Gotteslehrerin - Antrittsvorlesung

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Gotteslehrerin - Antrittsvorlesung
Gotteslehrerin
Ein Streifzug durch Spr 31,10-31 auf den Pfaden unterschiedlicher Methodik
Irmtraud Fischer
Der früher Alttestamentler gewesene Kardinal Michael Faulhaber beginnt mit Spr 31,10-31
sein Buch "Charakterbilder der biblischen Frauenwelt", das in sechs Auflagen von 1912–1935
erschienen ist. Er behandelt sowohl alt- als auch neutestamentliche Frauenfiguren, in dem er –
laut Vorwort zur ersten Auflage – "die Frauenfrage im Buche der Bücher zugleich prinzipiell
zur Sprache ... bringen"1 will. Er schreibt über den Text:
"Es ist das hohe Lied auf Frauenwert und Frauentugend ... Wie in einem FrauenEvangelium sind in diesem Liede die ewigen Frauenideale vom Finger Gottes
niedergeschrieben und die unveräußerlichen Grundwerte des Frauenlebens, unabhängig
von den wechselnden Zeitwerten der Frauenbewegung, mit dem Siegel Gottes
gestempelt."2
Wie diese von Gott besiegelten "ewigen" Ideale im letzten Jahrhundert sich gewandelt haben,
spiegelt sich auch in der Exegese wider. Diesem Wandel der Auslegung, 3 der auch durch
unterschiedliche methodische Zugänge bestimmt ist, möchte ich im Folgenden blitzlichtartig
nachgehen.
1. Hausfrauenlob: Der gender-bias in der traditionellen Exegese
Einen ersten Einblick, wie ein Text verstanden wird, geben für theologisch nicht geschulte
Menschen die Überschriften in den Bibelübersetzungen. Sie stehen nicht im Originaltext,
sondern werden von den übersetzenden und herausgebenden Theologen bestimmt (in keiner
der großen deutschen kirchlichen Übersetzungen waren Theologinnen beteiligt; Ausnahme
bildet hier nur die Zürcher Bibel, bei deren Revision meine Stimme aber auch nur beratend
ist). Die Lutherbibel etwa überschreibt bis zur neuesten Auflage mit "Lob der tüchtigen
Hausfrau". 4 Diese auch von vielen Kommentatoren übernommene Überschrift entspricht
damit bruchlos der Auslegungstradition von Kardinal Faulhaber, der schreibt:
1
Michael Faulhaber, Charakterbilder der biblischen Frauenwelt, Paderborn 6 1935, VII.
Ebd., 1.
3
Eine kurze Forschungsgeschichte bietet etwa R. Norman Whybray, The Book of Proverbs (History of Biblical
Interpretation Series 1), Leiden 1995, 98–111.
4
Die EÜ überschreibt mit „Das Lob der tüchtigen Frau“ und die Zürcherbibel mit „Lob der wackeren Hausfrau“.
Viele Kommentare schließen sich dieser Tradition an: vgl. z.B. Otto Plöger, Sprüche Salomos (BK 17),
Neukirchen-Vluyn 1984, 377; zu V. 14: „Gedacht ist wohl daran, daß sie auch über ihren häuslichen Bezirk
hinaus ihre Augen offen hält für das, was für Leben und Haushalt nützlich und brauchbar ist.“ Auch Arndt
2
"Das erste Ideal der tüchtigen Frau nach dem Herzen der Heiligen Schrift ist die treue
Hingabe an die Familie. Der innerhäusliche Wirkungskreis wird zu allen Zeiten für die
weitaus meisten Frauen das gelobte Land bleiben, in dessen Boden sich die besonderen
Gaben des Schöpfers an die weibliche Natur fruchtbar entfalten. Wir sind gewohnt, uns
die Hausfrau der alten Zeit nach dem Zerrbild des heutigen Morgenlandes als Sklavin, als
Aschenpudel [sic!] vorzustellen. In unserem Lied aber erscheint die Hausfrau mit dem
Ansehen einer Königin in ihrem kleinen häuslichen Königreich und in einer
hochgeachteten Vertrauensstellung. "5
Der Text wurde in dieser Forschungstradition als Beschreibung des Schlaraffenlands für
Ehemänner 6 ausgelegt. Er beschreibe eine unermüdlich arbeitende Frau, die selbst die Nacht
zum Tag macht, um ihrem Ehemann zu ermöglichen, dass er sorglos und geachtet im Tor
sitzen kann. Sie tut ihm nur Gutes und das ein Leben lang. Dieses "Hohelied des
Hausfrauendaseins", eine klassische M-voice nach dem Konzept des "Genderings " von
Brenner und van Dijk-Hemmes,7 hat sich im 19. Jahrhundert bis in die Ikonographie der
Portraitmalerei ausgewirkt. In der 1996 in Münster gezeigten Ausstellung "Als die Frauen
noch sanft und engelsgleich waren ..."8 wurde vor Augen geführt, dass der "starke Arm" aus
Spr 31,17 selbst bei zierlichen Frauen ins Bild gesetzt wurde, um ihre Tüchtigkeit zu erweisen
(Bild 119, 29). Die unermüdliche Handarbeit Tag und Nacht, wie sie 31,13.15 darlegt, wurde
dadurch ins Bild gesetzt, dass keine der Frauen ihre Hände tatenlos in den Schoß legt, sondern
Stick- oder Strickzeug, zumindest aber ein Gebetbuch in Händen hält (Bild 238). Und
selbstverständlich war das Lebenszentrum der verheirateten Frauen durch Mann und Kinder
definiert (Bild 61, 51).
Das Lebenszentrum (Groß-)Familie und Kinder gilt selbstverständlich auch für das AT.
Frauen wie Männer waren und früh verheiratet und für beide – man denke nur an Abrahams
Klage in Gen 15 "Was willst DU mir schon geben, da ich kinderlos dahingehe!" – standen
Kinder im Zentrum ihres Lebens. Wenn die fähige Frau daher als verheiratet vorgestellt wird,
so ist dies das Normalste von der Welt – wäre sie nicht verheiratet, müsste man es begründen.
Sie deswegen aber als "Hausfrau" darzustellen, ist einerseits anachronistisch, da für den Alten
Meinhold, Die Sprüche (ZBK.AT 16.2), Zürich 1991, 528, spricht vom „häuslichen Umfeld“, wenngleich er
mehr den wirtschaftlichen als den hauswirtschaftlichen Aspekt betont.
5
M. Faulhaber, Charakterbilder (s. Anm. 1) 5.
6
Kritisch dazu Christl Maier, Das Buch der Sprichwörter, in: Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hrsg.),
Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 2 1999, 208– 220, 219: „Außerdem sind die Tätigkeiten
der starken Frau trotz aller Selbständigkeit an ihren Mann und ihre Söhne und Töchter gebunden, bezahlt sie ‚ihr
Lob in den Toren’ (31,31) mit einer – aus heutiger Sicht – gehörigen Portion Selbstausbeutung.“
7
Siehe dazu: Athalya Brenner/Fokkelien van Dijk -Hemmes, On Gendering Texts (BIS 1), Leiden 1993, die
jedoch kritisch zur Bewertung des Textes als M-voice stehen (vgl. ebd. 127–130).
8
Hildegard Westhoff-Krummacher, Als die Frauen noch sanft und engelsgleich waren, Westfälisches
Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster 19.11.1995–11.2.1996, Münster 1995. Siehe zum
Folgenden die Bilder zum starken Arm 29 und 119; zur handarbeitlichen und religiösen Beschäftigung 238
sowie 61 und 51 auch zum Familienzentrum Ehemann und Vater.
Orient keine Trennung der Lebensbereiche in öffentlich und privat vorauszusetzen ist, und
andererseits insofern nicht korrekt, als mit diesem Ausdruck eine Frau bezeichnet wird, die
ausschließlich innerhäusliche, nicht entlohnte Arbeit leistet. Der Text erzählt das klare
Gegenteil 9 der Meinung dieser Exegesen, bei denen sich das Geschlecht als oberstes,
allerdings unreflektiertes Kriterium der Deutung erweist und antike Texte nach den
Geschlechterstereotypen des Abendlandes im 19. und 20. Jahrhundert ausgelegt werden. 10
Dass nicht alle Bibelübersetzungen und Exegeten diesen Bias bei der Übersetzung von
hVa
als "Hausfrau" und bei der trivialisierenden Wiedergabe von
lyx
mit "klug"
affirmieren, sei betont. Die italienische Bibelübersetzung Bibbia Emmaus, 11 an der übrigens
auch eine Frau mitgearbeitet hat, setzt als Titel "La donna ideale ". Maurice Gilbert spricht
von der "donna forte"12 , Antonio Bonora von der "donna eccelente"13 und der "donna
energica", Otto Kaiser übersetzt
lyx
mit "vortrefflich" – allesamt geschlechterfaire
Übersetzungen. 14
2. Kompendium für die Managerin eines großen Wirtschaftsbetriebes: Sozialgeschichtliche
Forschung
Christine Roy Yoder hat mit ihrer 2001 erschienenen Dissertation den sozialgeschichtlichen
Hintergrund des Textes Spr 31,10-31 aufgezeigt. Ausgehend von der gut begründeten These,
dass der Text aus der persischen Zeit stammt, und die Provinz Juda nicht provinziell, sondern
gut an die übrigen Teile des Reiches angebunden war, 15 hat sie Wirtschaftsurkunden,
Inschriften und antike Archive wie etwa die Papyri aus Elefantine nach dem Anteil befragt,
den Frauen am sozioökonomischen Leben der Perserzeit hatten. Sie kommt zum Ergebnis,
dass sich all die in Spr 31,10–31 beschriebenen Tätigkeiten sich in Belegen der Perserzeit
nachweisen lassen:
9
Dies haben bereits viele Exegetinnen betont. Siehe etwa Carole R. Fontaine, The Social Roles of Women in the
World of Wisdom, in: Athalya Brenner (Hrsg.), A Feminist Companion to Wisdom Literature (FCB 9), Sheffield
1995, 24–49, 28–30.
10
Zu einem geschlechterfairen Forschungsansatz siehe Irmtraud Fischer, Genderfaire Exegese (exuz 14),
Münster 2004,
11
Bibbia Emmaus, Cinisello Balsamo 1998.
12
Maurice Gilbert, La donna forte di Proverbi 31,10–31: ritratto o simbolo? in: Giuseppe Bellia/Angelo Passaro
(Hrsg.), Libro dei Proverbi, Casale Monferrato 1999, 147– 167, 148.
13
So Antonio Bonora, La donna eccelente, la sapienza, il sapiente (Pr 31,10–31), in: RivBib 36 (1988) 137–164.
14
Vgl. Otto Kaiser, Grundriß der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten
Testaments 3, Gütersloh 1994, 68.
15
Siehe Christine Roy Yoder, Wisdom as a Woman of Substance (BZAW 304), Berlin 2001, 42.
•
Frauen waren im internationalen Fernhandel tätig, die Metapher der Handelsschiffe
(V. 14) hat also einen ebenso konkreten Hintergrund in der Wirtschaftsgeschichte wie
die Handelsbeziehung zum "Kanaanäer", dem sie die Gürtel verkauft (V. 24), denn es
gibt Belege, dass in persischer Zeit die Phönikier, die den gesamten Mediterran mit
ihrer Seefahrt beherrschten, "Kanaanäer" genannt wurden. 16
•
Wenn alle Immobilien, vom Haus (V. 21) über das Feld (V. 16) bis zum Weinberg
(V. 16), als ihre Besitzungen und Erwerbungen bezeichnet werden und sie über alles
frei verfügen kann, über Grund und Boden, den erzielten Handelsgewinn (V. 18) und
die Produkte des Landes zur Textilverarbeitung (V. 13.21f.), so ist sie es, die den
Familienunterhalt erarbeitet, verwaltet und neu investiert. 17 Christine Roy Yoder 18 hat
sowohl aus den Elefantinetexten als auch aus den Texten über den Festungsbau in
Persepolis feststellen können, dass nicht nur Frauen der Oberschicht über Haus-,
Geschäfts- und Grundbesitz verfügten, sondern auch für die soziale Schicht des
Handwerks und des Handels. Texte wie Sir 25,22, die es als Schande ansehen, wenn
die Frau ihren Mann ernährt, muss man wohl auf diesem Hintergrund von ökonomisch
ihren Männern überlegenen Frauen, wie sie etwa in Elefantine durch das nach der
reichen Jüdin Mibtahiah benannte Archiv bezeugt sind, lesen. 19
•
Eine aufschlussreiche Parallele hat Yoder in den Persepolistexten zur Zeile w (V. 15)
aufzeigen können: "Und Sie steht auf, wenn es noch Nacht ist, und gibt Nahrung
ihrem Haus und das Festgesetze für ihre jungen Frauen". Da qx sowohl 'Satzung' im
Sinne einer rechtlichen Regelung als auch – wie in Spr 30,8 belegt – die den Frauen
'zustehende Ration' 20 bedeuten kann, könnte man hier durchaus an eine Besoldung wie
bei jener der Arbeiterinnen beim Bau der Festung von Persepolis denken. Frauen
werkten dort nicht nur in Gruppen als Hilfsarbeiterinnen, sondern führten bis zu
künstlerischen Tätigkeiten in vielen Bereichen ihre Arbeiten aus, manchmal
beaufsichtigten sie sogar männliche Arbeiter. 21
16
Vgl. C.R. Yoder, Wisdom (s. Anm. 15) 79f.
Sie hält nicht den „Familienbesitz zusammen und mehrt ihn“, wie Werner Dietrich, Das Buch der Sprüche
(Wuppertaler Studienbibel), Wuppertal 1985; 319, behauptet, sondern ihren eigenen.
18
Siehe C.R. Yoder, Wisdom (s. Anm. 15) 84.
19
Siehe Bezalel Porten/Ada Yardeni, (ed.), Textbook of Aramaic Documents from Ancient Egypt II. Contracts,
Winona Lake 1989, 30– 33, Dokument B2.6. aus der Mitte des 5. Jhs.
20
Auf den Papyrus Insinger 14,4 in Bezug auf die Relation von Versorgung aufgrund geregelter Arbeit hat
bereits A. Meinhold, Sprüche (s. Anm. 4) 524, verwiesen.
21
Vgl. C.R. Yoder, Wisdom (s. Anm. 15) 86.
17
Die fähige Frau erweist sich durch die sozialgeschichtliche Forschung als eine reiche
Gutsbesitzerin und Händlerin – M. Gilbert 22 verweist berechtigt auf die Purpurhändlerin
Lydia aus Apg 16,14. Sie ernährt ganz offensichtlich mit ihren eigenen Ressourcen ihren
Mann und dieser kann sich daher – ohne Sorgen um das tägliche Brot – der Politik zuwenden
(Spr 31,23).
3. Wer spricht und wer wird angesprochen? Spr 31 im Kontext
Die Frage, wer dieses Akrostichon spricht, ist vor allem dann sehr unterschiedlich beantwortet
worden, wenn das Gedicht als selbständige Einheit, losgelöst vom vorangehenden Text,
gesehen wurde.
3.1 Der Ehemann belehrt seine Frau
Bernhard Lang 23 hat den sozialgeschichtlichen Ansatz von Christine Roy Yoder aufgegriffen
und auf das athenische Milieu ausgeweitet. Er weist auf eine mit Spr 31,10-31 vergleichbare
Sammlung von Beschreibungen weiblicher Tätigkeiten in Xenophons Oeconomicus aus dem
5.–4. Jh. v. Chr. hin. In diesem als Dialog angelegten Werk beruft sich Sokrates auf eine
Unterredung mit einem Mann namens Ischomachus. Dieser belehrt seine Frau über die
Pflichten einer Ehefrau, die ein Haus zu führen hat. Spr 31,10-31 wäre damit als eine
belehrende Rede des Mannes an seine Ehefrau zu lesen, wenngleich in quasi hymnischem
Stil. Die einleitende Frage "Eine fähige Frau – wer findet sie?" gibt in einer solchen Deutung
das Problem eines Mannes an, eine entsprechende Ehefrau zu finden.
3.2 Ein Lob für "Frau-und-Mutter"
Die Erwähnung des Sprachvorgangs von Vater und Söhnen (obwohl man sprachlich korrekt
natürlich "Kinder" übersetzen müsste) in V. 28 ("ihre Kinder stehen auf und preisen sie selig,
ihr Ehemann rühmt sie") verleitet zur Annahme, dass die unmittelbar folgende direkte Anrede
"Du aber übertriffst sie alle!" in V. 29 von ihnen an die Ehefrau und Mutter ergehen müsse.
Da die sprachliche Äußerung in V. 28 mit Verben des Preisens und Rühmens gestaltet ist, ist
22
Siehe M. Gilbert, Donna forte (s. Anm. 12) 152.
Vgl. Bernhard Lang, Women’s Work, Household and Property in Two Mediterranean Societies, in: VT 54
(2004) 188– 207; zum Folgenden siehe 190f. Viele der weiblichen Tätigkeiten sind im biblischen wie im
athenischen Text erwähnt, allerdings gibt es auch Unterschiede aufgrund unterschiedlicher Rechtsgrundlagen
(z.B. Frauen können in Athen kein Land besitzen).
23
die literarische Gattung des Gedichts als Loblied zu bestimmen. 24 Dieser Identifikation von
Sprechern und Adressatin weiß sich auch die jüdische Tradition verpflichtet, die bekanntlich
die Ehemänner anweist, diesen Text jeden Erev Schabbat zu Ehren ihrer Frauen zu rezitieren.
3.3 Die Königin belehrt ihren Sohn
Das Buch der Sprüche ist durch ein Überschriftensystem in sieben Teile gegliedert. 25 In Spr
9,1 heißt es: "Die Weisheit hat ihr Haus gebaut, ihre sieben Säulen behauen. " Dieses
siebensäulige Haus kann als das Sprüchebuch gedeutet werden. Die letzte, die siebente Säule
ist in 31,1 mit "Worte Lemuëls, des Königs von Massa, mit dem ihn seine Mutter mahnte"
überschrieben.
Der hebräische Text schreibt durch diese Überschriftengliederung auch 31,10-31 der
Königsmutter zu, da nirgends ein Wechsel der Sprechenden angegeben wird. Dass dies keine
neue Deutung ist, sondern sich in der Exegesegeschichte gut bezeugt findet, zeigt der vor
kurzem neu edierte Kommentar von Yefet ben `Eli aus der 2. Hälfte des 10. Jhs., der die
Erklärungen zu allen Versen mit tlaq ~t "und sie sagte/legte aus ..." beginnen lässt. 26 Das
Gedicht von 31,10–31, das dann als Belehrung des Sohnes gelesen werden muss, schließt
somit nahtlos an die mütterliche Unterweisung an den königlichen Sohn von 31,1–9 an. So
hat etwa Cornelius A Lapide 27 aufgrund der Buchbezeichnung "Proverbia Salomonis" die
Mutter mit Batseba, den Sohn mit Salomo identifiziert. 28
3.4 Das Versprechen des belehrten Königs an seine Mutter
David Blumenthal versteht in seinem 2003 erschienenen Artikel "The Shulamite is Not the
Woman of Valor” das Gedicht über die fähige Frau als Antwort des Königs auf die
Belehrungen seiner Mutter. 29 Der König würde damit auf die Warnung seiner Mutter von
31,3, seine Kraft nicht an Frauen zu vergeuden, insofern antworten, als er ihr zusichert, eine
fähige Frau heiraten zu wollen, um damit der seit Salomo sprichwörtlichen Gefahr eines
großen Harems zu entgehen.
24
So etwa A. Meinhold, Sprüche (s. Anm. 4) 529. Mit der Zuordnung zur Gattung des Hymnus hat sich Al
Wolters, Proverbs 31:10–31 as Heroic Hymn, in: Ders., The Song of the Valiant Woman, Carlisle 2001, 3–14
(Erstpublikation 1988) intensiv beschäftigt.
25
Siehe dazu etwa die Übersicht bei Ludger Schwienhorst-Schönberger, Das Buch der Sprichwörter, in: Erich
Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1.1), Stuttgart 5 2004, 371–379, 372.
26
Michael G. Wechsler, The Arabic Translation and Commentary of Yefet ben ‘Eli on Proverbs 31:10–31, in:
JJS 54 (2003) 283–310. Lemuël wird in diesem Kommentar wie in vielen mittelalterlichen Werken mit Salomo
identifiziert, die Mutter sodann konsequenterweise mit Batseba (siehe ebd., 302 s. Anm. 37).
27
Siehe Cornelius A. Lapide, Commentaria in Salomonis Proverbia, Antverpia 1681, 866.
28
Darauf verweist M. Gilbert, Donna forte (s. Anm. 12) 149.
29
David Blumenthal, The Shulamite is Not the Woman of Valor, in: Timothy J. Sandoval/Carleen Mandolfo
(Hrsg.), Relating to the Text (JSOT:S 384), London 2003, 216–231, 223.
Auch Faulhaber unternimmt diese Identifikation zu den redenden Söhnen von 31,28,
versteht das Gedicht allerdings nicht als Antwort, sondern als posthume Laudatio: "Wie wenn
Làmuel mit diesen Worten auf dem Grabe seiner Mutter einen Palmenkranz niedergelegt
hätte."30
Diese Deutung nimmt zwar den Gesamtzusammenhang des Kapitels ernst, nicht aber
dessen Überschrift. Sie setzt voraus, dass die in 31,29 mit "du" angesprochene weibliche
Person die Mutter ist und identifiziert den Sprecher als einen der königlichen Söhne, obwohl
dieser postulierte Sprecherwechsel nirgends angezeigt ist.
3.5 Was junge Männer von künftigen Ehefrauen erwarten sollten
Die wohl häufigste These neben dem Familienlob der Hausfrau ist die Deutung als
Unterweisung von heiratsfähigen jungen Männern, die damit zur Wahl der rechten Frau
angehalten werden sollen. Nicht auf Schönheit, die vergänglich ist (31,30), sollten sie
schauen, sondern auf die Fähigkeit und den Arbeitswillen einer Frau. Diese Auslegung
entzündet sich vor allem an der Eingangsfrage "Die fähige Frau, wer findet sie?", die sodann
als rhetorische Frage im Sinn der schieren Unmöglichkeit verstanden werden kann. 31 Das
alphabetische Gedicht würde damit ausführlich das bestärken, was Spr 18,22 feststellt: "Wer
eine Frau gefunden hat, hat Gutes gefunden und das Wohlgefallen JHWHs erlangt."32 Damit
würde "den jungen Männern genau aufgezeigt, welche der real existierenden Frauen sich die
Lehrenden als gute Partnerinnen für ihre Schützlinge wünschen"33 – so Katrin Brockmöller in
ihrer Dissertation.
Margaret B. Crook vertrat jedoch bereits in den frühen Fünfziger Jahren die These, dass
Spr 31,10-31 ein schulisches Kompendium an heiratsfähige Mädchen gewesen sei. 34 Leider
wurde ihre These aufgrund der Verquickung mit der bis dato für das Alte Israel nicht
erwiesenen Institution der Schule wenig beachtet.
Dieser letzte Teil des Sprüchebuches ist in dieser Deutung auch als Fortsetzung der Lehren
der Eltern aus Spr 1–9 zu lesen. Ergehen diese an die Söhne, dann ist dieser Text ein Katalog,
um sich die rechte Frau zu suchen, ergehen sie an die Töchter, dann wis sen damit alle Bräute,
was sie zu erfüllen haben.
30
M. Faulhaber, Charakterbilder (s. Anm.1) 14.
Vgl. dazu Jutta Hausmann, Beobachtungen zu Spr 31,10– 31, in: Alttestamentlicher Glaube und Biblische
Theologie (FS Horst D. Preuss), Stuttgart 1992, 261–267.
32
Darauf verweist Roland E. Murphy, , Proverbs (WBC 22), Nashville 1998, 246, wobei er allerdings mit
Wolters die Gattung als Hymnus bestimmt, als Sprechende die Familie annimmt und auch die Dimension von
Frau Weisheit darin aufblitzen sieht.
33
Katrin Brockmöller, “Eine Frau der Stärke – wer findet sie?” (BBB 147), Berlin 2004, 235.
34
Siehe Margaret B. Crook , The Marriageable Maiden of Prov. 31:10–31, in: JNES 13 (1954) 137–140 und die
Kritik bei M. Gilbert, Donna forte (s. Anm. 12) 161.
31
3.6 Die Königsmutter belehrt Königssohn und Königstochter
Nimmt man die Überschrift von 31,1 ernst und liest das ganze Kapitel als Lehre der
Königsmutter aus Massa, 35 so wäre schlussendlich auch die Deutung möglich, dass sie in V.
1–9 den Sohn belehrt, in V. 10–31 jedoch die Tochter. Athalya Brenner 36 hat diese
Vermutung bereits geäußert, ohne sie jedoch näher zu begründen. 37
Dass V. 10–31 eine klar abzugrenzende Einheit ist, ist allein schon durch die akrostische
Gestaltung evident. V. 10 könnte so mit seiner das Gedicht einleitenden Frage der
weisheitlichen Gattung der Rätsel zugeordnet werden. Die Mutter würde also ähnlich dem
Abschnitt von V. 5–7, in dem sie über Könige – und nicht wie in V. 2–4.8f. zu ihrem
königlichen Sohn – spricht, über sprichwörtlich fähige Frauen sprechen und erst am Schluss,
quasi zur Lösung des "Rätsels" die Tochter in V. 29 direkt anreden: "Viele Töchter erweisen
sich als fähig. Du aber übertriffst sie alle!"
V. 29 kann also durchaus als direkte Rede der Mutter an die Tochter verstanden werden,
zumal sie auch in V. 4 Lemuël noch anredet, gleichzeitig aber bereits allgemein über Könige
spricht.
Einen ähnlichen Wechsel zur direkten Anrede, allerdings an ein männliches Du, nehmen
jene an, die in V. 30 das Hitpael als 2.P.mask. reflexiv und nicht passiv übersetzen: "Eine
Frau (ist) die JHWH-Furcht, ihrer sollst du dich rühmen. "38 So reizvoll manche Aspekte
dieser Identifizierung sein könnten, scheint mir doch die traditionelle Übersetzung "Eine Frau
der Gottesfurcht jedoch, die ist zu preisen!" naheliegender, vor allem, wenn eine Frau die
Adressatin des Gedichts ist.
Mit dem Schlusssatz von V. 31 wendet sich nach diesem Verständnis die Königsmutter in
ganz ähnlicher Weise der Öffentlichkeit zu, wie sie es in V. 6f. getan hat:39
35
Die Stichwortverbindungen beider Texte des Kapitels hat Murray H. Lichtenstein, Chiasm and Symmetry in
Proverbs 31, in: CBQ 44 (1982) 202– 211, 202f., zusammengestellt. Die LXX allerdings bestärkt diese
Verbindung nicht, da sie in diesem Bereich des aber ohnedies sehr frei übersetzten Sprüchebuches eine andere
Textabfolge hat und Spr 31,10-31 hinter 29,1–27 zu stehen kommt.
36
Siehe Athalya Brenner, Proverbs 1–9, in: Dies./F. van Dijk -Hemmes, Gendering Texts (s. Anm. 7) 113– 130,
127f.
37
K. Brockmöller, Frau der Stärke (s. Anm.33) 182–191, zitiert zwar meinen Hinweis auf eine solche Deutung,
nimmt ihn jedoch in dem Abschnitt, den sie „Das männliche Lob (V. 28–29)“ überschreibt, nicht
interpretatorisch auf: zur Stelle ebd., 184. Wird V. 29 als direkte Anrede an eine Frau adressiert, ist die von K.
Brockmöller, Frau der Stärke (s. Anm. 33) 191, ventilierte Möglichkeit, dass die Königsmutter zu Lemuël
spricht, auszuschließen.
38
So u.a. K . Brockmöller, Frau der Stärke (s. Anm. 33) 192; zur Argumentation siehe 194f.
39
Die Verbindung der beiden Texte durch die Phrase des Öffnens des Mundes hat bereits A. Meinhold, Sprüche
(s. Anm. 4) 528, betont, wenngleich er die Differenz zwischen königlichem Status und dem häuslich-familiären
Bereich betont.
Spr 31,6.8–9
(6) Gebt (WnT) Rauschtrank dem, der am
Umkommen ist, und Wein den in der Seele
Verbitterten!
(8) Öffne deinen Mund (^yP-xtP) für den
Stummen, zum Recht aller Kinder der
Verlassenheit!
(9) Öffne deinen Mund (^yP-xtP) und richte in
Gerechtigkeit, schaff Recht dem Armen und
Notleidenden!
Spr 31,31.26
(31) Gebt ihr (WnT) von der Frucht ihrer
Hände ...
(26) Sie öffnet ihren Mund (hxtP hyP)
mit Weisheit, und Tora der Güte [ist] auf
ihren Lippen.
Die literarische Gattung ist nach diesem Verständnis als Rätsel zu bestimmen, das die
königliche Mutter ihrer Tochter stellt, und in das sie ein Beschreibungslied der idealen
fähigen Frau einbaut. Da die Lösung des Rätsels in der direkten Anrede von V. 29 gegeben
wird, ist das Lied auch als Loblied auf die angesprochene Tochter zu verstehen. Die
Vollständigkeit beanspruchende, alphabetisierende Aufzählung der Fähigkeiten dieser Frau
steht wiederum der Listenweisheit nahe. Da das Akrostichon nicht nur eine Kunstform ist,
sondern auch eine mnemotechnische Hilfe, verweist es auf Lesekenntnis. So kann man mit
Athalya Brenner auch annehmen, dass mit diesem Text die Mutter der Tochter nicht nur das
rechte Tun im Leben, sondern auch das Lesen beigebracht hat. 40
4. Frau Weisheit oder Tora-lehrende Frau? Der Buchkontext
Manche Vertreter der älteren historisch-kritischen Forschungsrichtung – es waren nicht die
besten – hatten vornehmlich Interesse an den sogenannten kleinen literarischen Einheiten, d.h.
an den Textstücken, die in einem Guss geschrieben wurden. Ganze Bücher als
Sinnzusammenhang standen selten zur Diskussion. Vor allem durch die kanonische Lektüre,
die die gesamte Bibel als Erzählzusammenhang begreift, und wohl auch durch die Krise der
historisch-kritischen Forschung, die dadurch bedingt ist, dass mit ein und derselben Methode
keine einheitlichen Ergebnisse zu erzielen sind, wurde immer mehr das Buch in den
Vordergrund gerückt, wenn auch in manchen Fällen nur als Ausgangspunkt historischer
40
Darauf hat bereits A. Brenner, Proverbs (s. Anm. 36) 130, verwiesen.
Rückfragen. Fragt man nach dem Buchkontext unseres Gedichts, so kommt man zu
erstaunlichen Ergebnissen:
4.1 Die fähige Frau in den Farben der Frau Weisheit
Wenn Hans Fuhs in seinem Kommentar das alphabetische Gedicht als "Preisgesang auf die
Weisheit"41 erklärt und jegliche Applikation auf reale Frauen42 als "arges Mißverständnis"43
deklariert, so kann man diese ausschließende eingeengte Deutung nach Yoders Arbeit nur der
Allegorese zuschreiben. Die gepriesene fähige Frau ist zweifellos nicht einfach "Frau
Weisheit", die in Spr 1–9 sich selber preist. Wie Katrin Brockmöller treffend erkannt hat,
trennt die Herkunft aus dem göttlichen Bereich Frau Weisheit von der fähigen Frau, die in der
realen Lebenswelt verortet ist. 44
Dass aber zwischen diesen Frauenfiguren Verbindungen bestehen und durch die beiden
Textkomplexe ein das ganze Sprüchebuch zusammenhaltender Rahmen entsteht, ist seit dem
1985 erschienenen Klassiker von Claudia Camp, "Wisdom and the Feminine in the Book of
Proverbs", allgemein anerkannt. 45 Um nur drei Beispiele zu nennen:
•
Beide, Frau Weisheit und die fähige Frau werden mit Korallen verglichen (~ynynP
Spr 3,15; 8,11; 31,10).
•
Bei beiden wird das Finden als überaus positiver Wert thematisiert (acm Spr 3,13;
8,17; 31,10).
•
Beide Frauen besitzen ihr eigenes Haus (Htyb Spr 9,1; 31,15.21) und führen dies mit
weiblichem Dienstpersonal (hytr[n Spr 9,3; 31,15).
Dieser gezielt gestaltete Rahmen um das im übrigen sehr divergentes Material enthaltende
Sprüchebuch setzt zudem einen genderspezifischen Kontrapunkt, wenn im Rahmen das
Weibliche dominiert, wo im übrigen Buch offensichtlich überwiegend Männer belehrt
werden.
Ob damit aber bereits – wie es McCreesh 46 darzustellen versucht hat – gesagt ist, dass die
fähige Frau eine Personifikation von Frau Weisheit sein muss, sei dahingestellt;47 dass aber im
41
Siehe Hans F. Fuhs, Das Buch der Sprichwörter (FzB 95), Würzburg 2001, 388.
Gegenteiliger Meinung ist O. Plöger, Sprüche (s. Anm. 4) 376: „Die Frau ist keine Idealgestalt, sondern eine
Realität ...“
43
Ebd., 389.
44
Vgl. K. Brockmöller, Frau der Stärke (s. Anm.33) 214.
45
Vgl. Claudia V. Camp, Wisdom and the Feminine of Proverbs (BiLiSe 11), Sheffield 1985, 179–208.
46
Zu den vielfältigen Verbindungen von Spr 1–9 mit 31,10-31 siehe ebenso Thomas McCreesh, Wisdom as
Wife: Proverbs 31:10–31, in: RB 92 (1985), 25– 46.
47
M. Gilbert, Donna forte (s. Anm. 12) 167, widmet seinen Artikel dem Erweis des Gegenteils: „La donna
perfetta di Pro 31 non è l’incarnazione di Donna Sapienza.” Sie ist vielmehr eine, die auf die Weisheit hört und
nach ihren Anweisungen lebt.
42
Buchkontext der Sinn komplex ist und die fähige Frau in den Farben von Frau Weisheit
gemalt wird, daran kann kein Zweifel sein. 48
4.2 Die Tora der Frauen
Die fähige Frau von Spr 31,26 öffnet nicht nur den Mund mit Weisheit, sondern auf ihren
Lippen findet sich auch Weisung der Güte. Sie wird damit – wie die Mutter in Spr 1,8; 6,20 –
als Tora-Lehrerin vorgestellt.
Spr 1,8
Höre, mein Kind, die Zucht
deines Vaters und verachte
nicht die Tora deiner Mutter!
^ybia' rs;Wm ynIB. [m;v.
`^M,ai tr;AT vJoTi- la;w>
Spr 6,20
Beobachte, mein Kind,
das Gebot deines Vaters
und verachte nicht die
Tora deiner Mutter!
^ybia' tw:c.mi ynIB.
rcon>
`^M,ai tr;AT vJoTi- la;w>
Spr 31,26
Sie öffnet ihren Mund in
Weisheit und Tora der
Güte ist auf ihrer Zunge.
hm'k.x'b. hx't.P' h'yPi
`Hn"Avl.- l[; ds,x,-tr;Atw>
Wie Christl Maier 49 in ihrer Dissertation zur fremden Frau eindrücklich gezeigt hat, werden
die hwcm, "das Gebot", des Vaters und die hrwT , Tora, der Mutter in Spr 6,20–35 als
Unterweisung, wie Dtn 6 sie vorschreibt – und orientiert an den Geboten des Dekalogs –
gestaltet. Das Sprüchebuch präsentiert damit Mutter50 wie Vater als authentische und
verbindliche Lehrende von Gebot und Weisung. Wenn die fähige Frau Tora der Güte auf
ihren Lippen hat, so wird die Tora der Mutter noch intensiviert: Die Toralehre ist kein
einzelner Akt, sondern jegliche Lehre und Unterweisung dieser Frau ist durch Weisheit und
Güte bestimmt. Nichts anders bedeutet es, die Tora auf den Lippen zu haben, denn jedes
Wort, das durch diese Lippen geformt wird, bekommt die Qualität der Weisung. Die fähige
Frau reiht sich damit nahtlos in die Reihe der Eltern ein, die die religiöse Tradition des Volkes
Israel weitergeben.
5. Die fähige Frau (Weisheit) in den Kleidern des Hohepriesters: Kanonisch-intertextuelle
Lektüre
48
Siehe dazu auch A. Bonora, Donna eccellente (s. Anm. 13) 157– 161.
So Christl Maier, Die „fremde Frau“ in Proverbien 1–9 (OBO 144), Fribourg 1995, 145–166.
50
Dass die „Mutter als Lehrende und Unterweisende ... in den Auslegungen lange Zeit mehr oder weniger
übersehen“ wurde, darauf verweist Ruth Scoralick , Hinführung zum kritischen Denken, in: Das Manna fällt auch
heute noch (FS Erich Zenger) (HBS 44), Freiburg 2004, 548–566, 550 und befragt kritisch die Auslegung des
Sprüchebuches mit Geschlechterstereotypen.
49
Katrin Brockmöller hat in ihrer Dissertation, die neben klassischen Textanalysen auch die
intertextuelle Lektüre versucht, aufgezeigt, dass ausschließlich in Spr 31,10-31 und in Ex 25–
40 die Luxustextilien Karmesin (ynv), Leinen (vv) und roter Purpur (!mGra) zusammen
vorkommen. 51 Falls in 31,21 nicht von zweifacher (ynv) Kleidung als Schutz gegen die eisige
Kälte die Rede ist, sondern ynv mit Karmesin zu übersetzen ist, handelt es sich bei Karmesin
und rotem Purpur um zwei nicht näher beschriebene Stoffe, die ihren Wert nicht – wie das
hauchzarte Byssusleinen – vom Material her bekommen, sondern von ihrer Färbung. Beide
Farben, 52 Karmesin und Purpur, sind tierischen Ursprungs, der "Glanzwurm" (t[lwt) liefert
das Karmesin, die Purpurschnecke bzw. - muschel das begehrte, sündteure Dunkelrot und
Blau. 53 In der Auslegungsgeschichte wurden die erwähnten Luxustextilien meist bloß als
Hinweis auf sehr großen, von Frauenhand erarbeiteten Reichtum gewertet. So meint etwa
Roland Gradwohl: "Nach Prov 31,22 gilt es als erstrebenswertes Ziel, eine Gattin zu besitzen
[sic!], die es durch unermüdlichen Fleiß unter anderem so weit bringt, daß sie Kleider aus
Byssos und Purpur tragen kann". 54
51
Vgl. K. Brockmöller, Frau der Stärke (s. Anm. 33) 245
Zu den hier zur Diskussion stehenden Farbbezeichnungen von Textilien siehe Athalya Brenner, Colour Terms
in the Old Testament (JSOT.S 21), Sheffield 1982, 143–145. Die hier besprochenen Belege sind sicher alle spät.
53
Zur Herstellung von Farben tierischen Ursprungs und deren heute unvorstellbarem Wert siehe Wolfgang
Zwickel, Färben in der Antike, in: Ders. (Hrsg.), Edelsteine in der Bibel, Mainz 2002, 41– 44.
54
Roland Gradwohl, Die Farben im Alten Testament (BZAW 83), Berlin 1963, 70.
52
DIE R EIHE DER LUXUSTEXTILIEN
KARMESIN (ynv), LEINEN ( VV) UND ROTER PURPUR (!mGra) IN EX 25–40
Anweisung JHWH sagt zu Mose
25,4 IsraelitInnen sollen diese u.a. stiften
26,1 Mischkan aus 10 solchen Teppichen
26,31 Vorhang vor der Bundeslade
26,36 Vorhang für den Eingang des Zeltes
27,16 Vorhang für das Tor des Vorhofes
28,5 Materialien für Priestergewänder
28,6 Ephod
28,8 Gürtel am Ephod
28,15 Lostasche
Ausführung Mose sagt zu den IsraelitInnen
35,6 IsraelitInnen sollen u.a. diese stiften
35,23 IsraelitInnen – Frauen und Männer – stiften u.a. diese.
35,25 Alle Frauen mit weisem Herzen spannen mit ihren Händen. Und das Garn, blauer und
roter Purpur, Karmesin und Byssusleinen wurden gebracht
35,35 ER hat sie [Bezalel und Oholiab] erfüllt mit weisem Herzen, um alle Arbeiten zu tun,
die des Gravierens, des Kunstwebens, des Buntwirkens von blauem und rotem Purpur, von
Karmesin und Byssusleinen und des Webens. Alle Arbeiten sollen sie tun und planend sollen
sie planen.
36,8 Ausführung 10 Teppiche
36,35 Vorhang vor Bundeslade
36,37 Vorhang für den Eingang des Zeltes
38,18 Vorhang für das Tor des Vorhofes
38,23 Bezalel mit Oholiab führt diese Arbeiten, die JHWH Mose befohlen hatte, aus und
rechnet ab
39,1 Gewänder Aarons – Priestergewänder
39,2 Ephod
39,3 Goldverzierte Stoffe f. Priestergewänder
39,8 Lostasche
39,29 Gürtel
Von 42 Vorkommen im AT findet sich Karmesin 26mal in Ex 25–40. Beim Purpur sind es
25 von 38 Belegen und beim Leinen 33 von 38, die in den Texten zur Ausstattung des
Heiligtums und der Priester vorkommen. 23mal stehen – nur hier und in Spr 31 – alle drei
Stoffe in einer Reihe. 55 Exegeten, die an der klassischen jüdischen Auslegung der Schrift
55
Siehe K . Brockmöller, Frau der Stärke (s. Anm. 33) 243f.
durch die Schrift, die sich an einzelnen Wörtern aufhängt, Anstoß nehmen, werden dies Zufall
nennen oder eben "Parallelstelle".
Der im letzten Jahrzehnt immer bedeutender gewordene intertextuelle Ansatz, 56 der, sofern
er nicht – wie seine Begründerin Julia Kristeva – die gesamte Kultur als Intertext sieht,
sondern sich diesbezüglich auf die alten Schriften beschränkt, sieht in diesen
Textverbindungen keinen Zufall. Nach der einen Richtung werden sie als Leseanweisung,
nach der anderen als Ansatz zur Rezeption des Textes gesehen. Während jene Richtung, der
ich mich zurechne, die historischen und damit auch die entstehungsgeschichtlichen Fragen
nicht ausklammert, liest die andere die Bibel als kanonisch gewordene Literatur,
ausschließlich als Textfläche, in der ein Text den anderen auslegt.
Bei Spr 31,10-31 ist es historisch wohl eindeutig, dass dieser Text der nehmende, Ex 25–40
der gebende ist; von der Dignität her ist die Auslegungsrichtung von den fünf Büchern Mose,
der Tora, hin zu den Schriften, den Ketubim, auch klar. Sieht man jedoch die Bibel als
Einheit, so legt freilich – zumindest seit dem historischen Zweitleser – auch Spr 31 das
Exodusbuch aus.
Wie kann man die Textzusammenhänge nun deuten? Die fähige Frau stattet sich aus wie
das Heiligtum, und ihre Kleider sind die der Priesterschaft. Freilich könnte man realistisch
sagen, dass zumindest bis zum Barock die Priestergewänder aus denselben Stoffen waren, wie
sie die Adeligen und Wohlhabenden trugen. Da aber kein einziger König, nicht einmal
Salomo in all seiner Pracht, so ausstaffiert ist, greift dieses Argument nicht. Die
Priesterkleider machen die fähige Frau nicht nur – wie in der jüdischen Tradition üblich – zur
"Priesterin des Hauses", sondern sie lehrt auch wie die Priester die Tora.
Die fähige Frau, die wie das Wüstenheiligtum ausgestattet ist, ist im Buchkontext wohl
Frau Weisheit. Wer ihre Einladung annimmt, wird weise und gottesfürchtig, lehrt die Tora
und lebt nach ihren Vorschriften, die ein gutes Leben für alle ermöglichen, und hat damit eine
ganz ähnliche Funktion wie die priesterliche: Nicht die kultische Vermittlung der Gottesnähe,
sondern die Vermittlung der Erfahrung von Gottesnähe durch das weise, Tora- gemäße Tun
der Menschen. Frau Weisheit und die gelebte Weisheit der Frauen57 (vgl. Spr 14,1)
bekommen damit eine heilsrelevante Funktion.
6. Gotteslehrerin: Resümee
56
Eine hervorragende Zusammenstellung des intertextuellen Ansatzes in der Exegese findet sich bei Claudia
Rakel, Judit – über Schönheit, Macht und Widerstand im Krieg (BZAW 334), Berlin 2003, 8–40.
57
Ähnlich bereits A. Meinhold, Sprüche (s. Anm. 4) 522: „Die Personifizierung der Weisheit (1– 9) und die
Verwirklichung der Weisheit (V. 10– 31) erhalten jeweils die Gestalt einer Frau und fassen das Übrige des
Sprüchebuches ein.“
Diejenigen, die meine Monographien kennen, werden bereits am Titel erkannt haben, dass
dieser Vortrag auf ein neues Buch mit dem Titel "Gotteslehrerinnen" verweist, mit dem ich
die "Gottesstreiterinnen" und "Gotteskünderinnen"58 zur Trilogie, die die drei Kanonteile
umreißt, vollenden werde. Erwiesen sich die israelitischen Ahnfrauen, die Gottesstreiterinnen,
ihren Männern als ebenbürtig im Glauben, im Handeln und in den Verheißungen, so sind die
Gotteskünderinnen den männlichen Propheten im am Sinai gestifteten Amt der Prophetie in
der Nachfolge des Mose gleichgestellt. Mit den Gotteslehrerinnen ist es ähnlich: Die Exegese
hat versucht, sie zu Hausfrauen, Kindererzieherinnen und braven Ehefrauen zu stempeln. Wer
die Texte und ihre Kontexte allerdings näher ansie ht und ohne Genderbias liest, sieht auch
hier: Weise Frauen sind nicht klug wie die Kinder und tüchtig wie Untertanen, sondern sind
den weisen Männern ebenbürtig. Sie führen ihr Haus und ihren Betrieb mit Umsicht und Güte
und mit entschlossener Zuwendung zu den Bedürftigen. Wie für Männer zählt für die Frauen
als oberste Maxime der Weisheit die Gottesfurcht – heute würde man dafür Glauben sagen59 –
wie es durch das ganze Sprüchebuch hindurch betont wird (Spr 1,7; 2,5; 9,10; 31,30 u.ö.).
Fähige Frauen lehren Tora, leben nach ihr und vermitteln ihren Kindern und den Menschen
ihrer Umwelt jene göttliche Ordnung, die auch in den großen Weisheitsreden Spr 8 und Sir 24
vorgestellt wird. Johannes Marböck sagt von dieser Ordnung, dass sie "mit ihren Mahnungen
und ihrem Ethos sosehr in das Licht der Tora und auch der Prophetie [rückt], daß Weisheit
geradezu zur Stimme Yhwh's selber wird ..."60
Wenn dieses alphabetisierende Gedicht vom Finger Gottes niedergeschrieben und vom
göttlichen Siegel gestempelt 61 ist, dann ist das eine sehr vielfältige göttliche Botschaft: Frauen
bewähren sich freilich bis heute als Hausfrauen, sie leiten und managen wie die fähige Frau
aus Spr 31 Agrar-, Textil- und Handelsbetriebe, vermitteln ihre Weisheit, ihr Wissen und ihr
Können an die Töchter, Söhne und SchülerInnen, geben die religiöse Tradition an die nächste
Generation weiter – nur dass Frauen mit dem Priestertum verbunden werden, ist in manchen
Kirchen nicht gewollt.
Das Gedicht gibt sich keineswegs mit dem von Kardinal Faulhaber behaupteten "kleinen
häuslichen Königreich" zufrieden, sondern besteht darauf, dass der Frau das von ihr
Erarbeitete zusteht und sie in aller Öffentlichkeit, im Tor, aufgrund ihrer eigenen Taten
anerkannt wird. Die fähige Frau stellt uns daher ein anzustrebendes Ideal, und insofern auch
58
Vgl. Irmtraud Fischer, Gottesstreiterinnen, Stuttgart 2 2000 sowie Irmtraud Fischer, Gotteskünderinnen,
Stuttgart 2002.
59
Dies hat bereits Leo G. Perdue, Proverbs (Interpretation), Louisville 2000, 280, betont: „ She believes, like all
true sages, that the beginning of wisdom is the belief in God as Creator and Sustainer.”
60
Johannes Marböck , Zwischen Erfahrung, Systematik und Bekenntnis, in: Vielseitigkeit des Alten Testaments
(FS Sauer, Georg) (Wiener Alttestamentliche Studien 1), Frankfurt 1999, 121– 136, 126.
61
Vgl. M. Faulhaber, Charakterbilder (s. Anm.1) 1.
Frau Weisheit vor Augen. Sie ist nicht nur die Frau, die man heiraten soll, sondern sie ist vor
allem die Frau, die den Frauen vorführt, dass sie in allen Lebensbereichen kompetent sein
können – wenn sie intakte Ansprüche an die Welt und an sich selber haben.