Clio und Natio im östlichen Europa

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Clio und Natio im östlichen Europa
Clio und Natio im östlichen Europa
Von
Dittmar Schorkowitz
I. Historiographie im Wandel der Epochen und Systeme
Das Beobachten zeitlicher Abläufe aus abwägender Distanz wird
dem Historiker im schwankenden Urteil der Zeitgenossen eher als
Schwäche denn als Tugend ausgelegt. Scheint ihn doch die rückwärtsgewandte Erkenntnissuche und das Schwimmen gegen den
Strom des Zeitgeistes zu den Quellen seines Wissens der Gültigkeit
selbst des bekannten Hexameters tempora mutantur et nos mutamur
in illis entziehen zu wollen. In Zeiten des Umbruchs wird die professionsbedingte Prägung auffällig, weil Forderungen der Gesellschaft
nach flotter Erklärung des Geschehens, die immer auch Planungssicherheit für die Kommandohöhen mitliefern soll, den Historiker auf
die hinteren Bänke der Ratgeber verweisen. Als strukturgebende
Denkfiguren bieten die langen Schatten der Vergangenheit eben
Aufschluß mit nur wenig griffigem Anwendungsbezug. Doch wer
unter den Ratsuchenden “gewöhnt ist, die Geschichte als Fortschritt
zu betrachten, der will an dieser Gewißheit festhalten...” 1 . Der Ruf
nach Patentlösungen setzt sich schließlich in dem Maße durch, wie
die Bereitschaft nachläßt, aus der Geschichte lernen zu wollen. Was
aber tatsächlich relevant ist und historischen Bedeutungszuspruch
verdient, darüber läßt sich bekanntermaßen trefflich streiten.
Dabei muß man Geschichte nicht als Labyrinth begreifen, um zu
erkennen, daß der “Ariadnefaden der Relevanz” 2 ein Clio angetrages
1
Hans-Joachim Torke, Die Geschichte Rußlands vor 1917 in der gegenwärtigen Debatte der sowjetischen Historiker, in: Siegfried Baske (Hrsg.), Perestrojka: Multidisziplinäre Beiträge zum Stand der Realisierung in der Sowjetunion. (Multidisziplinäre
Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, 1.) Berlin/Wiesbaden 1990, 7-27, hier 27.
2
Christoph Schmidt, Zur Kritik historischer Relevanz. Am Beispiel der Geschichte
Osteuropas, in: JbbGOE 48, 2000, 552-568, hier 552. Siehe auch Jurij Aleksandrovič
Poljakov, Počemu istorija nas ne učit?, in: Voprosy Istorii 2, 2001, 20-31, hier 20, 22.
2
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Gebot ist, das kaum hält, was es verspricht. Denn wenn unter dem
Eindruck globaler Veränderungen die Einheit von Anschauung und
Erkennen verloren zu gehen scheint, wird doch ein typisches Paradoxon unserer Zeit sichtbar. Um der Präzision seiner Beurteilung
willen ist der Historiker jedenfalls gut beraten, zeitlichen Abstand zu
den Fakten zu halten. Hierbei geht es für ihn um die Wahrung analytischer Mittel, “tools that political scientists possess and historians
do not, lest their arguments degenerate into moralism” 3 .
Zu den Besonderheiten des Epochenwandels gehört nun, daß die
postsozialistische Irritation des Historikers im östlichen Europa
durch eine Desorientierung überlagert wird, die den Auswirkungen
der Transformation auf die Geisteswissenschaften entspringt sowie
seinem gewandelten Verhältnis zur Wissenschaft. Denn mit dem Systemwechsel haben sich die Rahmenbedingungen seiner Arbeit im
Grundsatz verändert. Ganze Kohorten dissidenter wie angepaßter
Forschergenerationen waren gezwungen, sich in eine rapid erneuernde Gesellschaft ökonomisch und ideologisch hineinzufinden.
Dem an sie gerichteten Anspruch nach Aufarbeitung und Richtigstellung der Vergangenheit einerseits folgend, dem Druck erneuter
Anpassung und Finanzierungszwängen andererseits gehorchend,
verfolgte Clio - zwischen Skylla und Charybdis lavierend - seither
einen schlingernden Kurs.
Die geschichtspolitischen Konturen der Staaten traten dabei in
dem Maße hervor, wie die neuen Oligarchien und eine von ihnen
verordnete Demokratie Einzug hielten. Die Blaupause hierzu lieferte
das Ringen nationaler Trägerschichten um die Macht und ein wachsendes Problembewußtsein über die Folgen der Transition für die
Integration von Staat und Gesellschaft. Bekenntnisse zur nationalen
Identität sind, an die Stelle kommunistischer Losungen tretend, seither an der Tagesordnung - ein Paradigmenwechsel, der mit dem
Aufbruch aus der sozialistischen Völkerfamilie von allen Nationalitäten erfahren wurde. Jedoch hat das unablässige Umzeichnen der
Leitlinien auch eine Entwertung sozialer Ideale mit sich gebracht
und die gesellschaftliche Entsolidarisierung vertieft. Die Bildung
3
Marco Dogo, Historians, Nation-Building, Perceptions, in: Stefano Bianchini, Marco
Dogo (Eds.), The Balkans: National Identities in a Historical Perspective. (Collana di
studi sui Balcani e l’Europa Centro-Orientale, 9.) Ravenna 1998, 21-31, hier 26. Siehe
auch Volker Ullrich, Keine Visionen. Ein Nachwort zum Historikertag in Halle, in:
Die Zeit, Nr. 39, 2002, 35.
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neuer Wir-Gruppen, die sich um ethnisch-nationale oder religiös
definierte Identitäten und Ikonen scharen, wurde so beschleunigt.
Von dem Identitätsausbau verspricht sich der Staat also nicht nur
frische Loyalität mittels alter Symbole. 4 Es geht ihm auch um die
Ausbesserung jener Risse, die im Zuge des Systemumbaus durch
ungleiche Redistribution, Korruption und soziale Differenzierung
billigend in Kauf genommen wurden. Grob gezimmerte Historizitäten sollen bei der Einpflanzung des ‘richtigen Bewußtseins’ behilfreich sein, um eine dringend benötigte Kohäsionskraft bereitzustellen. Hierbei zeigt sich erneut, daß Funktion und Wirken des Historikers an den sozialen Kontext gebunden bleibt. Auf dem ständigen
Spannungsfeld von Sachlich- und Parteilichkeit reflektiert sein
Handwerk sowohl auf eigene Anschauung beruhende Überzeugungen wie den Einfluß politischer Konjunkturen.
Was aber geschieht, wenn geschwächte Staaten die Nation durch
Nabelschau zu kurieren suchen, ist hinlänglich bekannt. Die Überhöhung des Eigenen hat in der Regel Verzerrungen bei der Wahrnehmung des Anderen und Fremden, religiös oder ethnisch ausgegrenzter Minderheiten zur Folge. Die intellektuelle Bereitschaft zur
Überwindung ethnozentrischer Standpunkte läßt rapide nach. Es
werden neue Lehrbücher verfaßt, weil die nationale Identität in der
Periode früher Adoleszenz entscheidend geprägt wird. 5
4
Dem Identitätsbegriff liegt das in die Sozial- und Politikwissenschaften eingegangene Konzept von ‘psychologischer Identität’ zu Grunde, wie es von Erik H. Erikson
entwickelt wurde. Siehe ders., Childhood and Society. New York 1963, oder ders.
Identity, Youth and Crisis. New York 1968. Identität als sozio-politische Kategorie
wird diskutiert bei David D. Laitin, Identity in Formation. The Russian Speaking
Populations in the Near Abroad. Ithaca/London 1998, 10-35; Ivan Iveković, Identity:
Usual Bias, Political Manipulations and Historical Forgeries. The Yugoslav Drama,
in: Stefano Bianchini/George Schöpflin (Eds.), State Building in the Balkans. Dilemmas on the Eve of the 21st Century. (Collana di studi sui Balcani e l’Europa CentroOrientale, 8.) Ravenna 1998, 251-273.
5
Sylwia Wilberg, Nationale Identität. Empirisch untersucht bei 14-jährigen in Polen
und in Deutschland. (Internationale Hochschulschriften, 172.) Münster/New
York/München/Berlin 1998; Miklós Stier, Lehrbücher unter dem Aspekt von Stereotypenbildung, in: Valeria Heuberger/Arnold Suppan/Elisabeth Vyslonzil (Hrsg.), Das
Bild vom Anderen. Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in multiethnischen europäischen Regionen. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien
1998, 241-246, hier 241; Karl Eimermacher [Ajmermacher, Karl]/Gennadij Bordjugov, “Svoë” i “Čužoe” prošloe. Vvedenie, in: dies. (Eds.), Nacional’nye istorii v sovetskom i postsovetskich gosudarstvach. Moskau 1999, 13-17.
4
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Der sich abzeichnende Imperativ läßt sich mit wenigen Worte fassen: Der Historiker unterliegt der Verpflichtung persönlicher Befreiungsleistung von Xenophobien und Zentrismen jedweder patriotischen Geschichtsschreibung. Nationalistischen Vereinnahmungen
gleichwie der Verlockung, seinen inneren Diskurs an Signalen der
politischen Relevanz auszurichten, hat er zu widerstehen, wobei ihm
die ständige Vergewisserung helfen mag, “daß er ohne Vaterland,
ohne Glauben und ohne Herrscher auftreten muß” 6 .
Allerdings geht es weniger um die Erfindung von Vergangenheit
als um die Auswahl diverser Narrative, um eine mit archäologischer
Akribie betriebene Freilegung verschütteter Geschichtswelten und
deren Ausbeutung. Weil Verheißungen über die Aufhebung der
Klassengegensätze auf absehbare Zeit nicht mehr verfangen, wird an
Projektionsflächen gebaut, die eine Integration nach nationalen und
regionalen Kriterien versprechen. Das Abbilden von Gemeinschaften 7 , das Modellieren identitätsstiftender und herrschaftslegitimierender Sinnzusammenhänge aus dem vorgefundenen Stoff wird somit erneut zur Handlung von Historikern, Archäologen, Ethnologen
und Philologen.
Ob diese als Wiedererwecker (re-awakeners) 8 zudem den faustischen Pakt schließen und Geschichte in nationalistischer Absicht erfinden 9 werden, hängt wesentlich von Clios ideologischen und - do
ut des - materiellen Zwängen ab. Zu Architekten postsozialistischer
Nationalstaatsbildung bestellt, wird ihnen das Profil eigenverantwortlich wirtschaftender Wissenschaftsunternehmer 10 jedenfalls
noch lange fremd bleiben. Wahrscheinlicher ist, daß sie für absehba6
So Gerhard Friedrich Müller (1705-1783), zitiert nach Birgit Scholz, Von der Chronistik zur modernen Geschichtswissenschaft: Die Warägerfrage in der russischen,
deutschen und schwedischen Historiographie. (Veröffentlichungen des OsteuropaInstitutes München: Forschungen zum Ostseeraum, 5.) Wiesbaden 2000, 5. Vgl. bei
Schmidt, Zur Kritik (wie Anm. 2), 560-561, 567.
7
Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of
Nationalism. London 1983, 50.
8
Dogo, Historians (wie Anm. 3), 22.
9
Ernest Gellner, Nations and Nationalism. Ithaca 1983, 48 f.
10
Dieter Langewiesche, Hochschulpolitik aus historischer Sicht. Festvortrag zum 65.
Geburtstag von Wolfgang Frühwald und zum 60. Geburtstag von Georg Jäger, gehalten am Dienstag, den 18. 7. 2000, in der Siemens-Stiftung München, in: IASL online
spezial, http://iasl.uni-muenchen.de/spezial/langewie.htm, 2000, 1; Dittmar Schorkowitz, Wissenschaft und Globalisierung: Erst Endzeitstimmung, dann Ausverkauf?, in:
Berliner Osteuropa Info 14, 2000, 16-19, hier 18.
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re Zeit im Dienste politischer Unternehmer (Max Weber) stehen
werden - eine Trägerschicht, die in Osteuropa vornehmlich als
ethnopolitischer Unternehmer (Joseph Rothschild) auftritt. 11
Dabei versteht sich das Handwerk der an mageren Subventionstöpfen hängenden, ergo auf Selbstintegration erpichten Geistesarbeiter nicht erst seit Paul Šafáŕik (1795-1861) auf das Schmieden nationaler Identitäten. 12 Die Knechtung der Wissenschaften unter den
Diktaturen des 20. Jahrhunderts verweist indes jede Mutmaßung ins
Reich der Fabel, die nationes Osteuropas seien für eine tendenziöse
Nationalgeschichtsschreibung prädestiniert. Zum Kern des Problems
führt vielmehr die Beobachtung, daß schwache Staaten, zumal in
Krisenzeiten, eher bereit sind, die ‘nationale Frage’ als Konsensressource anzuzapfen. Denn aus patriotischer Emotion gewonnene
Energie läßt sich leicht in politische Handlung konvertieren.
11
Joseph Rothschild, Ethnopolitics. A Conceptual Framework. New York 1981; Stephan Ganter, Ethnizität und ethnische Konflikte. Konzepte und theoretische Ansätze
für eine vergleichende Analyse. (Freiburger Beiträge zu Entwicklung und Politik, 17.)
Freiburg im Breisgau 1995; Stefan Troebst, Politische Entwicklung in der Neuzeit, in:
Magarditsch Hatschikjan/Stefan Troebst (Hrsg.), Südosteuropa. Gesellschaft, Politik,
Wirtschaft, Kultur: Ein Handbuch. München 1999, 73-102, hier 75. ders., Factors of
Escalation and De-Escalation in Ethnic Conflicts: An Overview of Theoretical Approaches. Paper given at the International Conference ‘Balkan Security: Visions of the
Future’, Centre for South-East European Studies, School of Slavonic and East European Studies, University College London, London, 16 to 18 June 2000. Leipzig 2000.
12
Generationen tschechischer Historiker waren beispielsweise in den ‘Handschriftenstreit’ hineingezogen. In der Ukraine sind Impulse nationaler Erneuerung ohne die
politischen Ideen ihrer Historiker kaum denkbar und der polnischen Nation muß Clio
gar als Schutzgöttin gelten, da sie die Hoffnung auf nationale Einheit über das Zeitalter der Teilungen hinüberrettete. Vgl. bei Joseph Frederick Zacek, Palacky. The Historian as Scholar and Nationalist. The Hague/Paris 1970 (siehe dazu die Besprechung
von Friedrich Prinz, in: JbbGOE 22, 1974, 299 f.) Otfrid Pustejovsky, Josef Pekaŕ
(1870-1937). Persönlichkeit und wissenschaftliches Werk, in: JbbGOE 9, 1961, 367398, hier 369. Vgl. bei Mark Stolárik, The Painful Birth of Slovak Historiography in
the 20th Century, in: Zs. für Ostmitteleuropaforsch. 50, 2001, 161-187. Jaroslaw Pelenski, Geschichtliches Denken und politische Ideen V. Lypynśkyjs. Zum 30. Todestag des ukrainischen Historikers und politischen Denkers (14. Juni 1961), in: JbbGOE
9, 1961, 223-246, hier 223, 239; Bernhard Stasiewski, Die Jahrtausendfeier Polens in
kirchengeschichtlicher Sicht, in: JbbGOE 8, 1960, 313-329, hier 313.
6
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Die Perestrojka hat also den Geschichtswissenschaften neue
Räumlichkeiten zugewiesen. Mit der Desintegration des sozialistischen Staatenkonglomerates schon erhielten diese eine patriotische
Orientierung, als ethnische Großgruppen darangingen, sich national
zu definieren und dabei ein Souveränitätsmechanismus einsetzte, der
zur Bildung neuer Nationalstaaten und substaatlicher Autonomien
führte. Zementiert wurde die Ausrichtung, weil der Systemwechsel
durch die Renaissance der nationalen Idee nachhaltig überformt und
durch die Historizität nationaler Eliteschichten bestimmt wurde. Diese prägten eine Ideologie, die ursprünglich ihre Selbstintegration beabsichtigte und erst nach Installierung der Führerschaft auch andere
Teile des Personalverbandes oder privater Netzwerke ins Auge faßte, bevor sie an die Integration der Gesellschaft dachten. 13
Die Prozesse der Nationsbildung und nachholenden Modernisierung werden somit durch ein rigides Ausrangieren sozialistischer
und durch die Indienststellung ethnonationaler Projektionsflächen
begleitet. In den neuen Republiken wird die Formgebung des nationalen Bewußtseins dabei durch die Geschichtspolitik einer Trägerschicht gesteuert, die, “[using] history for building national identities” 14 , dem “einstigen universitären Mittelbau” 15 entstammt. Auf
13
Gerhard Brunn, Historical Consciousness and Historical Myths, in: Andreas Kappeler/Fikret Adanïr/A. O’Day (Eds.), The Formation of National Elites. (Comparative
Studies on Governments and Non-Dominant Ethnic Groups in Europe, 1850-1940, 6.)
Dartmouth 1991, 327-338, hier 327; Jörg Stadelbauer, Ethnonationalismus, Regionalismus und staatliche Organisation im östlichen Europa: Akteure und Konfliktpotentiale, in: Klaus-Achim Boesler/Günter Heinritz/Reinhard Wiessner (Hrsg.), Europa
zwischen Integration und Regionalismus. (Europa in einer Welt im Wandel. 51. Deutscher Geographentag Bonn 6. bis 11. Oktober 1997, 4.) Stuttgart 1998, 92-105, hier
101 f.; Dittmar Schorkowitz, Viel Geschichte - Wenig Integration. Nationale Reaktionen im Postsozialismus, in: ders. (Hrsg.), Transition - Erosion - Reaktion. Zehn Jahre
Transformation in Osteuropa. (Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 8.)
Frankfurt am Main/Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2002, 163-188,
hier 168-171; Horst Schützler, Die nationale Problematik in der Sowjetunion - in der
postsowjetischen Geschichtsschreibung Russlands (Einblicke im Kontext mit der
deutschen Historiographie), in: Ernstgert Kalbe/Wolfgang Geier/Holger Politt (Hrsg.),
Osteuropa in Tradition und Wandel. (Leipziger Jahrbücher, 3[2].) Leipzig, 2001, 251284.
14
Yuri Bregel, Notes on the Study of Central Asia. (Papers on Inner Asia, 28.) Bloomington 1996, 23. Vgl. bei Audrey Altstadt: Rewriting Turkic History in the Gorbachev
Era, in: Journal of Soviet Nationalities 2/2, 1991, 73-90; Taras Kuzio, Soviet-Era
Uzbek Elites Erase Russia From National Identity, in: http://www.eurasianet.org/departments/culture/articles/eav042002.shtml, EurasiaNet Commentary, April
20, 2002; Artur Samari/Kamiljon Ashurov/Uktam Ibragimov, Uzbeks Rewrite History.
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7
einen breiten Konsens in der Gesellschaft angewiesen und sich
durch das Versprechen des Neuanfangs legitimierend, war die eingewechselte, durch den postkommunistischen Machtkampf geprägte
Elite nur allzu schnell bereit, die sozialistische Epoche aus dem historischen Bewußtsein einfach zu streichen. 16 Erfahrene Vergangenheit sollte durch Geschichtskonstrukte eines nationalen Erbes ersetzt
werden. Doch wer geglaubt hatte, die Herrschaft wäre damit sicherer, unterlag nicht nur dem Trugschluß der Reversibilität von Geschichte. Er folgte einer teleologischen Interpretation von Vergangenheit, die Geschichtsmächtigkeit ebenso leichtfertig ignorierte,
wie die mögliche Wiederkehr chauvinistischer Nationalismen. Er
übersah zudem, daß nachdrängende Abenteurer bereitstanden, die
beschrittenen Pfade nationaler Selbstinszenierung mit noch größerer
Vehemenz einzuschlagen.
Daß vor allem ethnisch-nationale und konfessionelle Identitäten
bei der Integration der Gesellschaft helfen sollen, liegt wohl an der
Effektivität des Mechanismus, mit dem sich diese bei der Selbstabgrenzung von Wir-Gruppen in Bezug auf Territorium, Rasse, Kultur
ausprägen und im Bewußtsein von Abstammungsgemeinschaften
verhaften. 17 Für die Nationsbildung im östlichen Europa bedeutet
Academics Fear Tashkent’s Historical Revisionism May Lead to Anti-Russian Feeling
among Uzbek Youth, in: Institute for War and Peace Reporting on Central Asia 160,
November 13, 2002.
15
Helmut König, Geistige und soziale Prozesse des Systemwandels: Ihre Auswirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, in: Osteuropa 43, 1993, 871-889, hier
880. Vgl. dazu Paul Georg Geiß, Nationenwerdung in Mittelasien. (Europäische
Hochschulschriften, Rh. 31: Politikwissenschaft, 269.) Frankfurt am Main
/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995, 178-185.
16
Christian Giordano, Historizität statt Modernisierung? Reflexionen über die Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa, in: Christine Brombach/Andreas Nebelung (Hrsg.), Zwischenzeiten und Seitenwege - Lebensverhältnisse in peripheren Regionen: Andreas Bodenstedt zum 60. Geburtstag. (Schriften des Zentrums für regionale Entwicklungsforschung der Justus-Liebig-Universität Giessen, 55.) Münster/ Hamburg 1994, 217-232; Clemens Friedrich, Zur Entlastungsfunktion einer Denkfigur:
Fukuyamas »Ende der Geschichte«, in: Brigitte Heuer/Milan Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie. (Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 3.) Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien
1995, 265-276; David Norman Smith, The Ethnological Imagination: Making and
Remaking History, in: Dittmar Schorkowitz (Hrsg.), Ethnohistorische Wege und Lehrjahre eines Philosophen: Festschrift für Lawrence Krader zum 75. Geburtstag. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/NewYork/Paris/Wien 1995, 102-119, hier 102.
17
Georg Elwert, Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von Wir-Gruppen,
8
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dies zweierlei. Wenn Identität durch Abgrenzung entsteht und es eine “anthropologische Bestimmung” 18 menschlicher Gemeinschaften
ist, sich voneinander abzugrenzen, ist eine Segregation der territorial-administrativen Ordnung vorgezeichnet. Und stellt die Rückbesinnung der Gruppe auf Herkunft und Kultur ein wesentliches Kriterium nationaler Selbstfindung dar, so hängt von ihrer Trägerschicht
ab, welche Vergangenheiten, Mythen und Konfessionen zugelassen
werden. Daß dies eine ethnopolitische Unternehmung von höchster
Komplexität ist, zeigt sich schon an der begrifflichen Vielschichtigkeit von Geschichtsbewußtsein, das Faktizität wie Mythos beinhaltet
und kollektiv wie individuell zugleich ist. Erst durch den Zugriff gesellschaftlicher Kräfte, durch individuelle oder institutionelle Sinngebung und den Rückgriff auf die Tradition konkretisiert sich Historizität 19 , ablesbar an Erzählstrukturen, in denen Vergangenheit selektiert, gebündelt und kommunizierbar gemacht ist.
Ein solcher Umgang mit historischer Sinnstiftung verlangt allerdings nach Fachleuten, welche die Historiographie in nationalistischer Perzeption aufarbeiten und dabei den Rahmen für diverse Nationalpakte gegen einen nun feindlichen Nachbarn zu zimmern verstehen. So wird innerer Konsens - mittels neuverfaßter Nationalgein: KZSS 41, 1989, 440-464; Thomas Hylland Eriksen, Ethnicity and Nationalism.
Anthropological Perspectives. London/Boulder 1993, 18-35, 71-77. Ganter, Ethnizität
und ethnische Konflikte (wie Anm. 11), 39-41, 139; Rodney Bruce Hall, National Collective Identity. Social Constructs and International Systems. New York 1999, 26-50;
Sebastian Brather, Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie, in: Germania 78, 2000, 139-177.
18
Kurt Hübner, Nation und Mythos, in: Clemens Friedrich/Birgit Menzel (Hrsg.),
Osteuropa im Umbruch: Alte und neue Mythen. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New
York/Paris/Wien 1994, 29-43, hier 32 f. Vgl. dazu Miroslav Hroch, Ethnische, regionale und nationale Identität in historischer Perspektive, in: Boesler/Heinritz/Wiessner
(Hrsg.), Europa zwischen Integration und Regionalismus (wie Anm. 13), 69-73, hier
71.
19
Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Eds.), The Invention of Tradition. Cambridge
1983; Hans-Georg Gadamer, The Problem of Historical Consciousness, in: P. Rabinow/W. Sullivan (Eds.), Interpretive Social Science. A Reader. 2nd Ed. Berkeley
1987; Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewußtsein, in: Klaus Bergmann (Hrsg.),
Handbuch der Geschichtsdidaktik. 3. Aufl. Düsseldorf 1985; Jörn Rüsen/Klaus Fröhlich/Hubert Hostkötter/Hans Günter Schmidt, Untersuchungen zum Geschichtsbewußtsein von Abiturienten im Ruhrgebiet, in: Bodo von Borries/Hans-Jürgen Pandel/
Jörn Rüsen (Hrsg.), Geschichtsbewußtsein Empirisch. Pfaffenweiler 1991, 221-344.
Guntram H. Herb, National Identity and Territory, in: ders./David H. Kaplan (Eds.),
Nested Identities. Nationalism, Territory, and Scale. Lanham/Boulder/New
York/Oxford 1999, 9-30, hier 13-17.
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schichtsschreibung - durch Abgrenzung gebildet, die das Abgrenzbare dem Eigenen entgegenstellt. Längst überwunden geglaubte Stereotypen werden dafür aufgefrischt und zu Feindbildern überzeichnet. Bei dieser Zuarbeit geht es in der Tat darum, Argumente eines
ideologischen Waffenarsenals für die gegenseitige Schuldzuweisung
unter Verweis auf vermeintlich historische Rechte anzuhäufen. Die
Vermutung liegt nahe, daß hierbei Identitäten verstärkt und mobilisiert werden sollen, um ethnonationale Konflikte in katalysatorischer
Absicht auszubeuten. Von dem Eigennutz der Eliten, den Fehlentwicklungen der Transition und einer geopolitischen Neuvermessung
der Hemisphären ablenkend, wird Eskalation billigend in Kauf genommen.
Doch indem die neuen Nationalstaaten ihre Vulnerabilität mit nationalistischen Ideologien zu kompensieren suchen, nehmen sie die
Entfremdung von benachbarten, durchmischt lebenden Nationalitäten hin. Im östlichen Europa, wo ethnische Heterogenität das Erscheinungsbild der Staaten seit Jahrhunderten bestimmt, blieb die
Vielfalt in der Einheit dabei auf der Strecke. In letzter Konsequenz
ist die geschmähte Option ethnischer Demarkation, welche die Militärs zuvor in ihrer barbarischsten Konsequenz durchdekliniert haben,
zu einem diskutablen Hoffnungsträger geworden. Dabei haben die
Kriege auf dem Balkan, im Kaukasus sowie in Mittelasien den
Wahrnehmungshorizont dafür verstellt, daß sich die Renationalisierung und der schmerzvolle Prozeß kollektiven Erinnerns 20 in einer
Kulturlandschaft mit multiplen Identitäten vollzieht. An eine Rückmischung unter Zwang homogenisierter Siedlungsräume aber mag
heute kaum jemand mehr glauben.
II. Die Wiederkehr der Nationalgeschichtsschreibung
Daß die Neuschreibung der Geschichte in der Tat an lang unterdrückte Dispute über die Nation und ihre Identität anknüpft, zeigt
ein Blick auf die frische Palette historischer Darstellungen. Hierbei
ist eine Entwicklung erkennbar, die den postsozialistischen Raum
mit gewisser Regelhaftigkeit durchzieht. Die festgestellte Übereinstimmung an politischer Motivation und den angewandten Mitteln
wird in den Großregionen indes durch Unterschiede in der Wissen20
Hülya Demirdirek, The Painful Past Retold: Social Memory in Azerbaijan and Gagauzia, in: Journal of the Turkish World 9/1, 1999.
10
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schaftlichkeit angewandter Methoden spürbar durchbrochen. Für die
Variantenbildung zudem entscheidend ist der politische Kontext und
die Zweckgebundenheit geschichtlicher Argumentation.
Daß nationale Oligarchien nun über maßgebende Gestaltungskräfte verfügen und der schleppende Ausbau zivilgesellschaftlicher
Grundlagen einer traditionell inferioren Stellung der Geisteswissenschaften nur unwesentlich beikommen kann, zudem regionale Mentalitäten ein Aufbrechen erschweren, ist auffällig zumal in Rußlands
Orient - den sowjetischen Nachfolgestaaten Mittelasiens. Schließlich
war Herrschaftslegitimation zweckmäßig hier schon im 16. Jahrhundert, als es darum ging, eine Aszendenz zu Tamerlan durch genealogische Legenden zu beweisen, “fabricated by historians” 21 . Was
aber bedeutet, daß die Historienschreiber von Samarkand sich kaum
anders verhielten als gelehrte Moskoviter Mönche, die mit ihren
Chroniken des 15. und 16. Jahrhunderts den Herrscher mit Abstammungslegenden bedienten, “deren offenbarer Sinn es war, das großfürstliche, später das zarische Haus mit den römischen Kaisern zu
verbinden” 22 , oder eben jener Turkmenbaši aus Ašchabad, der die
Historiker des Landes abkommandierte, den Stammbaum seiner Familie zu einer Dynastie der Nijazovs auszuschreiben.
Von Relevanz für die aktuelle Legitimationsbeschaffung aber ist
vor allem jene Künstlichkeit, mit der Nation, Grenze und Staatsvolk
in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts abgegrenzt worden waren. Stalins berechnende Umverteilung eines multikulturellen Erbes
aus vorrussischer Zeit mit ausgeprägter Bilingualität und Mehrfachidentitäten auf postrevolutionäre Nationalhistoriographien brachte ja
nicht nur eine Fülle fachlicher Probleme mit sich. Unter der Ägide
sowjetischer Nationalitätenpolitik entwickelte sich Clios Handwerk
auch zu einer Disziplin, die der Rechtfertigung politischer Einheitskonstrukte dienen sollte, was eine Balkanisierung 23 der Geschichte
Mittelasiens zur Folge hatte.
21
Bregel, Notes (wie Anm. 14), 8. Vgl. bei Kuzio, Soviet-Era Uzbek Elites (wie Anm.
14).
22
Dietrich Geyer, Klio in Moskau und die sowjetische Geschichte. Vorgetragen am
27. Oktober 1984. (SB der Heidelberger Akad. der Wiss., Phil.-hist. Klasse, Jg. 85, 2.)
Heidelberg 1985, 1-46, hier 5.
23
Bregel, Notes (wie Anm. 14), 12, zitiert den damaligen Direktor des kirgizischen
Akademieinstituts für Geschichte, der 1983 auf einer Konferenz in der St. Petersburger Eremitage verkündete: “You, comrade scholars, please continue to discuss this
problem, but we have already solved it in the Central Committee of the Party of Kir-
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Mit Beginn der Perestrojka trat daher eine kulturelle Reterritorialisierung ein, die in der Erfindung distinktiver Identitäten allerdings neue Maßstäbe setzte. Denn zwischen Nativismus und Modernisierung schwankend, haben jetzt antikisierende Theorien Konjunktur. So ‘entdeckte’ man 1990 Proto-Kazachen als Zeitgenossen des
Kušana-Reiches, womit eine Grundlage für 2000 Jahre kazachischer
Ethnizität geschaffen wurde. Saken gelten seitdem als Vorfahren der
Kazachen und Turkmenen als Nachfahren der Parther. Die Samaniden dienen als Kultursymbolik tadzikischer Zivilisation, Ibn Sina
(†1037) und Tamerlan (†1405) werden als uzbekische Nationalheroen beansprucht. 24
Nicht nur steht die Projektionsfläche eines historischen GroßBuchariens damit dem neo-persischen Bild von Groß-Chorasan gegenüber. Vielmehr gilt die iranisch-turkische Beziehungsgeschichte
wegen der Fortschreibung sich national voneinander abgrenzender
Entwürfe heute als besonders problembehaftet. So nahmen die gegen
Tadzikistan ins Feld geführten Argumente seit 1993 unter Islam Karimov an Schärfe zu. Sein ‘Programm zum Studium, Erhalt und zur
Verbreitung des historischen und kulturellen Erbes der Völker Uzbekistans’ (Me’rās) verpflichtet die Historiker, Archäologen und
Linguisten, wissenschaftliche (sic) Grundlagen einer Ideologie nationaler Unabhängigkeit zu errichten. Zielvorgabe ist ein Kontinuum
uzbekischer Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Den historischen Gebrauch des Persischen in Literatur und Verwaltung tut
man als sprachliche Modeerscheinung ab, womit dieser Sprache wie schon in den 20er Jahren - die Funktion eines Gradmessers ethnischer Durchmischung aberkannt wird. 25
ghizstan: the Kirghiz people emerged right on the territory that it occupies now.” (ebd.
16).
24
Theodor Levin, The Reterritorialization of Culture in the New Central Asian States:
A Report from Uzbekistan, in: D. Christensen (Ed.), Yearbook for Traditional Music
25, 1993, 51-59, hier 52, über das Zusammenwirken postsowjetischer Kulturkräfte.
25
Igor Torbakov, Tajik-Uzbek Relations: Divergent National Historiographies
Threaten To Aggravate Tensions, in: http://www.eurasianet.org/departments/culture/
articles/eav061201.shtml, Eurasianet, June 12, 2001. Siehe auch Stéphan Dudoignon:
Changements politiques et historiographie en Asie centrale (Tadjikistan et Uzbekistan), in: Cahiers d’études sur la Méditerranée orientale et le monde turco-iranien 16,
1993, 86-135; Stephen Hegarty, The Rehabilitation of Temur: Reconstructing National History in Contemporary Uzbekistan, in: Central Asia Monitor 1, 1995, 28-35;
Kuzio, Soviet-Era Uzbek Elites (wie Anm. 14). Rustam Šukurov, Tadzikistan: muki
vospominanija, in: Eimermacher/Bordjugov (Eds.), Nacional’nye istorii (wie Anm. 5),
12
Clio und Natio im östlichen Europa
Mit weit größerer Härte noch präsentiert sich der Schlagabtausch
in der Geschichtsschreibung über den Südkaukasus zwischen Armenien und Azerbaidzan, die 1988 bis 1994 Krieg um Berg-Karabach
(Arcach) führten. Da nun das Wortgefecht um die Legitimität staatlicher Handlungen hier als Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln gilt, wird die Geschichte skrupellos als Steinbruch für die politische Argumentation geplündert. Ethnogenese, Landnahme und
Staatlichkeit zählen - wie für ethnoterritoriale Konflikte typisch zum Kerninventar einer ideologischen Rüstkammer im Streit um historisches ‘Erstgeburtsrecht’ und den purifizierenden Nachweis ethnisch-homogener Staatsgeschichte. 26
Folglich hat man die Migrationstheorie, laut der protoarmenische
Gruppen im 12. vorchristlichen Jahrhundert in das kaukasische
Bergland eingewandert seien, zugunsten der Autochthoniethese aufgegeben, die von einer Existenz der Armenier schon um 4000 vor
der Zeitenwende ausgeht. Darüber hinaus jedoch stellt die frühe
Staatlichkeit Armeniens (189 v.Chr.), wo das Christentum erstmalig
zur Staatsreligion (301 n.Chr.) erhoben wurde, ein geschichtsträchtiges Schwergewicht dar, das seinesgleichen vergeblich sucht. Als
Versuch einer Entgegnung bezieht man sich auf azerischer Seite
deshalb auf Albanien, jenes ostkaukasische Reich aus der Mitte des
ersten vorchristlichen Jahrtausends 27 , das als frühe Heimstatt protoazerbajdzanischer Gruppen präsentiert wird. Ähnlich verfuhr man mit
dem antiken Atropatene, das indes erst spät turkisiert wurde, nämlich
231-254.
26
Ronald Grigor Suny, Constructing Primordialism: Old Histories for New Nations.
Contemporary Issues in Historical Perspective, in: The JModH 73, 2001, 862-896;
Volker Jacoby, Geschichte und Geschichtsschreibung im Konflikt um Berg-Karabach,
in: Ethnos-Nation 6, 1998, 63-84, hier 64; Stephan Astourian, In Search of their Forefathers. National Identity and the Historiography and Politics of Armenian and Azerbaijani Ethnogeneses, in: D.V. Schwartz/R. Panossian (Eds.), Nationalism and History. The Politics of Nation Building in Post-Soviet Armenia, Azerbaijan and Georgia.
Toronto 1994, 41-94; Burchard Brentjes, Drei Jahrtausende Armenien. 3. Aufl. Leipzig 1984, 25-35; Schorkowitz, Viel Geschichte - Wenig Integration (wie Anm. 13),
178-183. Aleksandr Iskandarjan/Babken Arutjunjan, Armenija: “Karabachizacija”
nacional’noj istorii, in: Eimermacher/Bordjugov (Eds.), Nacional’nye istorii (wie
Anm. 5), 147-160.
27
D.A. Chalilov, Kavkazskaja Albanija, in: G.A. Košelenko/B.A. Rybakov/Institut
Archeologii AN SSSR (Eds.), Drevnejšie gosudarstva Kavkaza i Srednej Azii. (Archeologija SSSR s drevnejšich vremen do srednevekov’ja v 20 tomach.) Moskau
1985, 93-105, hier 93-94. Vgl. bei Kemal G. Aliev, Antičnaja Kavkazskaja Albanija.
Baku 1992, 186.
Clio und Natio im östlichen Europa
13
mit dem Erscheinen der Seldschuken im 11. Jahrhundert. Also
fuhren die Historiker hier das Geschütz einer 3000 Jahre alten
Schriftgeschichte auf, die man flugs in eine ebensolche Dauer staatlicher Existenz umdeutet. “Die Schriftgeschichte Azerbajdzans und
seiner Urbevölkerung”, schreibt Rauf Gusejnov, “zählt drei Tausend
Jahre. Ihre Erforschung wie das Studium der dreitausendjährigen
Staatlichkeit des Landes ist die heilige Pflicht der Historiker und ihre
Kenntnis die Verpflichtung eines jeden Bewohners azerbajdzanischer Erde.” 28 Bei diesem Mißgriff fällt erschwerend in’s Gewicht,
daß Azerbajdzans Staatlichkeit - sieht man von der kurzen Autonomie der Demokratischen Republik 1918-20 ab - eigentlich erst im
Kontext der Stalinschen Nationalitätenpolitik Ende 1936 einsetzt.
Mit Rückblick auf die unterschiedlichen Entwürfe ‘Goldener
Zeitalter’ in Mittelasien zeigt sich, daß die Suche nach den Ursprüngen im Südkaukasus zu analogen Perspektiven gefunden hat. Sie
knüpfen hier an die Vision von Groß-Armenien einerseits, an den
sattsam bekannten Turanismus andererseits an. Der allerdings sorgt
auch unter Intellektuellen Azerbajdzans für Irritationen beim Ausbau
nationaler Identität. Das jedenfalls belegte die öffentlich ausgetragene Streitfrage, wie denn die Bezeichnung der Staatssprache zu lauten
habe: “Sollte sie Aserbaidschanisch (Azärbaycan dili) heißen? Oder
Aserbaidschanisch-Türkisch (Azärbaycan Türk dili, Azärbaycan
Türkcäsi)? Oder einfach Türkisch (Türk dili, Türkcä)?” 29
Daß aber weder historisches Aufrechnen noch imaginierte Größe
einer politischen Lösung von Konflikten des sozialen Wandels dienlich sind, verdeutlicht der Zerfallsprozeß der Republik Jugoslavien
in tragischer Weise. Denn mit dem Dahinschmelzen der Titoistische
Legitimationsgrundlage setzten hier nationalistische Ideologien bekanntlich eine Eskalation frei, die - auf dem Hintergrund schwindender Finanzressourcen und wachsender sozialer Unzufriedenheit alle Segmente der Gesellschaft Zug um Zug gegeneinander aufbrachte. Als Auslöser dienten sich gegenseitig ausschließende
ethnonationale Entwürfe, wobei das Groß-Serbien Projekt der Milošević-Clique den Widerstand von Slovenen und Kroaten unmittel28
Rauf A. Gusejnov, Koncepcija istorii Azerbajdzana. Baku 1999, 4, vgl. ebd. 7, 11.
Barbara Kellner-Heinkele, Biz Kimik?* - das Problem mit der Bezeichnung der
Staatssprache in der Republik Aserbaidschan, in: Berliner Osteuropa Info 17, 2001,
20-24, hier 20. Elçibäy dekretierte (22. 12. 1992) als Staatssprache noch das Türk dili
- ein Beschluß, den Aliev in Azärbaycan dili revidierte (12.11. 1995).
29
14
Clio und Natio im östlichen Europa
bar hervorief, die nun ihrerseits die Größe vergangener Zeiten zur
Fundamentlegung eigener Nationalstaaten bemühten.
Die Vermutung, daß Fachleute “at the pay-roll of the party-state,
by identifying their private interests with those of their ethnonational
community ... successfully politically mobilized their co-nationals
and took power ... claiming to speak for the whole ethnic collectivity” 30 , und sie daher ethnonationale Identitäten für ihren politischen
oder sozialen Aufstieg misbraucht haben, leuchtet dabei ebenso ein
wie die Gewißheit, daß bei der emotionsgeladenen Mobilisierung
Manipulation und auch Fälschungen eines historischen Revisionismus am Werke waren. Hypothesen einer zivilisationsgeschichtlich
oder gar rassisch prädispositionierten Kultur der Gewalt, die durch
Stereotype von balkanischen Greueln und vom Pulverfaß Balkan
Zulauf einwerben, bieten demgegenüber nur ungenügend Erklärung.
Stattdessen gibt es hinreichend Belege dafür, daß Geschichtsbilder
und Mythen für eine Blut-und-Boden-Ideologie politisch nutzbar
gemacht wurden, daß man Zeitebenen selektierte, um den Anteil allogener Bevölkerungsgruppen an der Heimat - als dem postulierten
Lebensraum - zu reduzieren und das historische Recht der eigenen
Gruppe derart zu bekräftigen. 31
Der Nationalismus hat bekanntlich viele Väter. Dem serbozentrischen Identitätsmythos und seiner Instrumentalisierung aber arbeitete vor allem der Intellekt eines akademischen wie theologischen Umfeldes zu. Dies verdeutlichen die anthropogeographischen Kartierungen des renommierten Geographen und Ethnographen Jovan Cvijić (1865-1927) ebenso wie die Planspiele (1937/44) ethnischer Säuberungen des Historikers und Politikberaters Vasa Čubrilović oder
die biologistische Geschichtsschreibung über das Kosovo (1985) eines Dimitrije Bogdanović. Belege für die Rezeption ihrer Arbeiten
durch die serbische Öffentlichkeit sind Legion. Das SerbisierungsProgramm (1995) des Ultra-Nationalisten Vojislav Šešelj gibt ein
beredtes Beispiel.
30
Iveković, Identity (wie Anm. 4), 263.
Holm Sundhaussen, Kosovo: Eine Konfliktgeschichte, in: Der Kosovo-Konflikt.
Ursachen - Akteure - Verlauf. München 2000, 65-88, hier 70, Anm. 22. Vgl. dazu
Jens Reuter, Serbien und Kosovo - Das Ende eines Mythos, in: ebd. 139-155, hier
141. Konrad Clewing, Mythen und Fakten zur Ethnostruktur in Kosovo - Ein geschichtlicher Überblick, in: ebd. 17-63, hier 38. Brather, Ethnische Identitäten (wie
Anm. 17), 149. Siehe die Ausführungen zum Identitätsbegriff, 158-162.
31
Clio und Natio im östlichen Europa
15
Mittelasien, der Kaukasus und der Balkan verdeutlichen also,
daß Clio als Hebamme der Nation vor allem in Staaten tätig wurde,
“welche sich erstmals als souveräne völkerrechtliche Subjekte präsentieren” 32 . Ihre Fertigkeiten waren bei der Durchsetzung postsozialistischer Territorial- und Souveränitätsansprüche gefragt, weil es
darum ging, verschiedene Sprößlinge eines ehedem gemeinsamen
Geschichtserbes zu entbinden. Und hierin unterscheidet sich ihr
Wirken nicht bezüglich der ostslavischen Staatsbildungen. Denn
auch zwischen der Ukraine, Weißrußland und der Rußländischen
Föderation, auf die detaillierter einzugehen ist, verläuft die Gratwanderung von nationaler Identitätsbildung und Kulturabgrenzung
keineswegs spannungsfrei.
Für den Themenkanon weißrussischer Nationalgeschichte bedeutet dies eine Neubewertung von Ethnogenese und Staatsformation.
Die Suche nach den Vorfahren setzt hier bei der Diskussion zur Bestimmung des baltischen bzw. slavischen Substrates ein, die sich unter russischen und weißrussischen Wissenschaftlern in den späten
60er Jahren schon einmal entzündet hatte. Damals wie heute strittig
war, ob überhaupt ein baltisches Substrat bei der Genese der Weißrussen zu Grunde gelegen habe und auf welche Weise der Slavisierungsprozeß baltischer Gruppen mit der Formierung ostslavischer
Stämme zusammenhängt. Die Frage birgt Sprengstoff, da die baltische These einen Ansatz bietet, mit dem der mühevoll konstruierte
Mythos vom gemeinsamen Ursprung der ostslavischen Brudervölker
ins Wanken gebracht werden könnte.
Hatte man die Slavisierung baltischer Ethnien bisher mit dem 7.
und 8. Jahrhundert einsetzen lassen, so wird dieser Prozeß jetzt in
das 6. Jahrhundert und somit in die Zeit der Landnahme verlegt.
Während die Rückdatierung die These vom baltischen Substrat
stärkt, wird damit eine Verlagerung der weißrussischen Nationsbildung westwärts behauptet. Hierzu wird gemutmaßt, daß sich der ethnische Formierungsprozeß unter Beteiligung polnischer, germanischer sowie tatarischer Gruppen bis ins 16. Jahrhundert erstreckt habe.
Antagonistisch dazu zeigt sich eine Abgrenzung gegenüber dem
Osten. Der Landesname findet somit nicht mehr Erklärung aus Kiever oder Moskauer Perzeption, nach der es sich bei der weißen Rus’
32
Rainer Lindner, Nationsbildung durch Nationalgeschichte: Probleme der aktuellen
Geschichtsdiskussion in Weißrußland, in: Osteuropa 44, 1994, 578-590, hier 578.
16
Clio und Natio im östlichen Europa
um von den Tataren unabhängige bzw. steuerfreie Gebiete handelt.
Neuerdings orientiert sich die Ethno- und Toponymie in spekulativer
Euphorie an der “»Farbsymbolik der alten Welt«, nach der weiß immer westlich bedeutet habe” 33 . Nach diesem eigenwilligen Raumbegriff beginnt Osteuropa erst an der Westgrenze Rußlands, zählt sich
Minsk mit Berlin zu den Zentren Mitteleuropas, das keineswegs als
indifferenter Zwischenraum, sonder als mixtum compositum westöstlicher Kultureinflüsse nun mit eigenem Gravitationsfeld hervorgehoben erscheint.
In der Frage der Eigenstaatlichkeit wird das Fürstentum Polock
des 11. bis 13. Jahrhunderts folglich als Kontrapunkt zu Kiev und
Novgorod intoniert. Die Staatsformation habe sich hier parallel zur
Kiever Rus’ völlig autochthon vollzogen und dabei alle nötigen Attribute ausgeprägt: mit Fürstensitz und Veče, mit Verwaltung, Heer
und eigener Währung. Der Idee früher Staatlichkeit verpflichtet, ist
gegenüber Polen und Litauen konsequent auch der weißrussische
Anteil des im 13. bis 18. Jahrhundert in Ostmitteleuropa dominanten
polnisch-litauisch-weißrussischen Staatsgebildes herausgemeißelt
worden. Der Streit um historischen Besitzanspruch hat sich unterdessen an Staatssymbolen (Pahonja-Wappen) und Denkmälern
(Vilnjus / Wilna) festgefahren.
Der weißrussische Drang nach Neuinterpretation des sowjethistoriographischen Erbes wurde allerdings in dem Maße gedämpft, wie
Aljaksandr Lukašenka den Anschluß mit restaurativen Kräften Rußlands suchte und die Politik sich einem “überkommenen historischen
Wertekanon der Sowjetgesellschaft” 34 zuwandte. Die Einführung
des Weißrussischen als Staatssprache beispielsweise, wurde somit
dem Ziel einer Reintegration der ostslavischen Staaten geopfert. Ein
Jahr nach Amtsantritt erließ Präsident Lukašenka ein Dekret, das die
33
Ebd. 585. Vgl. bei Max Vasmer [Fasmer, Maks], Ėtimologičeskij slovar’ russkogo
jazyka, 4 toma. Perevod s nemeckogo i dopolnenija O.N. Trubačëva. Moskau 19641973, Vol. 1, 149.
34
Rainer Lindner, Historiker und Herrschaft. Nationsbildung und Geschichtspolitik in
Weißrussland im 19. und 20. Jahrhundert. (Ordnungssysteme, 5.) München 1999, 403.
Siehe auch ders., Geschichte und Geschichtsbetrieb im Weißrußland der Stalinzeit, in:
Zs für Ostmitteleuropaforsch. 50, 2001, 198-213, hier 198 f.; Jakub Zejmis, Belarusian
National Historiography and the Grand Duchy of Lithuania as a Belarusian State, in:
ebd. 48, 1999, 383-396, hier 383, 390-396; David R. Marples, National Awakening
and National Consciousness in Belarus, in: Nationalities Papers 27, 1999, 565-578,
hier 565, 573.
Clio und Natio im östlichen Europa
17
Entfernung aller seit 1992 in den geisteswissenschaftlichen Fächern erschienenen Lehrmittel verlangte. Da das Budget zudem sehr
beschränkt war und das Verfassen neuer Lehrbücher seine Zeit
braucht, stellte man kurzerhand die spätsowjetischen Geschichtswerke wieder in die Regale. Wie man sieht, folgte staatliche Geschichtspolitik auch hier der Großen Politik, selbst wenn der Kurs
diesmal ein anationaler war. Jedoch festigte sich damit die Teilung
des kollektiven Geschichtsbewußtseins. Es kam zur Spaltung der
Zunft in National- und Hofhistoriker. Denn neben der prorussischen
Projektionsfläche, die sich auf eine “Resowjetisierung des offiziellen
Geschichtsbildes” 35 zurückzog, bestand die Geschichtspolitik von
unten fort.
Eine vergleichbare Kursänderung gab es bei der ukrainischen Historiographie bekanntlich nicht, an deren nationalen Ausrichtung
sich seit Inkrafttreten des Bildungsprogramms (Osvita) im November 1993 kaum etwas geändert hat. Da die Bildung “organisch mit
der nationalen Geschichte und den Volkstraditionen verbunden” 36
werden sollte, hatte man die Hochschul-Curricula 1992 schon im
Vorlauf soweit reformiert, daß ukrainische Sprache und Geschichte
zu obligatorischen Bestandteilen ernannt werden konnten. Einen
zentralen Platz nimmt seitdem die als ‘normative’ Disziplin eingeführte Ukrainekunde (ukraïnoznavstvo) ein, zu der es im Lehrplan
heißt: “Ukrainekunde ist ein System wissenschaftlich-integrativen
Wissens über die Ukraine und das weltweite Ukrainertum als Ganzes, ... Gegenstand ukrainekundlicher Untersuchungen sind das Phänomen des Ukrainertums, die Gesetzmäßigkeiten ... seiner Nationsund Staatsgründung ... sowie der Bildung und Entwicklung seines
ethnischen Territoriums (Ukraine). ... Ukrainekunde ist der Weg zur
Selbsterkenntnis und Selbsterschaffung des Ukrainertums und zur
Erfüllung seiner historischen Mission.” 37 Als Folge dieser Maßnah35
Lindner, Historiker und Herrschaft (wie Anm. 34), 484; ders., Besieged Past: National and Court Historians in Lukashenka’s Belarus, in: Nationalities Papers 27, 1999,
631-648.
36
Tanja Penter, Das Hochschulwesen in der Ukraine. Zu Reformen, gesetzlichen
Grundlagen, Problemen und Perspektiven nach der staatlichen Unabhängigkeit, in:
Osteuropa 50, 2000, 1212-1232, hier 1226.
37
Ebd. 1228. Offenbar handelt es sich hierbei um den Versuch, das ideologische Rüstzeug des wissenschaftlichen Sozialismus auf eine Wissenschaft vom Nationalismus zu
übertragen. Vgl. bei Niklas Bernsand, Surzhyk and National Identity in Ukrainian
Nationalist Language Ideology, in: Berliner Osteuropa Info 17, 2001, 38-47.
18
Clio und Natio im östlichen Europa
men setzte in dem 1991 unabhängig gewordenen Staat eine Ukrainisierung des öffentlichen Lebens ein, wogegen sich Widerstand insbesondere unter der ethnisch heterogenen Bevölkerung (Russen, Tataren) im Osten des Landes regte.
Um die autochthone Entwicklung hervorzuheben, ist der Kern des
nationalen Selbstbildes in die ostslavische Frühzeit verlegt worden.
Die Ethnogenese der Ostslaven und die Staatsformation der Kiever
Rus’ rückten so in das Zentrum nationalukrainischer Deutung.
Durch die sowjetpatriotische Geschichtsschreibung gewieft, wußte
man, daß sich das Herauspräparieren nationaler Besonderheiten am
ehesten durch Gründungsmythen 38 und ein Antikisieren scheinbarer
Kontinuitätslinien bewerkstelligen läßt. Hierzu war man bereit, die
Anfänge des ukrainischen Volkes durch Analogiebildung mit der
Tripol’e-Kultur (Trypilla) des 4. Jt. v. Chr. zu verknüpfen. Indem
man die Ukrainer als Vertreter der Zarubincy- sowie der Černjachovo-Kultur identifizierte, folgte die Rekonstruktion ausgetretenen
Pfaden. Es bedurfte nur eines ukrainischen Neuanstrichs, was unter
Anlehnung an Mychajlo Hruševs’kyjs Behauptung gelang, “bei den
Anten handele es sich um die heutigen Ukrainer” 39 .
Daß solche Rückgriffe zu Kontroversen mit der rußländischen
Geschichtsschreibung führen und Abgrenzungsgefechte um zu Sowjetzeiten noch gemeinsame Nationalsymbole auslösen müssen,
liegt auf der Hand. Selbst wenn die ukrainische Wissenschaft von
antirussischer Argumentation Abstand nimmt, so ist der Streit tatsächlich vorprogrammiert, sollte es Kiev wirklich um den Nachweis
gehen, “daß die Zivilisation der Ostslaven bzw. späteren Ukrainer
am mittleren Dnepr tiefere Wurzeln hat als die der Weißrussen und
Russen im Norden” 40 . In dem Kontext sorgt die Berufung auf eine
38
Über eine der skurrilen Blüten, die sogenannten ‘Russischen Veden’, klärt Helmut
Keipert in einer Besprechung des in Rußland wie in der Ukraine scheinbar populären
Veles-Buches auf: Erfundene Vergangenheit?, in: JbbGOE 49, 2001, 264-267.
39
Wilfried Jilge, Nationale Geschichtsbilder in ukrainischen Geschichtslehrbüchern.
Am Beispiel der Darstellung der Kiever Rus’, in: Osteuropa 50, 2000, 1233-1253, hier
S. 1239. Zum Anten-Problem siehe auch Matthias Hardt, Aspekte der Herrschaftsbildung bei den frühen Slawen, in: Walter Pohl/Maximilian Diesenberger (Hrsg.), Integration und Herrschaft. Ethnische Identitäten und soziale Organisation im Frühmittelalter. (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 3.) Wien 2002, 249-255.
40
Jilge, Nationale Geschichtsbilder (wie Anm. 39), 1238. Vgl. dazu Laitin, Identity in
Formation (wie Anm. 4), 288-295, 360-363; Valerij Vasil’ev, Ot Kievskoj Rusi k nezavisimoj Ukraine: novye koncepcii ukrainskoj istorii, in: Eimermacher/ Bordjugov
(Eds.), Nacional’nye istorii (wie Anm. 5), 209-230.
Clio und Natio im östlichen Europa
19
den Rjurikiden vorgelagerte Staatsformation natürlich für besonderen Zündstoff. Hierbei wird den ostslavischen Poljanen des Kiever
Landes die Gründung von Kujabija - das Kuyābah arabischer Geographen - zugeschrieben, womit man die maßgeblich auf skandinavischen Einfluß basierende Herrschaftslegung der Kiever Rus’ auf den
zweiten Platz verweisen will. Verblüfft fragt man sich, wie eine Erklärung ukrainischer Reichsbildung ohne die Druzina der Varäger
und den normannischen Fernhandel, ohne die Novgoroder Herrschaftsbildung oder die Pax Chazarica auskommen will.
Nicht nur feiert der Anti-Normannismus hier fröhliche Urständ,
gegenläufig zur normannistischen Tendenz in der rußländischen Geschichtsschreibung. Auch wird die Historiographie von außerhalb
der heutigen Ukraine gelegenen Herrschaftssitzen der Kiever Rus’,
wie die randständige Behandlung von Polock - heute Weißrußland zeigt, nun aus offenkundlich politischen Gründen ausgeblendet. Da
zudem der Diskurs über die kulturelle Stellung der Ukraine zwischen Ost und West mit ihrer ‘Rückkehr nach Europa’ neu auflebt,
gilt dies besonders für die Interpretation von Spuren der östlichen
Saltovo-Kultur in den Kiever Siedlungsrudimenten sowie hinsichtlich der Allianzheiraten mit der Nomaden-Aristokratie der aus Zentralasien stammenden Polovcer. Diese werden nun in düsteren Farben gezeichnet, damit die postulierte Zugehörigkeit der ukrainischen
Rus’ zum westeuropäischen Zivilisationskreis sich umso deutlicher
abhebt und der ‘pejorative’ Verdacht entkräftet wird, “that Ukraine
was part of »Turkic civilization«” 41 .
III. Rußländische Geschichtsschreibung in nationaler
und regionaler Perspektive
Der Umbau in Rußland entwickelte sich in zwei Richtungen. Auf
die Tilgung weißer Flecken eingeschworen, äußerte er sich einmal
als Vergangenheitsbewältigung, die gleichlaufend eine Modernisierung der Geisteswissenschaften beabsichtigte. Zum anderen kam die
Revision der Geschichtsbilder als Anrufung nationaler Traditionen
daher. Das hatte den Effekt, daß man sich zugleich den Standards
internationaler Wissenschaftsdiskurse annäherte und der Eigenwer-
41
Nataliya Yakovenko, Early Modern Ukraine Between East and West: Projecturies of
an Idea, in: Kimitaka Matsuzato (Eds.), Regions: A Prism to View the Slavic-Eurasian
World. Towards a Disciple of ‘Regionology’. Sapporo 2000, 50-69, hier 54.
20
Clio und Natio im östlichen Europa
tigkeit vergewisserte. 42 Der Rahmen dieser zweigleisigen Entwicklung war abgesteckt durch den Rückbezug auf vorrevolutionäre Erkenntnishorizonte, auch durch Ressentiments gegenüber einer blinden Aneignung westlicher Deutungsimporte und zunehmend durch
die Leitlinien nationaler Geschichtspolitik.
Denn mit Entfaltung der postsozialistischen Ordnung veränderte
sich der soziale Kontext rasant und damit der Zugriff auf Identitäten.
Weil die Formierung souveräner Staaten und autonomer Republiken
einen Nationalismus förderte, der auch Rußland in seinen alten Geschichtslandschaften neu entstehen und regionale Abgrenzungen
hervortreten ließ, geriet nun die Erinnerung nationaler Größe zum
kulturellen Maßstab. 43
So gewann die Nostalgie zur Romanov-Dynastie und der Familie
des letzten Zaren Nikolaus II. an Konjunktur schon lange vor dessen
Heiligsprechung im August 2000. 44 Auch die kosakischen Traditionsverbände wurden wieder in Amt und Würden gesetzt. Ihre Vertreter mühten sich nicht nur erfolgreich um die Restituierung alter
42
Dietrich Geyer, Perestrojka in der sowjetischen Geschichtswissenschaft, in: Dietrich
Geyer (Hrsg.), Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. (GG, Sonderh. 14.) Göttingen 1991, 9-31 hier 10, 15; Klaus Müller, Nachholende Modernisierung? Die Konjunkturen der Modernisierungstheorie und ihre Anwendung auf die Transformation
der osteuropäischen Gesellschaften, in: Leviathan 19, 1991, 261-291, hier 277 f.;
Reinhard Bobach, Der Umbruch im Osten - Binnenperspektiven, in: Brigitte Heuer/Milan Prucha (Hrsg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie. (Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 3.) Frankfurt am
Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995, 175-199, hier 182 f.
43
Evgenij Anisimov, Oskolki imperii: Istoki velikoderžavnogo soznanija, in:
Moskovskie Novosti 51, 1989, 10; N.M. Čeremisina, Istoriografija istorii narodov
SSSR v bibliografičeskich ukazateljach (1987-1988 gg.), in: Istorija SSSR 3, 1990,
174-179; Alan Bodger, Nationalities in History. Soviet Historiography and the Pugačëvščina, in: JbbGOE 39, 1991, 561-581, hier 579; Uwe Halbach, Die Nationalitätenfrage: Kontinuität und Explosivität. In: Dietrich Geyer (Hrsg.), Umwertung (wie
Anm. 42), 210-237.
44
Gerd Stricker, Zar Nikolaj II. - ein »Neu-Heiliger«. Zu einer umstrittenen Entscheidung der Russischen Orthodoxen Kirche, in: Osteuropa 50, 2000, 1187-1196; ders.,
Das Moskauer Patriarchat im Zeichen des neuen Nationalismus, in: Osteuropa 48,
1998, 268-285. Vgl. bei Isabelle de Keghel, Oktoberrevolution in der russischen Historiographie der Transformationszeit, in: Holm Sundhausen/Hans-Joachim Torke
(Hrsg.), 1917-1918 als Epochengrenze? (Multidisziplinäre Veröffentlichungen des
Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, 8.) Wiesbaden 2000, 231-268, hier
242-246; Julie A. Corwin/Robert Coalson, Monarchist March to Remember Romanovs, while Some Propose More Permanent Memorials, in: RFE / RL NEWSLINE 6,
No. 133/1, 18 July 2002.
Clio und Natio im östlichen Europa
21
Rechtstitel. Atamane aus südrussischen Regionen machten wiederholt durch fremdenfeindliche Pogrome von sich Reden. Übergriffe neofaschistischer Hooligans in den Großstädten des einstigen Nazismus-Bezwingers auf Juden und Kaukasier, auf Asiaten wie Afrikaner haben sich derart gemehrt, daß Generalstaatsanwalt Vladimir
Ustinov im Mai 2002 seiner Behörde eine strenge Verfolgung extremistischer Straftatbestände verordnen mußte. 45 Die Restauration
der orthodoxen Kirche fördert der Staat ebenso nachdrücklich, wie
er die Mission westlicher Kirchen mißbilligt. Doch indem Moskau
das Vaterland inszeniert und der Kreml den Historikern “ein neues
Lehrbuch ... mit einer den patriotischen Zielen »angemesseneren«
Darstellung des Zweiten Weltkriegs und der Verdienste der russischen Generale” 46 abverlangt, melden sich die alten Narben Europas
schmerzhaft zurück.
Ursprünglich aber wollte man aus der Geschichte lernen, um in
unsicheren Zeiten Zukunft gestalten zu können. Dabei wurde die
Vergangenheit nicht allein vom ‘Bakterium des historischen Materialismus desinfiziert’, sie wurde neu verarbeitet. Zunächst mußten
die Geschichtsregale entrümpelt und die Bildung entideologisiert
werden. 47 Dieser Umbau fiel nicht leicht, hatte er sich doch gegen
eine traditionelle Indienststellung der Geisteswissenschaften und gegen tiefwurzelnde Wissenschaftskontroversen gleichermaßen durchzusetzen. Dogmatisches Verharren und neue Frontenbildung prägten
somit den Wandlungsprozeß, wodurch die Geschichtswissenschaften
45
Prosecutor-General Ordered to Tighten Measures Against »Fascism«, in: RFE / RL
NEWSLINE 6, No. 92/1, 17 May, 2002; Robin Shepherd, Putin Condemns Racism
‘Bacteria’ as Risk to Russia, in: The Times (London), Online, July 27, 2002; Abdukholik Rakhmatullaev, Migrant Tajiks Face Racist Violence: An Increasing Number of
Tajiks in Russia are Dying at the Hands of Xenophobic Thugs, with the Authorities
Seemingly Reluctant to Take Action, in: IWPR’s Reporting Central Asia 136, August
9, 2002 (Dushanbe); Robert Coalson, Teens Attack Ghanaian Ambassador, in: RFE /
RL NEWSLINE 6, No. 211/1, 11 November 2002.
46
Jutta Scherrer, Zurück zu Gott und Vaterland. Putin verordnet die patriotische Wiederaufrüstung - per Dekret soll Russland eine verlässliche Staatsmoral erhalten, in:
Die Zeit, Nr. 31, v. 26. Juli 2001, 31. Siehe auch Rainer Lindner, Das konservative
Prinzip. Konservatismus und Nationalismus als Konstanten russischer Geschichte, in:
Schorkowitz (Hrsg.), Transition - Erosion - Reaktion (wie Anm. 13), 189-206.
47
Isabelle de Keghel, Aus der Geschichte lernen? Rußland auf der Suche nach seiner
demokratischen Vergangenheit, in: Tatjana Eggeling/Wim van Meurs/Holm
Sundhaussen (Hrsg.), Umbruch zur “Moderne”? Studien zur Politik und Kultur in der
osteuropäischen Transformation. (Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel, 5.)
Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, 77-93.
22
Clio und Natio im östlichen Europa
mit Verzögerung und thematisch wie personell auf ganz unterschiedliche Weise von der “Umwertung aller Werte” 48 erfaßt wurden und
den neuen Wahrheiten der Eingang in das Schulbuchwissen so über
Gebühr verschlossen blieb. 49
In der Tat entstand Bewegung erst auf Druck des XXVII. Parteitages und infolge der Plenarsitzungen des Zentralkomitees der
KPdSU vom Januar und April 1987, die Clio dem Verdacht aussetzten, die “realen Prozesse beschönigt” 50 zu haben. Die Dringlichkeit
mit der scheidenden Epoche abzurechnen, ließ die Redaktionen führender Fachzeitschriften akademische Rundtischgespräche einberufen. Hier gehörte es bald zum Ton der neuen Sprachregelung, die
Tilgung “weißer Flecken ... und verbotener Zonen” 51 gebetsmühlenhaft anzumahnen. Schließlich wurden doch die alten Wissenschaftsfunktionäre zu Koordinatoren des beabsichtigten Umbaus bestellt,
der sich in weiten Teilen als potëmkische Ausführung fälliger Plankorrekturen von 1984 herausstellte. Zum Koordinator für ‘Ethnohistorie und nationale Prozesse der Gegenwart’ ernannte man Jurij
Bromlej. Programmleiter für ‘Kulturgeschichte der Völker der
UdSSR’ wurde Boris Rybakov, so daß der umstrittene Akademiker
die Fäden noch lange in der Hand hielt. 52
48
Oskar Anweiler, Historische Anknüpfungen in den aktuellen Schulreformbestrebungen in Russland, in: FOEG 48, 1993, 17-25, hier 17.
49
E. E. Vjazemskij/Andrej L’vovič Jurganov, Kakim byt’ učebnym posobijam po istorii dlja školy, in: Voprosy Istorii 9, 1988, 185-186; G. Kuz’min, Gde vy, učënyeistoriki?, in: Voprosy Istorii 10, 1988, 189; A. G. Timošenko/S. G. Kim/A. N. Nečuchrin/S. P. Ramazanov, Konferencija „Istoričeskaja nauka i perestrojka“, in: Voprosy
Istorii 12, 1988, 164-166, hier 164; R. A. Burlakova, „Kruglyj stol“: Problemy istoričeskogo obrazovanija v škole, in: Voprosy Istorii 1, 1989, 166-175. Zusammenfassend bei R. W. Davies, Soviet History in the Gorbachev Revolution. Studies in Soviet
History and Society. London 1989, 167, 175-177.
50
Sergej Leonidovič Tichvinskij, Janvarskij (1987 g.) plenum CK KPSS i istoričeskaja
nauka, in: Voprosy Istorii 6, 1987, 3-13, hier 3. Vgl. bei Joachim Hösler, Die sowjetische Geschichtswissenschaft 1953 bis 1991. Studien zur Methodologie- und Organisationsgeschichte. (Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas,
34. München 1995, 27-28, 202-217, 226-229.
51
Perestrojka i zadači žurnala „Voprosy Istorii“, in: Voprosy Istorii 2, 1988, 3-10, hier
3. Siehe auch: „Kruglyj stol“: Istoričeskaja nauka v uslovijach perestrojki, in: Voprosy
Istorii 3, 1988, 3-57.
52
Perspektivnye kompleksnye programmy - Novaja forma koordinacii istoričeskich
issledovanij, in: Voprosy Istorii 4, 1987, 82-84. Perspektivnye kompleksnye programmy - Novaja forma koordinacii istoričeskich issledovanij, in: Istorija SSSR 6,
1987, 174-182. Kompleksnaja programma po istorii kul’tury narodov SSSR, in: Istori-
Clio und Natio im östlichen Europa
23
Zu den unbestreitbaren Leistungen der Avantgarde alter wie
neuer Dissidenten aber zählt, daß sie einen gesellschaftlichen Diskurs über historische Wahrheit und die Methoden ihrer Auffindung
initiiert und dabei längst fällige Korrekturen ausgeführt haben. Das
Wissenschaftsfeld, das es zu revidieren galt, besaß enorme Ausmaße. Wie zu erwarten war, wurden vordringlich Forderungen nach
einer Wiederaufnahme der unter Chruščëv begonnenen und von
Breznev abgewürgten Auseinandersetzung mit dem Stalinismus erneuert. Ob es um die Bekanntgabe des Zusatzprotokolls aus dem
Hitler-Stalin-Pakt 53 , um das Eingestehen der Exekution polnischer
Offiziere bei Katyn’ 54 oder um die epische Schilderung der Leiden
während des Weltkrieges deportierter Sowjetvölker 55 ging, lang gehütete Geheimnisse wurden nun in rascher Folge enthüllt. Die nachgeholte Abrechnung beabsichtigte nicht nur eine endgültige Verurteilung Stalins und seiner Diktatur. Das Sowjetsystem sollte in seiner
Ganzheit symbolisch zu Grabe getragen werden.
Dem dekonstruktivistischen Anknüpfen an vorrevolutionäre Traditionen diente auch die scharf geführte Auseinandersetzung um den
Gründungsmythos Oktober-Revolution, deren Vorgeschichte und
ihrer permanent neu entworfenen Ikone - Vladimir Ilič Lenin. Umgehend rehabilitierte der zunächst im sozialistischen Geist geführte
Diskurs die als Links- oder Rechtsabweichler totgeschwiegenen Unpersonen Trockij, Bucharin, Zinov’ev und Kamenev. Doch gab die
ja SSSR 1, 1988, 130-141. Zu den 1984 verabschiedeten Makrothemen gehörten u.a.
“Ethnogenese und ethnische Prozesse der Gegenwart” (Bromlej) oder “Der historische
Beitrag der Völker der UdSSR zur Kultur der sowjetischen Gesellschaft” (Rybakov).
Vgl. dazu Geyer, Klio in Moskau (wie Anm. 22), 31.
53
Bernd Bonwetsch, Vom Hitler-Stalin-Pakt zum „Unternehmen Barbarossa“. Die
deutsch-russischen Beziehungen 1939-1941 in der Kontroverse, in: Osteuropa 6,
1991, 562-579.
54
A.L. Szczesniak, Katyn. Tło historyczne, fakty, dokumenty. Warszawa 1989. Vgl.
die Rezension von S. I. Larin, in: Voprosy Istorii 7, 1990, 173-175. Siehe auch Małgorzata und Krzysztof Ruchniewicz, Die sowjetischen Kriegsverbrechen gegenüber
Polen: Katyn 1940, in: Wolfgang Wette/Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert. Darmstadt 2001, 356-369.
55
Nikolaj Fedorovič Bugaj, K voprosu o deportacii narodov SSSR v 30-40-ch godach,
in: Istorija SSSR 6, 1989, 135-144; ders., Die Deportationen der Völker aus der
Ukraine, Weißrußland und Moldavien, in: Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld
(Hrsg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945. (Schriften der
Bibliothek für Zeitgeschichte NF., 10.) Essen 1999, 567-581.
24
Clio und Natio im östlichen Europa
Umwertung der Revolution auch Raum zu Spekulationen über eine
angebliche Vermeidbarkeit des Roten Oktobers. Das hypothetische
Abfragen von Alternativen der historischen Entwicklung führte bald
zur mythischen Überhöhung von Zar Nikolaus II. und seinem Ministerpräsidenten Arkadij Stolypin, dessen Reformen und folglich zu
einer Überzeichnung der historischen Stellung wie der Möglichkeiten der Februar-Revolution. Gleichzeitig verstärkte sich die Tendenz, Regierungs- wie Integrationsdefizite des ausgehenden Zarenreiches aus dem Wahrnehmungshorizont zu drängen und die Gesetzmäßigkeit sozialrevolutionärer Entwicklungsfaktoren in Abrede
zu stellen. 56
Im Windschatten dieser lautstarken Auseinandersetzung aber
strebte eine Fülle gewichtiger Einzelprobleme einer entdogmatisierten Darstellung zu. Neues war so über einen Bereich zu vernehmen,
der kaum Beachtung in der Sowjethistoriographie gefunden hatte:
die Unternehmergeschichte. Das Anknüpfen an vorrevolutionäres
Unternehmertum und dessen geschichtswissenschaftliche Behandlung korrelierte mit der postkommunistischen Rückkehr des Privateigentums. Es fiel daher leicht, über die patriotischen und nationalrussischen Verdienste der spätzarischen Bourgeoisie hinaus an “ihre
wirtschaftlichen Erfolge, ihre sozialen Leistungen und sogar ... ihren
politischen Einfluß” 57 zu erinnern.
In der ideologisch gesättigten Bauerngeschichtsschreibung zeichneten sich neue Deutungsmuster dagegen nur zögerlich ab, wie die
Rückkehr zu leninistischen Begriffen belegt, mit denen ein Ende
1993 erschienener Band aufwartete. 58 In gewohnter Manier geht hier
56
Manfred Hildermeier, Revolution und Revolutionsgeschichte, in: Geyer (Hrsg.),
Umwertung (wie Anm. 42), 32-53; Benno Ennker, Ende des Mythos? Lenin in der
Kontroverse, in: ebd. 54-74; De Keghel, Oktoberrevolution (wie Anm. 44), 231-268.
57
Klaus Heller, Neue russische Literatur zur Geschichte des privaten Unternehmertums in Rußland, in: JbbGOE 48, 2000, 264-272, hier 264. Vgl. dazu L. V. Košman,
Istorija predprinimatel’stva v Rossii. Kn. 1. Ot srednevekov’ja do serediny XIX veka,
in: Otečestvennaja Istorija 1, 2001, 122-124. Boris Vasil’evič Ananič/S. G.: Beljaev,
Istorija predprinimatel’stva v Rossii. Kn. 2. Vtoraja polovina XIX - načalo XX veka,
in: Otečestvennaja Istorija 1, 2001, 125-130.
58
Istorija krest’janstva SSSR s drevnejšich vremen do Velikoj Oktjabr’skoj
socialističeskoj revoljucii. V pjati tomach. Tom I. Predposylki stanovlenija
krest’janstva. Krest’janstvo rabovladel’českich i rannefeodal’nych obščestv. (VI - V
tysjačeletija do n.ė. - I tysjačeletie n.ė. Moskau 1987. Istorija krest’janstva SSSR s
drevnejšich vremen do Velikoj Oktjabr’skoj socialističeskoj revoljucii. V pjati
tomach. Tom II. Krest’janstvo v period rannego i razvitogo feodalizma. Moskau 1990.
Clio und Natio im östlichen Europa
25
die Rede vom spätfeudalen Bauertum, seiner sozialen Zerschichtung und dem bäuerlichen Klassenkampf. Wie man sieht, ist Bauerngeschichte nicht unpolitisch, besonders wenn die Privatisierung
des Bodens sich auf der Tagesordnung der Duma befindet. Doch
steht die marxistisch angehauchte Klassenanalyse des Bauerntums
überraschenderweise im Widerspruch zu einer gelungenen Revision
der Periodisierungsfrage. Widerlegt wurde damit endlich die Lehrmeinung, die Kiever Rus’ sei ein feudaler Staat gewesen und habe
die Formation der Feudalgesellschaft - unter Umgehung der Sklavenhaltergesellschaft - direkt von der Urgesellschaft erreicht. Tatsächlich gilt das Reich heute als Typ einer Zwischenformation, deren Klassifizierung als Vorfeudalismus allerdings unbefriedigend
bleibt. 59
Da auch der Normannismus-Streit unterdessen eine progressive
Wendung genommen hat, die Beziehung der Rus’ zu Skandinavien
für den Zeitraum von 750 bis 1050 neu gewertet und periodisiert
wurde, bahnt sich hier weiterer Widerspruch an. Denn nun ist der
bestimmende Einfluß der später slavisierten Varäger auf den Ausbau
von Herrschaft und Handel, auf Recht, Sprache und Kultur in Osteuropa anerkannt. Da Eroberung, Tributbeziehung und Raubhandel
ihre Geltung als Charakteristika dabei wiedererlangten, mußte ein
distinktives Element der feudalen Formationsperiode gegenüber
west- und mitteleuropäischen Entwicklungen eingeräumt werden:
Herrschaft strukturierte sich im Osten Europas durch Vasallentum
ohne Lehen.
Trotz der Uneinheitlichkeit, mit der sich das facettenreiche Bild
neu erblühter Geschichtslandschaften dem Betrachter somit darbietet, bleibt der Eindruck haften, daß Clio sich dem Prokrustesbett sowjetmarxistischer Ideologie entwinden konnte. Deutlich tritt die Befreiungsleistung in der Revision zur Periodisierung zutage. Daß die
Epochenabgrenzungen gesellschaftlicher Formationsperioden (Gentilorganisation, Sklaverei, Feudalismus) in ihrer unzulänglichen Unilinearität dabei verworfen und die Staatlichkeit der Ostslaven als
Istorija krest’janstva Rossii s drevnejšich vremen do 1917 g. Tom III. Krest’janstvo
perioda pozdnego feodalizma (seredina XVII v. - 1861 g.). Moskau 1993. Istorija
krest’janstva Severo-Zapada Rossii. Period feodalizma. St.Peterburg 1994. Carsten
Goehrke, Die Geschichtsschreibung über das Bauerntum Rußlands im Umbruch?, in:
JbbGOE 45, 1997, 310-320, hier 310.
59
Ausführlich hierzu bei Torke, Die Geschichte Russlands (wie Anm. 1), 16-18, 20.
26
Clio und Natio im östlichen Europa
“unmittelbares Produkt einer feudalen Klassengesellschaft” 60 in Frage gestellt wurde, darf als ein Beleg für das Abrücken von “dogmatischen Wissenschaftspositionen” 61 gelten.
Damit aber sind gewichtige Kurskorrekturen in der Deutungsproblematik von der Herkunft der Ostslaven und der Entstehung des
Kiever Reiches gemacht. Durch die Aufweichung des Russozentrismus gewannen die nichtslavischen Einflüsse an Bedeutung. Von einer Entwicklungsüberlegenheit der Ostslaven gegenüber Balten und
Ostseefinnen spricht heute kaum einer mehr. Archäologische Grabungen haben außerdem gezeigt, daß viele Stammeszentren entweder zerfallen oder im Zuge protostaatlicher Formierung zugunsten
günstiger gelegener Handelszentren verlegt worden waren. Einer linearen Evolution der Feudalstädte ist damit die Argumentationsgrundlage entzogen. 62
Die Schlußfolgerung aus der offensichtlich diskontinuierlichen
Entwicklung von ostslavischen Stammeszentren und Kiever Verwaltungszentren der Voloste zu Städten der Teilfürstentümer mußte
auch für die Siedlungsgeschichte auf ein Zusammenwirken äußerer
wie innerer Faktoren hinauslaufen - mit all ihren Konsequenzen bezüglich der Fernhandelsthese und der tributären Klientelbeziehungen
der Slaven zu Varägern und Chazaren. Die Beziehungen der Ostslaven im Kräftefeld von Orient und Okzident sind dadurch einer objektiveren Behandlung zugeführt worden. Den staatsbildenden Elementen der slavischen Gentilorganisation wurden so jene des Handels an die Seite gestellt, die aus dem Bedürfnis zur Absicherung
und Routinierung erzielter Einkünfte entstanden. Denn erst mit der
60
N. F. Kotljar, O social’noj suščnosti drevnerusskogo gosudarstva IX - pervoj poloviny X v., in: Drevnejšie gosudarstva vostočnoj Evropy: Materialy i issledovanija.
1992 - 1993 gody. Moskau 1995, 33-49, hier 34. Vgl. bei V. I. Goremykina, O genezise feodalizma v drevnej Rusi, in: Voprosy Istorii 2, 1987, 78-100. A. Ju. Dvorničenko,
Ėvoljucija gorodskoj obščiny i genezis feodalizma na Rusi, in: Voprosi Istorii 1, 1988,
58-73.
61
Siehe die Besprechung von Carsten Goehrke zu dem Sammelband: Drevnejšie gosudarstva vostočnoj Evropy: Materialy i issledovanija. 1992 - 1993 gody. Moskau
1995, in: JbbGOE 46, 1998, 282. Vgl. dazu: Novoe pokolenie rossijskich istorikov v
poiskach svoego lica, in: Otečestvennaja Istorija 4, 1997, 104-124.
62
Anton Anatol’evič Gorskij, Političeskie centry vostočnych slavjan i Kievskoj Rusi:
Problemy ėvoljucii, in: Otečestvennaja Istorija 6, 1993, 157-162, hier 157-158. Vladislav Petrovič Darkevič, Proischozdenie i razvitie gorodov drevnej Rusi (X - XIII vv.),
in: Voprosy Istorii 10, 1994, 43-60, hier 45-46. Goehrke, Geschichtsschreibung (wie
Anm. 58), 311.
Clio und Natio im östlichen Europa
27
Schaffung von Märkten und der Errichtung einer Handelskontrolle wich letztlich der sporadische Raub der Varäger einer systematischen Tributnahme, die in der Rus’ neue Qualität erhielt durch Olgas
Umwandlung der fürstlichen Tributkollekte in amtliche Steuerbezirke. 63 Es ist ein Verdienst von Glasnost’, den Geschichtswissenschaften zu dieser komplexen Anrechnung nichtslavischer Kulturen und
einer differenzierten Bewertung der Verhältnisse zwischen Jägern,
Bauern und Nomaden im Grenzsaum von Wald und Steppe verholfen zu haben.
Erstaunlich ist nur, daß sich die Verwissenschaftlichung auf
Schulbuchebene in ganz unterschiedlicher Weise durchsetzt. Hier
nämlich lassen sich neben der nachholenden Modernisierung erneut
patriotische und anti-aufklärerische Absichten ausmachen. 64 Die
nachlassende Ideologisierung der Geisteswissenschaft klärt eben
nicht nur die Sicht auf Rußlands Stellung zwischen Europa und Asi63
V. Ia. Petrukhin [Petruchin, Vladimir Jakovlevič], The Normans and the Khazars in
the South of Rus’ (The Formation of the “Russian Land” in the Middle Dnepr Area),
in: Russian History 19, 1992, 393-400, hier 394-396; Elena Aleksandrovna
Mel’nikova/Vladimir Jakovlevič Petruchin, Formirovanie seti rannegorodskich centrov i stanovlenie gosudarstva. (Drevnjaja Rus’ i Skandinavija), in: Istorija SSSR 5,
1986, 64-78, hier 72 f.; Elena Aleksandrovna Mel’nikova, K tipologii predgosudarstvennych i rannegosudarstvennych obrazovanij v severnoj i severo-vostočnoj Evrope. (Postanovka problemy), in: Drevnejšie gosudarstva vostočnoj Evropy: Materialy
i issledovanija. 1992 - 1993 gody. Moskau 1995, 16-33, hier 26-30; Anatolij Petrovič
Novosel’cev, “Mir istorii” ili mif istorii?, in: Voprosy Istorii 1, 1993, 23-31, hier 28 f.;
Ruslan Grigor’evič Skrynnikov, Drevnjaja Rus. Letopisnye mify i dejstvitel’nost’, in:
Voprosy Istorii 8, 1997, 3-13, hier 3 f.
64
Leonid Aleksandrovič Kacva/Andrej L’vovič Jurganov, Istorija Rossii VIII-XV vv.:
Ėksperimental’nyj učebnik dlja učaščichsja VII klassa. Moskau 1993. Nach Meinung
der Autoren sei die Normannentheorie im zarischen Rußland von monarchistischen
Historikern benutzt worden, die Geschichte der Staatsformation Rußlands und des
Westens - dort friedliche Berufung, hier blutige Eroberung - in einen Gegensatz zu
bringen; die Historizität der Gebrüder Sineus und Truvor wird abgelehnt (ebd. 21 f.).
Michail Michajlovič Gorinov/Leonid Michajlovič Ljašenko, Istorija Rossii, čast’ I. Ot
drevnej Rusi k imperatorskoj Rossii (IX-XVIII vv.). Moskau 1994. Hier wird von der
Überlegenheit der Slaven über baltische wie finno-ugrische Stämme und von ständigen Überfällen turk-tatarischer Gruppen auf die Slaven der südlichen Rus’ berichtet
(ebd. 19). Gleichfalls wird die Historizität von Sineus und Truvor abgelehnt (ebd. 20)
und man läßt die Formierung der Klassengesellschaft im 9. Jahrhundert einsetzen. Auf
biblische Schilderungen, die griechische und römische Mythologie sowie auf Legendenerzählungen (Skif, Rus, Sloven) stützt sich die Geschichtsherleitung von Vladimir
Petrovič Butromeev: Vsemirnaja istorija v licach. Istorija Rossii ot Rjurika do 1917
goda. Dlja srednego školnogo vozrasta (Ėnciklopedija školnika - Detskij Plutarch].
Moskau 1999.
28
Clio und Natio im östlichen Europa
en weiter auf, sondern belebt ebenso die Politisierung von Geschichtschreibung, die ein wesentlicher Indikator für die innere Verfassung der Gesellschaft bleibt. Denn was künftige Generationen
über Geschichte wissen sollen, muß heute in die Lehrbücher geschrieben werden. 65 Dort finden sich die Projektionsflächen, die
Auskunft über Art und Weise der angestrebten Integration geben.
Clio - die ihr Gesicht nicht verhüllen kann - ist nicht Kassandra, die
wohl weissagen, aber nicht überzeugen konnte.
Mit Blick auf die Aufteilung des gemeinsamen Geschichtserbes
stellt sich abschließend die Frage, welche Vergangenheiten zur Fundamentierung nationaler Identität in den ostslavischen Nachfolgestaaten herangezogen werden und wie die Abgrenzungen verlaufen.
Erhellende Antwort wird man dazu ohne Berücksichtigung des alten
Verortungsproblems europäisch-asiatischer Zugehörigkeit kaum erwarten dürfen. Angesprochen ist damit erneut die Stellung Rußlands
in der Weltgeschichte. 66 Denn Vergleichbarkeitserwägungen zur Zivilisationsgeschichte ergeben sich nun nicht mehr nur bezüglich der
westeuropäischen (zu verschieden), sondern gleichsam zur osteuropäischen (zu ähnlich) Entwicklungsebene und darüber hinaus zu einer Modernisierung von Russisch-Asien.
In Weißrußland und in der Ukraine wird Orientierung, wie gesehen, überwiegend in westlichen Wurzeln gesucht. Derart um einen
zentralen Raum abendländischer Gemeinsamkeiten gebracht, wird
Rußland - an den östlichen Rand von Europas Osten gedrängt und
zurückgeworfen auf seine “besondere kulturelle Welt, die ... ihre eigenen Ziele verfolgt und ihren eigenen Idealen zustrebt” 67 - tatsäch65
N. N. Razuvaeva/N. P. Marčenkova, Aktual’nye problemy prepodavanija
otečestvennoj istorii studentam neistoričeskich specialnostej, in: Otečestvennaja Istorija 5, 1997, 200-206, hier 200.
66
Hans-Heinrich Nolte, Zur Stellung Osteuropas im internationalen System der frühen
Neuzeit. Außenhandel und Sozialgeschichte bei der Bestimmung der Regionen, in:
JbbGOE 28, 1980, 161-197.
67
Dmitrij Tschizewskij/Dieter Groh, Europa und Rußland. Texte zum Problem des
westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses. Darmstadt 1959, 1. Vgl. auch
Mark Bassin, Russia between Europe and Asia: The Ideological Construction of Geographical Space, in: Slavic Rev. 50, 1991, 1-17; Elena Jur’evna Zubkova/Aleksandr
Ivanovič Kuprijanov, Vozvraščenie k “Russkoj Idee”: Krizis identičnosti i nacional’naja istorija, in: Otečestvennaja Istorija 5, 1999, 4-28, hier 5, 25 f. Nicholas J.
Lynn/Valentin Bogorov, Reimagining the Russian Idea, in: G. H. Herb, D. H. Kaplan
(Eds.), Nested Identities. Nationalism, Territory, and Scale. Lanham/Boulder/New
York/Oxford 1999, 101-122, hier 107-109.
Clio und Natio im östlichen Europa
29
lich zu entscheiden haben, “mit welcher Geschichte man die eigene in Beziehung” 68 setzt.
Was werden die Bezugspunkte, was wird die eigene Geschichte
der Föderation sein - eine russische oder eine rußländische? Es
könnte doch sein, daß der Rückbezug sich künftig mit dem Geschichtsraum der Novgoroder Rus’ und des Moskauer Staates wird
begnügen müssen. Nach dem Niedergang der akademischen Sowjetgeschichtsschreibung und der Deregulierung des Wissenschaftsbetriebs ist eine Aufsplitterung der osteuropäischen Geschichtslandschaft nach regionalen Kriterien nur folgerichtig. Es fragt sich nur,
wo deren Akzente liegen: bei einer wiederbelebten Nationalgeschichtsschreibung, die ihre gestrige Imperialbefindlichkeit in einen
Regionalpatriotismus umwandelt und “zur Individualiserung tendiert” 69 oder - wofür einiges spricht - bei einer Regionalgeschichte,
die aus den lang vernachlässigten Quellen einer polymorphen Landeskunde schöpft.
Es wären in der Tat die historischen Regionen, die zum Vergleich
und zur Neuvermesssung einladen. Doch nicht die kontinentalen
Subregionen Ostmitteleuropa, Südosteuropa, Nordosteuropa und
Rußland sind damit gemeint, die im klassischen Entwurf 70 von
Klaus Zernack das östliche Neu-Europa von jenem Raum unterscheiden, der sich diesseits der römischen Reichsgrenzen ausbreitet.
Eher handelt es sich um eine Untergliederung des eigentlichen Osteuropa in seine frühmittelalterlichen Gravitationsfelder.
Drei, vielleicht vier Teilräume rücken damit ins Blickfeld. Im
Osten ist dies das Gebiet zwischen Wald und Steppe, das sich von
Rostov und Rjazan’ trapezförmig nach Bolgar, Sarkel und Itil’ hin
öffnet. Bei diesem Grenzsaum handelt es sich um eine klassische
Kontaktzone von Stämmen ostslavischer (Vjatičen, Radimičen, Severjanen), finno-ugrischer (Merier, Mordvinen) und turk-tatarischer
(Bolgaren, Chazaren) Zugehörigkeit. Der kulturell-wirtschaftliche
68
Fikret Adanïr/Christian Lübke/Michael G. Müller/Martin Schulze-Wessel, Traditionen und Perspektiven vergleichender Forschung über die historischen Regionen Osteuropas, in: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht. (Berliner Jahrbuch für
osteuropäische Geschichte, 1.) Berlin 1996, S. 11-43, hier 21. Gorinov/Ljašenko, Istorija Rossii (wie Anm. 64), 3.
69
Adanïr/Lübke/Müller/Schulze-Wessel, Traditionen und Perspektiven (wie Anm. 68),
12; Hroch, Ethnische, regionale und nationale Identität (wie Anm. 18), 70.
70
Klaus Zernack, Osteuropa: Eine Einführung in seine Geschichte. München 1977, 31
f.
30
Clio und Natio im östlichen Europa
Austausch zwischen den verschiedenen Zivilisationen - hier nichtchristianisierte Bauern und Jäger gentiler Konföderationen, dort
kaum islamisierte Nomaden und Jäger protostaatlicher Chanate scheint für beide Seiten, ungeachtet der tributären Klientelbeziehungen, ausgesprochen vorteilhaft gewesen zu sein. Für einen herrschaftlichen Status des Rostover Landes spricht auch die Flucht des
Chazaren-Chagan, der sich im Zuge von Aufstandswirren hatte hierhin absetzen müssen und der durch die Eheschließung seiner Söhne
mit varägischen Fürstentöchtern in den 830er Jahren eine translatio
von Titel und Legitimation herbeiführte. 71
Im Südwesten schließen hieran die Kernlande der Rus’ um Kiev
und Černigov an, die bis zur Reichsbildung größere Eigenständigkeit
besaßen und stärker mit der südöstlichen Raumstruktur von Steppe,
Saltovo-Kultur und nördlichem Schwarzmeergebiet verbunden waren. Gemessen an politischen und wirtschaftlichen Perspektiven der
Gegenwart scheint man in Kiev heute gewillt, an diese Pfadabhängigkeiten anzuknüpfen - auch wenn man an die Tributpflicht der
Poljanen gegenüber den Chazaren nicht erinnert werden will. Westorientierung und Ostabgrenzung verstärken zudem einen überkommenen Autochthonismus, der die Herbeiführung der Reichseinheit
durch Oleg 882 leicht als erzwungene Vereinigung ablehnen und
dabei auf eine poljanische, d.h. ‘frühukrainische’ Staatsgründung
rekurrieren könnte. 72
So nimmt der Blick auf das Novgoroder und Pskover Land den
Norden nun vor allem in seiner Entwicklungsdivergenz wahr. Und
71
Peter B. Golden, Aspects of the Nomadic Factor in the Economic Development of
Kievan Rus’, in: I. S. Koropeckyj (Ed.), Ukrainian Economic History: Interpretive
Essays. Cambridge 1991, 58-101, hier 63 f. Gleb Sergeevič Lebedev, Rus’ Rjurika kak
ob-ekt archeologičeskogo izučenija, in: Peterburgskij Archeologičeskij Vestnik 6,
1993, 105-109, hier S. 108. Norman Golb/Omeljan Pritsak, Chazarsko-evrejskie dokumenty X veka. Naučnaja redakcija, posleslovie i kommentarii V. Ja. Petruchina.
Moskau/Jerusalem 1997, 54, 157 f. Valentin Vasil’evič Sedov, Russkij kaganat IX
veka, in: Otečestvennaja Istorija 4, 1998, 3-15, hier 8. Alexander V. Riasanovsky, The
Embassy of 838 Revisited: Some Comments in Connection with a “Normannist”
Source on Early Russian History, in: JbbGOE 10, 1962, 1-12, hier 1 f. Anm. 7 u. 8, 5,
12, bezog den Titel auf den Kiever Fürsten. Er erinnerte zudem daran, daß chacanus
als Herrscherbezeichnung noch Gang und Gäbe zu Zeiten Vladimirs war.
72
F. O. Androshchuk, The Northmen and Slavs in the Desna River Area (The Models
of Cultural Interaction in the Period of Early Middle Ages). Kyiv 1999; Gennadij
Kovalëv, Eščë raz o proischoždenii ėtnonima “Rus’”, in: Acta Baltico-Slavica 17,
1987, 131-145, hier 135 f. Skrynnikov, Drevnjaja Rus (wie Anm. 63), 4-6.
Clio und Natio im östlichen Europa
31
es erscheint sinnvoll, diese im Kontext einer die Balten, Slaven
und Finno-Ugrier integrierenden, “baltisch-subkontinentalen Zivilisation” 73 des Frühmittelalters zu erklären. In der Tat ist die besondere Prägung des nordosteuropäischen Teilraumes durch eine prägnante Siedlungs- und Herrschaftsgeschichte begründet. Wobei noch
nicht ausgemacht ist, ob Polock und Smolensk in die circumbaltische
Konzeption miteingeschlossen bleiben oder für die Legitimierung
eines weißrussischen Sonderweges zur Disposition stehen. Denn mit
Anerkennung separater Entwicklungen läßt sich die These einer aus
dem großrussischen Volke abgeleiteten Ethnogenese der Weißrussen
bzw. Ukrainer nicht mehr vertreten.
Für die in Petersburg wie Moskau gepflegte Perspektive einer Eigenständigkeit der Oberen Rus’ spricht schon die in zwei Bewegungsrichtungen verlaufene Landnahme der Ostslaven, die ja unter
beidseitiger Umgehung der Pripet’-Sümpfe im 6.-7. Jahrhundert
nach Norden sowie nach Nordosten abzogen. Während die Slovenen
im Baltikum-Ladoga-Raum aber die ansässigen Ethnien im Laufe
des 8.-9. Jahrhunderts verdrängten oder assimilierten, gerieten die
Rusinen im südöstlichen Dnepr-Raum unter turk-tatarischen Einfluß.
Dabei war die Kolonisation des russischen Nordens kein so friedliches Vordringen slavischer Ackerbauern, wie erneut behauptet. 74
Vielmehr hat man es mit einem Landnahmeprozeß zu tun, bei der die
finno-ugrischen Ethnien auch gewaltsam verdrängt bzw. unter Tribut
gebracht wurden. Eine ethnisch-sprachliche Konsolidierung der
ostslavischen Kulturgemeinschaft konnte jedenfalls erst nach Abschluß der verschiedenen Wanderphasen zur vollen Entfaltung gelangen. Sie muß im Norden nicht nur um Jahrzehnte später eingesetzt haben als in der Unteren Rus’. Durch den Migrationsverlauf
73
Torke, Geschichte Russlands (wie Anm. 1), 16. Vgl. bei Gleb Sergeevič Lebedev,
Baltijskaja subkontinental’naja civilizacija rannego srednevekov’ja, in: Tezisy dokladov X Vsesojuznoj konferencii skandinavistov, Čast’ II. Moskau 1986.
74
Kacva/Jurganov, Istorija Rossii (wie Anm. 64), 12. Vgl. dazu Carsten Goehrke,
Geographische Grundlagen der russischen Geschichte. Versuch einer Analyse des
Stellenwertes geographischer Gegebenheiten im Spiel der historischen Kräfte. Mit
zwei Karten, in: JbbGOE 18, 1970, 161-204, hier 180, 185 f. ders., Ostslavische
Landnahme, Binnenkolonisation und Herrschaftsbildung im Spiegel der Regionalgeschichte. Ein Überblick über ausgewählte neuere Literatur, in: JbbGOE 44, 1996, 8698, hier 86-90; Jürgen Udolph, Die Landnahme der Ostslaven im Lichte der Namenforschung, in: JbbGOE 29, 1981, 321-336, hier 321-323, 331, 333 und 335 (Karte).
Aleksandr Alekseevič Chlevov, Normanskaja problema v otečestvennoj istoričeskoj
nauke. St. Peterburg 1997.
32
Clio und Natio im östlichen Europa
und die gegenseitige Assimilation slavischer Stämme in einer baltisch-finnougrischen Umgebung waren auch die Prägungen unterschiedlich.
Obschon die Hauptstadt der Nördlichen Rus’ nach Verlagerung
der Rurikiden-Herrschaft auch Tribut an Kiev zu entrichten hatte,
behielt Groß-Novgorod seine besondere Stellung lange bei. Die relative Souveränität der Novgoroder ließ also “bereits für die Frühzeit
eine deutliche Rivalität zwischen den beiden Hauptstädten spüren” 75
und gab gleichermaßen zu eigenen Aufständen wie zu Unterwerfungsaktionen der Kiever Fürsten Anlaß. In Anrechnung dieser
Pfadabhängigkeiten liegt der Schluß nahe, daß die historische Landschaft der Groß-Novgoroder Veče-Republik sehr wohl den Stoff liefern könnte, aus dem künftig nationale Identität und Geschichtsmythen für Rußland geknüpft werden. Die im September 2002 mit einem Besuch Präsident Putins in Novgorod in Szene gesetzte 1140Jahrfeier des Bestehens russischer Staatlichkeit, die man mit der Berufung Rjuriks (862) und nicht mit der Einnahme Kievs (882) einsetzen läßt, spricht dafür. 76
Zusammenfassung
Fragen an die Geschichtsschreibung in Osteuropa richten sich seit
über einem Jahrzehnt scheinbar weniger an Probleme der Forschung
als an die Geschichts- und Identitätskonstruktionen, die der paradigmatische Wandel dort in die Historiographie eingeführt hat. Dabei geht es um Erzeugnisse einer Renaissance der Nationalgeschichtsschreibung, deren Wert mit wissenschaftlicher Elle oft
schwer zu ermessen, also eher als ideologischer Ausdruck postsozialistischer Nationalstaatsbildung und als das Bedürfnis der neuen
75
Hans-Joachim Torke, Novgorod, in: ders. (Hrsg.), Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution. München 1985, 263-266, hier
263. Siehe auch Evgenij Nikolaevič Nosov, Novgorodskoe (Rjurikovo) gorodišče. Leningrad 1990, 3, 170-171, 189-191; Igor’ Jakovlevič Frojanov, Mjatežnyj Novgorod:
Očerki istorii gosudarstvennosti, social’noj i političeskoj bor’by konca IX - načala
XIII stoletija. St. Peterburg 1992; Valentin Lavrent’evič Janin, U istokov novgorodskoj gosudarstvennosti, in: Otečestvennaja Istorija 6, 2000, 3-9, hier 3.
76
Andrej Riskin, Primerjat’ li koronu? Prusak predložil Putinu rol’ imperatora, in:
Nezavisimaja Gazeta, 28.6. 2001. Putin Agrees to Mark 1,140th Anniversary of Russian Statehood, in: RFE / RL Newsline 5, No. 124/1, 29 June 2001; Victor Yasmann,
Putin Looks to Historians for National Ideas, in: RFE / RL Newsline 6, No. 7/1, 11
January 2002. Andrej Riskin, A byl li Rjurik? Na Novgorodčine nadejutsja najti
mogilu legendarnogo knjazja, in: Nezavisimaja Gazeta, 17. 6. 2002.
Clio und Natio im östlichen Europa
33
Staaten aufzufassen ist, dem Mangel an nationaler Identität durch
die Beschaffung von historischer Legitimation beizukommen.
Dieser Indienststellung von Vergangenheit gebührt besondere
Aufmersamkeit, wenn die Grenzen zwischen Klitterung und Verfälschung verschwimmen und die nationale Pose - zum Nationalismus
erstarrt - ethnonational definierten Abgrenzungen Vorschub leistet,
die leicht in zwischenstaatliche Spannungen übergehen können. Eher
beiläufig sei damit auf zwei Defizite der historischen Osteuropaforschung hingewiesen: auf die Vernachlässigung einer systematischkritischen Rezeption 77 der neuen Nationalgeschichtsschreibung und
auf den Umstand, daß die Rekonstruktion von Vergangenheit kaum
unter dem Aspekt der Geschichtspolitik wahrgenommen wird, deren
Dimension sowohl die ideologischen Grundlagen wie das Instrumentarium umfaßt, mit dem sich staatliche Erinnerungskultur inszeniert. Um die Tragweite dieser Entwicklung aufzuzeigen, wurde der
Fokus hier auf den Zusammenhang von historischer Sinnstiftung und
nationalistischer Wahrnehmung gerichtet, womit zugleich Auskunft
darüber gegeben wird, warum eine beständige Analyse historiographischer Entwicklung in Osteuropa dringend geboten scheint.
77
Die Vermittlung veränderter Perspektiven, wie dies mit Einsetzen des politischen
Tauwetters Mitte der 50er Jahre noch detailliert und Ende der 70er Jahre länderspezifisch ins Werk gesetzt werden konnte, erfolgt seit den 90er Jahren nur mehr bruchstückhaft. Vgl. bei Günther Stökl, Russisches Mittelalter und sowjetische Mediaevistik. Forschungsbericht und bibliographische Übersicht, in: JbbGOE 3, 1955, 1-40,
105-122. ders., Russische Geschichte von der Entstehung des Kiever Reiches bis zum
Ende der Wirren (862-1613). Ein Literaturbericht, in: JbbGOE 6, 1958, 201-254, 468488; Georg von Rauch, Die neuere Geschichte (1500-1815) in der sowjetischen Geschichtsschreibung der Gegenwart, in: JbbGOE 3, 1955, 71-83; Cyril E. Black (Ed.),
Rewriting Russian History. Soviet Interpretations of Russia’s Past. New York 1956;
Samuel H. Baron/N. W. Heer (Eds.), Windows on the Russian Past. Essays on Soviet
Historiography since Stalin. Ohio 1977; Peter Heumos, Geschichtswissenschaft und
Politik in der Tschechoslowakei. Entwicklungstrends der zeitgeschichtlichen Forschung nach 1945, in: JbbGOE 26/4, 1978, 541-576; Hans-Joachim Hoppe, Politik
und Geschichtswissenschaft in Bulgarien 1968-1978, in: JbbGOE 28/2, 1980, 243286.

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