Wilczek: Generation Golf

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Wilczek: Generation Golf
musik & bildung
Thema
M1
Der Wegweiser
1
Was vermeid’ ich denn die Wege,
Wo die ander’n Wand’rer gehn.
Suche mir versteckte Stege
Durch verschneite Felsenhöh’n?
Weiser stehen auf den Straßen,
Weisen auf die Städte zu,
Und ich wand’re sonder Maßen,
Ohne Ruh’, und suche Ruh’.
Habe ja doch nichts begangen,
Daß ich Menschen sollte scheu’n,
Welch ein törichtes Verlangen
Treibt mich in die Wüstenei’n?
Einen Weiser seh’ ich stehen
Unverrückt vor meinem Blick;
Eine Straße muß ich gehen,
Die noch keiner ging zurück.
Paralleler Handlungsverlauf
Versuchen Sie den Handlungsverlauf bei Schubert und bei Kracht überblicksartig in einer Tabelle darzustellen. Nennen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede!
2
Textvergleich
Hören Sie sich nach Möglichkeit alle Lieder aus der Winterreise an und studieren Sie die Liedtexte von
Müller/Schubert. Suchen Sie zu einzelnen Liedern passende Textpassagen aus Krachts Faserland.
3
Musikalischer Hintergrund
Schuberts Liederzyklus Die Winterreise wurde nach Gedichten von Wilhelm Müller komponiert. Christian
Krachts Faserland ist ein Jugendroman, der als musikalisches Sujet bisher noch keine Rolle gespielt hat;
dennoch spielt auch die Musik in diesem Roman eine wesentliche Rolle! Finden Sie heraus, auf welche
Weise Musik im Text Berücksichtigung findet.
4 Rolle der Melancholie
Informieren Sie sich, was mit dem Begriff „Melancholie“ ausgesagt wird und überlegen Sie, welche
Bezüge es zu den „(Lied-)Texten“ von Schubert und Kracht gibt.
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Thema
M2
Christian Kracht: „Faserland“
➜ Vergleich mit Schuberts „Täuschung und Nebensonnen“
Karin sieht eigentlich ganz gut aus, mit ihrem blonden Pagenkopf.
Bisschen zuviel Gold an den Fingern für meinen Geschmack. Obwohl, so wie sie lacht, wie sie das Haar aus dem Nacken wirft und
sich leicht nach hinten lehnt, ist sie sicher gut im Bett. Außerdem
hat sie mindestens schon zwei Gläser Chablis getrunken. Karin studiert BWL in München. Das erzählt sie wenigstens. Genau kann
man sowas ja nicht wissen. Sie trägt auch eine Barbourjacke, allerdings eine blaue. Eben, als wir über Barbourjacken sprachen, hat
sie gesagt, sie wolle sich keine grüne kaufen, weil die blauen schöner aussehen, wenn sie abgewetzt sind. Das glaube ich aber nicht.
Meine grüne Barbour gefällt mir besser. Abgewetzte Barbourjacken, das führt zu nichts. Das erkläre ich später, was ich damit
meine.
Karin ist mit dem dunkelblauen S-Klasse-Mercedes ihres Bruders
hier, der in Frankfurt Warentermingeschäfte macht. Sie erzählt,
dass der Mercedes ganz gut ist, weil der wahnsinnig schnell fährt
und ein Telefon hat. Ich sage ihr, dass ich Mercedes aus Prinzip
nicht gut finde. Dann sagt sie, dass es sicher heute Abend regnen
wird und ich sage ihr: Nein, ganz bestimmt nicht. Ich stochere mit
der Gabel in den Scampis herum. Ich mag die nicht mehr aufessen.
Karin hat ziemlich blaue Augen. Ob das gefärbte Kontaktlinsen
sind? […]
Andauernd ruft jemand von Gosch über das Mikrophon irgendwelche bestellten Muschelgerichte aus, und das lenkt mich immer wieder ab, weil ich mir vorstelle, dass eine der Muscheln verseucht ist
und heute nacht irgendein chablistrinkender Prolet ganz schlimme
Bauchschmerzen kriegt und ins Krankenhaus gebracht werden
muss mit Verdacht auf Salmonellen oder irgendsowas. Ich muss
grinsen, wie ich mir das vorstelle, und Karin denkt, ich grinse über
den Witz, den sie gerade erzählt hat und grinst zurück, obwohl ich,
wie gesagt, gar nicht zugehört hab.
➜ Musiktitel
• Hotel California (Eagles) S. 16
• Car wash (Rose Royce) S. 36
• Funkytown (Lipps Inc.) S. 36
• Le Freak (Chic) S. 36
• You’ll always find me in the
kitchen (Jona Lewie) S. 39
• Titelmusik aus Twin Peaks S. 40
• You’re my heart, you’re my soul
(Modern Talking) S. 64
• Brother Louie (Modern Talking) S. 64
• Es geht voran (Fehlfarben) S. 65
• I am sailing (Rod Stewart) S. 72
• I shot the sheriff (Bob Marley) S. 82
Vergleich mit
➜ Schuberts
„Einsamkeit“
• Jazzmusik von Stan Getz S. 101
• Sandinista (The clash) S. 116
• Spanish Bombs in Andalucia S. 116
• Musik von Andreas
Vollenweider S. 106
• Koyaanisqatsi (Phil Glass) S. 106
• Nights in White Satin (Moody
Blues) S. 120
• Sadness (Enigma) S. 131
• I want to break free (Freddy
Mercury) S. 133
• Your feet’s too big (Ink spots) S. 135
Also, ich liege da im Hotelzimmer in
Frankfurt auf dem Bett, und von draußen scheint die Sonne durch das
Fenster, und ich will ein bißchen
schlafen, kann aber nicht schlafen,
weil in meinem Kopf die Gedanken so
hin- und herrasen. Komischerweise
ist mir auch leicht übel, und ich denke, das kommt wohl noch von dieser
Droge, die Nigel mir gestern in Hamburg gegeben hat. Ich drehe mich auf
die Seite und rieche an dem frischen
weißen Laken, und dann zünde ich
mir eine Zigarette an, und dann denke ich, daß ich gerne eine Cola hätte,
nehme den Hörer ab, um den Zimmerservice anzurufen, und wähle aus
Versehen Alexanders Nummer. Es
knackt in der Leitung, und dann tutet
es, und dann höre ich Alexander, der
sich meldet.
Meine Hand, die den Telefonhörer
hält, zittert, und unter meinen Achseln läuft so ein dünner Schweißtropfen bis zur Hüfte, und ich sehe links
an mir herunter, und tatsächlich verfärbt sich das hellblaue Hemd da unten kurz vor dem Hosenbund an einer
Stelle dunkel. Ich ziehe an meiner Zigarette, und Alexander sagt: Hallo,
wer ist da, und auf einmal wird alles
schummrig in meinem Gehirn. Ich habe das Gefühl, als ob ich nach hinten
kippe. Ich sehe so schwarze und gelbe Dinge, und ich weiß nicht, was es
für Dinge sind. Hallo kommt noch einmal aus dem Hörer, aber von ganz
weit weg über mir oder von hinten.
Dann macht es klick in der Leitung,
und Alexander hat aufgelegt.
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Thema
M3
Melancholie und Gesellschaft
19. Jahrhundert
In seiner Einsamkeits-Neigung schafft sich das Bürgertum des 18. Jahrhunderts die Vorbedingung für
die Wertschätzung der Melancholie. Ohnmächtig angesichts der Herrschaft des Adels wird Natur der Gesellschaft vorgezogen, die Kleinstadt-Idylle der Residenz, die oft genug selbst Kleinstadt ist, gegenübergestellt. In der Einsamkeitsauffassung sind aber
noch weitere Ingredienzien der Melancholie-Neigung enthalten: Freundschafts- und Briefkult, vor allem aber das Zurückwenden aufs eigene Ich und die
Wertschätzung der Affekte. Hier schafft sich die
praktische Psychologie der Zeit ein Ventil, um in der
erzwungenen Untätigkeit und Machtlosigkeit eine
Quelle des Eigenwertes zu finden. Die Innerlichkeit,
die die deutsche bürgerliche Literatur zu einem großen Teil im 18. Jahrhundert propagiert, wird erst
möglich durch das Ausspielen von Einsamkeit gegen
Gesellschaft, Genie gegen Weltling, Muße gegen
(adelige) Langeweile, Land gegen Stadt, Kleinstadt
gegen Residenz, Natur gegen Sozietät und innerlicher Freiheit gegen äußeren Zwang.
Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft,
Frankfurt/Main 1998, S. 89 f.
20. Jahrhundert
Denn die Abgrenzung gegen die Vorgängergeneration mit ihrer Moralhoheit war für uns früh eine entscheidende Lebensmaxime. Wir kannten ja relativ
wenige von ihnen, die meisten waren, so glaubte
ich, Gemeinschaftskundelehrer geworden oder hingen auf den RAF-Fahndungsplakaten in den Postämtern. Dann traf ich unversehens noch drei Exemplare
an der Universität. Sie zeigten mir schnell, daß es
offensichtlich sinnlos war, sich in irgendeiner Weise
im Asta zu engagieren. Der Asta war eine Beschäftigungstherapie für wackere Indologie-Studenten im
fünfzigsten Semester. Einer von ihnen, Ralf mit Namen, kandidierte jedes Jahr für die Wahl zum Studentenparlament … Es muß für die älteren Semester
grauenvoll gewesen sein mitanzusehen, wie sich eine jüngere Generation der Hörsäle bemächtigte und
keinen Sinn mehr darin sah, mit den Professoren
über Fragen der Unterdrückung zu reden. Die auf
der Hofgartenwiese lag, sich sonnte, am Ich und
mein Magnum schleckte und bei Uni nur an Ich und
mein Magnum cum laude dachte. Wir lebten in unseren 1-Zimmer-Appartements oder in unseren WGs,
besaßen alle einen Terminplaner einen eigenen Telefonanschluß, fuhren am Wochenende gerne nach
Hause zu Mami und Papi, studierten etwas und hatten ansonsten unseren Spaß. Den weißhaarigen
Mann, der uns mittwochs die Frankfurter Rundschau
kostenlos andrehen wollte, würdigten wir keines
Blickes, als wäre es schon gefährlich, die Produkte
der feindlichen Generation auch nur anzufassen.
Was uns von vorneherein abstieß, war die Art der
Witze, über die die Latzhosenträger lachten. Es war
eine Generation, die noch ins Kabarett ging, es bis
heute gut findet, daß Dieter Hildebrandt den Finger
in die Wunde legt, auch über Hanns Dieter Hüsch
schmunzelt, Mad las und immer noch Otto-WaalkesZitate an den unpassendsten Stellen anbringt. Wir
reden ja auch nicht mehr andauernd über Dick und
Doof oder Clever & Smart. Uns war die Dieter-Hildebrandt-Humorschiene von Anfang an zu schwermütig, misanthropisch, zu engagiert ablehnend.
Nach unserer ersten Kino-Grundschulung an Louis
de Funes und Bud Spencer schwenkten wir bald um
zu Loriot, dem Großvater unseres Humors, um sodann mit Helge Schneider, Harald Schmidt, RTL
Samstagnacht und der Wochenshow auf unserer eigenen Spaßebene anzukommen, die die Latzhosenträger Gott sei Dank nicht mehr nachvollziehen können.
Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion,
Frankfurt/Main 72002, S. 177 f.
Albrecht Dürers
Melencolia aus
dem Jahr 1514
musik & bildung
Thema
M4
Vergleich
Faserland
Also, es fängt damit an, dass ich
bei Fisch-Gosch in List auf Sylt
stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. Fisch-Gosch, das ist
eine Fischbude, die deswegen so
berühmt ist, weil sie die nördlichste Fischbude Deutschlands ist.
Am obersten Zipfel von Sylt steht
sie, direkt am Meer, und man
denkt, da käme jetzt eine Grenze,
aber in Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude.
Also, ich stehe da bei Gosch und
trinke ein Jever. Weil es ein bisschen kalt ist und Westwind weht,
trage ich eine Barbourjacke mit
Innenfutter. Ich esse inzwischen
die zweite Portion Scampis mit
Knoblauchsoße, obwohl mir nach
der ersten schon schlecht war. Der
Himmel ist blau. Ab und zu
schiebt sich eine dicke Wolke vor
die Sonne.
Christian Kracht: Faserland, Köln 1997, S. 9
Winterreise
Der Leiermann
Fisch-Gosch auf Sylt – die nördlichste Fischbude Deutschlands (Foto: Layout Nord)