Romantik - Literaturwissenschaft Online

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Romantik
XII. Heinrich Heine
Heinrich Heine (1797-1856) entstammt einer jüdischen Kaufmannsfamilie, ist jedoch zum lutheranischen Christentum konvertiert. 1831 siedelt er dauerhaft nach Paris um und ist sowohl literarisch
als auch journalistisch aktiv. Seine nicht selten polemischen Schriften fußen auf frühsozialistischen
Überzeugungen, weshalb sie in Deutschland weitgehend verboten wurden.
Heine versteht sich selbst als ›entlaufener Romantiker‹,1 da er zwar romantische Stilprinzipien fortführt, romantische Stimmungen jedoch ironisch bricht. Für seine Lyrik ist insbesondere bezeichnend, dass er die Alltagssprache in die Dichtung aufnimmt und insofern entschieden für ›Moderne‹
steht.
Die romantische Schule (1856)
In diesem kulturhistorischen Werk reagiert Heine auf De l'Allemagne (1810/13) von Anne Louise
Germaine de Staël-Holstein, in dem die französische Autorin ihren Landsleuten die deutschen
Romantiker und das Weimar des frühen 19. Jahrhunderts vorstellt hat. Heines Werk ist daher ebenfalls primär an das französische Publikum gerichtet. Er setzt sich darin mit der Romantik als
›Kunstperiode‹ (im Gefolge Goethes) auseinander und interpretiert die Romantik als Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters bzw. vorreformatorischer Religiosität. Demgegenüber spricht er
sich für eine entschiedene Orientierung am Diesseits aus und spielt den frühsozialistischen ›Sensualismus‹ gegen den christlichen ›Spiritualismus‹ aus.
Die frühromantischen Autoren werden – in bewusster Ungerechtigkeit - als Marionetten der konservativen Regierungen diskreditiert. Den Brüdern Schlegel attestiert Heine dabei einen »einfältiglichen«2 Hang zum Anachronismus, während er Novalis' Liebe zur Natur verspottet und E.T.A.
Hoffmanns Werk als einen »entsetzliche[n] Angstschrei in zwanzig Bänden« 3 bezeichnet.
1
2
3
Vgl. Heinrich Heine: Geständnisse. In: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, herausgegeben von Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. Band 15: Geständnisse / Memoiren / kleinere autobiographische Schriften. Bearbeitet
von Gerd Heinemann. Hamburg 1982, S. 9-57, hier S. 13.
Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, herausgegeben von Manfred
Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. Band 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland / Die romantische Schule. Text, bearbeitet von Manfred Windfuhr. Hamburg 1979, S. 121-249, hier S. 138.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 192f.
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XII. Heinrich Heine
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Zitate
Heinrich Heine: Das Fräulein am Meere (1844)
»Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! seyn Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.«4
Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1852)
»[…] das alte, offizielle Deutschland, das verschimmelte Philisterland […]«5
Der Apollogott (1851)
I
»Das Kloster ist hoch auf Felsen gebaut,
Der Rhein vorüberrauschet;
Wohl durch das Gitterfenster schaut
Die junge Nonne und lauschet.
Da fährt ein Schifflein, märchenhaft
Vom Abendrot beglänzet;
Es ist bewimpelt von buntem Taft,
Von Lorbeern und Blumen bekränzet.
Ein schöner blondgelockter Fant
Steht in des Schiffes Mitte;
Sein goldgesticktes Purpurgewand
Ist von antikem Schnitte.
Zu seinen Füßen liegen da
Neun marmorschöne Weiber;
Die hochgeschürzte Tunika
Umschließt die schlanken Leiber.
Der Goldgelockte lieblich singt
Und spielt dazu die Leier;
Ins Herz der armen Nonne dringt
Das Lied und brennt wie Feuer. […]«6
II
»Ich bin der Gott der Musika,
Verehrt in allen Landen;
Mein Tempel hat in Gräcia
Auf Mont-Parnaß gestanden.
4
5
6
Heinrich Heine: Neue Gedichte. Verschiedene – Seraphine. In: Heinrich Heine: Sekulärausgabe. Bd. 2: Gedichte 1827-1844 und Versepen.
Hg. Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin / Paris 1979, S. 26-67, hier S. 30.
Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Vorrede zur zweiten Auflage. In: Heinrich Heine: Sekulärausgabe. Bd. 8: Über Deutschland 1833-1836. Aufsätze über Kunst und Philosophie. Hg. Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National
de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin / Paris 1972, S. 126-130, hier S. 126.
Heinrich Heine: Der Apollogott. In: Heinrich Heine: Sekulärausgabe. Bd. 3: Gedichte 1845-1856. Hg. Stiftung Weimarer Klassik und dem
Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin / Paris 1986, S. 26-30, hier S. 26.
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Auf Mont-Parnaß in Gräcia,
Da hab ich oft gesessen
Am holden Quell Kastalia,
Im Schatten der Zypressen.
[…]
Ich sang - und wie Ambrosia
Wohlrüche sich ergossen,
Es war von einer Gloria
Die ganze Welt umflossen.
Wohl tausend Jahr' aus Gräcia
Bin ich verbannt, vertrieben Doch ist mein Herz in Gräcia,
In Gräcia geblieben.«7
»Ob ich ihn gesehen habe?
Ja, ich habe ihn gesehen
Oft genug zu Amsterdam,
In der deutschen Synagoge.
Denn er war Vorsänger dorten,
Und da hieß er Rabbi Faibisch,
Was auf Hochdeutsch heißt Apollo Doch mein Abgott ist er nicht.
[…]
Aus dem Amsterdamer Spielhuis
Zog er jüngst etwelche Dirnen,
Und mit diesen Musen zieht er
Jetzt herum als ein Apollo.
Eine dicke ist darunter,
Die vorzüglich quiekt und grünzelt;
Ob dem großen Lorbeerkopfputz
Nennt man sie die grüne Sau.«8
Nachtgedanken (1843)
»Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Thränen fließen.
Die Jahre kommen und vergehn!
Seit ich die Mutter nicht gesehn,
Zwölf Jahre sind schon hingegangen;
Es wächst mein Sehnen und Verlangen.
[…]
Gottlob! durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen,
Und lächelt fort die deutschen Sorgen.«9
7
8
9
Heinrich Heine: Der Apollogott, S. 27.
Heinrich Heine: Der Apollogott, S. 29.
Heinrich Heine: Nachtgedanken. In: Heinrich Heine: Sekulärausgabe. Bd. 2: Gedichte 1827-1844 und Versepen. Hg. Stiftung Weimarer
Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin / Paris 1979, S. 117f.
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Heimkehr, XLVI (1827)
»Herz, mein Herz, sei nicht beklommen,
Und ertrage dein Geschick,
Neuer Frühling gibt zurück,
Was der Winter dir genommen.
Und wie viel ist dir geblieben!
Und wie schön ist noch die Welt!
Und, mein Herz, was dir gefällt,
Alles, alles darfst du lieben!«10
Lorelei (1824)
»Ich weiss nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl, und es dunkelt,
Und ruhig fliesst der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldenes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lorelei getan.«11
Clemens Brentano: Titel (18??)
»Zu Bacharach am Rheine
Wohnt eine Zauberin,
Sie war so schön und feine
10
11
Heinrich Heine: Buch der Lieder. Die Heimkehr. In: Heinrich Heine: Sekulärausgabe. Bd. 1: Gedichte 1812-1827. Hg. Stiftung Weimarer
Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin / Paris 1979, S. 114.
Heinrich Heine: Buch der Lieder. Die Heimkehr, S. 92f.
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Und riß viel Herzen hin.
Und brachte viel zuschanden
Der Männer rings umher,
Aus ihren Liebesbanden
War keine Rettung mehr.
[…]«12
Heinrich Heine: Geständnisse (1854)
»Ein geistreicher Franzose – vor einigen Jahren hätten diese Worte einen Pleonasmus gebildet –
nannte mich einst einen romantique défroqué. Ich hege eine Schwäche für alles was Geist ist, und
so boshaft die Benennung war, hat sie mich dennoch höchlich ergötzt. Sie ist treffend. Trotz meiner
exterminatorischen Feldzüge gegen die Romantik, blieb ich doch selbst immer ein Romantiker, und
ich war es in einem höhern Grade, als ich selbst ahnte. Nachdem ich dem Sinne für romantische
Poesie in Deutschland die tödlichsten Schläge beigebracht, beschlich mich selbst wieder eine unendliche Sehnsucht nach der blauen Blume im Traumlande der Romantik, und ich ergriff die bezauberte Laute und sang ein Lied, worin ich mich allen holdseligen Übertreibungen, aller Mondscheintrunkenheit, allem blühenden Nachtigallen-wahnsinn der einst so geliebten Weise hingab. Ich
weiß, es war ›das letzte freie Waldlied der Romantik‹, und ich bin ihr letzter Dichter: mit mir ist die
alte lyrische Schule der Deutschen geschlossen, während zugleich die neue Schule, die moderne
deutsche Lyrik, von mir eröffnet ward.«13
Die Fensterschau (1827)
»Der bleiche Heinrich ging vorbei,
Schön Hedwig lag am Fenster.
Sie sprach halblaut: Gott steh mir bei,
Der unten schaut bleich wie Gespenster!
Der unten erhebt sein Aug in die Höh,
Hinschmachtend nach Hedewigs Fenster.
Schön Hedwig ergriff es wie Liebesweh,
Auch sie ward bleich wie Gespenster.
Schön Hedwig stand nun mit Liebesharm
Tagtäglich lauernd am Fenster.
Bald aber lag sie in Heinrichs Arm,
Allnächtlich zur Zeit der Gespenster.«14
Die schlesischen Weber (1844)
»Im düstern Auge keine Thräne,
sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne;
Deutschland, wir weben dein Leichentuch.
Wir weben hinein den dreyfachen Fluch –
Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
[…]
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
[…]
12
13
14
Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1: Gedichte 1784-1801. Hg. Bernhard Gajek. Stuttgart 2007, S. 165-169, hier S. 165.
Heinrich Heine: Geständnisse, S. 13.
Heinrich Heine: Buch der Lieder. Die Heimkehr, S. 49.
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Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
[…]
Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht –
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreyfachen Fluch,
Wir weben, wir weben!«15
Die Harzreise (1826)
»Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover, und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen
Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller, wo das Bier sehr gut ist. […]
Die Stadt selbst ist schön, und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht. […]
Im allgemeinen werden die Bewohner Göttingens eingeteilt in Studenten, Professoren, Philister und
Vieh, welche vier Stände doch nichts weniger als streng geschieden sind. Der Viehstand ist der bedeutendste.«16
Deutschland. Ein Wintermärchen (1844)
Caput 1
»Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.
Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.
Und als ich die deutsche Sprache vernahm,
Da ward mir seltsam zumute;
Ich meinte nicht anders, als ob das Herz
Recht angenehm verblute.
Ein kleines Harfenmädchen sang.
Sie sang mit wahrem Gefühle
Und falscher Stimme, doch ward ich sehr
Gerühret von ihrem Spiele.
Sie sang von Liebe und Liebesgram,
Aufopfrung und Wiederfinden
Dort oben, in jener besseren Welt,
Wo alle Leiden schwinden.
Sie sang vom irdischen Jammertal,
Von Freuden, die bald zerronnen,
Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt
Verklärt in ew'gen Wonnen.
Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
15
16
Heinrich Heine: Die schlesischen Weber. In: Heinrich Heine: Sekulärausgabe. Bd. 2: Gedichte 1827-1844 und Versepen. Hg. Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Berlin / Paris 1979, S. 137.
Heinrich Heine: Die Harzreise. In: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, herausgegeben von Manfred Windfuhr
im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. Band 6: Briefe aus Berlin / Über Polen / Reisebilder I/II. Bearbeitet von Jost Hermand.
Hamburg 1973, S. 81-138, hier S. 83.
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Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wollen auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben;
Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
Was fleißige Hände erwarben.
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.
Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,
So wollen wir euch besuchen
Dort oben, und wir, wir essen mit euch
Die seligsten Torten und Kuchen.
Ein neues Lied, ein besseres Lied!
Es klingt wie Flöten und Geigen!
Das Miserere ist vorbei,
Die Sterbeglocken schweigen.
Die Jungfer Europa ist verlobt
Mit dem schönen Geniusse
Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,
Sie schwelgen im ersten Kusse.
Und fehlt der Pfaffensegen dabei,
Die Ehe wird gültig nicht minder Es lebe Bräutigam und Braut,
Und ihre zukünftigen Kinder!
Ein Hochzeitkarmen ist mein Lied,
Das bessere, das neue!
In meiner Seele gehen auf
Die Sterne der höchsten Weihe Begeisterte Sterne, sie lodern wild,
Zerfließen in Flammenbächen Ich fühle mich wunderbar erstarkt,
Ich könnte Eichen zerbrechen!
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Seit ich auf deutsche Erde trat,
Durchströmen mich Zaubersäfte Der Riese hat wieder die Mutter berührt,
Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.«17
Die Romantische Schule (1956)
»Die meisten glauben, mit dem Tode Goethes beginne in Deutschland eine neue literarische Periode, mit ihm sei auch das alte Deutschland zu Grabe gegangen, die aristokratische Zeit der Literatur
sei zu Ende, die demokratische beginne [...].«18
»Frau von Staëls Werk De l’Allemagne ist die einzige umfassende Kunde, welche die Franzosen
über das geistige Leben Deutschlands erhalten haben. Und doch ist, seitdem dieses Buch erschienen, ein großer Zeitraum verflossen, und eine ganz neue Literatur hat sich unterdessen in Deutschland entfaltet. Ist es nur eine Übergangsliteratur? Hat sie schon ihre Blüte erreicht? Ist sie bereits
abgewelkt? Hierüber sind die Meinungen geteilt.« 19
»Die Endschaft der ›goetheschen Kunstperiode‹, mit welchem Namen ich diese Periode zuerst bezeichnete, habe ich jedoch schon seit vielen Jahren vorausgesagt. Ich hatte gut prophezeien! Ich
kannte sehr gut die Mittel und Wege jener Unzufriedenen, die dem goetheschen Kunstreich ein Ende machen wollten, und in den damaligen Emeuten gegen Goethe will man sogar mich selbst gesehen haben. Nun Goethe tot ist, bemächtigt sich meiner darob ein wunderbarer Schmerz.« 20
»Was aber war die romantische Schule in Deutschland? Sie war nichts anders als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, wie sie sich in dessen Liedern, Bild- und Bauwerken, in Kunst
und Leben manifestiert hatte. Diese Poesie aber war aus dem Christentume hervorgegangen, sie war
eine Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen.«21
»Die Menschen haben jetzt das Wesen dieser Religion erkannt, sie lassen sich nicht mehr mit Anweisungen auf den Himmel abspeisen, sie wissen, daß auch die Materie ihr Gutes hat und nicht
ganz des Teufels ist, und sie vindizieren jetzt die Genüsse der Erde, dieses schönen Gottesgartens,
unseres unveräußerlichen Erbteils.«22
»Jener Spiritualismus wirkte heilsam auf die übergesunden Völker des Nordens; die allzu vollblütigen barbarischen Leiber wurden christlich vergeistigt; es begann die europäische Zivilisation. Das
ist eine preiswürdige, heilige Seite des Christentums. Die katholische Kirche erwarb sich in dieser
Hinsicht die größten Ansprüche auf unsre Verehrung und Bewunderung. Sie hat, durch große geniale Institutionen, die Bestialität der nordischen Barbaren zu zähmen und die brutale Materie zu bewältigen gewußt.«23
»Die Maler Italiens polemisierten gegen das Pfaffentum vielleicht weit wirksamer als die sächsischen Theologen. Das blühende Fleisch auf den Gemälden des Tizian, das ist alles Protestantismus.
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Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, herausgegeben von
Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. Band 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland /
Die romantische Schule. Text, bearbeitet von Manfred Windfuhr. Hamburg 1979, S. 89-157, hier S. 91ff.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 125.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 125.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 125.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 126.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 127.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 128.
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Die Lenden seiner Venus sind viel gründlichere Thesen als die, welche der deutsche Mönch an die
Kirchentüre von Wittenberg angeklebt.«24
»Es war damals, als hätten die Menschen sich plötzlich erlöst gefühlt von tausendjährigem Zwang;
besonders die Künstler atmeten wieder frei, als ihnen der Alp des Christentums von der Brust gewälzt schien; enthusiastisch stürzten sie sich in das Meer griechischer Heiterkeit, aus dessen
Schaum ihnen wieder die Schönheitsgöttinnen entgegentauchten; die Maler malten wieder die ambrosische Freude des Olymps; […] es entstand die Periode der neu-klassischen Poesie.« 25
»In der Polemik, in jenem Aufdecken der artistischen Mängel und Gebrechen, waren die Herren
Schlegel durchaus die Nachahmer des alten Lessings, sie bemächtigten sich seines großen Schlachtschwerts; nur war der Arm des Herren August Wilhelm Schlegel viel zu zart schwächlich und das
Auge seines Bruders Friedrich viel zu mystisch umwölkt, als daß jener so stark und dieser so
scharftreffend zuschlagen konnte wie Lessing.« 26
»Unsere Poesie, sagten die Herren Schlegel, ist alt, unsere Muse ist ein altes Weib mit einem Spinnrocken, unser Amor ist kein blonder Knabe, sondern ein verschrumpfter Zwerg mit grauen Haaren,
unsere Gefühle sind abgewelkt, unsere Phantasie ist verdorrt: wir müssen uns erfrischen, wir müssen die verschütteten Quellen der naiven, einfältiglichen Poesie des Mittelalters wieder aufsuchen,
da sprudelt uns entgegen der Trank der Verjüngung.« 27
»In der Periode, wo dieser Kampf vorbereitet wurde, mußte eine Schule, die dem französischen
Wesen feindlich gesinnt war und alles deutsch Volkstümliche in Kunst und Leben hervorrühmte, ihr
trefflichstes Gedeihen finden. Die romantische Schule ging damals Hand in Hand mit dem Streben
der Regierungen und der geheimen Gesellschaften, und Herr A. W. Schlegel konspirierte gegen
Racine zu demselben Ziel, wie der Minister Stein gegen Napoleon konspirierte.« 28
»Die [romantische] Schule schwamm mit dem Strom der Zeit, nämlich mit dem Strom, der nach
seiner Quelle zurückströmte. [...] Napoleon, der große Klassiker, der so klassisch wie Alexander
und Cäsar, stürzte zu Boden, und die Herren August Wilhelm und Friedrich Schlegel, die kleinen
Romantiker, die ebenso romantisch wie das Däumchen und der gestiefelte Kater, erhoben sich als
Sieger.« 29
»Wenn man nun sah, wie diese jungen Leute vor der römisch katholischen Kirche gleichsam Queue
machten und sich in den alten Geisteskerker wieder hinein-drängten, aus welchem ihre Väter sich
mit so vieler Kraft befreit hatten: da schüttelte man in Deutschland sehr bedenklich den Kopf. Als
man aber entdeckte, daß eine Propaganda von Pfaffen und Junkern, die sich gegen die religiöse und
politische Freiheit Europas verschworen, die Hand im Spiele hatte, daß es eigentlich der Jesuitismus
war, welcher, mit den süßen Tönen der Romantik, die deutsche Jugend so verderblich zu locken
wußte wie einst der fabelhafte Rattenfänger die Kinder von Hameln: da entstand großer Unmut und
auflodernder Zorn unter den Freunden der Geistesfreiheit und des Protestantismus in Deutschland.«
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Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 134.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 134.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 137.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 138.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 141.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 141.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 143.
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»Wurde nun die romantische Schule durch die Enthüllung der katholischen Umtriebe in der öffentlichen Meinung zugrunde gerichtet, so erlitt sie gleichzeitig in ihrem eigenen Tempel einen vernichtenden Einspruch, und zwar aus dem Munde eines jener Götter, die sie selbst dort aufgestellt. Nämlich Wolfgang Goethe trat von seinem Postamente herab und sprach das Verdammnisurteil über die
Herren Schlegel, über dieselben Oberpriester, die ihn mit so viel Weihrauch umduftet. Diese Stimme vernichtete den ganzen Spuk; die Gespenster des Mittelalters entflohen; die Eulen verkrochen
sich wieder in die obskuren Burgtrümmer; die Raben flatterten wieder nach ihren alten Kirchtürmen; Friedrich Schlegel ging nach Wien, wo er täglich Messe hörte und gebratene Hähndel aß; Herr
August Wilhelm Schlegel zog sich zurück in die Pagode des Brahma.« 31
»Offengestanden, Goethe hat damals eine sehr zweideutige Rolle gespielt, und man kann ihn nicht
unbedingt loben.« 32
»[Die Goetheaner betrachten] die Kunst als eine unabhängige zweite Welt, die sie hochstellen, daß
alles Treiben der Menschen, ihre Religion und ihre Moral, wechselnd und wandelbar, unter ihr hin
sich bewegt. Ich kann aber dieser Ansicht nicht unbedingt huldigen; die Goetheaner ließen sich
dadurch verleiten, die Kunst selbst als das Höchste zu proklamieren und vor den Ansprüchen jener
ersten wirklichen Welt, welcher doch der Vorrang gebührt, sich abzuwenden.
Schiller hat sich jener ersten Welt viel bestimmter angeschlossen als Goethe, und wir müssen ihn in
dieser Hinsicht loben.
Freilich, auch Goethe besang einige große Emanzipationsgeschichten, aber er besang sie als Artist.
[Goethes Meisterwerke] zieren unser teueres Vaterland, wie schöne Statuen einen Garten zieren,
aber es sind Statuen. Man kann sich darin verlieben, aber sie sind unfruchtbar: die Goetheschen
Dichtungen bringen nicht die Tat hervor wie die Schillerschen.« 33
»Novalis sah überall nur Wunder und liebliche Wunder; er belauschte das Gespräch der Pflanzen, er
wußte das Geheimnis jeder jungen Rose, er identifizierte sich endlich mit der ganzen Natur, und als
es Herbst wurde und die Blätter abfielen, da starb er.
Hoffmann hingegen sah überall nur Gespenster, sie nickten ihm entgegen aus jeder chinesischen
Teekanne und jeder Berliner Perücke; er war ein Zauberer, der die Menschen in Bestien verwandelte und diese sogar in königlich preußische Hofräte; er konnte die Toten aus den Gräbern hervorrufen, aber das Leben selbst stieß ihn von sich als einen trüben Spuk. Das fühlte er; er fühlte, daß er
selbst ein Gespenst geworden; die ganze Natur war ihm jetzt ein mißgeschliffener Spiegel, worin er,
tausendfältig verzerrt, nur seine eigne Totenlarve erblickte; und seine Werke sind nichts anders als
ein entsetzlicher Angstschrei in zwanzig Bänden.« 34
»In dem Wort ›Gespenst‹ liegt so viel Einsames, Mürrisches, Deutsches, Schweigendes, und in dem
Worte ›Französisch‹ liegt hingegen so viel Geselliges, Artiges, Französisches, Schwatzendes! Wie
könnte ein Franzose ein Gespenst sein […]!«35
»Aber der Tod ist nicht poetischer als das Leben.« 36
Doktrin (1844)
»Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,
Und küsse die Marketenderin!
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Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 148.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 148.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 153.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 192f.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 214.
Heinrich Heine: Die romantische Schule, S. 170.
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Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.
Trommle die Leute aus dem Schlaf,
Trommle Reveille mit Jugendkraft,
Marschiere trommelnd immer voran,
Das ist die ganze Wissenschaft.
Das ist die Hegelsche Philosophie,
Das ist der Bücher tiefster Sinn!
Ich hab sie begriffen, weil ich gescheit,
Und weil ich ein guter Tambour bin.«37
37
Heinrich Heine: Doktrin. In: Heinrich Heine: Sekulärausgabe. Bd. 2: Gedichte 1827-1844 und Versepen. Hg. Stiftung Weimarer Klassik und
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