so könne sie doch nur begrenzt als ein Produkt der Erziehungsvorstellungen der Haskala
gelten, da sie kaum eine der spezifischen Zielsetzungen der Maskilim im Streben nach
kultureller Erneuerung des Judentums erfüllt habe. Vielmehr hätten ihre Direktoren
vergleichsweise bescheidene pragmatische, Bendavid später gar assimilationistische
Zielsetzungen verfolgt. Ohne ihre historische Bedeutung als erste moderne jüdische Schule
zu bestreiten: Chinuch Nearim sei ein, die Haskala ein anderer Weg zur kulturellen
Erneuerung des Judentums gewesen (Feiner 1995 und im Vorwort zu diesem Band).20
Zur Rolle von Mendelssohns Bibelübersetzung
In dieser Einleitung wird nicht nur der Interpretation gefolgt, daß die Freischule ein Projekt
der Haskala war. Darüberhinaus wird hier die Hypothese vertreten, daß die Schule im
Rahmen der Modernisierungsleistung, die sie erbringen sollte, zu einem ganz bestimmten
Zweck gegründet wurde: nämlich um der Bibelübersetzung Mendelssohns zu jenem
größeren Wirkungsgrad zu verhelfen, den sich auch und gerade Mendelssohn selbst
20
Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohns Rolle in den Anfangsjahren der Freischule
nimmt Behm (1999) vor.
18
wünschte.21 In der Sekundärliteratur ist diese eigentlich doch naheliegende
Schlußfolgerung bisher nicht gezogen worden - vermutlich, weil Mendelssohns
Bibelübersetzung, natürlich zu Recht, als zentrales Datum in der Geschichte der deutschen
Judenschaft gilt, während die Freischule eher als vernachlässigbar erscheint: Die
Angehörigen der Oberschicht besuchten sie nicht, es gingen keine berühmten
Persönlichkeiten aus ihr hervor, sie hatte meist mit Finanzmangel zu kämpfen - und was
sonst noch an durchaus nicht falschen, den Kern der Dinge theoretisch aber doch
verfehlenden Feststellungen die gängige Lesart bestimmen.
Zur Chronologie: Im Stiftungsjahr 1778 der Schule erschien im HaMeassef in Hebräisch
die von Salomon Dubno verfaßte Ankündigung der Bibelübersetzung, 1780 auch in
deutscher Sprache. Ebenfalls 1780 lag das Buch Genesis in deutscher Übersetzung vor, das
Manuskript oder Teile davon schon im Mai 1779. Im Jahr 1781, das zuweilen als Jahr der
Aufnahme des Unterrichtsbetriebs der Freischule genannt wird, war das Buch Exodus
übersetzt, und 1783 schließlich lagen alle fünf Bücher Mosis in der übersetzten Ausgabe
vor.22 (34:)
Mendelssohn selbst äußerte sich über seine Motive für die Übersetzung wie folgt. Erstens
in einem Brief an Avigdor Levi vom 25. Mai 1779: Ursprünglich habe er die Übersetzung
nur für den Bedarf seiner Söhne verfaßt. Als jedoch Salomon Dubno, der gelehrte
Grammatiker und Lehrer im Hause Mendelssohn, sie sah, "gefiel sie ihm, und er ersuchte
mich um Erlaubnis, sie zum Nutzen der jüdischen Kinder, welche eine Erläuterung und
deutsche Übersetzung der Verse in den vom Wege abführenden Schriften der Nichtjuden
suchen, drucken zu lassen. Ich gab ihm meine Einwilligung". Zweitens in einem Brief an
seinen Freund August Hennings: Er habe eigentlich alles andere als Bibelübersetzer
werden, sondern sich darauf beschränken wollen, "des Tages seidene Zeuge verfertigen zu
lassen, und in Nebenstunden der Philosophie einige Liebkosungen abzugewinnen." Ob
dieser Selbstbeschränkung aber unzufrieden geworden, "fand ich, daß der Ueberrest
meiner Kräfte noch hinreichen könne, meinen Kindern und vielleicht einem ansehnlichen
Theil meiner Nation einen guten Dienst zu erzeigen, wenn ich ihnen eine bessere
Uebersetzung und Erklärung der heiligen Bücher in die Hände gebe, als sie bisher gehabt.
Dieses ist der erste Schritt zur Cultur, von welcher meine Nation leider! in einer solchen
Entfernung gehalten wird, daß man an der Möglichkeit einer Verbesserung beynahe
verzweifeln möchte." Drittens in der Vorrede Or Lanetiwah: "Die Knaben der Kinder
Israel, die das Verlangen haben Worte der Weisheit zu verstehen, ziehen umher, das Wort
Gottes in den Übersetzungen christlicher Gelehrter zu suchen. Denn die Christen
übersetzen die Torah in jeder Generation in richtiger Sprache und angenehmem Stil [...].
Jedoch dieser Weg, den viele der Söhne unseres Volkes betreten haben, ist voller
Fallstricke und Hindernisse, und großes Übel geht davon aus". Die christlichen Gelehrten
seien bei ihren Bibelübersetzungen nicht an Buchstabentreue und tradierten Wortlaut
gebunden, sie betrachteten die Bibel nicht als Gesetzbuch, sondern wie ein
Geschichtswerk, aus dem man über die Wege der Vorsehung lernen könne: "Jedoch, wenn
dies bei den christlichen Gelehrten und ihren Schülern angeht, für uns, das Haus Israel,
geht es nicht an" (alle zit.n. JubA 15,1 XIVff).
21
Uta Lohmann (1998a) hat diese Hypothese aufgestellt und im Rahmen der Potsdamer Tagung des DFGGruppenprojekts Wandlungsprozesse im Judentum durch die Aufklärung vor einem internationalen
Expertenkreis vertreten.
22
Angaben nach Werner Weinberg, Einleitung zu Mendelssohns Pentateuch-Übersetzung, JubA 15,1.
19
Natürlich konnte Mendelssohns Bibelübersetzung von Hauslehrern benutzt und in privaten
Zirkeln, in den Lesegesellschaften des sich konstituierenden jüdischen Publikums rezipiert
werden. Aber in der Gemeinde mit ihren traditionellen Schulen gab es keinen Ort, um die
'vielen umherziehenden' Knaben darin zu unterrichten: Er mußte erst geschaffen werden.
Auch strebte Salomon Dubno mit seiner Vorrede (24) sicher nicht aus akademischen
Gründen den Nachweis an, daß es im Sinne der religiösen Tradition legitim war, die Tora
ins Deutsche zu übersetzen. Diesen Nachweis zu erbringen, war vielmehr insbesondere
gegenüber jüdischen Lehrern sinnvoll. Denn da die meisten zeitgenössischen Rabbiner die
Übersetzung aus dem Hebräischen als Entweihung der heiligen Sprache ansahen (90),
würde die Bibelübersetzung anders gar nicht ungestraft benutzt werden können.
Dubno konstatierte eine tiefe Krise der jüdischen religiösen Tradition. Er nahm auf das
wechselvolle politische und religionsgeschichtliche Schicksal der Juden seit der Antike
Bezug und rückte dabei den Gesichtspunkt ins Zentrum, daß der religiösen Tradition in der
Gegenwart erneut Gefahr drohe, weil "die heilige Sprache ganz (35:) unter uns
ausgestorben ist" (24). Wenn dies auch nicht in seiner Intention gelegen haben mag, so
leistete Dubno damit etwas neues: Er machte die Geschichte zum Argument. Bei
historischer Betrachtung - ein Vorgehen, welches Wessely in Divrej Shalom we-Emet zur
Methode erhob - ließ sich die Übersetzung der Bibel legitimieren.
Damit wiederum waren zugleich erste Voraussetzungen für den Einbezug der jüdischen
Religion in Bildungsprozesse im modernen Sinne geschaffen.23 Es war nunmehr prinzipiell
die Möglichkeit eröffnet, deutsche und hebräische Sprache und die in ihnen jeweils
verfügbaren literarischen, weltanschaulichen und Wissensbestände in ein komplementäres
Verhältnis zu bringen, so daß sie sich im Vermittlungs- und Aneignungsprozeß
wechselseitig transformierten, sprich: zu Bildungsmitteln entwickelten - ein Vorgang, der
weitreichende Parallelen etwa zur neuhumanistischen Bildungskonzeption Wilhelm v.
Humboldts und zur neoprotestantischen Bildungskonzeption Friedrich Schleiermachers
aufweist (Lohmann 1984). Durch den auf die eigene Geschichte gerichteten,
weitergespannten Horizont ließen sich sprachliche und religiöse Bildungsprozesse
eröffnen, die das Dasein der Juden "in den Ländern des weitläuftigen Deutschlands" mit
neuem Leben erfüllen würden (24; vgl. Römer 1995).
Dafür, daß diese Vorstellung in hohem Maße auch Mendelssohns Bildungskonzeption
entsprach, zeugt schon die Tatsache der Bibelübersetzung selbst. David Friedländers
Lesebuch zum Besten der Freyschule, das ebenfalls Beiträge aus der Feder Mendelssohns
enthielt, war ergänzend als Elementarbuch zum Erlernen der hebräischen und lateinischen
Buchstaben sowie zur ersten Einführung in die Sittenlehre gedacht (dazu Dietrich/
Lohmann 1994, 43f).
So kam das Schulprojekt der Chevrat Chinuch Nearim schließlich zustande. In seinem in
der Sekundärliteratur kaum rezipierten Zweiten Sendschreiben stellte Wessely die
Freischule in direkten Zusammenhang mit Mendelssohns Bibelübersetzung - 'auch über
dieses Institut riß man anfangs den Mund auf, als führte seine Gründung zum Bruch mit
der Tora' (34) - und bezeichnete das erneuerte Bibelstudium als Voraussetzung für die
23
Eine eingehende bildungstheoretisch-bildungshistorische Analyse von Wesselys Schrift kann hier nicht
vorgenommen werden, aber es wäre lohnend dies zu tun. Dabei müßte u.a. genauer geprüft werden, wo in der
Übergangsphase zwischen aufklärerisch-philanthropistischer Wissensauffassung und klassischer
Bildungstheorie - wobei diese bislang hauptsächlich in den Varianten neuhumanistisch oder
neoprotestantisch erörtert wird - Wesselys Konzeption wohl auszumachen wäre: etwa als historisches
Vorbild dieser beiden Varianten? - Vgl. zu jenem Übergang Krause 1989.
20
Verbreiterung der Handwerkskenntnis sowie jener "tausende von guten und anständigen
Handlungsarten", die den jüdischen Händlern zum Schaden der Söhne Israels völlig
unbekannt seien. Inzwischen jedoch hätten im Institut Chinuch Nearim bereits einige den
neuen Unterricht absolviert, und viele wünschten nun, ihre Söhne in diese Schule zu
schicken (34). Cranz, der Herausgeber der Berlinischen Korrespondenz, berichtete, daß an
der Freischule "im rein Hebräischen" unterrichtet werde (44) und daß an ihr "einige
Hebräer, wohlbewandert in ihrer Wissenschaft" (48), tätig seien. Die Wissenschaft der
Hebräer, das war die (36:) jüdische Religion, und für Unterricht in einem reinen Hebräisch
war, wie auch das Schulprogramm von 1803 bestätigt (141), die naheliegendste Grundlage
eben: Mendelssohns Bibelübersetzung.
War die Freischule eine Armenschule?
In der Fachliteratur wird die Freischule durchweg als Armenschule apostrophiert (zuletzt
Lowenstein 1994, 53, Graetz 1996, 344, Meyer im Vorwort zu diesem Band). Wozu aber
hätten die jüdischen Münzunternehmer oder auch einzelne Maskilim, hätten überhaupt
Angehörige der neuen ökonomischen und intellektuellen Eliten eine Armenschule gründen
sollen? Nicht nur die Freischule, sondern auch die übrigen Reformschulen der jüdischen
Aufklärung werden seit Simon (1953) und Eliav (1960) mit diesem Attribut bezeichnet,
ohne daß recht klargestellt worden wäre, worin, historisch, soziologisch,
emanzipationspolitisch betrachtet, der Sinn einer Gründung von Armenschulen aus der
Sicht der neuen ökonomischen Elite oder der Haskala hätte bestehen sollen.
In dieser Einleitung wird die These vertreten, daß die Betrachtung der neuen jüdischen
Schulen als Armenschulen theoretisch in die Irre führt, zumal wenn nicht erörtert wird,
was damit gemeint ist.24 Während Armenschulen in der christlichen Gesellschaft für die
unteren, nichtbürgerlichen Bevölkerungsschichten gedacht waren, richteten die von
Privaten gestifteten Freischulen sich an eine ihnen nahestehende Klientel, nämlich an
Angehörige (verarmter) bürgerlicher Schichten. Auf Seiten der jüdischen Gemeinden
leisteten Fürsorge für die Armen, einschließlich der Unterweisung in Religion, ja überdies
Gemeindeeinrichtungen wie die Talmud Tora und zahlreiche andere (54). Außerdem hat
Simon detailliert (und entgegen dem, was er zu finden hoffte) nachgewiesen, daß die den
Schulreformplänen der Haskala zugrundeliegende Programmatik eine viel größere Nähe
zum Philanthropismus Basedow-Campescher Prägung - der vornehmlich Töchter und
Söhne der mittleren und höheren Bürger- und Adelsschichten, der gesitteten Stände,
adressierte - als etwa zu Pestalozzis Konzeption der Armenerziehung aufweist. Nach deren
Spuren hielt Simon in der Erziehungsprogrammatik der Haskala in der Tat vergeblich
Ausschau, und dies hat historische Gründe. Wie bei aufklärerischen Schulgründungen auf
christlich-bürgerlicher Seite auch, war mit der Gründung der Berliner jüdischen Freischule
die Erwartung eines Multiplikationseffekts verbunden: Erwerbsformen und Lebensweise,
Werte und Gesittung des Bürgers sollten in der Judenschaft eine breite soziale Basis
erhalten, sie dadurch von Grund auf wandeln, eben modernisieren.
Die 'Nachricht' von 1783
Bleiben auch zahlreiche institutionsgeschichtliche Einzelheiten aus der Gründungsphase
der Freischule im Dunkeln, so gilt dies doch keineswegs für die Aspekte, die
24
Vgl. dazu Mayer 1999, Kuhlemann 1992, 145ff sowie Beiträge in Herrmann 1981. In Schulstatistiken des
19. Jahrhunderts wird zwischen Armenschulen und Freischulen übrigens auch typologisch unterschieden;
vgl. etwa Neddermeyer 1847, 400.
21
programmatisch im Vordergrund standen. Religiöse Erneuerung lag im Zentrum der (37:)
Bestrebungen der Maskilim, und Schulreform war ein Mittel, dieser Erneuerung eine
breitere Grundlage zu verschaffen. Zudem ließ sich damit ein eigener Wirkungsbereich
sichern, außerhalb der Tätigkeit als Buchhalter oder Hauslehrer bei reichen Juden. Insofern
stand der Plan einer Freischule in Berlin auch nicht isoliert da: Euchel verfaßte einen
gleichsinnigen Plan zur Errichtung einer Gemeindeschule in Königsberg (28), einen
zweiten später für Kiel (67), beide ohne Erfolg. Herz Homberg war im Zusammenhang mit
dem Toleranzedikt Josephs II. mit dem Aufbau moderner jüdischer Schulen in Galizien
beschäftigt. Und Wessely, der bei Aufenthalten in Amsterdam die Schulen der dortigen
sephardischen Gemeinde kennen und schätzen gelernt hatte, schuf den allgemeinen
Begründungszusammenhang für die Verknüpfung von weltlichem Wissen und
Torastudium.
Wesselys Divrej Shalom we-Emet, "Worte des Friedens und der Wahrheit" (32; dazu Ozer
1947), gilt als das erste systematische Werk über jüdische Erziehung überhaupt. Die
Schrift wurde von Friedländer umgehend ins Deutsche übersetzt. Wie Mendelssohns
Bibelübersetzung rief auch sie heftigen Widerspruch von Seiten rabbinischer Autoritäten
hervor, vor allem die - durch Friedländers Übersetzung zusätzlich pointierte - Auffassung,
Mensch sein sei eine Stufe höher als Israelite sein (Feiner 1995, 406). Diese Sichtweise
wurde jedoch, so Wessely, durch die Geschichte Israels selbst bezeugt. Dabei rekurrierte er
auch auf christliche Aufklärer, vor allem John Locke, und er begründete eine
geschichtsphilosophische Auffassung, die unübersehbare Parallelen zu Lessings Erziehung
des Menschengeschlechts aufwies (Lohmann 1996, 190ff). Unterstützung erfuhr diese
Reformprogrammatik nicht nur durch das Toleranzedikt Josephs II. von Österreich,
sondern auch durch die breite öffentliche Diskussion, die die Schrift des preußischen
Kriegsrats Dohm Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, weit über die deutschen
Länder hinaus, auslöste - zwei Ereignisse übrigens, die, "vermittelt über Mirabeau, den
Anstoß zur Emanzipationsdebatte in der französischen Nationalversammlung" gaben
(Battenberg 1992, 241; zu Dohm vgl. Vierhaus 1987).
Zu den wenigen Quellen, die unmittelbar Licht auf die Gründungsjahre der Freischule
werfen, gehört das Schulprogramm von 1783. In der Fachliteratur gibt es keine Hinweise
darauf, daß die Schrift überhaupt existierte. Diese frühe Nachricht von der Freyschule steht
nun erstmals wieder zur Verfügung (49). Welche neuen Erkenntnisse eröffnet sie? Zunächst zu den wenigen Daten, die aus den Jahren davor bekannt sind (35): Unterrichtet
wurde an der Freischule seit 1778 und nicht erst seit 178125. Unterrichtet wurden nur
jüdische Kinder, zum Personal gehörten jedoch jüdische und christliche Lehrer, was in
einem aschkenasischen Heder oder einer polnischen Jeschiva undenkbar gewesen wäre etwa so wie in einer christlichen Elementarschule oder einem königlichen Gymnasium.
Unterrichtsgegenstände waren 'die Anfangsgründe der nötigen Kenntnisse des Menschen'.
(38:)
Wenn man annimmt, daß Itzig und Friedländer sich hier eines Sprachgebrauchs ähnlich
dem Wesselys bedienten und zwischen Wissenschaften des Menschen und göttlichen
Wissenschaften unterschieden, dann wären in jenen Jahren nur säkulare Kenntnisse
vermittelt, aber kein Torastudium getrieben worden - was unwahrscheinlich ist. Vielmehr
ist entsprechend der oben genannten Hypothese davon auszugehen, daß seit Vorliegen des
25
Die Anmerkung des zeitgenössischen Cranz-Übersetzers (hier in einer Fußnote von Dokument 48) enthält
eine irreführende Übertragung des ersten Satzes der Nachricht von 1783, welche in der Sekundärliteratur
seither kolportiert wird.
22
ersten Teils der Bibelübersetzung Deutsch und Hebräisch mit ihrer Hilfe unterrichtet
wurden. Damit wurde also auch die Tora gelehrt, wenngleich nicht, wie im Sinne der
Tradition, um ihrer selbst willen.
Aus Itzigs und Friedländers Schreiben an den König (35) geht ferner hervor, daß
Beschwerden wegen Lärms die Schule bereits mehrfach zum Umzug gezwungen hatten.
Deshalb sollte ein Haus gekauft werden, für welches Itzig und Friedländer Ende Dezember
1781 beantragten, daß es wie 'andere öffentliche Häuser' der Gemeinde, gemeint waren
Synagoge oder Lehrhaus, staatlicherseits nicht mit Abgaben belastet werde. Bereits am
darauffolgenden Tag wurde das Gesuch durch Kabinettsordre Friedrichs II. bewilligt.
Die königlichen Behörden erhielten somit vermutlich im Januar 1782 erstmals offiziell
Kenntnis von der Freischule. Dem Berliner Publikum wurde die Schule zwischen 1782 und
1784 durch Friedrich August Cranz etwas näher bekannt. Cranz, dem auch das
Freischulprogramm von 1783 vorlag, wußte zu berichten, daß einige ehemalige Lehrlinge
als künftige Buchhalter in auswärtige Handelshäuser aufgenommen seien; ein paar wollten
Medizin und Rechtswissenschaft studieren und seien zur Studienvorbereitung ins
Joachimsthaler Gymnasium übergegangen; einer sei von Basedows Dessauer Philanthropin
zur Fortsetzung seines Studiums an die Freischule gekommen. Weiter geht aus Cranz'
Beschreibung hervor, daß die Lehrer der Freischule auch als Privatlehrer, zum Teil 'in
christlichen Häusern', tätig waren (44). Und: Dem öffentlichen Examen hätten außer
Mendelssohn und einigen Gemeindeältesten auch christliche Gelehrte und Professoren
Berliner Gymnasien beigewohnt.
Die Nachricht von 1783 selbst fügt diesem Bild weitere Einzelheiten hinzu. Ab 1781
waren Bielefeld, Beschütz und Lesser Krotoschin als Lehrer und Inspektoren an der
Freischule tätig. Dieses Datum erschien vermutlich als erwähnenswert, weil damit der
Unterrichtsbetrieb in geregeltere Bahnen gelenkt wurde. Aus Mangel an Zeit, Geld und
Kräften, um Darüberhinausgehendes zu leisten, hätten sich Direktion und Lehrpersonal vor
allem um einen methodisch verbesserten Unterricht in Sprachen und Realien bemüht. Den
"weit wichtigeren Theil der Erziehung" (49) habe man bisher den Eltern sowie der Talmud
Tora, der traditionellen Lehranstalt der Gemeinde, überlassen. Hauptzweck der Nachricht
war nun aber nicht ein Resümee des Gegebenen, sondern die Ankündigung, man sei
nunmehr bereit, "das ganze Erziehungsgeschäft zu übernehmen": wenn, ja wenn innerhalb
einer Frist von vier Wochen genügend Kapital gespendet würde, um eine solche weitere
Aufgabe finanzieren zu können. Dazu kam es jedoch nicht. (39:)
Nach unserer Interpretation fand an der Freischule Unterricht in deutscher und hebräischer
Sprache sowie in der Tora anhand der Bibelübersetzung Mendelssohns, soweit sie
fertiggestellt war, bereits statt. Das bedeutsame Datum 1783 ergab sich daraus, daß
nunmehr sämtliche fünf Bücher Mosis in deutscher Übersetzung fertiggestellt waren. Die
Absicht der Direktoren ging nun dahin, auf dieser Grundlage religiöse Unterweisung in
einem vollständigeren Umfang als bisher anzubieten und für die Beschäftigung mit der
Halacha, dem 'Zeremonialgesetz', auch talmudisches Schrifttum einzubeziehen. Daß diese
Absicht scheiterte, markiert einen Einschnitt in der frühen Geschichte der Freischule. Es
bedeutete nämlich, daß die übrigen wohlhabenden liberalen Gemeindemitglieder dem
Unterfangen keine sonderliche Bedeutung beimaßen, während in den Augen der stärker
traditionsorientierten Gemeindemitglieder Itzig und Friedländer für die Veranstaltung
religiöser Unterweisung ohnehin nicht zuständig waren.
23
Damit war bis auf weiteres der Versuch gescheitert, der neuen Bildungskonzeption
innerhalb der gesamten jüdischen Gemeinde, bei Reformbefürwortern und Traditionalisten,
hegemoniale Geltung zu verschaffen. Es war nicht gelungen, die Grenze zwischen dem
legitimen (alten) und dem - noch - illegitimen (neuen) Wissen im Sinne der Reform zu
verschieben. Hegemoniale Geltung konnte nämlich die Bildungskonzeption nur unter der
Voraussetzung erlangen, daß an der Freischule eben nicht allein die Vermittlung säkularen
Wissens, sondern auch religiöse Erziehung, in erneuerter Form und unter Einschluß des
Zeremonialgesetzes (wenn auch sicherlich nicht im herkömmlichen Umfang) ihren Ort
hatte. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird wieder die strukturelle Parallele zur
neoprotestantischen bzw. zur neuhumanistischen Bildungskonzeption deutlich, in denen
die Komplementarität von Unterricht und Erziehung, von Kenntnisvermittlung und
Gesinnungsbildung ebenfalls eine zentrale Rolle spielte (Lohmann 1984, 1998). Die
Programmschrift von 1783 zeigt, daß Itzig und Friedländer hofften, mit der Freischule
inskünftig sowohl die häusliche Religionserziehung durch Privatlehrer zu ergänzen (wenn
nicht zu ersetzen) als auch die traditionelle Talmud Tora allmählich überflüssig zu machen.
So läßt sich erklären, warum der Lehrplan für talmudische Studien in der Nachricht
einigermaßen weit gespannt war und über Bibellektüre im engeren Sinne deutlich
hinausging. Die Bestimmung des Verhältnisses zu den reichen liberalen Hausvätern (504)
wie auch zur Talmud Tora zog sich fortan wie ein roter Faden durch die Geschichte der
Freischule - bis in die Zeit der Gründung der Gemeindeschule hinein (145, 613, 672, 684).
Als sich abzeichnete, daß die Freischule keine Einrichtung werden würde, mittels welcher
sich der Hegemonieanspruch der Modernisierer in der Judenschaft umfassend realisieren
ließe, verlor einer der beiden Stifter das Interesse an ihr: Im Jahre 1784 verließ David
Friedländer die Direktion. Wenn er die Freischule auch weiterhin gelegentlich unterstützte,
so war ihm der Radius der Handlungsmöglichkeiten, die die Schule nun noch zu bieten
schien, als eigenes Tätigkeitsfeld zu begrenzt.26 (40:)
Zugleich spielte sich dieser Abschnitt der Freischulgeschichte vor einem historischen
Hintergrund ab, der durch die zunehmende Orientierung der neuen jüdischen Oberschicht
am Lebensstil der christlichen höheren Stände gekennzeichnet war. Um diese Zeit begann
auch die Öffnung der Gymnasien für jüdische Knaben, die im preußischen Allgemeinen
Landrecht (1794) kodifiziert wurde. Daß von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde
- außerdem leisteten die Reichen sich weiterhin Privatlehrer für den Unterricht und die
Erziehung ihrer Kinder - trug mindestens ebenso wie der Widerstand der Traditionalisten
zum Scheitern des Hegemonieanspruchs bei, den Itzig und Friedländer ursprünglich mit
der Freischule verbanden. In der Tat: Fortan wurden an der Freischule überwiegend
mittellose Knaben beschult.
Trotzdem war es nicht, wie Graetz annimmt, "ein Paradox der Berliner Haskala, daß die
Schulen, deren Gründung sie veranlaßte, überwiegend zur Erziehung und Bildung von
Kindern aus unbemittelten jüdischen Familien dienten" (Graetz 1996, 344). Die
Überlegung, daß die Kinder der wohlhabenden Bürgerfamilien "eigentlich in erster Linie
Kandidaten für die neuen Schulen gewesen wären", verfehlt den funktionalen Kern
aufklärerisch-philanthropistischer Schulreform. Nicht nur auf christlicher (dazu Herrmann
1996, 153), sondern auch auf jüdischer Seite bezweckte die Pädagogik der Aufklärung die
Konstituierung eines neuen, des modernen Bürgertums - vor allem einer starken
Mittelschicht. Denn mit einer reichen Oberschicht allein ließ sich die neue Wirtschafts26
Eine eingehende, von Uta Lohmann vorgenommene Analyse der Bildungskonzeption David Friedländers
erscheint in Kürze in dieser Schriftenreihe.
24
und Gesellschaftsordnung nicht aufbauen. Das war 'ohne Rücksicht auf ReligionsVerschiedenheit' Angehörigen der neuen ökonomischen Eliten und Aufklärern auf beiden
Seiten klar. Daher rechtfertigt also auch jener frühe Einschnitt in der Geschichte der
Freischule nicht, sie als Armenschule zu bezeichnen.
Ihre Direktoren strebten für sie übrigens die Bezeichnung als Bürgerschule an, und es wird
sich noch zeigen, daß sie mit diesem zeitgenössischen Terminus weit angemessener erfaßt
ist (133, 141). Darin lag hegemoniepolitische Logik: Denn in der Geschichte bedurfte es
immer "freier, aber zunächst gerade nicht gütermäßig reicher, sondern armer Männer", um
neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen hervorzubringen (Heinsohn/ Steiger 1996,
114, 117). Die Aufgabe, auf der Basis einer reformierten Erziehung der ärmeren
Bevölkerungsschichten einen neuen mittelständischen Erwerbsstand zu bilden, blieb
bestehen. Sie war, wie auch die zuletzt von Itzig herausgegebenen Freischul-Nachrichten
verdeutlichen (141, 142), ein entscheidendes Moment dieser frühen Phase der
Konstituierung eines modernen jüdischen Bürgertums. Daß die Funktion der Freischule
mehrmals direkt oder indirekt im Verhältnis zur Schulzischen kaufmännischen
Königlichen Handlungsschule erörtert wurde, die von den 1791 bis 1806 in Berlin bestand,
ist von daher erklärlich (141, 161, 529).27 (41:)
Entwicklungen in der folgenden Dekade
Nicht nur in Berlin wurde durch das Verharren der jüdischen Gemeinden in der Tradition
den weitgesteckten Hoffnungen, welche Angehörige der ökonomischen Elite und Maskilim
mit ihren Schulplänen verbanden, ein Dämpfer versetzt. Auch Euchel kam mit seinem
Schulplan in Königsberg nicht weiter und legte 1784 einen zweiten für eine Reformschule
im dänischen Kiel vor. Im selben Jahr übernahm Isaak Daniel Itzig die alleinige Direktion
der Freischule. Der genaue Zeitpunkt von Friedländers Ausscheiden aus der Direktion ist
nicht bekannt; er selber konnte sich später nicht mehr genau daran erinnern (150, 593).
Aber dieser Rückschlag unterbrach die Aufklärungsbestrebungen im Judentum
keineswegs, im Gegenteil. In der Zeitschrift HaMeassef wurde weiterhin versucht,
Wesselys Bildungskonzeption und Mendelssohns Bibelübersetzung auch bei den
Traditionalisten Akzeptanz zu verschaffen. Insbesondere Euchel bemühte sich, dem
Gedanken einer notwendigen 'moralischen Verbesserung' der Juden mehr Geltung zu
verschaffen, und mit gleicher Stoßrichtung drängte Elia Morpurgo, der italienische
Kaufmann und Gelehrte, auf eine veränderte Aufgabenstellung jüdischer Schulen, auf neue
Moral- und Lehrbücher, auf Differenzierung in der Vorbereitung zum bürgerlichen Erwerb
und zum Gelehrtendasein, auf Übernahme der sephardischen Aussprache nach dem
Vorbild der Amsterdamer Juden (53, vgl. 664).
Auch die Einrichtung einer Buchdruckerei und Buchhandlung bei der Freischule - sie
wurde im Februar 1784 behördlich genehmigt - stand primär in diesem Zusammenhang,
wenn sie auch nebenbei als Finanzquelle für die Freischule in Betracht kam. Zum einen
teilte Daniel Itzig, der größte Geldgeber, die weitgespannten Zielsetzungen, die sein Sohn
und anfänglich auch sein Schwiegersohn mit der Freischule verbanden, bei aller
27
Es würde sich allerdings auch lohnen, der Funktionszuschreibung der Freischule für subalterne
kaufmännische Tätigkeiten und der Abgrenzung zur Schulzischen Handlungsschule genauer nachzugehen.
Immerhin hatte Gedike im Gründungsjahr der Handlungsschule, 1796, am Gymnasium zum grauen Kloster
sogar eine - im gymnasialen Lehrplan damals ansonsten völlig unübliche - Lektion in Handlungswissenschaft
eingeführt: für Schüler, die sich vom Griechischen dispensieren lassen wollten; zur Geschichte der
Handlungsschulen in Berlin vgl. Karo u.a. 1993, hier 434.
25
Spendenbereitschaft womöglich doch nicht ganz. Vielleicht überstieg aber auch wegen der
Krise, in welche Banken und neue Wirtschaftszweige in den 1780er und 1790er Jahren
gerieten, eine weitergehende Finanzierung der Schule selbst seine Mittel. Mit dem Verkauf
der jüdischen Kalender, der von dem bisherigen Pächter Gerson an die Druckerei und
Buchhandlung der Freischule überging, wurde versucht, die Schule zumindest teilweise
von Spendenbereitschaft unabhängig zu machen. Zum anderen - und vor allem - dienten
Buchdruckerei und -handlung dazu, das Schrifttum der Haskala zu verbreiten (77)28.
Allmählich faßte nun auch unter den preußischen Reformbeamten die Auffassung Fuß, daß
die Aufklärung der jüdischen Nation ein förderungswürdiges Vorhaben sei und die
Schließung der Freischule demnach ein "öffentlicher Verlust" wäre (56). Itzigs Antrag an
den Prinzen, die Schule mit dem königlichen Namen "verewigen zu dürfen" (72), erschien
als naheliegender Schritt.
Die Zeit der friedlichen Modernisierung (Lowenstein) jedoch war mit dem Tod Friedrichs
II. und Moses Mendelssohns zuende. Bei den Reformbefürwortern in der (42:) Berliner
Judenschaft machte sich Enttäuschung über das langsame Voranschreiten der rechtlichen
Gleichstellung breit. Sie manifestierte sich in einer wachsenden Zahl von Konversionen,
manchmal ganzer Familien der Oberschicht, in Verheiratungen mit Christen, erhöhten
Scheidungsraten, im Unabhängigkeitsstreben insbesondere einiger jüdischer Frauen der
Oberschicht, die als Salonières in die Geschichte eingegangen sind. Für die Jahrzehnte von
1790 bis 1830 redet man geradezu von einer 'Taufepidemie'. Die Gegensätze zwischen
Modernisierern und Traditionalisten, zwischen Reich und Arm verschärften sich. Die
Berliner jüdische Gemeinde geriet in eine tiefgreifende Krise.
Bürgerliche Verbesserung der Juden war das Schlagwort jener Jahre. Es verhalf zwar auch
alten antijüdischen Ressentiments zu neuem Ausdruck (87). Vor allem aber wurde es zum
Kampfbegriff der Modernisierer im Ringen um hegemoniale Vorherrschaft innerhalb des
Judentums (Hinske 1990; Lowenstein 1994, 77ff). Friedländer, der nach Mendelssohns
Tod seine Stellung als politisch führender Kopf der preußischen Judenschaft ausbaute und
sich dazu auch in direkte Auseinandersetzung mit rabbinischen Autoritäten begab (90),
wurde zum Promotor der rechtlichen Gleichstellung. Zusätzliche Dynamik erhielt diese
Frage durch die Revolution in Frankreich. Bittschriften französischer Juden an die
Nationalversammlung wurden von Lazarus Bendavid, dem späteren Nachfolger Itzigs als
Freischuldirektor, umgehend in deutscher Übersetzung publiziert. Im Zentrum dieser
Petitionen standen die Forderungen danach, die Juden von der naturgegebenen Gleichheit
der Menschen nicht länger auszuschließen, sondern auch sie an der allgemeinen
Glückseligkeit teilhaben zu lassen; nach dem Recht auf freie Ausübung der
Religionsgebräuche; nach Freiheit der Person und des Vermögens. Diese für die
Herausbildung des modernen Bürgertums allgemein grundlegenden Forderungen waren
gleichzeitig mit einem Datum verknüpft, welches die ökonomische Oberschicht der
preußischen Juden seit längerem auf besondere Weise betraf: die schon erwähnte
Solidarhaftung bzw. solidarische Verbindung der jüdischen Gemeinden. Sie wieder
abzuschaffen, war ein vorrangiges Anliegen, wie Friedländer, Daniel Itzig, Isaac Benjamin
Wolf und Isaac Daniel Itzig wortführend bekräftigten (92), literarisch flankiert z.B. von
Euchels satirischem Theaterspiel Reb Henoch (Auszüge bei Lowenstein 1994, 222ff).
In der Auseinandersetzung um die 'bürgerliche Verbesserung der Juden', später
Emanzipation genannt (Brammer 1987), ging es immer auch um das alte, durch die
28
Es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß etwa die Absicht bestanden hätte, Absolventen der Freischule zu
Druckern, Setzern oder Buchhändlern auszubilden.
26
Abdrängung der Juden in bestimmte Erwerbszweige begründete Vorurteil, daß sie
mehrheitlich "von ihrer kleinen gewinnsüchtigen Schacherei und von dem damit
verbundenen geschäftigen Müßiggange, sich nie losreißen werden" (101). Im Mittelpunkt
dieser Auseinandersetzung stand die Frage nach der geeigneten Strategie, die vor allem
eine Frage der politischen Kräfteverhältnisse war: Sollte erst eine allmähliche Erziehung
durch den Staat und seine Institutionen stattfinden29, die dann (43:) eines Tages durch
vollständige rechtliche Gleichstellung aller Juden gewissermaßen belohnt würde, oder war,
umgekehrt, eine uneingeschränkte Gleichstellung die Voraussetzung dafür, daß jene
moralische Verwilderung und Rückständigkeit, die den traditionsorientierten, ärmeren
Juden - vorneweg seitens der neuen jüdischen Eliten - nachgesagt wurde, sich
verflüchtigen würde?
Diese Frage war seit dem Erscheinen von Dohms Schrift in der Diskussion, sie blieb es bis
zum Gleichstellungsedikt vom 11. März 1812, und sie verschwand auch im Vormärz zu
keinem Zeitpunkt. Mit ihr waren Reformatoren, Pädagogen gefordert: Die geistige,
sittliche und bürgerliche Verbesserung der Juden hing, so hieß es, von ihnen ab (102).
Preußische Reformbeamte begannen, sich der Auffassung der Maskilim anzuschließen, daß
die in der Jugenderziehung tätigen polnischen Talmudgelehrten und Schulmeister die
'unbürgerlichen Grundsätze der Eltern' verstärkten (103); erste Pläne einer gemeinsamen
Beschulung christlicher und jüdischer Kinder wurden entwickelt (das mecklenburgische
Altstrelitz war eines der frühen Beispiele). Daß die Freischule unterdessen nicht im
Windschatten des jüdischen Kulturkampfes (Feiner 1997) lag, zeigt etwa die Streitschrift
Naumann Simonsohns, vormals ein Inspektor der Freischule, gegen die Meassfim, die
Herausgeber der Zeitschrift HaMeassef. Simonsohn bezichtigte sie, die Schöpfer jener
moralisch-religiösen Verderbnisse zu sein, welche "wie der Medusa Schlangen sich um
unsere Knaben winden und mit ihrem Speichel sie vergiften" (104; zu Simonsohn vgl.
Lewin 1904, Feiner 1995).
Im Zusammenhang mit den Gleichstellungsdebatten in der französischen
Nationalversammlung nahm auch der Antijudaismus moderne Formen an. Exemplarisch
hierfür sind Passagen in Johann Gottlieb Fichtes Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des
Publicums über die französische Revolution von 1793. Saul Ascher faßte sie so zusammen:
Rousseau schuf sich eine Welt, welche die allgemeine Glückseligkeit der Menschen
begründen sollte. Fichtes Ideengang aber besagte, daß der kleine Grad von Glückseligkeit,
der der jetzigen Gesellschaft eigen sei, durch den Juden verbittert werde; daß der Jude,
gleich dem Zerberus der Hölle, vor den Pforten des Tempels der Glückseligkeit liege und
allen den Zugang versperre (Ascher 1794/ 1988, 11f; vgl. Grab 1992).
1793 und 1795 kamen mit der zweiten und dritten Teilung Polens Süd- und Neuostpreußen
als neue Gebiete hinzu. Die jüdische Bevölkerung der preußischen Monarchie erhöhte sich
damit um achtzig Prozent. Aus der Sicht der Verwaltung waren dringend
Regulierungsmaßnahmen nötig: Es drohe sonst, daß Juden aus den neuen Landesteilen
29
Dies hatte schon Dohm vorgeschlagen, aber ein entsprechendes Vorgehen stand im Gegensatz zur rechtlich
verbrieften Autonomie der jüdischen Gemeinden. Eine von Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1787 eingesetzte
Regierungskommission beriet unter Anhörung der Generaldeputierten der Judenschaft über rechtliche und
religiöse Reformen: "In ihrem Abschlußbericht vom 10. Juni 1788 schlug die Kommission u.a. eine
Verbesserung des jüdischen Schul- und Erziehungswesens vor. Zur Erreichung dieses Ziels empfahlen die
Kommissionsmitglieder die Umwidmung von Mitteln der verschiedenen jüdischen Stiftungen zur
Finanzierung von Lehranstalten, die Einführung des Deutschen als Unterrichtssprache, die Gründung von
Lehrerseminaren und die Einstellung von inländischen Schulmeistern" (Dietrich 1996, 33; Freund 1912 I,
48).
27
"zum Nachtheil der Bürger u. Juden in die alten Provintzen überschwemmen" (131). Da
lag der Vorschlag des Finanzrats Wloemer nahe, die Erziehungsreform in diesen Gebieten
mithilfe von Absolventen der Freischule zu (44:) bewerkstelligen: Von ihnen könnten
"manche gute Schulmeister genommen werden" (ebd.). Die rechtlichen Voraussetzungen
für weitreichende staatliche Eingriffe in die jüdischen Gemeinden wurden mit dem
Generaljudenreglement für Süd- und Neuostpreußen von 1797 geschaffen. Darin wurden
die Befugnisse der Rabbiner drastisch beschränkt, und es war vorgesehen, die 'vornehmlich
den Vermögenden beschwerliche' solidarische Verbindung der Gemeinden abzubauen
(132). David Friedländer wurde beauftragt, einen Plan für die Einrichtung der jüdischen
Schulen in Südpreußen vorzulegen, und er entwickelte diesen gemeinsam mit Isaac Euchel
und Lazarus Bendavid (133, 135; dazu U. Lohmann 1998).
Aus Isaac Daniel Itzigs Biographie
Für die preußischen Juden war der Leibzoll im Dezember 1787 abgeschafft worden.
Vermutlich schon seither wurde die Freischule vermehrt von nicht aus Berlin stammenden
Schülern frequentiert; erste Zahlen dazu finden sich allerdings erst im Freischulprogramm
von 1803 (141). Eine Form behördlicher Anerkennung der Freischule bestand darin, daß
auswärtigen 'Judenburschen' das Aufenthaltsrecht in Berlin gewährt war, wenn und solange
sie nachweisen konnten, Schüler der Freischule zu sein. Ein entsprechender, von Itzig
unterzeichneter Legitimationszettel diente gegenüber der städtischen Polizei als Nachweis
der Aufenthaltsberechtigung. Daß diese Regelung von manchen genutzt wurde, die zu
Erwerbszwecken, weniger zum Schulbesuch nach Berlin einreisten, dürfte ein Hintergrund
für die Erneuerten Gesetze für die Lehrlinge gewesen sein, die Itzig 1796 veröffentlichte
und mit denen er auf eine verbesserte Disziplin bezüglich des Schulbesuchs zielte (108).
Als Urkunde für die Daseinsberechtigung der Freischule wiederum akzeptierten die
städtischen Polizeibehörden die zwölf Jahre zuvor erteilte Konzession für die orientalische
Buchdruckerei und Buchhandlung (109).
Vielleicht um diesen imgrunde rechtlich ungesicherten Status zu bereinigen, es erwies sich,
daß dies durchaus nötig war (144, 165), und wegen mangelnder Unterstützung seitens der
Berliner Judenschaft - deren ungebildeter Teil "glaubt, die Religiosität litte durch
Aufklärung und wißenschaftliche Kenntniße" - beantragte Itzig 1798 erneut, daß die
Schule den Namen des Königs tragen dürfe. Im diesbezüglichen Schreiben erwähnte er
erstmals, daß er nicht nur jüdische Schüler, sondern auch andere Glaubensgenossen "ohne
Unterschied" an der Freischule aufnehme. Dies geschah sicher auch aus der Idee
gegenseitiger Toleranz heraus, vor allem aber ging es wohl darum, die Schulgeldeinkünfte
zu verbessern. Weiter schrieb Itzig nämlich, daß er die Schule "ganz allein" aus eigenen
Mitteln finanziert habe, bis "das französische Gouvernement mich ins Unglück stürzte"
(124). Was war geschehen?
Noch 1791 war es nach zeitgenössischer Wahrnehmung bemerkenswert, daß beim
Hofbaurat Itzig "schon mehrere Juden als Knechte" und "Frauenzimmer, als Mägde"
arbeiteten und daß derselbe, "wenn er robuste arme Juden sah, sie dadurch vom Betteln
abgezogen, daß er sie als Arbeiter bei dem Chausseebau" anstellte (101; zum folgenden
Cauer 1965, zum aufklärerischen Arbeitsbegriff Mayer 1999). (45:)
Isaac Daniel Itzig war seit Januar 1790 vereidigter Hofbauinspektor, seit November 1791
trug er den Titel eines Königlichen Hofbaurats. Sein Gut lag an der zwischen Berlin und
Potsdam geplanten Chaussee; dabei handelte es sich um eine seit langem überfällige
Maßnahme zur Verbesserung der Infrastruktur, deren Hauptunternehmer Itzig von 1788 bis
28
zum Bauabschluß 1793 war. Für die Deckung der Baukosten hatte er der preußischen
Regierung größere Kredite gewährt; diesen und seinem unermüdlichen persönlichen
Einsatz war es zu verdanken, daß der Bau vorankam und trotz zahlreicher Widrigkeiten
schließlich auch erfolgreich abgeschlossen wurde. Daneben war Isaac Daniel Itzig im
Immobilienhandel sowie auch anderweitig in großem Stil als Kreditgeber tätig, darunter
für Mitglieder des preußischen Adels und Königshauses, und nicht immer hatte das
Bankhaus Itzig & Compagnie es dabei mit zuverlässigen und bis zum Schluß
zahlungskräftigen Schuldnern zu tun. Nach Abschluß des Chausseebauprojekts (zugleich
das Ende von Itzigs Bemühung um das Chausseebau-Monopol) wandte er sich verstärkt
dem Transportgeschäft zu: dem Holzimport aus Sachsen; Großlieferungen von Getreide für
die preußische Rheinarmee, die er zusammen mit dem Bankhaus Salomon Levy Erben
kreditierte (1793); der Proviantierung der Armee, als in Südpreußen der polnische
Aufstand ausbrach (1794); ferner größeren Heereslieferungen gemeinsam mit dem
Frankfurter Bankier Georg Stophel, und zwar im Zusammenhang mit dem Baseler Frieden,
bei dem Preußen auf seinen linksrheinischen Besitz verzichtete und der französischen
Republik umfangreiche Wirtschaftshilfe versprach (1795/96).
Anfang des Jahres 1796, als die vom Konvent für die erfolgten Lieferungen in Zahlung
gegebenen Wechsel infolge des französischen Staatsbankrotts platzten, brach das
Bankhaus Itzig & Co. zusammen. Im Jahr darauf wurde der Konkurs verfügt; seine
Abwicklung zog sich über mehrere Jahre hin. Daniel Itzig, der 1799 starb, hinterließ seinen
Kindern testamentarisch eine jährliche Rente aus dem verbliebenen Vermögen. Sein Sohn
Isaac Daniel fand mit seiner Familie Zuflucht in der Bartholdyschen Meierei vor dem
Schlesischen Tor, deren Pächter er wurde, und betrieb fortan Lebensmittelhandel in
kleinerem Stil. Er starb 1806 im Alter von 56 Jahren, vermutlich an Typhus, nachdem die
Gegend vor dem Schlesischen Tor wieder einmal längere Zeit überschwemmt gewesen
war. - Cauer zufolge schadeten die wechselvollen wirtschaftlichen Schicksale der Familie
Itzig ihrem Ansehen in den gesellschaftlich führenden Kreisen nicht, wenn auch das
Aufsehen um den Konkurs des Bankhauses groß war und Zeitungen die Nachricht in allen
großen Handelsorten verbreiteten. Die Königliche Bank machte ein Stützungsangebot, der
Hamburger Kaufmann Sieveking betätigte sich als Vermittler zwischen Berlin und Paris
bei den langwierigen Bemühungen um die Konkursabwicklung.
Mentalitätshistorisch gesehen trugen die damaligen Ereignisse jedoch dazu bei, daß
jüdische Erziehungseinrichtungen fortan unterschwellig mit der neuen Wirtschaftsform,
den sich europaweit ausdehnenden Handels- und Bankgeschäften, den Chancen und
Risiken von Finanztransaktionen in bis dahin unbekannten Größenordnungen, konnotiert
wurden. Bei Cranz äußerte sich diese Stimmung als Lob für "das musterhafte UnterrichtsInstitut in Berlin", welches er nun bis nach Hamburg trug (129). Bei anderen breiteten sich,
zumal seit Grattenauers Wider die Juden von 1803 (46:) (vgl. 142), die modernen
Ressentiments gegenüber dem Juden aus: etwa, wie er mit geschulter Denkkraft und
größter Planmäßigkeit seinen Eigennutz auf Kosten des biederen Christenmannes
befriedige (130) - eine Vorstellung, die bis in die Zeit des Nationalsozialismus nahezu
unverändert fortbestand. Bendavid versuchte in einer Gegendarstellung, das entstehende
Zerrbild jüdischen Unterrichts, von Bildung als Verschwörung, zu korrigieren (136). Aber
im Schatten der sichtbaren Ereignisse, verwoben mit älteren, sagenhaften Vorstellungen
über die Schul, über Synagoge und Talmudschule, wurde das extrem ambivalente, moderne
29
Stereotyp der Judenschule geboren und im politischen Unbewußten der entstehenden
kapitalistischen Eigentumsgesellschaft verankert.30
Exkurs über die 'Gesellschaft der Freunde'
Die Reformbefürworter in der Berliner Judenschaft schufen sich Anfang der 1790er Jahre
eine neue Institution: die Gesellschaft der Freunde (zum folgenden Lesser 1842)31.
Anfänglich setzte sich die Gesellschaft bewußt von den Reichen und Etablierten ab; man
befürchtete, daß sie sonst bald von ihnen kontrolliert würde. Unter den
Gründungsmitgliedern waren Markus Elieser Bloch, Isaac Euchel und Aron Wolfssohn;
Schulreformer wie Joel Bril Löwe und Israel Jacobson kamen hinzu. Als die Gesellschaft
der Freunde im Winter 1791/92 von einigen Dutzend meist unverheirateten jungen
Männern gegründet wurde, erregte der Vorgang in der jüdischen Gemeinde unerhörtes
Aufsehen. Auf der Gründungsversammlung legitimierte Joseph Mendelssohn den Club
damit, daß die Neuerer von den Traditionalisten verfolgt, daß ihnen Armenunterstützung
und Krankenpflege, ja sogar das Begräbnis verweigert würden. Die Gesellschaft der
Freunde war ein Bildungsverein mit Vorträgen über Geschichte, Aufklärung und
Menschenrechte, ein Ort, wo das Verhältnis zur christlichen Gesellschaft besprochen
werden konnte, ohne daß man sich der 'falschen Aufklärung' mit ihrem 'Indifferentismus'
anheimgab, ein Wohltätigkeitsverein, eine Versicherungsgesellschaft in allen Fällen
unverschuldeten Unglücks (Krankheit, Verarmung, Arbeitsunfähigkeit), eine Renten- und
Sterbekasse, ein Existenzgründungsfonds.
Anders als die berühmten Salons der Henriette Herz und der Rahel Levin, die Angehörigen
aller Konfessionen offenstanden, diente die Gesellschaft nur jüdischen Mitgliedern, den
Statuten zufolge ohne Unterschied des Standes und Ansehens, als Ort geselligen
Beisammenseins und 'gegenseitiger Mitteilung', wie sie ihn weder unter den traditionellen
Gemeindeeinrichtungen noch in der christlichen Gesellschaft (47:) vorfanden. Mit
Gründung der Ressource der jüdischen Kaufmannschaft (1794) wurde sie ein "geselliger
Verein": Es wurde ein Lokal angemietet, 1821 für diesen Zweck ein Haus mit Garten
gekauft, "wo die Mitglieder ungestört in geselliger Heiterkeit Erholung und Unterhaltung
finden" und wo in regelmäßigen Abständen, durch zusätzliche freiwillige Beiträge
finanziert, gemeinsame Mahlzeiten eingenommen werden konnten: "Israeliten, denen zu
keiner christlichen Ressource der Zutritt vergönnt war, und die sich selbst an allen
öffentlichen Vergnügungsorten, wo man sie nur zurückstoßend behandelte, nicht behaglich
zu fühlen vermochten, (fanden) plötzlich einen Kreis, wo sie die Sorgen des Lebens
vergessen konnten, wo ohne Unterschied der Person, gegenseitig nur Wohlwollen und
Freundlichkeit herrschte" (Lesser 1842, 29).32
30
Zum Stereotyp der Judenschule gehören auch andere, vergleichsweise harmlose Vorstellungsinhalte, so
der eines lauten und chaotischen, 'unordentlichen' Unterrichtsbetriebs: "Hier geht's ja zu wie in der
Judenschule!" - Zur Geschichte des Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft Rürup 1987;
Anhaltspunkte für eine weitere Auseinandersetzung mit jenem Stereotyp, obwohl sie es als solches nicht
thematisieren, bieten daneben Bruer 1991 und die Beiträge in Schoeps/ Schlör 1995 sowie in Gilman/ Jütte/
Kohlbauer-Fritz 1998.
31
Sie ist wohl nicht identisch mit der Litterarischen Gesellschaft der Freunde der Humanität, deren
Vorsitzender Bendavid von 1798 bis mindestens 1806 (172) war und vor welcher er mehrere Vorträge hielt,
so anläßlich ihres 'Stiftungstages' seine Gegendarstellung Über den Unterricht der Juden (136). Lesser
spricht stets nur von der Gesellschaft der Freunde.
32
Ähnliche Intentionen belegt Mayer (1999) für die Hamburger Patriotische Gesellschaft; vgl. Grab (1966,
1980) zu den Freimaurerlogen. - Lowenstein (1994, 131) zufolge konnten der Gesellschaft der Freunde
später auch Christen beitreten; bei Lesser ist davon nicht die Rede.
30
Satzungsgemäß sollte die Gesellschaft der Freunde sich "nie vermessen, mit irgend einer
nach Weisheit forschenden oder Weisheit besitzenden Gesellschaft in irgend einer
Parallele" zu stehen (Lesser 1842, 13): Nicht theoretische Spekulation, sondern tätiges
Wirken sei ihr Geschäft. Jeder neu Aufgenommene mußte eine einmalige Summe in Höhe
von anfangs drei, später fünfzehn Reichstalern zahlen. Frauen konnten gar nicht,
unmündige Jünglinge nur mit bestimmten Einschränkungen Mitglieder werden.
Auswärtige Mitglieder waren zugelassen. Der Wirkungskreis der Gesellschaft erstreckte
sich bis Amsterdam, Breslau, Hamburg und Königsberg.
Erst 1807, als viele Gründungsmitglieder selbst wohlhabende Familienväter geworden
waren, wurden Reiche und Verheiratete unter bestimmten Bedingungen zugelassen. Man
beschloß Unterstützungsregelungen für Witwen und Waisen verstorbener Mitglieder. Alle
waren aufgefordert, Kranke zu besuchen, Erwerbsmöglichkeiten und Bekanntschaften zu
vermitteln, über die Beitrittssumme hinaus zu spenden. Zeitweilig besoldete die
Gesellschaft eigens einen Arzt und mehrere Krankenpfleger. Bedürftige Mitglieder wurden
unter Wahrung ihrer Anonymität unterstützt. Ein Thema, welches den Mitgliedern von
Anfang an dringlich war, betraf die Neuregelung des Beerdigungswesens. Worum
Mendelssohn und Markus Herz sich vergeblich bemüht hatten, gelang der Gesellschaft der
Freunde: Sie setzte für ihre Mitglieder und deren Angehörige durch, daß die Aufbahrung
eines Toten über die traditionelle Dreitagesfrist bis zur Beerdigung hinaus verlängert
wurde. Bereits 1794 wurde mit der Beerdigungsgesellschaft der Gemeinde ein
entsprechendes Abkommen geschlossen. Diese und andere das Beerdigungswesen
betreffende Reformen, die die Gesellschaft einführte, wurden erst ein Vierteljahrhundert
später offiziell übernommen.
Zahlreiche Sympathisanten, die in der Gründungsversammlung zunächst anwesend waren,
hatten sie nach Verlesung der Statuten wieder verlassen, weil sie Sanktionen seitens der
Traditionalisten befürchteten. Aber der ursprüngliche Mitgliederbestand von 87, wenig
später 118 Personen konsolidierte sich nicht nur, sondern wuchs in (48:) den folgenden
zweieinhalb Jahrzehnten auf über 300 an. Ebenso wuchs das Kapitalvermögen der
Gesellschaft, über dessen Anlage sich der geschäftsführende engere Vorstand von den
Kaufleuten und Bankiers unter den Mitgliedern - Samuel Berend, Baruch Lindau, Joseph
Mendelssohn u.a. - beraten ließ. Bereits seit März 1792 verfügte die Gesellschaft über eine
behördliche Genehmigung; ihre Finanzen wurden von einem Beauftragten des Berliner
Magistrats geprüft. Vorstöße von Seiten der Gemeinde, sie zu kontrollieren, wies sie mit
dem Hinweis zurück, sie sei keine Gemeindeeinrichtung. - Die Gesellschaft der Freunde
war ein erstrangiger Faktor im Transformationsprozeß der Berliner jüdischen Gemeinde.
Bisher ist die Gesellschaft kaum erforscht worden; dies erklärt wohl auch, daß ihre
Beziehungen zur Freischule ganz unbeachtet geblieben sind. Tatsächlich unterstützte die
Gesellschaft die Schule materiell, und zwischen beiden Einrichtungen bestanden vielfältige
personelle Verbindungen. Dieser Sachverhalt erschließt sich, nebenbei bemerkt, erst aus
den zunächst belanglos erscheinenden, kleinen Notizen aus dem Alltag der Freischule in
diesem Band. Um nur einige Beispiele zu nennen: Zwei der Gründungsmitglieder der
Gesellschaft, Levin Wulff Rintel und Jacob Aronssohn, waren Inspektoren der Freischule
und teilten sich mit Isaac Daniel Itzig die Aufgaben des Direktorats, Rintel ab 1797,
Aronsson ab 1803. Auch andere Freunde waren an ihr tätig: der Kupferstecher Heinrich
Bendig als Zeichenlehrer, Abraham Ries als Pedell und Kasseninspektor. Weitere kamen
auf Vermittlung von Freunden an die Freischule; beispielsweise schlug Rintel die
Hauslehrer Meyer Hirsch und Kuntze als Freischulinspektoren vor (181). Drei Wochen
nach dem Tod Daniel Itzigs (am 21. Mai 1799) sprang die Gesellschaft auf Vorschlag des
31
Vorstandsmitglieds Isaac Euchel mit einem Geldgeschenk ein. Auch weitere Geldspenden
sind belegt (142, 222, 238). Beide Institutionen, die Freischule für ihre öffentlichen
Prüfungen, die Gesellschaft für ihre Mitgliederversammlungen, nutzten anfangs den Saal
im Fließschen Hause in der Spandauer Straße (215, 262), später stellte die Gesellschaft der
Freischule das von ihr gemietete Lokal dafür zur Verfügung (508). Zahlreiche Freunde,
unter ihnen führende Köpfe der Gesellschaft wie Joseph Mendelssohn, Itzig Goldschmidt,
Wilhelm Cassel, finden sich unter den Freischulkontribuenten, deren Namen Bendavid
regelmäßig veröffentlichte; andere unterstützten mittellose Zöglinge der Freischule direkt.
Es ist allerdings auch nicht zu verkennen, daß, je mehr die Gesellschaft ein Mittelpunkt des
reichen liberalen Establishments der Berlinischen Judenschaft wurde, die Unterstützung
der Freischule nicht gerade im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit lag. Doch dazu später.
Die 'Itzigsche Freischule' bis 1806
Die Verbindung zur Gesellschaft der Freunde erhellt nicht nur die soziale Position der
Freischule im Zeitraum zwischen 1792 und 1806/07. Sie erklärt auch, daß und wie sich die
Schule trotz des ökonomischen Desasters, in das Isaac Daniel Itzig geraten war,
konsolidieren konnte. Ihre beiden ersten öffentlichen Programmschriften - die Nachricht
von 1783 (49) wurde nie mehr erwähnt - erwecken den Eindruck, daß die Freischule ein
Vierteljahrhundert nach ihrer Gründung endlich ihren Platz gefunden hatte. Um 1803
zählte sie 65 Zöglinge, war also für damalige Verhältnisse (49:) alles andere als eine kleine
Schule.33 Die Freischule umfaßte drei Klassen mit inhaltlich und methodisch klar
gegliederten Lektionsplänen (zur Unterrichtsorganisation um 1800 Lohmann 1982, 1984b).
Unterricht in hebräischer Sprache war darin ein zentraler Bestandteil. Er bewahre,
verbunden mit dem Unterricht "in der Religion und Moral", die Zöglinge "gegen so viele
Vorurtheile, die sich in die Ausübung unsrer Religion eingeschlichen haben". Auch
halachische Bestimmungen, nämlich, wie es hieß, die "positiven Vorschriften des
Ceremonialgesetzes", waren Teil dieses Unterrichts (141, 199).
Aus den letzten Jahren von Itzigs Direktorat sind drei Momente hervorzuheben, die für die
weitere Entwicklung richtungsweisend wurden: Es zeichnete sich ab, daß die Talmud Tora
zur Verliererin im Modernisierungsprozeß werden würde; der preußische Staat begann, die
jüdischen Schulen seiner Verwaltungshoheit zu unterstellen; die Freischule geriet in jenen
strukturellen Zwiespalt, der ihre weitere Existenz bis zum Schluß bestimmen würde.
Erstens: Angesichts der Zuwanderung armer Juden aus den polnischsprachigen Gebieten
verschärften Staatsbehörden und Berliner Magistrat ihre Gegenmaßnahmen. Vor diesem
Hintergrund ging 1803 oder 1804 die Direktion der "unter der besonderen Protection der
hiesigen Judenschaft stehenden Stiftung zum Unterricht 40 jüdischer Theologie
Studirenden", Talmud Tora, (150) dazu über, sich ebenfalls als Freischule zu bezeichnen.
Es folgte einiges Hin und Her zwischen städtischem Polizeidirektorium,
Gemeindevorstand, Talmud Tora und Freischule. Beide Institute wurden zum Einreichen
von Schülerlisten aufgefordert. Die Ältesten der Judenschaft wiesen darauf hin, daß die
Stiftung "nicht neu sondern so alt wie die hiesige Gemeinde" sei, und schon Moses
Mendelssohn und andere berühmte Männer hätten dort ihre erste Lehre im Talmud
erhalten. Sie nenne sich "mit mehrerm Recht als jede andere eine Frey Schule" (156). Die
Behörden nahmen zur Kenntnis, daß "mehrere Frei Schulen alhier vorhanden sind" (151),
33
Das berühmte Dessauer Philanthropin beispielsweise zählte im Jahre 1776 ganze dreizehn Zöglinge; vgl.
Petrat 1987, 61.
32
und bezeichneten die eine fortan als 'Itzigsche Freischule', die andere als 'Thalmudische
Freischule'.
Zweitens: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war in Preußen mit dem Aufbau einer
zentralstaatlichen Schulverwaltung begonnen worden, doch waren weite Teile des
Schulwesens von den neugeschaffenen Verwaltungsbehörden auch um 1800 noch nicht so
recht erfaßt (Heinemann 1974; Jeismann 1974, 46ff, Leschinsky/ Roeder 1983, 43ff).
Frühere Kontakte zwischen Freischuldirektion und Regierung hatten hauptsächlich der
orientalischen Buchdruckerei gegolten; von einer staatlichen Aufsicht über die jüdischen
Schulen in Berlin und in der Kurmark konnte jedoch keine Rede sein. Dies änderte sich
erst ab 1805. In einem Schreiben an Massow, den "Chef des vaterländischen
Schulwesens", legte Itzig selbstbewußt die weitreichende Bedeutung der Freischule dar,
und offenbar überzeugte sein Argument von ihrer staatspolitischen Notwendigkeit.
Massow beauftragte Nolte, ein Mitglied des Oberschulkollegiums, zu prüfen, "durch
welche Mittel dem Institut eine feste Dauer (50:) gegeben werden könne" (159). Wenn
auch die Frage der Ressortzuständigkeit anfangs völlig ungeklärt war, so war dies
gleichwohl der Beginn des Einbezugs der jüdischen Schulen in die zentralstaatliche
Bildungsverwaltung (165-171).
Drittens: In Noltes Bericht hieß es, daß die Freischule "vorzüglich auf die Bildung des
künftigen Kaufmanns berechnet" sei, und wenn an ihr nicht statt Latein Hebräisch
unterrichtet würde, "so würde sie dem Begriff einer Mittelschule ganz entsprechen". Er
jedenfalls zähle sie zu den besseren Mittelschulen (161). In der damaligen Schulstruktur
war sie damit zwischen Elementarschulen und Gymnasien verortet bzw. konnte, der
Differenzierung zwischen Bürger- und Gelehrtenschulen folgend, als Bürgerschule
bezeichnet werden, was später auch geschah (330, 447; vgl. Lundgreen 1980, 40ff;
Lohmann 1984a). Wenn Nolte darauf hinwies, daß sie eigentlich ein bloßes Privatinstitut
sei, so um die Idee zu befördern, der Freischule das Prädikat einer Königlichen Schule für
die jüdische Nation beizulegen. Die von der Gemeinde für die "höchst elenden
talmudischen Schulen" vorgesehenen Mittel ließen sich stattdessen besser für die
Freischule verwenden. Beide Vorschläge stammten sicherlich von der Freischuldirektion.
Sie zu verwirklichen - was nicht geschah (165) - wäre einer Form staatlicher Anerkennung
der Freischule nahegekommen, wie die Königliche Wilhelmsschule in Breslau sie bereits
1791 (256; Dietrich 1996), die Kaiserliche Normalschule in Prag sie schon 1782 erfahren
hatte. Die Zusammenlegung der Fonds der Freischule und der Talmud Tora fand übrigens
zwanzig Jahre später tatsächlich statt: in den Gründungsjahren der Gemeindeschule.
Die Freischule im Anschein weiterer Konsolidierung bis 1816
Der Tod Isaac Daniel Itzigs und der Amtsantritt Lazarus Bendavids legen eine
historiographische Zäsur nahe. Man kann sagen, daß die Freischule fortan nicht mehr eine
Angelegenheit von Mitgliedern der neuen ökonomischen und intellektuellen Eliten der
Berliner Judenschaft war. Sie war vielmehr nur noch das Projekt einiger Maskilim (und
Staatsbeamter), für die die Reform der jüdischen Schulen weiterhin - und zunehmend - das
Zentrum der Modernisierungsbemühungen bildete. Es sollte sich vor allem in den Jahren
nach 1812 zeigen, daß die neue Generation der jüdischen Wirtschaftsbourgeoisie in
Bildungsfragen nur noch Standesinteressen vertrat, hingegen nicht mehr bestrebt war, ihren
Vorstellungen vom Modernisierungsprozeß bei der gesamten Judenschaft hegemoniale
Geltung zu verschaffen. Dies änderte sich erst wieder ab 1824, aber zu jenem Zeitpunkt
waren entscheidende Weichen bereits gestellt. - Doch zunächst zurück ins Jahr 1806.
33
Wichtige Faktoren, die die weitere Entwicklung der Freischule beeinflußten, waren bereits
vorhanden. Welche neuen Aspekte erbrachte die folgende Dekade?
Die hervorstechende Problematik seit Beginn der zentralstaatlichen Aufsicht in den Jahren
1805/06 bestand darin, daß die Freischule wie keine andere Schule zwischen zwei Stühle vermeintlichen Universalismus und (selbst)verordneten Partikularismus - geriet. Aus dieser
Lage kam sie aus strukturellen Gründen nicht mehr heraus. Im Gegenteil, in den folgenden
Jahren, in denen sich die Freischule weiterhin zu (51:) konsolidieren schien, begann sich
dieser Zwiespalt zu entfalten. Man kann ihn unter verschiedenen Perspektiven fassen. Eine
davon ist, daß die Freischule eine moderne, säkulare, aber doch zugleich jüdische Bildung
repräsentieren sollte. Dies bedeutete, daß es einen einheitlichen Bildungsprozeß für
säkulares Wissen und jüdische Religion geben sollte, daß beide Seiten des
Bildungsprozesses - nach damaliger Terminologie: Kenntnisse und Fertigkeiten und
Gesinnung (Wissen und Moral) - zusammengebracht werden mußten. Diese beiden
inhaltlichen Momente, die in jeder Variante der klassischen modernen Bildungskonzeption
untrennbar zusammengehören, institutionell zu trennen, wie im Falle der reichen liberalen
Oberschicht, die ihre Söhne einerseits in christliche Gymnasien schickte, ihnen
andererseits die jüdisch-religiöse Erziehung, wenn überhaupt, durch Hauslehrer (später in
der reformierten Synagoge, dem Tempel) zukommen ließ, war nach der inneren Logik
dieser Konzeption nicht akzeptabel, auch und schon gar nicht für einen an der Philosophie
Immanuel Kants geschulten Kopf wie Bendavid. Aus dem gleichen Grund kam eine
Beschränkung auf säkulare Wissensvermittlung an der Freischule prinzipiell ebensowenig
infrage.34
Eine wichtige Perspektive auf den Zwiespalt, in den die Freischule mehr und mehr geriet,
ist also die bildungstheoretische: Entweder es gab Bildung an der Freischule, das aber
bedeutete Wissensvermittlung und Einwirkung auf die Gesinnung, Unterricht und
Erziehung, und zwar unter Einschluß der jüdischen Religion. Oder sie konnte keine
jüdische Bildungseinrichtung im modernen Sinne sein. Genau dafür aber war sie
angetreten.
In schulgeschichtlicher Perspektive läßt sich derselbe Zwiespalt unter anderem
folgendermaßen darstellen: Seit damit begonnen wurde, die jüdischen Schulen unter
Staatsaufsicht zu stellen, hieß es, daß zumindest die Berliner jüdische Gemeinde in der
Lage sei, ihre Schulen selbst zu finanzieren; also gab es keine staatliche Unterstützung für
die Freischule. Daß sie keine Gemeindeschule war, war damit sozusagen ihr Problem.
Andererseits gingen die Behörden nicht dazu über, die jüdische Gemeinde zur
Anerkennung und Finanzierung der Freischule als Gemeindeschule zu veranlassen: Sollten
doch die jüdischen Kinder christliche Schulen besuchen, denn schließlich galt es, den
'schädlichen Separatismus der Juden von den Christen zu tilgen' (165). Diese Auffassung
war zwar nicht die einzige, die unter den Mitgliedern der preußischen
Bildungsadministration zu verzeichnen war, aber sie bestimmte doch die politische Linie
gegenüber dem jüdischen Schulwesen in der Kurmark, zu welchem auch die Berliner
34
Bendavid berichtete im Programm von 1809 (225) vor dem Hintergrund einer äußerst angespannten
Finanzlage, daß die Freischule sich auf die unterste Bildungsstufe und die Vermittlung der zum praktischen
Leben unerläßlichen Kenntnisse beschränken müsse: In dieser Situation entfielen aus Kostengründen die
Lektionen in hebräischer Sprache und in 'Dogmatik der jüdischen Religion'. Anderthalb Jahre später, als sich
die Finanzsituation der Freischule wieder konsolidiert hatte, konnte Bendavid berichten, daß hebräische
Sprache und Religion wieder in den Lektionsplan aufgenommen waren: "ohne Mathematik und Religion
(darf) gar keine, und ohne hebräische Sprache keine jüdische Schule mit Recht auf den Namen einer
Bürgerschule Ansprüche machen" (262).
34
Schulen gehörten: Entweder die Gemeinden hatten Fonds für die Unterhaltung jüdischer
Schulen oder die jüdischen (52:) Kinder sollten die christlichen, 'öffentlichen' Stadtschulen
besuchen, wobei sie von der Teilnahme am Religionsunterricht auf Wunsch dispensiert
waren.
Nicht in jedem Fall verbarg sich dahinter die Absicht, die Assimilation der Juden zu
fördern.35 Die Frage war vielmehr, wie mit der in den kleinen kurmärkischen Ortschaften
vorgefundenen Situation überhaupt umzugehen war. Beispiel Angermünde:
"Superintendent wünscht, daß von den jüdischen Lehrern einzig und allein nur die religiöse
Bildung der Jugend übernommen, die geistige und weltliche aber von den christlichen
Lehrern besorgt würde." Beispiel Bernau: "Die Schulen der Juden sind schlecht
beschaffen; der Unterricht erstreckt sich blos auf das Lesen und Auswendiglernen
biblischer u sonstiger jüdischer Gebete. Außerdem auf das Schreiben des
Jüdischdeutschen." Beispiel Brandenburg: "Die meisten jüdischen Eltern laßen ihre Kinder
in der dortigen gelehrten oder Bürgerschule unterrichten." Beispiel Gransee:
"Superintendent bemerkt, daß die Juden zu Gransee öfters den christl. Gottesverehrungen
beiwohnen." Beispiel Luckenwalde: "Einige dieser jüdischen Kinder haben selbst an dem
Catechetischen Unterricht in der Kirche Theil genommen." Beispiel Salzwedel: "Der
Lehrer, welcher der Schächter der Gemeinde ist unterrichtet im Hebräischen und in den
Lehrsätzen des Judenthums. Einige Kinder besuchen auch die Schreibestunden in den
christl. Elementarschulen." Beispiel Strausberg36: "Superintendent ist der Meinung, daß es
rathsam wäre, für die Verbeßerung der jüdischen Schulen nichts zu thun, dagegen aber den
Besuch der christl. Schulen möglichst zu befördern." Beispiel Zehdenick: "Die in
Zehdenick wohnenden Juden nehmen von Zeit zu Zeit einen Lehrer auf, der zugleich
Schulhalter ist, gegenwärtig haben sie ein solches Subjekt nicht. Einige Knaben besuchen
bisweilen die öffentliche Bürgerschule" (173). Die vorgefundenen Formen unverbundenen
Nebeneinanders, der Trennung von religiöser und weltlicher Unterweisung der jüdischen
Jugend waren für Bendavid alles andere als wünschenswert. Dies jedoch war die Lage der
Dinge, mit der er es zu tun bekam, als er 1806 die Freischuldirektion übernahm.
Die politischen Positionen, die in der weitverzweigten, mit Juristen, Kameral- und
Finanzfachleuten, mit protestantischen Konsistorialräten und Superintendenten sowie
gelehrten Schulmännern besetzten preußischen Verwaltung vertreten waren, bildeten alles
andere als einen homogenen Block (vgl. Jeismann 1974, 230ff). Unter anderem gab es
darin Personen mit einer Bildungsauffassung, welche mit derjenigen Bendavids vereinbar
schien: Ribbeck, kurmärkischer Oberkonsistorialrat, Massow, preußischer Justizminister,
Nolte, Mitglied des Oberschulkollegiums, Hanstein, Propst in Berlin, Bellermann,
Gymnasialdirektor und Orientalist, gehörten dazu. Sie vertraten eine schulpolitische Linie
aufgeklärter Toleranz, d.h. sie akzeptierten in bestimmter Hinsicht nicht nur eine
eigenständige jüdische Bildung, sondern suchten diese auch zu befördern, da dies mit ihren
eigenen Modernisierungsvorstellungen übereinstimmte. Aus ihrer Sicht war die Freischule
eine Musteranstalt, ein vorbild- (53:) liches Modell für die Umgestaltung der jüdischen
Schulen (174). Man könnte sagen, sie bemühten sich um Akkulturation, ohne dies im
selben Atemzug mit der Vorstellung zu verbinden, daß die Juden doch besser gleich zum
Christentum übertreten sollten. Zudem mochte es ja auch Vorteile mit sich bringen, wenn
die 'Scheidelinien zwischen Juden und Christen' nicht völlig verschwanden.
35
Zur Auseinandersetzung mit den Begriffen Assimilation, Akkulturation sowie jüdisches Bewußtsein vgl.
zuletzt Fölling 1995.
36
Eine anschauliche Schilderung des jüdischen Lebens in Strausberg bietet der 1802 dort geborene Heymann
(1879, in Richarz 1976).
35
Die politische Linie christlich-aufgeklärter Toleranz war nicht unproblematisch: Sie
tendierte dazu, die Autonomiebestimmungen des Judenreglements von 1750, das in den
alten preußischen Provinzen ja noch galt, zu ignorieren, und sie tat sich schwer damit, den
Traditionalismus zu respektieren, wie z.B. im Fall Bellermanns, der dem Beispiel jüdischer
Reformer folgend dazu überging, zwischen 'deutschen Juden', deren Bestrebungen er
unterstützte, und 'pharisäisch gesinnten Juden' zu unterscheiden (520, 623, 662). Es waren
Repräsentanten einer Politik der aufgeklärten Toleranz, wie Nolte und Ribbeck, die dazu
bereit waren, die von den jüdischen Gemeinden für die Talmud-Tora-Anstalten gestifteten
Fonds stattdessen in den Aufbau moderner jüdischer Schulen zu stecken bzw. die
traditionellen Talmudschulen "zu Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu erweitern"
(174)37 - wo andere darauf hinwiesen, daß der Staat sich darin "nicht füglich mischen"
könne (165). Letzten Endes hielten es die aufklärerisch gesinnten Reformbeamten, zumal
wenn finanzielle und sonstige örtliche Gegebenheiten in den kleinen Städten der Kurmark
ohnehin kaum andere Möglichkeiten boten, nicht nur für unumgänglich, sondern im Sinne
der Toleranzpolitik auch für akzeptabel und zumutbar, den Schulbesuch jüdischer Kinder
an christlichen Schulen zu fördern (194).
Hingegen ist bisher nicht bekannt, daß Gymnasialdirektoren, die im Lichte der Toleranz
die Pforten ihrer Schulanstalten für jüdische Knaben und Jünglinge öffneten, je in den Sinn
gekommen wäre, an ihren Gymnasien jüdischem Religionsunterricht eine Stelle
einzuräumen und dafür jüdische Lehrer zu gewinnen, und auch nicht, hebräischen
Sprachunterricht als formales Bildungsmittel vorzusehen, womöglich auf gleicher Stufe
wie griechischen Sprachunterricht. Einer der wenigen, die jenen Lösungsvorschlag
vertraten, war David Friedländer (318), und Wilhelm von Humboldt stellte letzteres
immerhin zur Diskussion (258).
Die Entwicklung nach dem Zusammenbruch des alten Preußen
Nolte hatte seinen Bericht auf der Basis der empirischen Erhebung über den Zustand der
jüdischen Schulen in der Kurmark und von Ribbecks Vorschlägen abgefaßt und dabei
erstmals die Idee eines von Seiten des Staates zu bewilligenden Fonds für die Freischule
ins Spiel gebracht (194). Doch bevor darüber entschieden werden konnte, brach das
friderizianische Preußen in der Schlacht gegen die napoleonischen Truppen bei Jena und
Auerstedt zusammen. Der Plan einer staatlichen Unterstützung der Freischule wurde im
Oberschulkollegium "zur Wiedervorlage bei ruhigern Zeiten" ad acta gelegt (194). Hierzu
jedoch sollte es auch nicht mehr kommen, denn im (54:) Zuge der großangelegten
Verwaltungsreformen, die nach dem Zusammenbruch des alten Regimes begannen, wurde
das Oberschulkollegium aufgelöst.
Die Freischule befand sich nunmehr "durch die jetzigen Zeitumstände in der traurigsten
Lage" (195). Bendavid bemühte sich bei den reichen Liberalen in der Gemeinde um eine
ausreichende Finanzierung der 'Musteranstalt' - mit Erfolg vor allem bei Sara Levy, der
Witwe des Bankiers Salomon Levy und Schwester des verstorbenen Isaac Daniel Itzig, die
die Freischule seither stets unterstützte.
Zu dieser Zeit wurde mit Sulamith, Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität
unter der jüdischen Nation, die 1806 zuerst in Leipzig, danach in Dessau erschien und bis
1848 bestand, ein neues Kapitel im Prozeß der Modernisierung des Judentums
37
Zur Herausbildung des Konzepts der Schulerziehung im Verhältnis zum Schulunterricht im 18. und 19.
Jahrhundert vgl. Petrat 1987.
36
aufgeschlagen. Sulamith wurde zu einem der wichtigsten publizistischen Zentren für die
Diskussion von Bildungsfragen. Vor dem Hintergrund der 'Taufepidemie', die Lowenstein
zufolge zwischen 1800 und 1812 ihren Höhepunkt hatte, bemühte die Zeitschrift sich
darum, vor allem neue Konzepte jüdischer Mädchenbildung ins Spiel zu bringen
(Lohmann 1996; Will 1996). Der Sulamith-Herausgeber David Fränkel, Direktor der
Herzoglichen Franzschule in Dessau, trug fortan mit dazu bei, die Freischule überregional
bekanntzumachen (198, 207, 276, 488).
Berlin hatte 1809 einen neuen Polizeipräsidenten. Zunächst aus diesem Anlaß wandten
sich die damaligen Direktoren der Talmud Tora, Geber und Simon, an die städtischen
Behörden, um die Aufenthaltsrechte für auswärtige Talmudstudenten zu erneuern. Einen
weiteren Anlaß bot der Beschluß des neuerdings von den Liberalen dominierten
Gemeindevorstands, die Unterstützung auswärtiger Talmudisten aus der Gemeindekasse zu
beenden. Das polizeiliche Dekret fiel im Sinne der Stellungnahme aus, um die David
Friedländer gebeten worden war, und die Talmud Tora durfte sich nicht länger als
Freischule bezeichnen (227-232). Möglicherweise gefährdete das Ignorieren dieses
Verbots tatsächlich den Aufenthalt der auswärtigen Freischulzöglinge, weil es bei der
städtischen Polizei Verwirrung stiftete (243); mit Wissen um die Beschlußlage im
Gemeindevorstand wandte sich jedenfalls auch Bendavid an das neue Polizeipräsidium,
und ihm gelang es aufgrund der "günstigen Nachrichten" über die Freischule, das
kostenlose Aufenthaltsrecht für ihre auswärtigen Zöglinge weiterhin sicherzustellen (241245, 262).
Ebenfalls 1809 fanden im Ministerium des Inneren und der Polizei Beratungen über eine
neue 'Konstitution für die Juden' statt, deren Ergebnis das Edikt, betreffend die
bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate vom 11. März 1812 war.
Zu den wenigen, die vom Gedanken einer Erziehungsfunktion des Staates gegenüber den
Juden abrückten und für ihre sofortige, bedingungslose rechtliche Gleichstellung eintraten,
gehörte Wilhelm von Humboldt, 1809/10 Chef der neugeschaffenen Sektion für Kultus
und öffentlichen Unterricht (257, 259; Jersch-Wenzel 1996, 34; Lohmann 1998).
Als Nachfolgerin des Oberschulkollegiums war diese Sektion des Innenministeriums
nunmehr auch oberste Instanz für das jüdische Kultus- und Schulwesen in Preußen. (55:)
Ihr Entscheidungsgrundsatz lautete, "daß so viel wie nur immer möglich, die Kinder
jüdischer Familien in Christen Schulen untergebracht werden müssen, damit die Juden und
die Christen sich immer mehr nähern und amalgamiren möchten" (260, 261). Im Hinblick
darauf, daß die bevorstehende Gesetzesregelung auch die Aufhebung der solidarischen
Verbindung mit sich bringen würde, gingen die Behörden daran, sich ein näheres Bild von
der inneren Einrichtung der jüdischen Gemeinde zu machen (277-286, 297).
Erste Auswirkungen des Edikts vom 11. März 1812
Mit Recht wird heute darüber diskutiert, wie die Gleichstellung der Juden in der
Französischen Revolution - wo sie ja keineswegs nebenbei und auch nicht sofort für alle
Juden in Frankreich gleichermaßen dekretiert wurde - zu bewerten ist. Für das preußische
Emanzipationsedikt gilt das gleiche: "Emanzipation (römisch-rechtlicher Begriff für die
Entlassung aus der väterlichen Gewalt) bedeutet in Bezug auf Juden Erlaß
beziehungsweise Geltung gesetzgeberischer Akte, die die Gleichberechtigung der Juden
zur Folge haben. Geistesgeschichtlich durch Aufklärung und Naturrecht vorbereitet, wurde
Emanzipation zuerst in der im Zusammenhang mit den Freiheitskämpfen der Vereinigten
Staaten von Amerika erlassenen Virginischen Deklaration 1776 (Gewissens- und
37
Religionsfreiheit) verwirklicht. Mit der Französischen Revolution wurde auf der
Nationalversammlung (1791) Gleichberechtigung der Juden verkündet. In Preußen wurde
das Emanzipations-Edikt vom 11. 3. 1812, das die Juden als Staatsbürger anerkannte,
später rechtlich und praktisch wieder eingeschränkt" (Philo-Lexikon 1936, 174f; vgl.
Hertzberg 1968, Brammer 1987, Jersch-Wenzel 1996, Rürup 1998).
Dankbar für die neuerteilten Rechte waren vor allem die jüdischen Modernisierer. Bei der
Diskussion der Bundesakte auf dem Wiener Kongreß 1815 vertraten die Hansestädte
Hamburg, Bremen und Lübeck, außerdem Frankfurt am Main die Forderung, die
Gleichberechtigung wieder rückgängig zu machen; der preußische König setzte die
Reduktion des Geltungsbereichs des Edikts auf die Provinzen Brandenburg, Pommern,
Ostpreußen und Schlesien durch. Um aber die Bestimmungen des Edikts selbst da, wo es
in Kraft trat, wieder einzuschränken, mußten nicht unbedingt Gesetzesänderungen
vorgenommen werden; auch bedurfte es dazu nicht erst der fortschrittsfeindlichen Zeit
nach dem Wiener Kongreß 1815: Der 39. Paragraph des Edikts reichte völlig aus. Für die
Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts hatte er weitreichende Folgen, denn er
kodifizierte die kulturelle Sonderstellung der jüdischen Religion. Natürlich konnten dies
die Reformer in der Judenschaft nicht voraussehen, die wie Friedländer der Auffassung
waren, daß das Edikt samt seines neununddreißigsten Paragraphen in ihrem Sinne wirken
würde.
Im Alltag der Freischule zeigten sich die Auswirkungen der neuen Rechtslage sofort. Um
die Kontrolle über Zuwanderung und Niederlassung zu behalten, führte der nunmehr von
reichen Modernisierern dominierte Gemeindevorstand die Regelung ein, daß alle in- und
ausländischen Juden, die nicht bereits vor Inkrafttreten des Edikts in Berlin ansässig
gewesen waren, sich von den Ältesten mit einem (56:) Legitimationszeugnis versehen
lassen mußten; dazu hatten die Niederlassungswilligen sich bei Friedländer zu melden.
Daß das Attest des Gemeindevorstands tatsächlich Voraussetzung für die Erteilung des
Rechts auf Niederlassung durch die Polizeibehörden war, wurde zwei Monate später von
Schuckmann und Hardenberg mit Hinweis auf die neue Rechtslage ausdrücklich in Abrede
gestellt (316). Zuvor jedoch stellte Bendavid für die Lehrer und Schüler der Freischule, die
nicht Christen oder in Berlin gebürtige Juden waren, einen entsprechenden Sammelantrag,
und auch der Vorstand der Talmud Tora machte die Neuregelung bekannt (292-295).
Ein zentraler Effekt des Edikts war sozialpolitischer Art: Die Aufhebung der solidarischen
Verbindung wirkte sich auf das bisherige System der Armenunterstützung und
Krankenversorgung aus. Bendavid wurde von den Ältesten wiederholt darauf aufmerksam
gemacht, daß die Gemeinde "im Falle des Erkrankens und der Verarmung aus den
wohlthätigen allgemeinen Anstalten nichts beytragen" könne, daher möge er für Lehrer
und Schüler der Freischule den Polizeibehörden ein von ihm selbst unterzeichnetes Attest
vorzeigen und nicht weiter darauf beharren, für sie ein Zeugnis der Ältesten zu erhalten was offenbar zur Inanspruchnahme der Leistungen der noch bestehenden gemeindlichen
Wohltätigkeitseinrichtungen berechtigt hätte (292, 297-299).
Ihr guter Ruf in der Stadt und beim Gemeindevorstand bewirkte, daß Bendavid, ebenso
auch Moses Hirsch Bock, der Leiter einer jüdischen Privatschule, auswärtigen jüdischen
Lehrern Zeugnisse über "sittlichen Lebenswandel" ausstellen konnten (306, 307), die zur
Erlangung des Staatsbürgerrechts mitverhalfen.
In der praktischen Umsetzung vor Ort erzeugte das neue Edikt vielfältige Unsicherheiten,
die sich über längere Zeit hinzogen. Der Chef der Berliner Polizeibehörden, Le Coq, ließ
38
die Frage des Aufenthaltsrechts für die Freischulzöglinge höheren Orts klären: Die
Zöglinge der Freischule fielen einerseits nicht unter die Vorschrift von § 34 des neuen
Edikts, andererseits sei es mit der intendierten "Begünstigung der Verbreitung der Kultur"
nicht vereinbar, unbemittelten jungen Leuten die Gelegenheit zum Schulbesuch zu
nehmen. Man möge sie in dieser Hinsicht den jüdischen, bei der hiesigen Universität
immatrikulierten Ausländern gleichstellen. Schuckmann stimmte zu (300, 315f).
Die Reformer in der preußischen Judenschaft beflügelte das Edikt zu einem neuen Vorstoß
in den Bemühungen um die Modernisierung des Kultus. David Friedländers Schrift Über
die Umbildung38 (1812/ 1934) war dazu das Fanal, wie der Dank zahlreicher
Familienoberhäupter aus Berlin und Breslau an Friedländer bezeugt (308, 310-313, 335338). (57:)
Die Absonderung
Bereits am Tag der Unterzeichnung des Edikts hatte Hardenberg an Schuckmann, den
Nachfolger Humboldts als Chef des Departements für Kultus und öffentlichen Unterricht,
die Aufforderung gesandt, "die zur Ausführung der in § 39 der Verordnung vorbehaltenen
Bestimmungen" baldmöglichst zu unterbreiten (309). Daraufhin wurden umfassende
Erhebungen über den Zustand der jüdischen Schulen in Ostpreußen, Westpreußen,
Preußisch-Litauen, Schlesien, Pommern, in der Neumark sowie, zum wiederholten Male,
in der Kurmark veranlaßt. Auf deren Grundlage sollte ein allgemeiner Plan für das jüdische
Schulwesen entworfen und, um den entsprechenden Beschlüssen Akzeptanz unter den
jüdischen Gemeinden in den Provinzen zu verschaffen, "das Urtheil der Einsichtsvollern
der hiesigen Judenschaft" gehört werden (313). Zur Umsetzung des Hardenbergschen
Auftrags verlangte das Departement (Sektion) bei den Geistlichen und Schuldeputationen
der Provinzialregierungen nicht nur Berichte über Finanzierungsfonds, Anzahl der Schulen
und Schulkinder, Lehrer, Unterrichtsgegenstände und Methoden, sondern auch
Verbesserungsvorschläge. Hierfür wurde als allgemeine Orientierung vorgegeben,
Vorschläge einzureichen "über die beste Art, den Religions Unterricht von dem
Schulunterricht abzusondern, und dem erstern mehr Allgemeinheit, Gründlichkeit und eine
nähere Beziehung auf das Alte Testament zu geben als bisher geschehen ist" (314). Die
Implikationen dieser Vorgabe waren weitreichend.39
Erstens: Dem Alten Testament mehr Geltung zu verschaffen, beinhaltete zunächst die
Beförderung eines Konzepts jüdischen Religionsunterrichts im Sinne der Reformer um
Friedländer: mit verminderter Bedeutung des Talmuds, vor allem aber Marginalisierung
der traditionell orientierten Rabbiner. Die preußischen Reformbeamten unterstützten
insofern den Hegemonieanspruch der neuen jüdischen Intellektuellen gegenüber den
Traditionalisten.
Zweitens: Bei der geforderten Absonderung des jüdischen Religionsunterricht vom
Schulunterricht ging es darum, den Besuch christlicher 'öffentlicher' Schulen durch
38
Ueber die durch die neue Organisation der Judenschaften in den Preußischen Staaten nothwendig
gewordene Umbildung 1) ihres Gottesdienstes in den Synagogen, 2) ihrer Unterrichts-Anstalten, und deren
Lehrgegenstände, und 3) ihres Erziehungs-Wesens überhaupt. Ein Wort zu seiner Zeit. (1812)
39
Es wäre lohnend, sie im Lichte von Petrats Kritik des Konzepts der Lerngruppenkonformität, des 'Teilens,
Abteilens, Aussonderns', zu analysieren, mit dem Schulerziehung ihre "Eigenständigkeit als neu geschaffene
Institution" zu sichern trachtet: "Schule hat ihr Ausgeklinktsein aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erst
noch unter Beweis zu stellen, bevor sie endgültig den Platz elterlicher auctoritas einnehmen darf" (Petrat
1987, 137).
39
jüdische Kinder in den kleinen Provinzstädten und auch sonst überall, wo traditionell
orientierten Rabbinern weiterhin ungebrochene Autorität zukam, zu fördern, ohne die
traditionell orientierten Gemeindemitglieder gegen die Verwaltungsbehörden
aufzubringen. Dazu galt es, die religiöse Unterweisung unter der Aufsicht der Rabbiner zu
belassen und gleichzeitig eine Reform der Ausbildung jüdischer Lehrer auf den Weg zu
bringen sowie ihre Qualifikation staatlich zu prüfen. Da die Reformbeamten in der
preußischen Verwaltung ihren Vorstellungen von einem angemessenen Schulunterricht
möglichst viel Geltung zu verschaffen suchten, war die Absonderung des jüdischen
Religionsunterrichts eine unvermeidliche Konsequenz. Bendavids und Weyls Gutachten
verdeutlichen die Kompliziertheit einer (58:) Situation, in der es so etwas wie eine beste
Lösung nicht gab (321, 329). Folgte somit aus dem Edikt vom 11. März 1812, daß es
unmöglich war, die Konzeption eines einheitlichen schulischen Bildungsprozesses auf die
jüdische Jugend anzuwenden?
Drittens: Mit dem Konzept einer allgemeinen öffentlichen Bildung wurden - weil dabei die
'richtige' Religionszugehörigkeit eine Rolle spielte - diverse gesellschaftliche Gruppen als
besondere definiert, d.h. für sie galt das Allgemeine nicht oder nur bedingt. Dafür war die
Frage der Religion zwar nur ein Beispiel, aber gleichwohl ein zentrales. Bildung ohne
Religion als Mittel der Gesinnungsbildung kam für so gut wie alle Proponenten der neuen
Bildungskonzeption nicht infrage; dies galt für Wessely, Friedländer und Bendavid ebenso
wie für Humboldt, auch wenn in Humboldts Bildungsauffassung dem Griechischen bzw.
Sprachen überhaupt die wichtigere Rolle zukam, und es galt auch für Friedrich Ancillon,
der die genannte Vorgabe der Sektion für die zukünftige Gestaltung des jüdischen
Religionsunterrichts notierte. - Ein anderes Beispiel: Um die neue Bildungskonzeption in
Schulpolitik umzusetzen, mußten nicht nur die Anhänger des alten preußischen Regimes
bekämpft werden. Bürgerlich-liberale bzw. neoprotestantische Reformbeamte tendierten
dahin, die traditionell-jüdische Position vom Verhandlungstisch auszuschließen oder sie
zumindest nach Kräften zu marginalisieren. Demgegenüber vertraten die Proponenten des
alten Regimes eher die Meinung, daß - um Sektenbildung zu verhindern - an den
Verhandlungen über die einzuleitende Reform der jüdischen Schulen nicht nur
Modernisierungsbefürworter, sondern auch Repräsentanten des jüdischen Traditionalismus
wie der Vize-Oberlandrabbiner Weyl beteiligt werden sollten (329).
Weiter ist daran zu erinnern, daß, je mehr sich die Sphären des citoyen und des bourgeois
ausformten, Mädchen und Frauen von jüdischen und christlichen Reformern
gleichermaßen einhellig aus dem Bereich der öffentlichen Bildung jenseits der
Elementarschulen ausgeschlossen und auf den häuslichen Privatbereich beschränkt wurden
(Kraul 1993; Kleinau/ Mayer 1996; Lohmann 1996). Von Inhalt und Reichweite der
Bildung, die 'Tischlern und Tagelöhnern' der verschiedenen Glaubensrichtungen unter den
gegebenen historischen Bedingungen zugedacht war oder zugedacht werden konnte, ist
hier ganz zu schweigen. Man hat es beim Universalismus des klassischen modernen
Allgemeinbildungskonzepts also schon in der Idee, nicht erst in der Realisierung mit einer
ganzen Reihe von Exklusionen zu tun. Es besteht mithin kein Grund zu übermäßiger
Euphorie gegenüber der 'ursprünglichen liberalen Utopie' (Wehler 1987, 239) und auch
nicht gegenüber einem 'wohlverstandenen Universalismus' (Habermas 1996, 7). Beide
waren und sind strukturell nicht in der Lage, derlei Exklusionen zu vermeiden.
Wie die damalige Entwicklung zeigt, gab es prinzipiell drei Möglichkeiten, den Ort der
Religion im Bildungsprozeß zu bestimmen.
40
Erstens. Entweder wurde eine allgemeine Vernunftreligion vertreten, wie im ausgehenden
18. Jahrhundert von philanthropistischen Pädagogen; aber schon Mendels- (59:) sohn hatte
in seiner Schrift Jerusalem (1783) auf die grundsätzliche Problematik einer solchen
Position hingeweisen. Und die Reaktionen auf Friedländers Sendschreiben an Propst Teller
(1799) deuteten ebenfalls nicht darauf hin, daß ein solches Konzept allgemeinen Anklang
gefunden hätte. Diese Bemühungen endeten, spätestens, mit dem neuen Edikt
(ausgenommen die Schulkommission des Berliner Magistrats, doch dazu später).
Zweitens. Oder man fand eine Lösung, wie sie Friedländer 1812 vorschwebte: allgemeine
öffentliche Schulen mit gemeinsamem Unterricht für christliche und jüdische Knaben und
Jünglinge, mit Lehrpersonal beider Glaubensrichtungen, unter sei's christlicher, sei's
jüdischer Direktion; der Religionsunterricht würde den Kindern der verschiedenen
Konfessionen in ein- und derselben Schule zur gleichen Zeit, "wenn auch nicht in einem
Zimmer", erteilt (318). Diese mögliche Auslegung der neuen Bildungskonzeption kam
ebenfalls nicht zum Zuge, auch nicht in den Gymnasien der Hauptstadt, wo ihre
Realisierung am nächsten gelegen hätte. In den Provinzstädten, in den vielen kleinen
Gemeinden wäre sie nicht umsetzbar gewesen, aus Mangel an Finanzkraft für die
Personalausstattung von Schulen, wegen fehlender gegenseitiger Akzeptanz der jüdischen
und christlichen Bevölkerung, aufgrund des Widerstands traditionstreuer Rabbiner oder
christlicher Geistlicher usw. (Anschauungen vom damaligen jüdischen Leben abseits der
großen Städte und der Haltung gegenüber den Modernisierern geben Kahanowitsch 1939/
1990, Franzos 1905/ 1994; vgl. dazu auch Glasenapp 1998a).
Drittens. Die Auslegung der neuen Bildungskonzeption, die von den Reformbeamten,
welche zu einem nicht geringen Teil Theologen waren, zur Geltung gebracht wurde,
implizierte bei der unterrichtlichen religiösen Gesinnungsbildung die Vormachtstellung der
christlichen Religion, genauer, eines reformierten Protestantismus (482).
Friedrich Schleiermacher, der Theologe und Kirchenreformer, hatte bereits in seiner
Funktion als Direktor der wissenschaftlichen Deputation bei der Sektion für Kultus und
öffentlichen Unterricht, wo er führend an den Beratungen über die von Seiten des Staates
zu verordnenden Lehrpläne beteiligt war, eine Argumentation vertreten, die eine
Gleichstellung der jüdischen mit der christlichen Religion innerhalb des öffentlichen
Bildungswesens wirksam verhinderte. Zweck der öffentlichen Schulen sei "die
Entwicklung der geistigen Kräfte, und zwar nicht nur der einzelnen Fertigkeiten, sondern
auch der übereinstimmenden allgemeinen Richtung aller oder der Gesinnung." Auf diese
müsse zwar in allen Lehrstunden gewirkt werden, aber dies geschehe doch immer nur unter
einem bestimmten Aspekt. Die Absicht des Religionsunterrichts hingegen sei es, direkt auf
die Gesinnungsbildung einzuwirken. Da nun aber das Christentum staatlicherseits als die
unter den Bürgern meistverbreitete Religion anerkannt sei - hier konnte sich
Schleiermacher auf Bestimmungen des ALR berufen, mit welchen den jüdischen
Gemeinden der Status tolerierter Privatgesellschaften zugewiesen worden war - sei es 'eine
falsche Tendenz', dem schulischen Religionsunterricht das Christliche zu nehmen und ihn
um der jüdischen Zöglinge willen in das Gebiet "einer sogenannten allgemeinen Religion"
hinüberspielen zu lassen (Schleiermacher 1810/ 1984, 141). (60:)
Das Konzept einer öffentlichen allgemeinen Bildung, zentraler Faktor in der politischkulturellen Hegemonie der entstehenden Wirtschaftsbourgeoisie, implizierte auf jüdischliberaler Seite die Entmachtung der traditionellen Rabbiner zugunsten des
Modernisierungsprojekts, auf neoprotestantischer Seite, daß Juden, die nicht zum
Christentum konvertiert waren, kein Zugang zu höheren staatlichen Ämtern zu gewähren
41
war - außer dort, wo sie als Repräsentanten der Judenschaft fungierten. Wie nach Ansicht
der Modernisierer die Traditionalisten aus den führenden Positionen in den jüdischen
Gemeinden verdrängt werden mußten, gehörten nach Auffassung der meisten
Reformbeamten Juden nicht in den höheren Staatsdienst. Ungetaufte Juden, so meinte man,
verfügten nicht über die höchste Ausbildung der Gesinnung, die in solchen Positionen
erforderlich war. Dieser Implikation stimmte wohl letztlich auch Wilhelm von Humboldt
zu (257), während sie für die aus dem Bürgertum stammenden, aufstiegswilligen
Philosophen, Theologen und Reformbeamten ein Weg war, Konkurrenten auszuschalten.
Um die Juden vom Staatsdienst auszuschließen, hätte es der ungewollten Unterstützung
seitens eines von seinem Gottesgnadentum überzeugten Monarchen also eigentlich nicht
bedurft. In diesem Punkt waren sich Theologen und Philosophen wie Schleiermacher und
Fichte auf der einen und Eylert, der spätere Bischof und Ratgeber des Königs, auf der
anderen Seite einig - auch wenn sie im übrigen ganz gegensätzliche politische Positionen
vertraten (344, Beckedorff u.a. 1821; dazu Bruer 1991, 180ff, Jersch-Wenzel 1996, 38,
Strenge 1996, Lohmann 1998).
Die Entwicklung der Freischule bis zur 'Neunten Nachricht'
Durch die großangelegten und weitreichenden preußischen Bildungs- und
Verwaltungsreformen ab 1808, im Zuge auch der neuen politischen Bedeutung, die das
Edikt vom 11. März 1812 den Juden als Staatsbürgern zuwies, kamen auf die Freischule
veränderte Konstellationen zu. An die Stelle der zu Zeiten des Oberschulkollegiums
vergleichsweise unmittelbaren, persönlichen Interaktionen zwischen Repräsentanten der
Bildungsverwaltung (Hanstein, Massow, Nolte, Ribbeck) und Freischuldirektion trat mit
den neuen Verwaltungsstrukturen ein Großbetrieb. Auch wenn Nolte, dessen
Zuständigkeiten teilweise erhalten blieben, die Freischule weiterhin als vorbildliche
jüdische Schule propagierte (330), auch wenn Bendavids Stellungnahme neben der von
Friedländer und Weyl, die immerhin regierungsoffizielle Positionen innehatten, eingeholt
wurde: Das Gefüge, in welchem sich die Freischule befand, veränderte sich erheblich.
Im Zuge der Einführung des Stadtbürgerrechts für die einheimischen männlichen Juden
(1808) sowie der Gewerbefreiheit (1810) erhielt das jüdische Schulwesen in Berlin durch
Neugründungen einigen Zuwachs. Ein Anlaß dafür bestand darin, daß das Edikt vom 11.
März 1812 ein Mindestmaß an säkularen Kenntnissen und Beherrschung der deutschen
Sprache oder einer lebenden Fremdsprache erforderte: Ohne Beherrschung einer als
legitim anerkannten Sprache konnte man nicht Staatsbürger sein. Jüdisch-Deutsch war
nicht legitim, war es schon für Mendelssohn nicht gewesen (vgl. auch 664; Römer 1995).
Hatte Ribbeck bei der ersten Erhebung in (61:) der Kurmark, 1806, in Berlin sechs
jüdische Schulen gezählt, so nannte Noltes Bericht im Rahmen der zweiten Erhebung,
1812, deren siebzehn.
Zahlreiche jüdische Schulmänner bemühten sich in diesen Jahren um die Konzession zur
Einrichtung von Schulen und die behördliche Anerkennung ihrer Reformschriften (448451; zu Status und Funktion der Privatschulen um 1812 vgl. Kuhlemann 1992, 165ff).
Einer der prominentesten war Eduard Kley, der mit seinem Versuch, beruflich Fuß zu
fassen, scheiterte (daß er einflußreiche Befürworter unter den reichen Liberalen in der
Berlinischen Judenschaft hatte, schadete ihm in Berlin eher). Aber kurz darauf reüssierte er
in Hamburg, als Direktor der neugegründeten Israelitischen Freischule sowie als Prediger
im Tempelverein (455-461, 517-518). David Fränkel, Sulamith-Herausgeber und Direktor
der Franzschule in Dessau, bewarb sich um die preußische Staatsbürgerschaft und bemühte
sich um die Nachfolge von Moses Hirsch Bock als Leiter der jüdischen privaten
42
Bürgerschule (480, 481). Jeremias Heinemann, vormals als westphälischer Konsistorialrat
auf der Seite der Reform, kam nach Berlin, wandte sich dort dem Traditionalismus zu40
und übernahm die Leitung verschiedener Lehranstalten wie auch der orientalischen
Buchdruckerei. Ebenso nach Berlin kam Israel Jacobson, Kaufmann und westfälischer
Hofbankier, Gründer der Freischule in Seesen; er hatte dem 1814 aufgelösten
Westphälischen Konsistorium der Israeliten in Kassel als Präsident vorgestanden. In Berlin
trat er der Gesellschaft der Freunde bei und betätigte sich, wie zuvor im Königreich
Westphalen, als Promotor der jüdischen Kultusreform (462, 463; vgl. auch Schimpf 1994).
In den Programmen der Freischule, die nach dem Edikt von 1812 erschienen, gab
Bendavid die Einflüsse der zeitgenössischen Entwicklungen auf die Schule in höchst
geglätteter Form wieder: Die Freischule nimmt an allem regen Anteil, besteht aber vor
allem unangefochten fort. Das so entworfene Bild vom Fels in der Brandung traf in
mancher Hinsicht auch zu. So wurden die Lehrer der Freischule vom Dienst in der
Landwehr und von Schanzarbeiten befreit. Die Gewerbesteuer für die orientalische
Buchdruckerei - Einnahmequelle für die Freischule aus dem Verkauf der jüdischen
Kalender - wurde gestundet. Acht Lehrer erteilten Unterricht in dreizehn Gegenständen,
gestuft in drei Klassen - solche äußeren Daten blieben sich in etwa gleich, wenn nicht, so
wurde dies dem Publikum mit diplomatischem Geschick mitgeteilt. Zwar schwankte die
Schülerzahl zu Zeiten erheblich, z.B. wegen Beteiligung von Freischulzöglingen am Krieg
zwischen Preußen sowie seinen Alliierten und Napoleon. Zählte beispielweise im Februar
1814 die Freischule siebenundfünfzig Schüler, darunter achtzehn Christen (442), so im
September desselben Jahres fünfunddreißig jüdische und siebenundzwanzig christliche
Schüler. Der von Bendavid angestimmte Ton lautete dann etwa: Bescheiden verzichtet die
Freischule darauf, als "eine bloße Bürgerschule die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken,
und sich gleichsam in die Reihe der Weltbegebenheiten drängen zu wollen" (447) - und
dann drängte er die Kontribuentinnen und Kontribuenten, ja nicht nachzulassen mit ihrer
Unterstützung. (62:)
Nur hinter den Kulissen wurden die Probleme angesprochen. Zum Beispiel in Appellen an
die Lehrer und Inspektoren: Sie möchten gefälligst ihre Pflichten nicht vernachlässigen,
denn die Freischule habe heimliche Feinde, die schadenfroh auf jeden Verstoß lauerten, um
sie zu verleumden und zu stürzen (464). Exemplarisch für die Art, wie Bendavid sein Amt
führte, ist auch sein Briefwechsel mit Jacobson, der im Hinblick auf die Reform des
synagogalen Kultus an der Freischule gern Gesangunterricht eingeführt gesehen hätte.
Übrigens hatte Jacobson mit dieser Initiative am Ende doch Erfolg, denn ein aus Schülern
der Freischule bestehender Chor trug in den kommenden Jahren zum reformierten Kultus
bei (472-475, 557, 572, 582; Meyer 1979, 149).
Wie schon zehn Jahre zuvor zu Itzigs Zeiten befand Nolte zum wiederholten Male, daß die
Freischule, obwohl Privatanstalt, eigentlich doch eher eine öffentliche Schule sei (467,
161). Bendavid verwendete diese Überlegung in der Achten Nachricht, um darzulegen, daß
die Freischule in der Tat imgrunde die Schule des jüdischen Publikums sei - anders als die
jüdischen Privatschulen, die nur bestünden, um ihren Vorstehern den Lebensunterhalt zu
sichern. In der Neunten Nachricht verwendete Bendavid den Begriff des Publikums
schließlich explizit in diesem Sinne (478, 485). Dies war das Ende der Bescheidenheit
Bendavids im Umgang mit den Reichen in der Gemeinde.
40
In der Literatur wird der Beginn der (Neo-) Orthodoxie üblicherweise später, nämlich mit Samson Raphael
Hirsch angesetzt, aber vielleicht wäre schon Heinemann zutreffend als Neo-Orthodoxer zu bezeichnen.
43
Die Freischule zwischen staatlicher Grundsatzpolitik
und jüdischer Kultusreform
Daß Bendavid gegenüber den reichen Gemeinde- bzw. Vorstandsmitgliedern nun einen
deutlicheren Ton anschlug, hatte vermutlich einen ganz konkreten Anlaß. 1816 wandte
sich Jeremias Heinemann an die Behörden, um die Konzession zur Gründung einer
privaten Mittelschule für Knaben zu erhalten, und David Fränkel bewarb sich um die
Leitung der privaten Knaben- und Mädchenbildungsanstalten des kurz zuvor verstorbenen
Moses Hirsch Bock. Kamen diese beiden Vorhaben durch, so würden sie - das eine im
Sinne der (Neo-)Orthodoxen um den Vize-Oberlandrabbiner Meyer Simon Weyl, das
andere im Sinne der liberalen Reformer um David Friedländer - genau das Terrain
bestellen, welches Bendavid für die Freischule beanspruchte, nämlich den
Aufgabenbereich einer mittleren und höheren Bürgerschule. Er mußte befürchten, daß sie
in einer solchen doppelten Konkurrenz nicht würde standhalten können - in einer
Konkurrenz, bei der es ja nicht nur um die Richtung der Erziehung und Bildung junger
Juden, sondern immer auch um finanzielle Unterstützung seitens der Gemeindemitglieder,
der Kontribuentinnen und Kontribuenten ging.
Bock und Fränkel hatten geplant, den gesamten Tanach in deutscher Übersetzung
gemeinsam neu herauszugeben; 1815 war in der von ihnen besorgten Ausgabe bereits
Mendelssohns Übersetzung der Fünf Bücher Mosis bei Friedrich Nicolai erschienen. In der
Vorrede hatten die Herausgeber dargelegt, daß die neue Ausgabe "zuvörderst für die
Herzogliche Franzschule in Deßau" sowie "für die Erziehungs- (63:) und Bildungsanstalt
des Dr. Bock in Berlin" bestimmt sei, aber sie seien gewiß, daß die Neuausgabe nicht nur
Israeliten, sondern den Bibelfreunden aller Konfessionen willkommen sein werde (481,
Anm.). Beide Schulmänner verfügten bei den jüdischen Modernisierern über einen
ausgezeichneten Ruf, so daß Bendavids Freischule aus diesem Vorhaben wohl in der Tat
ernsthafte Konkurrenz erwachsen konnte. - Nun, Fränkels Gesuch wurde von Nolte an die
zuständige Abteilung für Kultus und öffentlichen Unterricht des Innenministeriums
weitergeleitet. Er empfahl, solange für die Leitung des jüdischen Schulwesens noch keine
allgemeinen Grundsätze festgestellt seien, keine neuen Konzessionen zu erteilen, sondern
das Gesuch nur auf vorläufiger Basis zu bewilligen (481).
Der Topos von der unerwünschten Einwirkung auf Charakter und Geist
Im Zuge der folgenden Geschehnisse setzte Nolte, vermutlich unbeabsichtigt, einen
Zeitzünder in Gang. Mit seinem Vorgehen trug er dazu bei, einer antijüdischen Denkfigur
einen festen Platz in der preußischen Bildungsverwaltung zu verschaffen.
Den Hintergrund bildete der Regelungsvorbehalt in § 39 des Edikts vom 11. März 1812.
Solange die Bestimmungen über die künftige Gestaltung des Kultus und Unterrichts der
Juden noch nicht vorlagen, nahm man in der Bildungsverwaltung - auf die eine oder andere
Weise - immer wieder auf das Fehlen 'allgemeiner Grundsätze' Bezug. Zwar waren bereits
im Februar 1813 entsprechende Aufforderungen in die preußischen Provinzen ergangen,
die jüdischen Gemeinden sollten Repräsentanten schicken; in Berlin waren schon Meyer
Simon Weyl und Salomon Veit, in Breslau der schlesische Oberrabbiner Abraham Gedalie
Fichtiner gewählt worden. Im Juli 1813 wurden die geplanten Verhandlungen aber bis auf
weiteres verschoben (452, 453); erst einige Jahre danach wurden sie, zunächst in der
Kommission zur Prüfung des Judenzwists, noch später in Form von Beratungen über eine
neue Judenordnung im Ministerium Altenstein und im Ministerium für Inneres, wieder
aufgenommen. Zunächst jedoch gab es - außer dem zu Zeiten Humboldts in der Sektion
44
formulierten Grundsatz, 'Judenkinder möglichst auf Christenschulen zu schicken, damit
Juden und Christen sich möglichst amalgamierten' - keine allgemeinen Grundsätze dafür,
wie in dieser Angelegenheit weiter zu verfahren sei. Gleichwohl wurde unterdessen Politik
gemacht.
Wahrscheinlich im Bestreben, die Freischule vor verschärfter Konkurrenz zu schützen,
machte Nolte den zuständigen Rat im Innenministerium, Süvern, darauf aufmerksam, daß
an den unter jüdischer Direktion stehenden Privatschulen "auch Kinder christlicher Eltern
aufgenommen werden" - ein Umstand, der ihn in Verbindung mit der Freischule nie im
geringsten gestört hatte: Für viele Zeitgenossen markierte die unentgeltliche Amtsführung
Bendavids (ebenso wie vordem schon Itzigs und Friedländers) als Freischuldirektor eine
qualitative Differenz zu privatunternehmerisch geführten Schulen. Mit Hinweis auf die
ausstehenden Verhandlungen schlug Nolte vor, die Praxis der Beschulung christlicher
Kinder an jüdischen Privatschulen zwischenzeitlich stillschweigend zu unterbinden, und
zwar dadurch, daß jüdische Schulvorsteher künftig nur noch Konzessionen "zur Aufnahme
von (64:) Kindern ihrer Glaubensgenossen" erhielten. Außerdem schlug er vor, in der
städtischen Schulkommission einen Sachkundigen aus der jüdischen Gemeinde zu
bestallen und diesem "eine Special-Aufsicht" über die jüdischen Schulen zu übertragen abgesehen von den vier talmudischen, die weiterhin Weyl beaufsichtigen sollte. Man wird
nicht fehlgehen in der Annahme, daß Nolte für diese Position Bendavid im Auge hatte. Er
möchte bemerken, schrieb er, daß nicht einer der jetzigen jüdischen Schulvorsteher
förmlich konzessioniert sei: Nur die Freischule könne als eine unter dem Schutz des
Staates stehende und dieses Schutzes auch würdige Anstalt angesehen werden. Noltes
Absicht, die Freischule zu schützen und der politisch-pädagogischen Position Bendavids in
der Berlinischen Judenschaft größere Geltung zu verschaffen, hatte ungewollte
Auswirkungen.
Süvern war in einem bestimmten Punkt anderer Auffassung als Nolte (zu Süvern Jeismann
1974, 200ff, 258ff, Herrlitz u.a. 1993, 47ff). Er ging von dem Rechtsstandpunkt aus, daß
nur die talmudischen Schulen als Gemeindeschulen betrachtet werden könnten. Alle
anderen jüdischen Schulen seien, da sie von Privatpersonen unternommen würden, nach
dem Privatschulreglement zu behandeln: "Ihre Unternehmer müßen sich vorschriftsmäßig
deshalb melden" und "ihren Plan vorlegen" (482). Darüberhinaus könne man, dies war
wieder in Noltes Sinne, "bis zur allgemeinen Regulierung des jüdischen Schulwesens"
weder für die einen noch für die anderen Schulen endgültiges festlegen und keine
förmlichen Konzessionen erteilen. Damit befürwortete Süvern, wie Nolte vorgeschlagen
hatte, daß die interimistischen Tolerationsverfügungen, die jüdischen Schulvorstehern
erteilt wurden, auf die 'Kinder der eigenen Glaubensgenossen' zu beschränken waren.
Süvern führte jedoch noch ein neues Begründungsmoment ein: nämlich daß "der
Unterricht, den Christenkinder durch Juden erhalten, wenn er auch nicht gerade die
Religion betrifft, doch immer auf ihren Charakter und die Richtung ihres Geistes einwirkt"
(482). Mit diesem Bescheid Süverns an Nolte war der Topos von der 'unerwünschten
Einwirkung jüdischer Schulmänner auf Charakter und Richtung des Geistes christlicher
Kinder' in der Welt. Zweieinhalb Jahre später sollte er auch auf die Freischule
zurückfallen.
Die weitere Entwicklung bis zum Verbot von 1819
Bis dahin nahm dieser Topos einen Weg mit mehreren Stationen. Erste Station: Nachdem
der Topos von der 'unerwünschten Einwirkung' in der Kultus- und Unterrichtssektion
45
geboren war, ging er in Gestalt von Süverns Bescheid vom Juni 1816 zunächst zurück an
die anfragende Behörde, das Konsistorium der Provinz Brandenburg. Dieses - auf
Betreiben Noltes? - äußerte zunächst einmal Bedenken dagegen, daß Jeremias Heinemann
weiterhin den Titel eines Konsistorialrats führte (483), der aus Heinemanns Zeit im
Westphälischen Konsistorium der Israeliten in Kassel stammte und ihm in Berlin einiges
Ansehen verschaffte.41 Im Innenministe- (65:) rium wurde auf die Anfrage der Kultus- und
Unterrichtsabteilung, wie es denn nun mit den Verhandlungen wegen § 39 stünde,
weiterhin abwartend reagiert; die "Verschiedenheit der Meynungen" unter den Juden sei zu
groß (484).
Im Jahre 1817 wurde die vormalige Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht des
Innenministeriums (später als Departement oder Abteilung bezeichnet) zugunsten der
Kultus- und Unterrichtsabteilung des neugeschaffenen Ministeriums der Geistlichen,
Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten aufgelöst. Zuständiger Minister wurde Freiherr
von Altenstein. An diesen wandten sich am 16. Januar 1818 die Ältesten Gumpertz, Beer
und Schlesinger mit der Bitte um Unterstützung ihres Anliegens, der Synagoge einen
Anbau hinzufügen zu dürfen; sie wollten dort "deutschen Gottesdienst" mit Orgel und
Gesang durchführen. Vorangegangen war das wiederholt in Erinnerung gerufene Verbot
des Königs, der sich überhaupt den Schutz des 'hergebrachten Ritus' angelegen sein ließ,
den jüdischen Gottesdienst in Privathäusern bzw. anderswo als in der Synagoge abzuhalten
(516).
Inzwischen war den Liberalen zu Ohren gekommen, daß Bendavids Freischule bei einigen
Behördenvertretern einen Stein im Brett hatte. Wohl nicht ganz freiwillig beriefen sie sich
in ihrem Schreiben an Altenstein nunmehr darauf, daß "die Reichen" in der jüdischen
Gemeinde nicht nur die eigenen Kinder, sondern durch Errichtung der Freischule aus
eigenem Antrieb stets "auch die Sprößlinge armer Abkunft" bedacht hätten (518). Ein
bemerkenswertes Datum, daß hier der Gemeindevorstand zum ersten Mal die Freischule
mit seinen Fahnen schmückte. Aber erklärlich: zum einen wegen der engen Verknüpfung
von Kultus- und Schulreform in § 39 des Edikts von 1812; sie ließ es den Reichen zwecks
Beförderung ihrer Kultusreform nunmehr vorteilhaft erscheinen, auf die Freischule zu
zeigen. Zum anderen hatte Bendavid unverhohlen damit gedroht, an die Öffentlichkeit zu
gehen, wenn die Reichen der Freischule (deren Mietvertrag vertragsgemäß gekündigt
worden war) nicht zu einer ordentlichen Schulwohnung verhalfen: "Bevor die Schule sich
auflöset, werde ich auf das beste Examen halten und wie gewöhnlich dem Publico eine
Nachricht von dem Zustand der Anstalt mittheilen. Ich, ich für meine Person werde vor
Gott und Menschen gerechtfertigt erscheinen. Ich werde zeigen, daß ich seit 12 Jahren der
Anstalt mit Treue u Liebe uneigennützig vorgestanden", "daß ich [...] zwar nichts
sehnlicher als den Bestand der Anstalt wünsche, aber daß dieser mein Wunsch nicht in
Erfüllung gehen könne, weil sich keine Wohnung gefunden hat. Wenn dann die Welt
fragen wird: aber hat sich denn in allen den Häusern der Reichen keine Wohnung für die
Anstalt gefunden? Thun denn die Reichern im Volke so wenig zur wahren Beförderung der
Aufklärung? - Was soll ich darauf antworten? Soll ich sagen: Ja! die Herren Ältesten haben
eine Wohnung gehabt, die Sie der Schule wohl hätten einräumen können, aber Sie haben es
deshalb nicht gethan, weil" usw. (504). Zuvor hatte sich Bendavid der Unterstützung des
Oberregierungsrats v. Kamptz versichert: "Der Einfluß den Sie auf den Banquier Herz
Beer und den Liebermann Schlesinger haben, ist mir bekannt: Ein Wort von Ihnen, und
beyde sind ohne Widerspruch entschlossen" (500-505). Nichts könnte die in der
41
Karo u.a. (1993) weisen darauf hin, daß die (Handlungs-) Schulen von Jost und Heinemann sich großen
Zulaufs von Seiten der Berlinischen höheren Stände erfreuten.
46
Schulhistoriographie öfters betonte Notwendigkeit, zwischen offiziellen Verlautbarungen
und dem Geschehen hinter den Kulissen zu unterscheiden, treffender (66:) illustrieren als
die Glätte, in welcher sich dieser Vorgang wenig später in den Freischul-Nachrichten (524)
darstellte.
Das Gesuch der Ältesten warf die ungelöste Frage der Regelung des jüdischen Kultus
wieder auf. Um zu klären, wie damit weiter verfahren werden solle, kam Altenstein auf die
Bestimmung des Paragraphen 39 zurück und setzte eine Kommission zur Prüfung des
Judenzwistes ein. Der Oberpräsident der Brandenburgischen Provinzialregierung, v.
Heydebrek, beauftragte Oberkonsistorialrat Nolte und Regierungsrat Patzig mit der
Kommissionsleitung, als Gutachter waren außerdem Konsistorialrat Bellermann und
Superintendent Marot, beide Mitglieder der Schulkommission des Berlinischen Magistrats,
ferner der Schulmann und Reformer Isaac Levin Auerbach tätig, nachträglich auch Propst
Hanstein (519-521, 549-550; Brammer 1987; Meyer 1979, 1992).
An der Jahreswende 1818/19 legte die Kommission ein umfangreiches Gutachten vor,
welches sie als umfassende Vorlage im Sinne der erwähnten fehlenden 'allgemeinen
Grundsätze' verstand. Hinsichtlich der einzuschlagenden Mittel und Wege beinhaltete
dieses Gutachten ziemlich genau das Gegenteil dessen, was Humboldt zehn Jahre zuvor
gefordert hatte: die Erteilung des Staatsbürgerrechts nicht vom zuvor zu erreichenden
Stand der Kultur unter den Juden abhängig zu machen. Nolte und Patzig dagegen erklärten,
daß § 39 ebenjene Bedingung definiere, unter welcher den Juden "so bedeutende Rechte
verliehen worden" seien, nämlich einen entsprechenden Grad religiöser und sittlicher
Bildung, einen angemessenen Kultus, Erziehung und Unterweisung der Kinder. Gemeint
waren nicht die neuen jüdischen Intellektuellen, nicht Kultus- und Schulreformer wie
Auerbach, Kley oder Bendavid, sondern jene Juden, die immer noch zögerten, 'sich ihren
Mitbürgern anzuschließen' und durch 'angemessene Einrichtung ihres Kultus und
Unterrichts sowie durch Sorge für die Kinder die große Kluft auszufüllen, die zwischen
den Christen und ihnen' bestehe. Dies war einerseits an die Adresse Meyer Simon Weyls
gerichtet, der sich der von den Reichen geplanten Kultusreform verweigerte und weiterhin
polnische Talmudgelehrte förderte (522, vgl. 549-551). Gerügt wurden auf der anderen
Seite aber auch die reichen jüdischen Kaufleute und Bankiers Berlins, weil sie 'für ihre
Kinder die Schulen der Christen benutzten oder Hauslehrer und Gouvernanten bezahlten',
sich aber ansonsten kaum um Erziehungs- und Bildungsangelegenheiten kümmerten, so
daß die ärmere Klasse 'in der Verwilderung' aufwachse: "Berlin hat zwar eine jüdische
Freischule; aber sie wird von der Gemeinde wenig unterstützt" (522). Dem christlichen
Konfirmandenunterricht vergleichbares gebe es gar nicht.
Weitere Teile des Gutachtens widmeten sich einer ausführlichen Darstellung der
Verfassung der jüdischen Gemeinde; Friedländers Schrift Über die Umbildung von 1812
wurde einbezogen. Nolte und Patzig beriefen sich darauf, daß "vielfache Rücksprache mit
streng gläubigen Juden und mit solchen, die zur neuen Gemeinde sich bekennen", gehalten
worden sei. Die Kommissarien hätten "unter diesen und jenen der braven Männer viele
kennengelernt", aber umso schwerer sei es, wie man "lebhaft und aufrichtig" wünsche,
beiden Seiten zugleich Gerechtigkeit widerfahren (67:) zu lassen (ebd.). Für und Wider
einer Reform des jüdischen Kultus wurden erörtert, Maßnahmen für das Schulwesen
vorgeschlagen. Hierunter fiel die Empfehlung, den unter jüdischer Leitung stehenden
Lehranstalten die Aufnahme christlicher Kinder 'wegen des ermangelnden
Religionsunterrichts' zu untersagen.
47
Nolte und Patzig kämpften mit ihrem Gutachten an zwei Fronten. Zum einen konstatierten
sie das Desinteresse der reichen Liberalen an einer aktiven Schulpolitik: Die Frage einer
ausreichenden säkularen und religiösen Unterweisung für die Masse der preußischen
Judenschaft war, wie sie feststellten, definitiv kein Anliegen des damaligen Vorstands der
Berliner jüdischen Gemeinde. Zum anderen stießen sie bei der Orthodoxie auf Desinteresse
in der Frage säkularer Schulbildung für die Judenschaft. So geschah es, daß mit dem
Gutachten gleichzeitig ein weiterer Topos in die Welt gesetzt wurde, nämlich: Daß es am
zweckmäßigsten sei, bei den Schulen anzusetzen, denn hier könnten durchgreifende
Veränderungen erzielt werden, "ohne erheblichen Widerspruch" von liberaler oder
orthodoxer Seite befürchten zu müssen. 'Richtigkeit des Grundsatzes: erster Angriff beim
Elementarschulwesen' - auf diesen Topos stützte sich Altenstein bei den Beratungen über
eine neue 'Judenordnung' noch in den 1830er Jahren.
Falls Nolte gehofft haben sollte, daß die feinen Unterschiede, die er zwischen jüdischen
(öffentlichen und privaten) Schulen auf der einen, der Freischule auf der anderen Seite
gemacht hatte, höheren Orts wahrgenommen würden, hatte er sich getäuscht. Und so
nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Zunächst leitete Heydebrek das Nolte-Patzig-Gutachten
an Altenstein weiter. Namens des Ministers Altenstein forderte Süvern bei der
Provinzialregierung die Eilfte Nachricht vom Zustand der Freischule an: Höheren Orts war
zu Ohren gekommen, daß darin (wie schon in früheren Nachrichten) angemerkt war, daß
'die christlichen Schüler in der Zeit, wo Herr Meyer Religion unterrichtet, anderweitig
beschäftigt' würden.
Schon kurz zuvor hatte die Provinzialregierung die Berlinische Schulkommission
beauftragt, die Anzahl der christlichen Kinder an den jüdischen Schulen zu erheben. Ihr
war daraufhin berichtet worden, daß sich insgesamt sechzig Christenknaben in jüdischen
Schulen befänden, davon allein 23 in der Freischule und 25 in der Handlungsschule des
Isaac Marcus Jost, jeweils 4 bei Heinemann, Bethmann und Fränkel - und dies, obwohl
bereits in den Tolerationsverfügungen vom 22. Juni 1816 "ausdrücklich bemerkt ist, daß
die Verfügung sie nur zur Aufnahme jüdischer Kinder" berechtige (526). Konsistorialrat
Bernhardi an Altenstein: Man wisse nun nicht, ob man berechtigt sei, die Beschulung der
Christenkinder förmlich zu untersagen, oder ob man für Abhilfe durch Einstellung
christlicher Lehrer an jenen Schulen sorgen solle. An der Freischule würde dies, so wurde
erwogen, bei ihren geringen Fonds sicher zur Entlassung der christlichen Knaben führen,
bei Heinemann, Bethmann und Fränkel wegen der geringen Anzahl ebenfalls. Andererseits
teile man den in der Tolerationsverfügung ausgesprochenen Grundsatz, "daß der Unterricht
den Christen-Kinder durch Juden erhalten, wenn er auch nicht gerade die Religion betrifft,
doch immer auf ihren Charakter und die Richtung ihres Geistes einwirkt", folglich ganz
untersagt werden müsse (ebd.). (68:)
Damit war die zweite Station in der Verbreitung des Topos von der 'unerwünschten
Einwirkung' erreicht; er war jetzt auch in der Spitze des neugeschaffenen Ministeriums
Altenstein gegenwärtig. Aufgrund dieses von Le Coq und Heinsius mitunterzeichneten
Schreibens der Provinzialregierung ermächtigte Süvern im Namen des Ministers die
Provinzialregierung, "für die Zukunft allen jüdischen Schulvorstehern die Aufnahme von
Christen-Kindern an ihren Schulen förmlich zu untersagen" (527) und für unverzügliche
Entlassung der besagten sechzig Knaben zu sorgen.
Nachdem sie hiervon Mitteilung erhalten hatte, beantragte die Schulkommission des
Berlinischen Magistrats bei der Provinzialregierung am 19. Februar die Rücknahme des
Verbots. Sie wurde von Heinsius und Bernhardi jedoch beschieden, man dächte nicht
48
daran, dem Ministerium die Rücknahme des Verbots vorzuschlagen (zu Bernhardi
Lohmann 1984, zu Heinsius Lohmann 1993, 237ff). Denn selbst wenn man unterstelle,
"daß die allgemeine Religion, welche nach der Ansicht des Magistrats vorläufig den
Unterricht in der christlichen ersetzen könne, aus dem Munde eines jüdischen Lehrers ganz
ungetrübt fließe", so seien die Christenknaben an der Freischule dennoch unversorgt.
Überhaupt sei das, "was man allgemeine Religion nennt", nichts anderes als
Popularphilosophie, die die Zerstörung des religiösen Sinnes begründe, "indem sie den
Glauben an etwas Höheres, als die menschliche Vernunft ist, im Keime vernichtet". Im
übrigen sei es "auch wohl nicht zu verkennen, daß der Unterricht den Christen Kinder
durch Juden erhalten, wenn er auch nicht grade die Religion betrift, doch immer auf ihren
Caracter und die Richtung ihres Geistes nicht ganz vorteilhaft einwürckt" (528). Dies war
die dritte Station in der Verbreitungsgeschichte des Topos von der 'unerwünschten
Einwirkung'.
Da half es gar nichts, daß Bellermann der Schulkommission des Berlinischen Magistrats
unterstützend zur Seite sprang und ironisch darauf hinwies, daß der christlichen Religion
wohl keine Gefahr drohe, wenn 25 bis 30 künftige christliche Kaufleute ihre Vorkenntnisse
in einer Anstalt suchten, die ein Jude dirigiere: Wenn die Behörden dem jüdischen
Kaufmann Gelegenheit gäben, viele Millionen zu erwerben, dann möge man doch dem
jüdischen Schulvorsteher ruhig die paar Taler zusätzlichen Schulgeldes gönnen (529; dazu
Karo u.a. 1993, 440). Es gab noch einiges Hin und Her, weil die Schulkommission
versuchte, wenigstens Ausnahmen für die Zeit zu erwirken, in der es keine christlichen
Handlungsschulen gab. Doch diese Bemühungen waren vergeblich. Am 10. September
1819 mußte die Berlinische Schulkommission Bendavid mitteilen, das Verbot der
Beschulung christlicher Kinder sei nunmehr unabänderlich ausgesprochen (535).
Die skizzierten Vorgänge zur Regelung des jüdischen Schulwesens in Berlin bildeten
zugleich die Grundlage für entsprechende Regelungen in den Provinzen, z.B. in Schlesien.
Der Provinzialregierung zu Breslau wurde aufgetragen, die jüdischen Winkelschulen zu
schließen und die schulpflichtigen Kinder entweder in christliche oder in jüdische Schulen
zu schicken: sofern diesen staatlich geprüfte Lehrer vorstanden (536, 570). Die zu
schließenden 'Winkelschulen', das waren die hadarim, die Anstalten der traditionellen
Unterweisung, die von jüdischen Familien oder von den Gemeinden unterhalten und von
polnischen Talmudgelehrten und Schulmeistern (69:) betrieben wurden (vgl. auch Breuer
1996, 177ff; zur Kontroverse zwischen Süvern und Beckedorff um die künftige Verfassung
der allgemeinen Volks- bzw. Elementarschulen Blankertz 1982, 132ff, Herrlitz u.a. 1993,
47ff).
Auswirkungen
Die Auswirkungen des Verbots der Beschulung christlicher Schüler an jüdischen Schulen
waren weitreichend. Im Unterschied zu den reichen Liberalen, die mit ihrer Kultusreform
beschäftigt waren (572-578), erkannte Bendavid in dieser Regelung sofort die Grenzen der
jüdischen Integrationsbemühungen. Er erkannte daran aber auch die Grenzen seiner
eigenen Bemühungen darum, der Konzeption einer religiös-erneuerten und säkularen
Bildung bei der Judenschaft allgemeine Geltung zu verschaffen. Später warf Bendavid den
Repräsentanten der Wirtschaftsbourgeoisie im Gemeindevorstand vor, es versäumt zu
haben, sich zum Subjekt einer Reform der gesamten Judenschaft zu machen. Mit ihrem
Egoismus und der Beschränkung ihres Reformstrebens auf die eigene soziale Schicht
hätten sie zum Untergang des Geistes beigetragen, der immer im jüdischen Volk gelebt
habe. - Doch zunächst:
49
Die Finanzsituation der Freischule verschlechterte sich nicht nur durch den erzwungenen
Abgang der christlichen Schüler. Es entfielen ebenfalls Einnahmen aus der Buchdruckerei,
teils in Verbindung mit der Verpachtung an Jeremias Heinemann, teils weil im Zuge der
Gewerbefreiheit nun auch andere Druckereien die jüdischen Kalender vermarkteten (515,
544, 553). Ein Ereignis, das zu einem früheren Zeitpunkt für die weitere Entwicklung der
Anstalt bedeutend gewesen wäre - eine Art 'königliche Anerkennung' durch eine jährliche
Spende von Seiten der Königlichen Kalender-Deputation, die auf Betreiben des
Handelsministers v. Bülow zustandekam und als Entschädigung für den Wegfall der
Einnahmen aus dem Kalenderverkauf gedacht war (582) - half jetzt über die Krise nicht
mehr hinweg. Im Programm vom August 1820 brachte Bendavid die Folgen des Verbots
auf den Punkt: An der Freischule sei eine Veränderung eingetreten, "die an ihrem ganzen
Wesen nagt". Denn die Erfahrung habe stets gezeigt, daß die Schule für Juden- und
Christen-Knaben gleichen Nutzen gewährte, und eben deshalb habe sie den Beifall
'angesehener Staatsdiener, ja selbst höchst achtbarer Geistlicher' gefunden. Der Tag der
Verordnung sei ein Trauertag gewesen: "Alles weinte laut auf; als hätten die entlassenen
Christen-Knaben ihre Eltern, die zurückgebliebenen Juden-Knaben ihre Brüder, und die
Lehrer und Vorsteher ihre Kinder verloren" (546; Bahnsen 1997). Außerdem hätten
Schüler aus Provinzen, in denen das Edikt von 1812 nicht galt, zum Schaden des inneren
Zustands der Schule Berlin verlassen müssen. Bendavids anklagender Hinweis, daß von
den entlassenen christlichen Schülern noch ein Jahr später 'viele ohne allen Schulunterricht
herumgingen', traf wohl zu. Denn ebendiese Situation war im August 1820 Thema einer
Konferenz der Berliner Schuldeputation, auf welcher die Auswirkungen der
Gewerbefreiheit auf das Schulhalten diskutiert wurden (547). Ungeachtet
verschiedentlicher Geldnöte konnte Bendavid im Programm vom März 1822 zwar
berichten, daß es gelungen war, die Freischule "wieder anderthalb Jahre zu erhalten". Aber
er führte auch weiterhin alle Argumente ins (70:) Feld, mit denen er "die Herren Vorsteher
der Gemeinde und andre gute Menschen" wirkungsvoll unter Druck setzen konnte. Seine
Ausführungen am Schluß der Dreyzehnten Nachricht waren ein Lehrstück in Sachen
Funktionalisierung der öffentlichen Meinung (553). Und sie trugen Früchte - so daß sich
1823 erstmals seit zwanzig Jahren wieder Anlaß fand, das Wörtlein 'Gemeingeist' in einem
Freischulprogramm zu verwenden (141, 569).
In der Vierzehnten Nachricht warnte Bendavid dann mit ungewöhnlichem Nachdruck
davor, die Lage zu verkennen, in der sich die Judenschaft hinsichtlich der Gleichstellung
befinde. Er erinnerte an vergangene Zeiten, in denen Araber und Juden "die Morgenröthe
der wieder aufgehenden wissenschaftlichen Sonne herbeyführten", und daran, daß trotz
zeitweiligen kulturellen Stillstands vom Mittelalter bis auf die Gegenwart - "mit Ausnahme
der Bewohner einiger großen Städte" - in der gesamten Judenheit stets die Tradition
geistigen Strebens, des Studiums von Talmud und Bibel wachgeblieben sei. Den Reichen
warf Bendavid äußerste Kurzsichtigkeit vor, wenn sie der Mehrheit der jüdischen Jugend
Bildung nur "wie dem Vieh sein Futter, nach Maß und Gewicht, so kärglich und schlecht
wie möglich" zukommen ließen. Sie sähen den höheren Standpunkt nicht, auf den sich die
Freischule von Anfang an gestellt habe. Nicht um Sprach- und Geschichtsforscher
auszubilden, sei sie angetreten, sondern "um den Geist nicht untergehen zu lassen, in dem
und durch den das Volk lebt; um selbst dem nachmahligen Handwerker einen geistigen
Zehrpfennig auf seine beschwerliche Wanderschaft hienieden mitzugeben", damit er
seinen Bürgersinn nicht verliere, auch wenn sein Stand überall in der bürgerlichen
Gesellschaft noch unsicher sei. - Bendavid ging noch weiter: Wem die Knaben aus den
Provinzen anstößig seien, der möge zur Kenntnis nehmen, daß die Freischule seit fast
einem halben Jahrhundert tausende von Menschen aus Deutschland, aus Polen und
Rußland gebildet und in ihnen den Bürgersinn geweckt habe: "Ihr sehet die Knaben dann
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und wann während der Lehrzeit auf den Straßen, und tadelt sie als Müssiggänger. Aber Ihr
kennet die Lage dieser armen Knaben nicht". Was Bendavid umtrieb, war die von ihm
wahrgenommene Gefahr eines Ausschlusses großer Teile der jüdischen Jugend von der
Bildung: "Errichtet nur lauter recht wohlfeile Handwerksschulen, deren entlassene Schüler
nun eine Schneiderrechnung nothdürftig anfertigen und das Einmahleins an Händen und
Füßen abzählen können! Sie kosten fast nichts; aber Ihr werdet Eure Wunder erleben. In
kurzem habt Ihr eine Nachkommenschaft erzielet, die beydes, aus Brotneid gehaßt, wegen
ihrer Dummheit verachtet und in ihrer bürgerlichen Freyheit mehr als je beschränkt seyn
wird!" (569)
Für Bendavid drängte die Zeit. Er war jetzt einundsechzig Jahre alt, und er brauchte neue
Verbündete, wenn die Freischule ein für allemal auf eine gesicherte Grundlage gestellt
werden, wenn auch ein Lehrerbildungsseminar, das er als dringend notwendig erkannte,
zustandekommen sollte. Bendavid fand solche neuen Verbündeten im 1819 gegründeten
Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. Im Sendschreiben des Vereins, welches der
Vierzehnten Nachricht beigefügt war, forderte Leopold Zunz dazu auf, nun endlich eine
Gemeindeschule zu gründen. - In der Funfzehnten Nachricht berichtete Bendavid, wie es
damit alles andere als zügig voranging. (71:) Mittlerweile lautete seine Formulierung ohne
Beschönigung, daß die Gemeindevorsteher "nichts für das Schulwesen thun" (582).
Bildungspolitische Maßnahmen 1824-1825
Unterdessen wurden die in der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht begonnenen
Maßnahmen zur Regulierung des jüdischen Bildungswesens vom Ministerium Altenstein
weiter auf die preußischen Provinzen ausgedehnt. Dabei rückte die staatliche Prüfung
jüdischer Lehrer ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn vor die Alternative gestellt, die
Kinder in christliche oder in neuzugestaltende jüdische Schulen zu schicken, entschieden
sich viele Gemeindevorstände, "wie zu vermuthen" war, für die Einrichtung moderner
jüdischer Elementarschulen (570). Bendavid war nicht der einzige, dem vorschwebte, daß
seine Schule geeignet sei, um eine Anstalt zur Ausbildung jüdischer Lehrer ergänzt zu
werden. Mehr und mehr war nun der neue Typ eines auch säkular gebildeten jüdischen
Lehrers gefordert, welcher der Prüfung durch die Behörden würde standhalten können.
Aber: wo sollte er seine Vorbildung erhalten? (579-581)42 - Alles, so Bendavid, hing nun
vom Gemeindevorstand ab.
1823 war ein neuer Gemeindevorstand gewählt worden; Gumpertz, Beer und Schlesinger
gehörten ihm nicht mehr an (dazu Meyer 1992). Man kann vermuten, daß Bendavids
Schulprogramme indirekt zu dem Wechsel beitrugen; eine Analyse der Sozialstruktur der
Freischul-Kontribuentenschaft dürfte dies wahrscheinlicher machen als es vielleicht
zunächst klingt. Der neue Vorstand nahm sich umgehend der schulischen
Bildungsangelegenheiten an. Dabei stellte sich heraus, daß einer Verfügung von Seiten des
Oberpräsidiums vom 12. Februar 1820 an den Gemeindevorstand, sich mit dem
Oberlandesrabbiner - zuständig wäre stellvertretend Meyer Simon Weyl gewesen - über
ein Äquivalent zu Konfirmation oder Empfang des Abendmahls bei den Christen zu
beraten, nicht Folge geleistet worden war (586). Die neugewählten Ältesten beriefen sich
auf den Zweck jener Verfügung, der darin bestehe, daß "alle Personen beiderlei
Geschlechts vor ihrem Eintritt ins bürgerliche Leben" ein Zeugnis über erhaltenen
Religionsunterricht beibringen sollten, das von den Ältesten zu unterzeichnen war.
42
Welche Schockwirkung die entsprechenden Regularien bei alten Talmudlehrern in der Provinz haben
konnten, schildert literarisch Bernstein 1857/ 1994; vgl. dazu Glasenapp 1998.
51
Dementsprechend sei es seit jener Verfügung gesetzliche Vorschrift, für den nötigen
Unterricht zu sorgen. Aber weder waren solche Zeugnisse bei den Ältesten nachgesucht
noch anscheinend jemals von Seiten der Staatsbehörden verlangt worden (583).
Die Ältesten wandten sich an den Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg, v.
Heydebrek, mit der Bitte, dieser Verordnung nunmehr praktische Geltung zu verschaffen.
Doch die Behörde berief sich wiederum auf das Fehlen 'allgemeiner Grundsätze': die
Ältesten sollten selber Sorge tragen. Daraufhin erbat der neue Gemeindevorstand
Unterstützung vom Ministerium Altenstein: Es sei Pflicht des Gemeindevorstandes, für
eine den neuen staatsbürgerlichen Rechten angemessene Bildung aller Juden zu sorgen,
und Unterricht und Erziehung seien dazu die allei- (72:) nigen Mittel. Es gebe zu viele
Juden, die sich nach wie vor allein dem Studium des Talmuds widmeten, andere wendeten
sich von jeglicher Religion und Gotteslehre ab. Aufgabe der Gebildeten sei es, hier Abhilfe
zu schaffen. Es sei nötig, die Schulpflichtbestimmung des preußischen Allgemeinen
Landrechts (ALR, von 1794) für die jüdische Jugend in vollem Umfang zur Geltung zu
bringen. Das bedeutete: Unterrichtspflicht ab dem Alter von sechs Jahren,
Religionsunterricht durch staatlich geprüfte, von der Gemeinde anzustellende Lehrer. Das
Ministerium möge befehlen, "daß kein Genosse jüdischer Religion zur Ausübung eines
Gewerbes und Errichtung eines eigenen Hausstandes zugelassen werde, bevor er nicht ein
Zeugniß beigebracht haben wird, daß er hinlänglichen Unterricht in Sonderheit in der
Religion genossen habe". Und schließlich: Man bäte um Mitteilung, welche Königliche
Behörde für die zu errichtende Gemeindeschule zuständig sei (585).
Um es zusammenzufassen: Das Ministerium befaßte das Konsistorium der Provinz
Brandenburg, welches seinerseits für Berlin nicht die Notwendigkeit weiterer jüdischer
Elementarschulen, wohl aber eines Lehrerbildungsseminars sah; den Ältesten wurde
mitgeteilt, daß in Fragen der Gemeindeschule das Konsistorium zuständig sei; die
fehlenden allgemeinen Bestimmungen zu treffen, sei Sache des Innenministeriums. Das
Konsistorium möge für öffentliche Bekanntmachung der Verordnung wegen hinlänglichen
(Religions-) Unterrichts sorgen. Und schließlich wurden Pläne für die Errichtung einer
Schule für die jüdische Gemeinde zu Berlin entworfen, der erste von Lazarus Bendavid
selbst (591), sodann von Isaac Levin Auerbach (592), von Leopold Zunz (594), vom neuen
Gemeindevorstand (595). Das Konsistorium teilte mit, es gebe seine Genehmigung gern.
Im abschließenden Gesuch des Gemeindevorstands um Bestätigung des Einrichtungsplans
hieß es: "Wenn wir die jüdische Jugend in denjenigen Wissenschaften und Fertigkeiten
unterrichten lassen wollen, welche fleißige Landbebauer, nützliche Handwerker,
geschickte Künstler, thätige Kaufleute, angehende Gelehrte und überhaupt gehorsame
Unterthanen bilden, so haben wir es auch in dem ganzen Plane und dessen einzelnen
Theilen ausgesprochen, daß wir eine religiöse und sittliche Bildung der Jugend
beabsichtigen und zu dem Ende eine Unterweisung in den heiligen Schriften Mosis und der
Propheten nach der uralten Lehre der Juden für nothwendig erachten. Der Unterricht der
Schule und der Synagoge steht in einer gewissen Verbindung" (612). Wenn auch
Bendavids Plan bei der Einrichtung der Gemeindeschule letztlich keine Rolle spielte, so
war das für ihn entscheidende Moment - jüdische Bildung - doch darin enthalten. Aber
zugleich war unverkennbar, daß nun ein neues bildungsgeschichtliches Kapitel begonnen
wurde.
Zur gleichen Zeit wurden die ministeriellen Verordnungen bezüglich des jüdischen
Schulwesens in Schlesien zunächst für die Provinz Brandenburg mit Berlin, schließlich für
die gesamte Monarchie in Anwendung gebracht (587, 607, 625-628). Da Altenstein sich
hinsichtlich der Bitte der Ältesten, sie bei der Durchsetzung der allgemeinen
52
Unterrichtspflicht für die gesamte jüdische Jugend zu unterstützen, für unzuständig erklärt
hatte, wandten sich diese nunmehr ans Innenministerium. Vom Innenminister Schuckmann
erhielten sie den Bescheid, daß man von ausgedehnteren Zwangsmaßregeln, um die
israelitische Jugend zum Schulbesuch anzuhalten, als das ALR sie vorsehe, nicht gern
Gebrauch machen wolle (609-610). (73:)
Dieser Vorgang, der mit dem Vorstoß des neuen Gemeindevorstands, sich nun endlich der
Bildung der gesamten jüdischen Jugend anzunehmen, begonnen hatte, setzte jene
Beratungen zwischen den Ministerien des Innern und der Polizei sowie für Geistliche,
Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten in Gang, die als Verhandlungen über eine neue
Judenordnung in der Literatur bekannt sind (Brammer 1987, 219ff; Jersch-Wenzel 1996,
46ff).
Im Mai 1825 informierte das Ministerium Altenstein den Gemeindevorstand, daß Meyer
Simon Weyl einen Reorganisationsplan für die Talmud Tora in Verbindung mit dem Plan
für ein Lehrerseminar vorgelegt habe. Es seien noch einige Modifikationen vorzunehmen,
aber man sei gewiß, daß der Plan bald in die Tat umgesetzt werden könne (613-614). Nun,
die gleichzeitige Realisierung des Gemeindeschulplans und des Plans einer neuen Talmud
Tora verliefen nicht ganz reibunglos. - Es begann die Auseinandersetzung um die
Ausrichtung der Lehrerbildung, um die Dominanz von Reform oder Orthodoxie (616-623,
662; allgemein zur damaligen Lehrerbildung Tenorth 1987). Dies war der Hintergrund für
Weyls Bitte an das Ministerium für Inneres und an das Ministerium Altenstein, ihm den
Wortlaut des Gutachtens über das Rabbineramt zugänglich zu machen, welches als
vormaliger Gemeindeältester der Bankier Ruben Gumpertz verfaßt hatte (620-622, 638,
644). Der Streit um die Lehrerbildung war auch der Hintergrund für Bellermanns
Parteinahme gegen die Weyl-Heinemannsche Schule, die geplante neue Talmud Tora
(623). Naumann Simonsohn, der 1796 bereits gegen die Meassfim aufgetreten war, meldete
sich 1825 mit einer Schrift zur Verteidigung des "bei der gelehrten Welt so verkannten
Talmuds und der noch mehr verkannten Rabbinen unserer Zeit" zu Wort (104, 629).
Trotzdem zeigten etwa die positive Bezugnahme Salomon Pleßners (des Herausgebers von
Simonsohns Schrift) auf Wessely und Pleßners Bemerkung über Autoren, "die bald für,
bald gegen den Talmud sich erklären" (630), daß die Fronten zwischen Haskala und
Traditionalismus nicht mehr ganz so eindeutig verliefen wie ehedem.
Das letzte Jahr der Freischule
Die Verordnung, wonach die jüdischen Lehrer sich wie alle Lehrer einer staatlichen
Prüfung unterziehen mußten, hatten die neuen Ältesten öffentlich bekanntgemacht. Im
Februar 1825 war dies für Bendavid Anlaß, sich bei Oberkonsistorialrat Bellermann zu
erkundigen, ob die Verordnung auch für die Freischullehrer gelte und wie sie umzusetzen
sei. Bellermann antwortete, er wolle sich erkundigen und teilte dann mit, sie gelte nur für
neu anzustellende Lehrer. Diese sollten sich bei ihm, Bellermann, melden (596-598).
Im Programm der Freischule vom März 1825 teilte Bendavid dem Publikum mit, die
Direction schwebe "zwischen Furcht und Hoffnung über das künftige Schicksal unserer
Anstalt" (606). Zu diesem Zeitpunkt lag sein eigener Entwurf für die Gemeindeschule
bereits vor, aber die Planungen für sie waren noch in vollem Gange. (74:)
Im Januar 1826 erschien die Letzte Nachricht von der jüdischen Freyschule in Berlin:
Nach achtundvierzigjährigem Bestand der Schule und nach fast zwanzigjähriger
Geschäftsführung habe er, schrieb Bendavid, sein Amt "freudig niedergelegt, um einer
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andern, vollständigern Anstalt und jüngeren Kräften zur Leitung derselben, Platz zu
machen" (635). Mit der Eröffnung der Gemeindeschule sei sein langgehegter Wunsch
erfüllt. Die Mitglieder der Gemeinde bräuchten den 'Tod der Freischule' nicht zu beklagen,
sondern könnten von der neugeborenen Anstalt den segenreichsten Erfolg erwarten.
Nachgeschichte
Nicht beendet, sondern durch die vorangegangenen Entwicklungen geradezu erst
aufgeworfen war das Problem der Beschulung der jüdischen Jugend in den Provinzen der
preußischen Monarchie. Durch das Edikt vom 11. März 1812 hatte diese Frage
grundlegende staatspolitische Bedeutung erhalten. Welche Rolle hatte in dieser
Problematik die Gemeindeschule?
Anfänge der 'jüdischen Gemeindeschule Talmud Tora'
Zunächst einmal ist nicht zu verkennen, daß die Gemeindeschule in der Schullandschaft
von vornherein anders situiert war als die Freischule. Die Freischule war speziell von
Bendavid als Pflanzstätte zur Verbreitung der Aufklärung sowie einer erneuerten religiösen
Bildung unter der gesamten preußischen Judenschaft (besonders in den östlichen
Regionen) verstanden worden. In welchem Ausmaß Unterricht und religiöse Erziehung
zumal in der Provinz im Argen lagen, hatten ja die Erhebungen in der Kurmark in den
Jahren 1806 und 1812 gezeigt. Der neue Vorstand und die jüngeren Schulmänner hingegen
konnten gar nicht umhin, die Gemeindeschule in erster Linie als Schule für die Berliner
Judenschaft, allenfalls noch als jüdisches Bildungszentrum für Brandenburg, zu verstehen
(675; es ist anzunehmen, daß die neue Schule außerdem das Modell für den Plan einer
Öffentlichen und Freischule der jüdischen Gemeinde in Strelitz abgab; vgl. 103, 651-652).
Die preußische Judenschaft hatte sich durch die hinzugekommenen Staatsgebiete
zwischenzeitlich erheblich vergrößert - und damit auch die Problematik einer
angemessenen Beschulung. Ein Beispiel für die Konsequenzen, die diese neuen
Dimensionen etwa für die Kommunikationen zwischen Schuldirektion und
Bildungsverwaltung hatte: Wenn sich Itzig einst an den König (1798) oder an Massow als
"Chef des vaterländischen Schulwesens" (1805) gewandt hatte und die Antwort durch
Nolte vermittelt sozusagen über den direkten Draht verlief, so war jetzt zwar immer noch
derselbe Nolte beteiligt, aber der Apparat der Bildungsverwaltung hatte sich erheblich
vergrößert und ausdifferenziert - so daß sich die Gemeindeältesten nun auch schon einmal
sagen lassen mußten, sie möchten sich der Unangemessenheit des Schrittes bewußt sein,
daß sie den König mit Eingaben ohne eigentlichen Zweck behelligten und Seiner Majestät
zumuteten, ihre Lektionspläne durchzulesen (640). – Aber die Verwaltungsstrukturen
waren jetzt nicht nur wegen interner (75:) Ausdifferenzierungen komplexer, sondern auch
deshalb, weil speziell seit der preußischen Reformära darin keineswegs inhaltlich
einheitliche Positionen vertreten waren. So stellte sich beispielsweise der Minister für
Inneres und Polizei, Schuckmann - der in der bildungshistorischen Forschung ansonsten
auf der Seite der Gegenreform verortet wird (vgl. etwa Jeismann 1974, 228, 269, 309, 341)
- auf die Seite der Modernisierer (644), wohingegen Weyl weiterhin Unterstützung für die
Beibehaltung des 'herkömmlichen Synagogen-Ritus' fand, weil auch der König sie
verlangte. Die Komplexität der Bildungsverwaltung mit ihren diversen Hierarchieebenen
wirkte sich, wie sich bald zeigte, etwa auf die Konzeptualisierung des Religionsunterrichts
in der Gemeindeschule aus (655-659, 661-662, 667), und sie erzeugte eine wachsende
54
Kluft zwischen dem staatlichen Verwaltungshandeln bezüglich der Erziehung der
jüdischen Jugend in den Provinzen und in Berlin.
Im Kontext grundlegender Anstrengungen zur Schulreorganisation in den zwanziger und
dreißiger Jahren (dazu Kuhlemann 1992, 143ff) wurden auf den verschiedenen
Verwaltungsebenen in der Mitte der 1820er Jahre auch über jüdische Schulen und
schulpflichtige Kinder Daten gesammelt in einem Umfang wie nie zuvor. Daraus ging für
Berlin hervor, daß die Umstrukturierung der jüdischen Gemeinde in Richtung auf
Modernisierung auch im Schulbesuch gegriffen hatte: Ein großer Teil der jüdischen
Jugend, so hieß es, werde inzwischen in christlichen Schulen unterrichtet (643). Das
Ministerium Altenstein verfügte an alle Provinzialregierungen, nach welchem Schema
Daten über den Schulbesuch jüdischer Kinder zu erheben waren und wie in der Frage der
Anstellung jüdischer Lehrer vor Ort verfahren werden sollte (647-650).
Zuständig für das jüdische Schulwesen in Berlin war außer dem Gemeindevorstand
nunmehr eine jüdische Spezialschulkommission, die der städtischen Schulkommission
untergeordnet war; Bellermann gehörte ihr zeitweilig an. Diese Spezialschulkommission
war mit Genehmigung der Schulkommission bzw. des Schulkollegiums der Provinz
Brandenburg eingesetzt worden (642). Doch waren auch damit nicht sofort die
Kompetenzen geklärt. Als die Gemeindeschule nach einem neuen Lehrplan organisiert
werden sollte, erkundigte sich zum Beispiel Ribbeck, Mitglied der Spezialkommission, wie
weit der Rahmen seiner Vollmachten gesteckt sei (670). Hintergrund der Diskussionen, die
zwischen 1825 und 1830 über die Gestaltung der Gemeindeschule geführt wurden, war die
Hoffnung auf Klärung einer Grundsatzfrage, die sich wie ein roter Faden durch die
Geschichte der Freischule gezogen und damit die Schulgeschichte der Berliner jüdischen
Gemeinde ein halbes Jahrhundert lang bestimmt hatte: das strittige Verhältnis zur Talmud
Tora (662, 672-673, 684). 1832 wurde die neue Schule offiziell jüdische Gemeindeschule
Talmud Tora genannt (685).
Über die Vorgeschichte hatte sich die Schuldeputation des Berlinischen Magistrats durch
ein Gutachten ihres Mitglieds Muhr ins Bild setzen lassen. Muhr, ein Befürworter der
Modernisierung, gab einen Abriß der Geschichte jüdischen religiösen Lernens von der
Antike bis in die Gegenwart und unterstrich dabei Parallelen in der Entwicklung von
Freischule und Talmud Tora: Den Verfall der einen hätten erst (76:) der 'hereingebrochene
Religions-Indifferentismus', später der Krieg bewirkt, den Verfall der anderen die
'Vernachlässigung des Schulwesens' durch den Gemeindevorstand. "Die Staats Behörde
welcher ein solch indifferenter Zustand nicht gleichgültig sein konnte, befahl den Juden in
sämmtlichen Provinzen Schulen anzulegen. Die Sache kam auch bei dem hiesigen
Gemeinde Vorstand zur Sprache, und dieser erkannte seine Obliegenheiten hinsichtlich des
Schulwesens" (684). Der neue Vorstand, so Muhr weiter, sehe sich nun in einer doppelten
Verpflichtung: in der religiösen Verpflichtung, für den Unterricht der Knaben und
Mädchen Sorge zu tragen, und in der staatsbürgerlichen Verpflichtung zur Errichtung einer
mittleren Bürgerschule für Knaben. Mit der Gemeindeschule, die sich demnächst zur
höheren Bürgerschule ausbilden solle, sei, so Muhr, der eine Teil der Verpflichtung
eingelöst.
Seit 1812 hatten sich jedoch strukturelle Veränderungen der preußischen
Bildungslandschaft ergeben, die über die Problematik angemessener Beschulung der
jüdischen Jugend hinausgingen. Durch von Seiten des Staates verbindlich gemachte
Lehrplanparameter und vor allem durch das neue Abituredikt von 1812 kam mittlerweile
dem Berechtigungswesen eine neuartige, grundlegende Bedeutung zu (Meyer 1968, Müller
55
1977; Lohmann 1998, 172). Die wachsende Rolle der formalen Abschlüsse, die von den
verschiedenen Schularten vergeben wurden, berührte besonders die sozialstrukturelle
Situierung des mittleren und höheren Bildungswesens. Bildung wurde zum Schlüssel
sozialen Aufstiegs, und dadurch erhielten Bildungsfragen insgesamt eine ganz neue
Dynamik.
Vor diesem Hintergrund drehten sich die Geschicke der neuen Gemeindeschule alsbald
weniger um die Problematik 'Tradition oder Moderne' als vielmehr um die Frage
Bürgerschule ja, aber in welcher Ausdehnung? Dies zeigen die wiederholten Anläufe zur
Fixierung des Lehrplans der Gemeindeschule ebenso wie die unterschiedlichen Positionen,
die in dieser Frage hinter den Kulissen diskutiert wurden, bevor Baruch Auerbach der
Öffentlichkeit schließlich im Juni 1832 das Ergebnis präsentierte (685; vgl. 668, 674, 684).
Auerbach, der wie Leopold Zunz ursprünglich nur interimistisch, für ein Jahr, Direktor der
Gemeindeschule sein wollte, behielt dieses Amt bis 1852.
Verhandlungen über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden
Den vorläufigen Schluß des Kapitels Bildungsgeschichte, das in diesem Quellenband
dokumentiert ist, bildeten die Verhandlungen über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden
im preußischen Staat - jene Verhandlungen, von deren Notwendigkeit die Rede gewesen
war, seit Staatskanzler Hardenberg am Tag der Verordnung des Edikts vom 11. März 1812
den
Auftrag
erteilt
hatte,
für
ein
baldiges
Zustandekommen
von
Ausführungsbestimmungen gemäß § 39 zu sorgen (309). Zuerst waren die entsprechenden
Verhandlungen von Seiten der preußischen Verwaltung hintangestellt worden wegen
kriegsbedingt unruhiger Zeiten, später wegen zu großer Meinungsverschiedenheiten
innerhalb der Judenschaft (453, 484). Überhaupt konnte der Eindruck entstehen, daß in der
Bildungsadministration seither niemand mehr so recht hatte darangehen wollen, die
vorbehaltenen 'nötigen Bestimmungen' zu tref- (77:) fen. Auch der Vorstand der Berliner
jüdischen Gemeinde kümmerte sich bis 1823 nur am Rande um Schulbildungsfragen.
Anders der seit 1823 im Amt befindliche neue Gemeindevorstand. Dieser wurde beim
Provinzialschulkollegium wiederholt mit dem Problem vorstellig, daß weder in Berlin
noch gar in den übrigen Gemeinden im preußischen Staat ausreichender
Religionsunterricht erteilt werde: Wegen "der inneren Zerrissenheit der jüdischen
Gemeinde in Beziehung auf Religions Verhältnisse könne nicht mehr, wie ehemals, das
Leben selbst diesen wesentlichen Mangel ergänzen" (675). Im Jahre 1829 trug daraufhin
das Provinzialschulkollegium dem Ministerium vor, man sei sich nicht sicher, inwiefern
diese Angelegenheit zum eigenen Geschäftskreise gehöre, und habe daher die Ältesten um
eine vollständige Darstellung ihrer Ansicht gebeten. Diese habe man, zusammen mit
weiteren Gutachten von Berliner jüdischen Gelehrten sowie Stellungnahmen des
Rabbinats, auch erhalten.
Wie das Provinzialschulkollegium dem Ministerium unterbreitete, suchten die
Gemeindeältesten um staatliche Unterstützung in fünf Punkten nach. Erstens: Es sollte ein
Lehrbuch des jüdischen Glaubens ausgearbeitet und "von Staatswegen bestätigt werden".
Zweitens: Ob und Wie des Religionsunterrichts sollten nicht mehr von der Willkür des
einzelnen Hausvaters abhängen; der Unterricht sollte nur noch von vorschriftsmäßig
geprüften jüdischen Religionslehrern erteilt werden. Für Berlin sollte Vorsorge getroffen
werden, daß auch diejenigen jüdischen Kinder, die christliche Schulen besuchten oder aus
anderen Gründen keine Gelegenheit zum Religionsunterricht hätten, diesen an der
Gemeindeschule erhalten könnten. Drittens: Die Konfirmation sollte auch auf die
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künftigen Rechte und Pflichten des Heranwachsenden gegenüber dem Staat vorbereiten.
Viertens: Die Kontrolle über empfangenen Religionsunterricht sollte den Gemeindeältesten
obliegen. Fünftens: Für eine ausreichende Anzahl und Qualifizierung jüdischer
Religionslehrer sollte eine Ausbildungseinrichtung geschaffen werden. Sechstens: Für die
Ausführung dieser Bestimmungen sollte den jüdischen Gemeinden eine Instruktion erteilt
werden (675). - Angesichts der Gegensätze zwischen Tradition und Moderne, die zumal in
den Provinzen noch weitgehend ungebrochen bestanden, ging es, mit einem Wort, um die
Quadratur des Kreises. Dies wurde auch im Provinzialschulkollegium gesehen, das
Bedenken gegen das Ausmaß der staatlichen Eingriffe erhob, die hier von den Ältesten
gefordert wurden. Wie es den Anschein hat, griff man dort mit einer gewissen
Erleichterung - sozusagen an den fehlenden Ausführungsbestimmungen gemäß § 39 des
Edikts von 1812 vorbei - auf jene Regelungen zurück, die seit 1794 im Allgemeinen
Landrecht vorgeschrieben waren. Aber nicht nur im Provinzialschulkollegium, auch im
Ministerium war der Versuch unverkennbar, eine möglichst unverfängliche Sichtweise
geltend zu machen, bei der allerdings auch die Blickwinkelverengung hinsichtlich des
staatspolitischen Status der jüdischen Religion zum Tragen kam.
Gegenüber dem Gesuch des Gemeindevorstands wurden vom zuständigen Referenten im
Ministerium Altenstein, Schweder, folgende Einwände erhoben: ad 1) wieso Bestätigung
des Lehrbuchs von Staats wegen, es handele sich doch bei der jüdi- (78:) schen um eine
bloß tolerierte Gemeinde, deren Religionssachen also Privatangelegenheit seien (dies
entsprach der Rechtslage nach dem ALR); ad 2) die freie Wahl der Eltern könne rechtlich
prinzipiell nicht beschränkt werden; nur die Befugnis zum Unterrichten als
Erwerbsgeschäft sei öffentlicher Prüfung vorbehalten; ad 3) auch die staatliche Anordnung
einer Veränderung der Konfirmation widerspreche dem privaten Charakter des jüdischen
Gottesdienstes; ad 4) die Kontrolle über empfangenen Religionsunterricht sei Sache der
Behörde, nicht der Ältesten; ad 5) über eine Lehrerbildungsstätte seien Verhandlungen
bereits im Gange; ad 6) wozu eine Instruktion an die jüdischen Gemeinden, wo doch die
Aufsicht über den Religionsunterricht Sache der Behörde sei. Dafür Veranstaltungen zu
treffen, sei hingegen Privatsache; nur wo gar keine Vorkehrungen für den jüdischen
Religionsunterricht getroffen würden, sei es Sache der Behörden, die Gemeinden dazu zu
veranlassen. Dieser Fall sei aber nicht gegeben (675).
Im Zentrum stand - wieder einmal und nach wie vor - die Frage nach der Situierung der
jüdischen religiösen Unterweisung im Verhältnis zur Schulbildung überhaupt. Schweder
führte zwei Aspekte ins Feld: Erstens sei es vorteilhaft, den Religionsunterricht von der
Schule zu trennen, denn dadurch werde dem wissenschaftlichen Unterricht, "den die
jüdischen Schulen doch nicht für alle Verhältnisse genügend gewähren können, mehr
Freiheit gelassen". Zweitens sei dieser Weg der einzig gangbare vor allem für ärmere
jüdische Gemeinden in kleinen Städten, "an die, in so fern hier die Sache auch aus dem
allgemeinen Standpuncte angeregt wird, doch ebenfalls gedacht werden muß" (675). Dabei
konnte Schweder sich auf jenen Rechtsstandpunkt berufen, der besagte, daß die jüdischen
Gemeinden bloß tolerierte Privatgesellschaften seien, so daß die geforderten
weitreichenden staatlichen Eingriffe keineswegs statthaft wären (676). Trotzdem wurde
auch hier im Bemühen, die staatliche Bildungspolitik allgemeinen Prinzipien folgen zu
lassen, wieder Absonderung produziert (im übrigen hätte eine staatliche Einmischung in
die jüdischen Schulen auch die Verpflichtung erbracht, sie zu finanzieren).
Da man jedoch sah, daß das Problem einer ausreichenden Beschulung der jüdischen
Jugend in den Provinzen damit nicht aus der Welt war, wurde im August 1830 erneut die
Ausarbeitung von Verfahrensgrundsätzen in Auftrag gegeben. Diese sollten den
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Provinzialregierungen künftig zur Richtschnur dienen (677). In den darauffolgenden
Monaten begannen entsprechende Verhandlungen zwischen den Ministerien für Geistliche,
Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten sowie für Inneres und Polizei, und bald galt als
generelles Ziel dieser Verhandlungen, eine neue Juden-Ordnung zu verfassen. Über Jahre
hinweg wurden Entwürfe und Versuche zur ressortmäßigen Begrenzung der Problematik
zwischen den beiden Ministerien hin und her geschoben, und immer wieder wurde, auch in
Verbindung mit Anfragen aus den Provinzen, auf 'die schwebenden Verhandlungen'
hingewiesen (680-709). Die generelle Regulierung des Judenwesens sei weniger pressant
als die des jüdischen Schulwesens (706), hieß es einmal, als Altenstein 1839 wiederholt,
und wieder vergeblich, das Königliche Staatsministerium wenigstens um Beschlußfassung
zum Entwurf einer Instruktion wegen der Elementarschulen für jüdische
Glaubensgenossen (692) bat, der zu dem Zeitpunkt schon seit fünf Jahren vorlag. (79:)
Altenstein hatte im Zuge dessen die von seinen früheren Beauftragten in der Kommission
zur Prüfung des Judenzwists, Nolte und Patzig (522), ausgearbeitete Position bezogen: Ihm
scheine - und die Geschichte gleicher Versuche im Auslande bestätige es - daß der erste
Angriff zur Lösung der Probleme beim Elementarschulwesen erfolgen müsse, das Weitere
werde sich dann finden: Wenn es Gottes Wille sei, daß wieder etwas für die Juden
geschehe, "so wird der Himmel das Beginnen seegnen und die Werkzeuge zur
Durchführung erwirken" (683). Dies schrieb Altenstein, obwohl ihm Staatsrat Nicolovius
"die Schwierigkeit der Sache" noch einmal vor Augen geführt hatte - derselbe Nicolovius,
der schon Mitglied der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht des
Innenministeriums gewesen war, als diese unter der Leitung Wilhelm v. Humboldts den
Grundsatz eines 'möglichst weitgehenden Näherns und Amalgamierens von Juden und
Christen' aufstellte (260).
Worauf wolle denn, gab Nicolovius zu bedenken, das Unterrichtsministerium hinaus: Die
volle Verantwortung für den jüdischen Religionsunterricht zu übernehmen? In einem
reformatorischen Sinne? Oder im Sinne des Festhaltens an der Orthodoxie, der reinen
Lehre? Er gestehe, daß er, "so oft ich auch über diese Sache nachgedacht habe, mich
zwischen den erwähnten beyden Klippen befunden habe, u. deshalb nicht wünschen kann,
daß das Ministerium Aufgaben übernehme, deren Lösung so sehr schwierig, wenn je
thunlich ist" (682; vgl. Bruer 1991, 288f). Noch 1831 konstatierte Nicolovius mit
Bedauern, daß es ihm im Jahre 1812 nicht gelungen sei, den § 39 des 'Juden-Edikts' zu
streichen.
Eine genauere Untersuchung der interministeriellen Auseinandersetzungen und der
jeweiligen Ressortzugehörigkeiten könnte Aufschluß darüber erbringen, ob es Nicolovius
zu verdanken war, daß in den Jahren bis 1839 sowohl die von Altenstein angestrebte
allgemeine gesetzliche Regelung des jüdischen Elementarschulwesens als auch die neue
Judenordnung verschleppt wurden (dazu Brammer 1987, Freund 1912). Denn daß
Nicolovius die Sichtweise, die das Ministerium Altenstein in einem Votum zum Entwurf
der Judenordnung 1831 offenbart hatte, nicht teilte, ist unverkennbar, und in der Tat war
die in diesem Votum vertretene politische Position zwiespältig: Zwar wurde verurteilt, daß
die Juden in allen Staaten, in die sie einwanderten, Mißhandlungen und Vorurteilen
ausgesetzt seien; auch die Ansichten, daß ihre bürgerliche Rechte beschränkt werden
müßten, seien 'unrichtig'. Doch im selben Atemzug war von mißverstandener Toleranz und
'seichter Theorie von Gleichheit der Rechte' die Rede - so, als hätte es das Edikt vom 12.
März 1812 nie gegeben. Machte das Votum zum einen auf die grundsätzliche Problematik
aufmerksam, 'den religiösen Punkt' in die Frage der 'bürgerlichen Emanzipation der Juden'
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hineinzuziehen, so wurde dies zum anderen mit einem Angriff auf die 'fehlerhafte
Allgemeinheit' der bürgerlichen Rechtsvorstellung überhaupt verbunden (681).
Widerstreit in den Grundsätzen spiegelte die Politik des Ministeriums Altenstein bis zum
Schluß: Zum einen wurde eine gesetzliche Regelung ganz im Sinne des früher von der
Sektion formulierten Grundsatzes angestrebt. Danach waren alle Glaubensparteien zur
gemeinsamen Unterhaltung öffentlicher Elementarschulen verpflichtet, (80:) und zwar in
allen Orten, in denen keine 'besonderen jüdischen Schulen' bestanden. Die jüdischen
Kinder waren von der Teilnahme am christlichen Religionsunterricht befreit. Sie sollte
ihnen jedoch bei entsprechendem Wunsch der Eltern - dessen "Zweck richtiger Weise nur
der eines bereits beabsichtigten Übertrittes des Kindes zur christlichen Religion sein kann"
- auch nicht verwehrt werden (694). Zum anderen: Wenn die örtlichen Bedingungen es
aufgrund der großen Zahl jüdischer Kinder ermöglichten, eine gesonderte jüdische
Elementarschule einzurichten, so waren die jüdischen Hausväter zwar zur Finanzierung
dieser Schule, nicht hingegen dazu verpflichtet, auch die öffentliche Elementarschule
mitzufinanzieren.
Von der Erwägung, ob die allgemeine öffentliche Elementarschule ausreichte oder
besondere jüdische Schulen errichtet werden sollten, gelangte man im Ministerium
Altenstein zum Aspekt der Zuteilung der Einwohnerschaft zu Schulbezirken. Einerseits
war den Eltern die Schulwahl für ihre Kinder freigestellt - wie sie überhaupt statt einer
schulischen auch einen 'ordentlichen' häuslichen Unterricht vorsehen konnten. Andererseits
war die Schulwahl- zugleich eine Schulgeldfrage, und Schulgeld sollten alle Hausväter
zahlen, auch die, "die keine Kinder in die Schule schicken" (694; allgemein zur damaligen
Schulfinanzierung Herrlitz u.a. 1993, 54f). Von hier war es nur noch ein Schritt, die
Wohnsitzverteilung als Faktor der Verbesserung des sittlichen Zustands der Juden zu
betrachten, denn wo sie einzeln und zerstreut lebten, geschehe nichts für die
wünschenswerte Annäherung der Juden an die Christen (704).
Aber dann wiederum stellte sich die Frage, welche Politik den Grundsatz der Annäherung
am wirkungsvollsten verfolgte: Wurde Annäherung am besten dadurch bewirkt, daß man
den jüdischen Religionsunterricht als Privatsache behandelte und also vom Lehrplan der
öffentlichen, d.h. von allen jüdischen Hausvätern eines Ortes gemeinsam finanzierten,
jüdischen Schule ausschloß (694)? Oder war es nicht vielmehr so, daß eine Annäherung an
die christliche Bevölkerung zwar bei den reichen, gebildeten, liberalen Juden gegeben war,
nicht aber bei der Masse, die sich auf einer 'niederen Bildungsstufe' befand (704)? Bedurfte
es für diese nicht dringend einer sehr engen Verbindung des Elementar- mit dem
Religionsunterricht? Mußten also nicht doch besondere jüdische Schulen, und zwar mit
Religionsunterricht, eingerichtet werden?
Somit machten preußische Bildungsbeamte nicht erst in den 1880er Jahren - beim Versuch,
das soziale und institutionelle Gefüge der höheren Bildung, das sich zu einem komplexen
Systemzusammenhang entwickelt hatte, unter Kontrolle zu bekommen - die Erfahrung, daß
ihnen ihre politische Verfügungsgewalt entglitt (Herrlitz u.a. 1993, 77). Sie machten diese
"neue Erfahrung" bereits ein halbes Jahrhundert zuvor - bei dem vergeblichen Versuch,
das Problem der Beschulung der jüdischen Minderheit zu lösen und auf diesem Wege zu
ihrer Integration beizutragen. (81:)
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Resümee
Die Geschichte der jüdischen Freischule in Berlin endete 1825. Das bildungshistorische
Kapitel, in welches diese Schulentwicklung eingebettet war, erstreckt sich nach unserer
Dokumentation von 1761 bis 1839 und damit über ein Gutteil der Übergangsepoche
zwischen spätfeudaler Gesellschaft und moderner kapitalistischer Gesellschaft. Viele
bislang ungeklärte Fragen lassen sich auf der Basis dieser Dokumentation beantworten,
andere werden mit ihr erst aufgeworfen oder erscheinen in einem neuen Licht. Zum
Beispiel zeigt sich, daß, entgegen einer heute gängigen Sichtweise, auf christlicher Seite
keineswegs alle Akteure gegenüber den Juden schlichtweg assimilationistische Ziele
verfolgten. Und ebenso erweist sich gerade an der Bildungs- und Schulgeschichte, daß die
Juden durchaus nicht erst 1848 in nennenswertem Maße politisch aktiv wurden und als
Handelnde auftraten (Rürup 1998, 218f). Bereits die jüdischen Münzunternehmer stellten
eine numerisch zwar kleine, aber nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch aktive
Gruppe dar, die sich nach dem Vorbild der französischen Sephardim die gleichberechtigte
Teilhabe am allgemeinen bürgerlichen Emanzipationsprozeß zu erkämpfen suchte. Auch
die Maskilim - zunächst die ältere Generation mit Mendelssohn und Wessely, dann die
jüngere mit Euchel und Bendavid - waren politisch Handelnde, und zwar auf nicht minder
bewußte Weise als Friedländer. Die Annahme wäre abwegig, daß Mendelssohn mit seiner
Bibelübersetzung und Wessely mit seiner Bildungskonzeption nicht wußten, was sie taten,
denn schließlich wollten sie, wie die neue ökonomische Führungsschicht, mit der sie auf
vielfältige Weise verbunden waren, den Übergang in eine neue Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung mitgestalten.
Doch anhand der Freischulgeschichte tritt auch deutlich hervor, daß die Befürworter
gesellschaftlicher Veränderungen nicht nur in Widerstreit mit den Verteidigern der alten
Ordnung standen. Es gab auch Widerstreit zwischen zwei Universalien, die im
bürgerlichen Emanzipationsdenken ihren Ursprung hatten: die eine in den Postulaten
aufklärerischer Toleranzpolitik, die andere im Begründungszusammenhang bürgerlichrechtlicher Gleichheit. Nicht nur die Geschichte der Freischule, sondern das gesamte
bildungsgeschichtliche Kapitel, deren Teil sie war, war eine von Zwiespalten
gekennzeichnete Geschichte des sich entfaltenden Gegensatzes zwischen diesen beiden
Universalien43 - und ein Lehrstück des Nichtfunktionierens einer Politik der allgemeinen
Grundsätze.
In Schlaglichtern rekapituliert: 1761, im Zusammenhang mit der Initiative zur Gründung
einer jüdischen Armenkinderschule, teilten christliche Behördenvertreter ebenso wie
Angehörige der neuen jüdischen Eliten den Grundsatz aufklärerischen Toleranzdenkens,
wonach der Jugenderziehung ohne Rücksicht auf Religionsverschiedenheit Priorität
zukam. Diesen Grundsatz vertrat später etwa auch Bendavid. Die Schattenseite dieser
Position war die Befürwortung staatlicher Eingriffe in das geltende
Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Gemeinden, der Ausschluß jüdisch-orthodoxer
Positionen aus dem aufklärerischen Vernunft-Diskurs u.a.m. (82:)
43
Vergleichbare heutige Problemlagen erörtert politisch-ethisch Gutmann 1995, bildungstheoretisch Koller
1997, 1999.
60
Ab 1805 versuchten preußische Behördenvertreter sich in einer Kombination aus dem
Toleranzdenken und der Maxime bürgerlicher Gleichheit. Diese führte zu dem Grundsatz,
daß die jüdischen Kinder möglichst die christlichen Schulen besuchen sollten. Einige
Staatsbeamte verbanden dies mit einer expliziten Ablehnung staatlicher Eingriffe in die
Gemeindeautonomie. Diesen Grundsatz teilte Bendavid zum Beispiel nicht; er
befürwortete eine entsprechende Politik allenfalls aus pragmatischen Erwägungen. Ähnlich
lautete 1810 der Grundsatz der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht (Humboldt,
Ancillon), "die Kinder jüdischer Familien in Christen Schulen" unterzubringen, damit
Juden und Christen "sich immer mehr nähern und amalgamiren möchten" (260, 261). Ihn
teilten auch die reichen Liberalen im Gemeindevorstand bis 1823. Die Traditionalisten
jedoch waren dagegen, aber auch Bendavid. Dabei muß bedacht werden, daß dieser
Grundsatz im Vorfeld des Edikts vom 11. März 1812 formuliert wurde, mit dem die
Gemeindeautonomie abgeschafft wurde, die lange Zeit den Sonderstatus der Judenschaft
markiert hatte.
Dann das Jahr 1812 selbst, in welchem mit § 39 des sogenannten Emanzipationsedikts mitten in der preußischen Reformära - neue Sonderbestimmungen für die frisch zu
"Einländern und preußischen Staatsbürgern" deklarierte Judenschaft eingeführt wurden.
Wer immer die Aufnahme dieses letzten Paragraphen betrieb, hatte - absichtsvoll oder
nicht - dafür gesorgt, daß es schon von der neuen Rechtslage her keinen einheitlichen,
staatsbürgerlich-gleichberechtigenden schulischen Bildungsprozeß für die jüdische Jugend
geben konnte.44
Paragraph 39 des Edikts war - man erinnere sich - die Geburtsstunde des Grundsatzes, den
jüdischen Religionsunterricht vom sonstigen Schulunterricht abzusondern (314). Er wurde
später von einem Grundsatz abgelöst, welcher rundweg das Gegenteil besagte (mit dem
feinen Unterschied, daß es dann nicht um die 'öffentliche allgemeine', sondern um die
jüdische Schule ging, in der Religionsunterricht wieder eingeführt werden sollte). Nicht
nur der Widerstand jüdischer Traditionalisten gegen die Säkularisierung der Erziehung und
die Reform des Kultus, sondern auch das verwaltungsrationale Bemühen um eine Politik,
die 'allgemeinen Grundsätzen' zu folgen strebte, schufen ab 1812 eine neue Qualität der
Absonderung. Der Rechtsstandpunkt, daß nur die talmudischen Schulen als
Gemeindeschulen betrachtet werden könnten (Süvern), geriet in Konflikt mit jener
Bildungskonzeption, die die Freischule am meisten verkörperte: eine Politik sozialer
Integration der jüdischen Jugend auf der Basis einer aufklärerischen Wissensauffassung
(Bendavid, Nolte) - und zwar ohne ins Fahrwasser der Assimilation zu geraten, wie sie
manchen preußischen Reformbeamten vorschwebte und wie zum Christentum konvertierte
Angehörige der jüdischen Oberschicht sie vorlebten.
Mitten aus den Reihen des Personals der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht,
dem Schatzkästlein heutiger historischer Bildungsforschung, kam außerdem die
zweifelhafte Behauptung, "der Unterricht, den Christenkinder durch Juden (83:) erhalten",
beeinflusse, "wenn er auch nicht gerade die Religion betrifft", doch immer "ihren
Charakter und die Richtung ihres Geistes" (482). Wie gezeigt, geisterte diese Behauptung
fortan als Topos von der 'unerwünschten Einwirkung jüdischer Schulmänner auf Charakter
und Richtung des Geistes christlicher Kinder' durch die Welt der preußischen
Bildungsverwaltung und führte schließlich auf Umwegen zum Verbot der Beschulung
christlicher Kinder u.a. in der Freischule.
44
Im Gefolge von Brammer (1987) schildert auch Bruer (1991, 271ff) die Vorgänge beim Zustandekommen
des sogenannten Emanzipationsedikts eingehend, geht aber auf den 39. Paragraphen ebensowenig näher ein.
61
Um diese Zeit legte die Kommission zur Prüfung des Judenzwists (Nolte, Patzig) ihr
Gutachten vor - und damit, wie sie hoffte, endlich auch die vielbeschworenen, seit 1812
immer wieder angemahnten allgemeinen Grundsätze im Sinne von § 39 des Edikts vom
11. März 1812. Hatte Humboldt 1809 noch gefordert, die Erteilung des Staatsbürgerrechts
nicht vom zuvor zu erreichenden Stand der Kultur unter den Juden abhängig zu machen,
so schlugen Nolte und Patzig genau dieses vor, weil sie eine Schul- und Bildungspolitik für
die Mehrheit der jüdischen Jugend auf den Weg bringen wollten, welche (in ansonsten
seltener Einhelligkeit) weder den reichen Liberalen noch den Traditionalisten in der
Judenschaft ein Herzensanliegen war.
Und dies wiederum sollte die Geburtsstunde eines zweiten unseligen Topos werden,
wonach der wirksamste Hebel für die weitere bürgerliche Verbesserung der Juden (in
deren Genuß die Mehrheit der Juden zumal in den Provinzen ja noch längst nicht
gekommen war) die Reform der Elementarschulen sei. In der Tat kümmerten sich ja weder
die reichen Liberalen noch, soweit nach dem vorliegenden Forschungsstand erkennbar, die
führenden jüdisch-orthodoxen Intellektuellen um das traditionelle Heder und dessen
Klientel, die Mehrheit der jüdischen Jugend. Der von der Nolte-Patzig-Kommission
aufgestellte Grundsatz - "erster Angriff beim Elementarschulwesen" - war nicht nur die
bildungspolitische Leitlinie in den jahrelang schwebenden Verhandlungen über eine neue
Judenordnung, sondern bestimmte auch die Schulpolitik des Ministeriums Altenstein
bezüglich der Judenschaft in den (östlichen) Provinzen. Wie wenig dieser Grundsatz
jedoch griff und wie sehr ihm die angestrebte staatspolitische Allgemeinheit fehlte, zeigte
sich bald in unauflöslichen Widersprüchen: Mal sollten jüdische und christliche Kinder
eine gemeinsame öffentliche Ortsschule besuchen, mal sollten sie konfessionell getrennte
Schulen besuchen, mal sollte die jüdische Ortsschule die religiöse Unterweisung nicht mit
einschließen, mal bestand man gerade darauf.
Teils neben, teils innerhalb dieser wechselvollen Geschichte der schulpolitischen
Grundsätze des preußischen Staates gegenüber der jüdischen Minderheit entfalteten sich
weitere Zwiespalte und Gegensätze: zwischen traditionell-religiöser Unterweisung und
moderner jüdischer Schule; zwischen gemeindeöffentlicher jüdischer Schule und jüdischen
Privatschulen; zwischen traditioneller religiöser Unterweisung und säkularem Wissen;
zwischen moderner jüdischer und moderner christlicher, zuweilen antijüdischer,
Bildungskonzeption; zwischen einer vorwiegend am ökonomischen Erfolg orientierten
Integrationsstrategie, mit Akkulturation und Reform des jüdischen Kultus im Zentrum, auf
Seiten der reichen Liberalen und einer recht andersgelagerten Integrationsstrategie, mit
Schulbildung unter Einschluß reformierter jüdisch-religiöser Erziehung im Zentrum, auf
Seiten der Maskilim; und nicht (84:) zuletzt: zwischen den hegemonialen Bestrebungen der
neuen jüdischen und den hegemonialen Bestrebungen der neuen christlichen
Wirtschaftsbourgeoisie und ihren jeweiligen Intellektuellengruppen.
Es gab, so scheint es, kaum einen Augenblick in der Folge der hier betrachteten Ereignisse,
in welchem die in Gang gekommenen Entwicklungen sich verlangsamt und den beteiligten
Akteuren Gelegenheit geboten hätten, auch nur einen dieser Zwiespalte und Gegensätze
einmal bis ins Letzte theoretisch zu durchdenken sowie adäquate praktische Lösungen zu
finden - wenn es sie denn überhaupt gab. Diese Gelegenheit bietet sich uns heute: mit dem
Rückblick auf die deutsch-jüdische Bildungsgeschichte am Beginn der Moderne.
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