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Henrich, Günther S.: Rezension über: Walter Puchner,
Hellenophones Theater im Osmanischen Reich (1600-1923). Zur
Geschichte und Geographie einer geduldeten Tätigkeit, Münster:
Lit, 2012, in: Südost-Forschungen, 72 (2013), S. 646-652,
http://recensio.net/r/652250541e2945d68276573f9ca776c9
First published: Südost-Forschungen, 72 (2013)
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Literatur- und Theaterwissenschaft
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erfreut und nicht ermüden lässt. Turcica gloriosa.
Athen, Wien
Wa l t e r Pu c h n e r
  Dieser ist bekannt durch sein Buch: Bertrand Michael Buchmann, Türkenlieder. Zu den Türkenkriegen und besonders zur zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683. Wien, Köln, Weimar 1983.
1
Walter Puchner, Hellenophones Theater im Osmanischen Reich (1600-1923). Zur
Geschichte und Geographie einer geduldeten Tätigkeit. Wien, Berlin, Münster: LITVerlag 2012. VIII, 235 S., ISBN 978-3-643-50447-0, € 24,90
Der dem Andenken des türkischen Literaturhistorikers Metin And gewidmete, gefällig
aufgemachte Band umfasst Prolog, Einleitung, 7 Kapitel, Zusammenfassung, fortlaufend
angeordnete Abbildungen (mit Bildnachweis), Bibliographie und ein dreigeteiltes Register
(Personen-, Titel-, Ortsregister).
In der Einleitung (3-7) richtet Puchner nach Feststellung des grundsätzlichen islamischen
Darstellungsverbots das Augenmerk besonders auf seine Entdeckung des griechischsprachigen Ordenstheaters der Jesuiten in der Ägäis (1600-1750) und die Dokumentation des
griechischen Theaters in Konstantinopel im 19. Jh. Zusammen mit der Untersuchung des
vorrevolutionären Theaters unter den Phanarioten in Bukarest und Jassy ergebe dies eine
andere historische Dynamik als die in der Theatergeschichte des Osmanenreichs bisher
bekannte, u. a. von And erforschte, die erst mit dem armenischen Theater in Konstantinopel
um 1860 einsetzt. Doch könne auch die hier festgestellte Dynamik ohne Berücksichtigung
der Entwicklung am Nordufer des Schwarzen Meeres nicht adäquat erfasst werden. Mit
Recht wird auf das methodische Versagen der lediglich nationalstaatlichen Theatergeschichtsschreibung in diesem ganzen, auch die Griechen betreffenden Raum hingewiesen sowie
darauf, dass bis ca. 1900 Konstantinopel, Smyrna, Hermupolis und Alexandria wichtigere
Zentren des griechischen Theaters waren als Athen. Künftige Arbeiten müssten auf diese
neuen Gesichtspunkte noch stärker eingehen.
In Kapitel 1, „Ordenstheater der Gegenreformation und barockes Schulspiel (Konstantinopel, Chios, Naxos)“ (9-30), wird das hauptsächlich jesuitische Schultheater von ca.
1580 (griechische Rezitationen im Kolleg des Hl. Athanasios zu Rom) bis etwa zur Mitte
des 18. Jh. im Ägäisraum und in Konstantinopel behandelt. Aus Chios sind sieben religiöse
Dramen des 17. und frühen 18. Jh. erhalten und zumeist von Puchner selbst publiziert,
darunter auch solche orthodoxer Autoren wie des bedeutenden Michael Vestarchis († 1662).
Auf Naxos sahen sich sogar türkische Beamte die Aufführungen an.
In Kapitel 2, „Klerikale und weltliche Dialogsatiren im phanariotischen Bereich“ (3140), weist Puchner auf 14 solcher griechischen Satiren aus der Zeit von 1692 bis 1820 (z. T.
Prosa, z. T. in Versform) hin und skizziert deren Inhalt. Nur wenige davon sind anonym, die
Verfasserschaft zweier ist umstritten. Acht von ihnen nehmen direkt Bezug auf Bukarest,
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zwei auf Konstantinopel. Der bekannteste Autor war Georgios Sutsos (mit 4 Stücken).
Der Verfasser charakterisiert diese Originalsatiren in Dramenform als „Pegelmesser für den
sukzessiven Wiedergewinn einer gewissen Theaternähe im 18. Jahrhundert“ (40).
Kapitel 3 handelt von der „Rezeption von Spätaufklärung, Rokoko, Sentimentalismus
und Frühromantik in den Dramenübersetzungen des 18. Jahrhunderts“ (41-56). Aufführungen griechischer Übersetzungen französischer und italienischer Dramen drängten solche
in den Originalsprachen langsam zurück; in phanariotischen Kreisen wurde freilich viel
mehr übersetzt als aufgeführt. Druckorte außerhalb des Osmanenreichs waren Venedig
und Wien, letzteres war von ca. 1780 bis 1820 ein wichtiger Umschlagplatz aufklärerischen
Gedankenguts für den Südosten. Von den 14 griechischen Molière-Übersetzungen ab
1740 sind nur die spätesten, von „Tartuffe“ und „Avare“, gedruckt worden (Wien 1815,
1816). Im 18. Jh. wurden 11 Metastasio-Übertragungen ediert, ausschlaggebend für die
Theaterpraxis im 19. Jh. sollten aber die vielen Übersetzungen von Komödien Goldonis
werden. Kostas Kokkinakis übertrug und edierte 1801 in Wien gleich 4 Kotzebue-Stücke,
die erste Theateraufführung auf dem griechischen Festland (Ambelakia 1803) brachte
davon „Menschenhass und Reue“. 1813/1814 übersetzte Ioannis Papadopulos, derselbe,
der 1818 in Jena die erste griechischsprachige Goethe-Übertragung („Iphigenie auf Tauris“
in Prosa) veröffentlichte, in Bukarest noch Kotzebues „Quäker“. Um 1790 war Lessings
„Philotas“ übersetzt worden.
Kapitel 4 widmet sich dem „Polit-Theater der nationalen Erhebung (Bukarest, Jassy,
Odessa, Konstantinopel, Argos) und seine[r] Fortsetzung nach der Revolution (Hermupolis,
Samos, Athen, patriotisches Drama)“ (57-81). Die Autonomie der phanariotischen Fürstentümer förderte dort eine am aufklärerischen Bildungsideal orientierte neue Theaterentwicklung. Nach Aufführungen westlicher Wandertruppen ab Ende des 18. Jh. datieren die
ersten griechischen Schülervorstellungen in Bukarest (Szenen aus Homer und den Tragikern)
erst von 1816/1817. Ein nationalgriechisches Polittheater entstand: Man spielte Übersetzungen Voltaires („La mort de César“, „Brutus“) und von Metastasios „Temistocle“, aber
auch Originale von Iakōbos Rizos Nerulos und Athanasios Christopulos. 1821 wurde die
Entwicklung unterbrochen. In Jassy gab es schon 1805 eine Vorstellung von Christopulos’
„Achilleus“, 1809 von Aischylos’ „Persern“ („Perser“: Chiffre für Türken). 1814 bildeten
sich Laientruppen an 3 Gymnasien. Auch Odessa mit seiner starken griechischen Kolonie
und der Filiki Etaireia wurde zu einem Zentrum des nationalen Polittheaters (ab 1814 gab
es dort Laienaufführungen der Übersetzung des „Temistocle“ sowie der anonymen Originale
„Leonidas bei den Thermopylen“ und „Suliotes“). 1818 wurde dort die erste neugriechische
Übertragung einer antiken Tragödie, Sophokles’ „Philoktet“, gespielt, die Nikolaos Pikkolos
angefertigt hatte. Es folgten dessen Original „Tod des Demosthenes“ sowie das Manifest
der Revolution, Georgios Lassanis’ „Hellas“. Mehrere Theaterleute aus Bukarest, Jassy und
Odessa fallen 1821 bei den Kämpfen. In Konstantinopel mussten die ab 1820 bezeugten
Laienaufführungen geheim bleiben; dennoch zeigten Schüler der Griechenstadt Kydonies/
Ayvalιk auch dort Ausschnitte antiker Tragödien, u. a. der „Perser“. Schon während des
Aufstands begann sich das neutrale Hermupolis zum ersten Mittelpunkt des Theaters in
Griechenland zu entwickeln; Puchner verzeichnet dort 4 vor 1830 aufgeführte patriotische
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Originaltragödien. Für Samos kann er von 1830 bis 1834 Theateransätze nachweisen, danach
emigrierten die dortigen Theateraktivisten ins griechische Königreich.
Kapitel 5, das bei Weitem längste und am stärksten untergliederte Kapitel mit enormer
Stofffülle, behandelt „Das lange 19. Jahrhundert der Sultansreformen“ (83-159).
a) Konstantinopel: Nach dem Tanzimat (1839) traten italienische, französische, armenische und griechische professionelle Truppen in der Hauptstadt auf. Letztere kamen, erstmals 1858, zumeist aus Athen und benutzten Konstantinopel, wo sie oft eine volle Saison
spielten, als wichtigste Station ausgedehnter Tourneen. Es entwickelte sich ein blühendes
Theaterleben, das nach Puchner, der die griechische Presse der Stadt auswertet, dasjenige
Athens in den Schatten stellte. Von der Originaldramatik der klassizistischen Romantik
war das meiste in Konstantinopel vertreten. Auf patriotische Stücke musste man zwar
weitgehend verzichten, doch konnten Alexandros Stamatiadis’ „Versklavtes Chios“ und 3
Tragödien von Za(m)belios gespielt werden. Es folgten Stücke von Dimitrios Vernardakis,
u. a. „Maria Doxapatri“, und Spiridon Vasileiadis’ bedeutende „Galateia“ (alle Stücke wurden
oft wiederholt). Übersetzte Modeautoren der Pièce bien faite waren vertreten, noch stärker
Originalkomödien wie „Die Hochzeit des Kutrulis“ von Alexandros Rizos Rangavis, Dimitrios K. Vyzantios’ „Babylonia“ und Dimosthenis Misitzis’ „Schwindler“. Eine Besonderheit
bildeten einaktige Komödien am Schluss der Vorstellung, meist Übersetzungen aus dem
Französischen, daneben das von Angelos Vlachos übertragene Kotzebue-Stückchen „Die
Zerstreuten“. Originalproduktionen solcher Einakter erfreuten sich gleicher Beliebtheit,
ihr Prototyp war Vlachos’ „Krämerstochter“. Ab 1889 hatte das Vaudeville/Kom(e)idyllion
(provinzrealistische Singspiel) durchschlagenden Erfolg und hielt sich bis ins 20. Jh. – auch
in Griechenland. Dessen Prototyp, Dimitrios Koromilas’ „Marulas Glück“, wurde bis 1900
59mal gespielt. Es gab auch konstantinopolitanische Lokalvaudevilles. Melodramen, etwa
Spyridon Peresiadis’ „Golfo“, und realistische Dramatik erschienen zum Jahrhundertende;
unter Letzterer waren auch Übersetzungen von Sudermanns „Die Ehre“ und „Heimat“
sowie Ibsens „Gespenstern“. Die Stadt wies außerdem ein blühendes Laienspielwesen der
Griechen auf, das im 19. Jh. von je einem Dutzend Theatergruppen und Kulturvereinen
getragen wurde. Es wurden 11 zentrale und über 20 Vorstadttheater bespielt. Die Politik
der türkischen Zensur war uneinheitlich.
b) Smyrna: Von dort stammte Konstantinos Oikonomos, dessen Übersetzung des „Geizigen“ 1816 in Wien herauskam. Von größter Bedeutung war die Stadt bis zum Exodus 1922
als Druckort von 194 Dramenübertragungen und -originalen. Der Druck der Letzteren
begann 1833 mit „Hektors Tod“ des Chioten Argyrios Karavas, und viele ältere Werke
erlebten Neuauflagen. Laienvorstellungen fanden ab 1845 statt; professionelle Ensembles,
von denen Puchner mehrere ausführlich vorstellt, erschienen ab 1866 und brachten in
etwa den Spielplan Konstantinopels. Um 1890 gewann auch hier das Kom(e)idyllion die
Oberhand. Nach dem Krieg von 1897 kamen neue Ensembles, u. a. Christomanos’ Nea
Skini, am Anfang des 20. Jh. auch Athener Operettentruppen, die außer Verdi griech. Opern
wie Spyridon Xyndas’ „Parlamentskandidaten“ spielten. 1909 hielten Operette und Revue,
die in Smyrna sogar eigene Autoren hatten, Einzug. Die Blockade während des Weltkriegs
förderte die Konsolidierung einheimischer Theaterkräfte, und die dreijährige griechische
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Herrschaft ab 1919 führte noch zu einer kurzen Blüte. Puchner nennt hier 10 Theater, das
älteste war 1841 gegründet worden.
c) Alexandria: Die Autonomie von der Hohen Pforte erleichterte in Ägypten die Entstehung und Entwicklung eines italienischen und griechischen Theaterlebens. Die älteste hellenische Gemeinde wurde 1843 in Alexandria gegründet, wo 1864 griechisches Berufstheater
einsetzte. Puchner verzeichnet die Namen der Truppen und die Auftritte der ersten griechischen Primadonnen dort (Pipina Vonasera, Aikaterini Veroni, Evangelia Paraskevopulu). Das
Theater „Zizania“ wurde Mittelpunkt der Aufführungen, u. a. der „Antigone“-Übersetzung
von Alexandros Rizos Rangavis, von Vernardakis’ „Merope“ und Za(m)belios’ „Georgios
Kastriotis“. Patriotische Themen unterlagen hier keinerlei Zensur, und viele Griechen sahen
den Besuch griechischer Vorstellungen als patriotische Pflicht an. Ab den 1990er Jahren
erweiterten auch in Alexandria Kom(e)idyllia, Melodramen und romantische Zugstücke
französischer Art die Repertoires; Ibsens „Gespenster“ markierten 1896 das Einsetzen der
Moderne. Puchner führt nicht weniger als 12 Theater in Alexandria an. Im Gegensatz zu
Konstantinopel blieb der ägyptische Hafen auch in der Zwischenkriegszeit – und bis zu
Nassers Revolution (1952) – ein wichtiger Standort griechischen Theaters. 1939 wurde ein
einheimisches griechisches Ensemble, sogar mit Schauspielschule, gegründet.
d) Die Städte des Balkans: Hier steht Bukarest im Vordergrund. In den 11 griechischen
Schulen der Stadt begann um 1830 wieder bescheidenes Laienspiel, aus dem aber auch
die ersten rumänischen Schauspieler hervorgehen sollten. Konstantinos K. Aristias führte
Voltaires „Brutus“ und „Semiramis“ sowie Alfieris „Oreste“ auf Griechisch auf, was weitere Übersetzungen hervorrief; fast alle rumänischen Dramenübertragungen erfolgten aus
dem Griechischen. Nach der Vereinigung von Moldau und Walachei (1859) setzt auch
die hellenische patriotische Dramatik wieder ein. Mit der Bildung Athener professioneller
Truppen nach 1860 wurde Bukarest zur wichtigen Tourneestation. Paparrigopulos’ Satire
„Gattenwahl“ und patriotische Dramen, u. a. „Suliotes“ und „Markos Botsaris“, standen
jahrelang auf dem Spielplan. 1888 kam Aikaterini Veroni, 1891 Evangelia Paraskevopulu, die 1895-1899 mit ihrer inzwischen eigenen Truppe große Erfolge errang. Im ersten
Jahrzehnt des 20. Jh. verfiel das griechische Theater in Rumänien, insbesondere aufgrund
der nationalen Spannungen wegen der aromunischen Frage. Kürzer geht Puchner auf das
griechische Drama in Brăila, Galaţi, Ismail und Constanţa sowie in Varna ein: Im Wesentlichen haben dieselben Ensembles wie in Bukarest auch diese Orte bespielt, am intensivsten
Brăila. In Philippopel/Plovdiv mit seinem griechischen Bevölkerungsanteil von damals
30 % gab es 1872/1873 professionelle Vorstellungen, ebenso in Adrianopel/Edirne. 1880
und 1881 erschienen zwei Truppen mit breit gefächertem, auch klassischem Repertoire in
Ostrumeliens Hauptstadt. Zuerst 1884 spielte die Paraskevopulu dort, auch 1889 feierte
sie dort Triumphe, u. a. mit „Galateia“; sogar Prinz Ferdinand von Bulgarien besuchte
diese griechische Vorstellung. In den Folgejahren erlebten die 3 Theater viele griechische
Gastspiele, bis die nationalen Spannungen 1906 zur offiziellen Auflösung der hellenischen
Gemeinde führten, was deren Theaterleben versiegen ließ.
Thessalonikis Theatergeschichte vor 1912 ist noch unzureichend erforscht. 1858 bis
1860 bespielte ein griechisches Ensemble die Stadt (1860 auch Monastir/Bitola), 1870
zwei andere Truppen, die eine mit Pipina Vonasera als Protagonistin. 1875 spielten zwei
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weitere Ensembles in neuen Sommertheatern am Kai. Ab 1880 wurde Saloniki in die über
See gehenden Tourneen zwischen Konstantinopel, Smyrna, Hermupolis usw. eingefügt.
Außerdem war es Station eines engeren Spielnetzes, das die Landwege benutzte (zusammen
mit Serres, Drama, Monastir, Melenikos/Melnik, Philippopel). Wie in Konstantinopel war
in Saloniki das hellenophone Theater nur ein Teil eines kosmopolitisch-mehrsprachigen,
wobei hier das sephardische eine besondere Rolle spielte. Erhebliches Gewicht hatte auch
das Laienspiel griechischer Vereine und Schulen (schon 1873 mit dem „Hernani“). Nach
der Angliederung an Griechenland 1912 behinderten die Folgen der Balkankriege und
der Erste Weltkrieg ein intensiveres Theaterleben. Für Serres führt Puchner ein Gastspiel
im Winter 1873/1874 an, für Drama und Komotini solche Besuche erst zu Beginn des
20. Jh. Griechisches Laienspiel gab es auch anderswo in Thrakien, in Thessalien erst nach
der Annexion ab 1881 (in Larisa, Trikala, Karditsa, Volos).
e) Kleinasiatische [genauer: pontische] Städte (außer Smyrna): Editionen von Dramen
mit Themen des einheimischen Griechentums, z. T. in pontischem Dialekt, erschienen
bereits seit 1860 (10 Autoren). Spielzentrum war Trapezunt; dort wurde 1895 ein griechisches Theater erbaut, aber Amateurvorstellungen gab es spätestens seit 1876 (Antoniadis’
„Armatolen und Kleften“). Von 1899 bis 1914 sind für jedes Jahr Gastspiele namhafter
Ensembles verzeichnet. In Kerasunt/Giresun setzte die Spieltätigkeit 1906 ein („Leonidas
bei den Thermopylen“), in Amisos/Samsun 1908. Laienvorstellungen wurden zwischen
1896 und 1919 auch in Kotyora/Ordu, Kromna, Rizus/Rize und sogar im Hinterland
(Daniacha, Santa) bis hin zum entlegenen Kars gegeben, wobei meist noch Männer die
Frauenrollen spielten. Im Pontos griff die osmanische Zensur offenbar weniger ein als in
Konstantinopel oder Smyrna.
f ) Kreta: Eine beachtenswerte Dilettantenbewegung, an der auch Elevtherios Venizelos
beteiligt war, begann 1880 in Chania (u. a. mit „Doxapatris’ Kindern“ von Sophoklis
Karydis, viel übersetztem Molière und Hugo sowie Komödien von I. N. Kungulis). Die
Konsuln der Großmächte sahen sich die Vorstellungen an, 1892/1893 gab es „Kabale und
Liebe“, den „Hernani“ (beides übersetzt) sowie die „Galateia“. In Heraklion sah Kazantza­
kis als Kind 1889 die von Berufsschauspielern aufgeführten „Räuber“; er selbst stellte im
Gymnasium den Kreon aus „König Ödipus“ dar, und zwischen 1906 und 1908 verfasste
er fünf avantgardistische Dramen.
g) Zypern: Dramatische Werke von Zyprioten wurden ab 1869 geschrieben (vor 1877
gab es dort schon vier Autoren). Für 1870 ist Laienspiel in Lemesos/Limassol nachgewiesen
(Michel Pichats „Leonidas“ in der Bearbeitung von Angelos Vlachos), etwas früher für Levkosia/Nicosia wahrscheinlich. In Larnaka trat 1875 die erste professionelle Truppe auf (u. a.
mit dem „Versklavten Chios“). Nachdem die Insel 1878 britisches Protektorat geworden
war, erlebte das griechische Laientheater eine Blüte. Ab 1881 wurden Larnaka, Lemesos und
Levkosia in die Tourneeprogramme meist aus Alexandria kommender Truppen eingebunden.
Kapitel 6 ist dem „Schattentheater und Formen von Volkstheater“ gewidmet (161-169).
Professionelle mobile Volkstheatervorstellungen betrafen in osmanischer Zeit vor allem das
Schattentheater. Der älteste Bericht über z. T. griechische Aufführungen am Bukarester Hof
datiert von 1781. Wichtig für den Übergang vom ithyphallischen Karagöz zum hellenophonen Karagiozis war aber die Kreierung neuer Dialekttypenfiguren um 1890, die die soziale
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Umwelt Griechenlands widerspiegelten. Nach der Erweiterung des Staatsgebietes 1880
erschien in Orten wie Amfilochia, Arta, Preveza und Metsovo eine Gruppe von Schattenspielern, die bedeutende Repertoirezusätze brachte. Diese „epirotische“ Tradition umfasste
nun besonders das Stück „Alexander der Große und die verfluchte Schlange“, das griechische
Sagen und Märchen um Alexander als Drachentöter, die Vita des Hl. Georg, aber auch das
Element der vielgliedrigen „Schlange“ aus einem osmanischen Stück kombinierte – eine
Adaptation an die griechische Volkskultur. Ein zweiter neuer Typus von Vorstellungen, die
„heroischen“, schöpfte aus der Revolution von 1821. Während der Türkenherrschaft sind
griechischsprachige Volksschauspielvorführungen v. a. aus Thrakien (Ortaköy) nachgewiesen, besonders „Der Bey“. Bekannter ist der „Kalogeros“-Ritus in Vizyi/Vize, um 1860,
den Georgios Vizyinos beschrieben hat (mit türk. und bulgar. Parallelen). Aus dem Pontos
führt Puchner das karnevaleske Gerichtsspiel „Momogeroi“ an, eine satirische Darstellung
der Kadi-Willkür (Trapezunt, Santa, Stavrin, Matsuka).
Kapitel 7 trägt den Titel „Die Bosporus-Metropole zwischen Sultansreich und kemalistischem Nationalstaat“ (171-174). Puchner gliedert in ihm das griechischsprachige Theater
Konstantinopels von 1900 bis 1922 in 3 Phasen: 1900-1908 noch Belle Époque; 1908-1913
gab es nach kurzem, von der Aufhebung der Zensur getragenem Enthusiasmus einen Rückgang der Spieltätigkeit, teils durch die Folgen der Jungtürkischen Revolution, teils durch
Theaterschließungen wegen schlimmer Brände bedingt; 1914-1922 gab es einen weiteren
Rückgang wegen erneuter Zensur, Dardanellenkrieg, Zuschauerspaltung in Royalisten
und Venizelisten – mit leichter Belebung nach Ende des Ersten Weltkriegs. Es wird eine
Übersicht aller griechischen Ensembles gegeben, die während dieser ganzen Zeit in Konstantinopel zu sehen waren. 1912/1913 spielte man u. a. schon die „Salome“ von Wilde,
danach klafft aber eine Lücke bis 1918, als z. B. eine Operettentruppe den „Walzertraum“
aufführte. Zum Schluss wird wieder der bedeutende Anteil der Amateurspielbewegung am
hellenischen Theaterleben Konstantinopels betont, die selbst nach der Dezimierung der
griechischen Bevölkerung (1923) nicht völlig zum Erliegen kam.
Die etwas dunkel geratenen Abbildungen (179-193, Bildnachweis 194-196) zeigen 23
Fotos bzw. Postkarten von Theatertruppen und EinzeldarstellerInnen (Evangelis Tsortanidu, Marika Kotopuli, Aikaterini Veroni, Kyveli Adrianu; Dionysios Tavularis), Theatern,
Plakaten und Theaterzetteln.
Die reiche Bibliographie (197-207) führt mit 210 Titeln, darunter 50 von Puchner selbst,
den Interessierten ebenso weiter wie der erschöpfende Anmerkungsapparat des Bandes.
Die drei Register (209-235), dankenswert ausführlich, ermöglichen auch selektive Lektüre
des äußerst detailreichen Buches.
Puchner sieht sein Werk bescheiden als eine Art „Vorstudie“ an; der Rezensent betrachtet
es durchaus schon als Grundlage eines Handbuchs. Für ein solches sollte aber besonders
die Syntax überarbeitet werden. Im Hinblick auf das Ziel des Handbuchs möchte der
Unterzeichnete auch die folgenden Korrekturvorschläge verstanden wissen:
S. 4: „griech. Kolonie in der Bosporus-Metropole […] das größte ausländische Kontingent“ – ein höherer Anteil der Griechen Konstantinopels war in der Türkei einheimisch.
S. 17 und 93: „französ. Botschaft in Smyrna“ – hierbei handelte es sich um ein Konsulat.
S. 28 „(1533/1534 – nach 1700)“ – richtig ist: „1633/1634 – nach 1700“. S. 38: „littéSüdost-Forschungen 72 (2013)
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rature sentimental“ – „sentimentale“. S. 46: „Georgios Nikolaos Soutsos“ – „Nikola(o)u“
(Vatersname). S. 47 „Orphée et Euridice“ – „Eurydice“. S. 53 u. ö.: „Authentische Akademie“ – richtig ist „Fürstliche Akademie“. S. 57: „in den ersten beiden Jahrzehnten“ – richtig:
„im zweiten Jahrzehnt“. S. 59, Anm. 7: „gouvernment“ – „gouvernement“. S. 83, Anm. 1:
„Bibliyografasι“ – „Bibliyografisi“. S. 85 „hellenophonen Populationsgruppen“ – „griechischen“. S. 98: „smyrneische Idiom“ – richtig: „smyrnäische“ oder „smyrnaische“. S. 105:
„M. Ali (1805-1849) […] Vizekönig“ – die Klammer sollte nach „Vizekönig“ stehen, da
nur die Regierungszeit gemeint ist. S. 112 u. ö.: „Mittlerer Osten“ – richtig: „Naher Osten“.
S. 132 „1816/1817“ – „1916/1917“. S. 140 u. ö.: „Maryupol“ – russ. „Mariupol’“, ukr.
„Marijupil’“. S. 143 u. ö. „Taganrok“ – „Taganrog“. S. 144 „Novjiy Teatr“ – „Novyj“. S. 147:
„Kišiniev“ – „Kišinëv“ (fehlt im Register). S. 149: „Baki“ – aserisch „Bakι“, russ. „Baku“.
S. 157: „Winter 1899/90“ – „1899/1900“. S. 162, Anm. 7: „Historical Archiv“ – „Historical
Archive“. S. 163 unten „Orta Oynu“ – „Orta Oyunu“ (anderswo richtig).
Abbildungen: Nr. 4 (und 2 x im Bildnachweis, S. 194): „Volkstheater K. I. Zumbalova“ –
richtig: „Zubalov“ (ohne -m-: s. den Namen kyrillisch in Nr. 6; das -a ist hier russ. mask.
Genitivendung). Nr. 7: – letzte griechische Zeile ist zu tilgen. Nr. 18 (und Bildnachweis,
S. 195): „Frontansicht des Theaters „Odeon“ in Konstantinopel“ – die Aufschrift der
Postkarte ist deutlich als „Smyrne – Théâtre de Smyrne“ erkennbar (dieses Versehen und
das bei Nr. 4 sind aus fremden Publikationen übernommen). S. 195 (zu Abb. Nr. 17): „Papagioannou“ – „Papaïoann(o)u“. Personenregister, S. 209: „Atsiz“ – richtig: „Atsιz“; und
S. 219: „Vladikavkas“ (ebenso S. 150): Vladikavkaz – gehört ins Ortsregister.
Solche Kleinigkeiten mindern den Wert des bedeutenden Bandes jedoch nicht, der zum
einen darin besteht, die weitgehend unbekannten Facetten seines Themas einem internatio­
nalen Publikum in einer der „großen“ europäischen Sprachen bekannt zu machen. (Gewisse
Überschneidungen ließen sich bei der einen so weiten chronologisch-geographischen
Rahmen füllenden Thematik kaum vermeiden.) Zum anderen kann man Puchners Werk
aber auch als wichtigen Beitrag zur Überwindung der einseitig national(staatlich)en Thea­
terhistoriographie zugunsten einer kulturräumlichen begrüßen.
Hamburg
Günther S. Henrich
Das rumänische Theater nach 1989. Seine Beziehungen zum deutschsprachigen Raum.
Hgg. Alina Mazilu / Medena Weident / Irina Wolf. Berlin: Frank & Timme Verlag
2011 (Forum: Rumänien, 8). 441 S., 26 sw. Abb., ISBN 978-3-86596-290-4, € 39,80
Auch fast ein Vierteljahrhundert nach dem spektakulären Ende des Ceauşescu-Regimes
haben Theaternachrichten aus Rumänien hierzulande eher Seltenheitswert – im Unterschied
zur Wahrnehmung aktueller Tendenzen in der rumänischen Literatur und im Filmschaffen.
Der vorliegende Band ist das eindrucksvolle Ergebnis einer rumänisch-deutsch-österreichischen Teamarbeit der Herausgeberinnen Alina Mazilu, Medena Weident und Irina Wolf.
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