Gesundheitssystementwicklung Integrierte Medizin und Integrierte
Transcrição
Gesundheitssystementwicklung Integrierte Medizin und Integrierte
Gesundheitssystementwicklung Integrierte Medizin und Integrierte Versorgung als neue Perspektive für das Gesundheitswesen in Deutschland. Ellis Huber (2011) in: Zeitschrift für Sozialmanagement, Journal of Social Management , Bertuch Verlag, Weimar Zusammenfassung Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland steht vor einem grundlegenden Modernisierungsprozess. Integrierte Medizin und Netzwerke einer sozial orientierten Versorgung der Bevölkerung sind die Ziele des anstehenden ChangeManagements. Integrierte Versorgung wird zum Experimentier- und Gestaltungsfeld für ein Gesundheitssystem, das individuelle und gesellschaftliche Gesundheit nachhaltig fördert. Die Gesundheitswirtschaft muss allerdings die Fehler vermeiden, die zur Krise der Finanzwirtschaft geführt haben. Eine Heilkunst und eine Wirtschaft, die ihre soziale Verantwortung sehen, können aus der Krise zu neuen Chancen führen. Health Care System Development Integrated medicine and integrated health care as a new perspective for the health care system in Germany. Abstract The health care system of the Federal Republic of Germany requires a fundamental process of modernization. The introduction of integrated medicine and networks of social care for the population are the ultimate goal of the required Change-Management. Integrated health care becomes a domain for experimentation and for redesigning a health care system that promotes individual and community health on a sustainable basis. However, the health care industry needs to ensure that it does not make the same mistakes which led to the global financial crisis. If our approach to medicine is understood as the art of healing and if the economy accepts its social responsibility, then it should be possible to create new opportunities out of the current crisis. Die Kernfunktionen eines sozial integrierenden Gesundheitssystems In Deutschland wie in allen europäischen Gesellschaften ist die Bedeutung des Gesundheitssystems als sozialer Integrationsfaktor unbestritten. Ein soziales Gesundheitswesen pflegt das gesellschaftliche Bindegewebe und bringt die Menschen zueinander in Beziehung. Der Arzt dient „der Gesundheit des einzelnen Menschen und der gesamten Bevölkerung“ (Bundesärztekammer 2010). Diese Verpflichtung ordnet der ärztlichen Profession eine integrierende Funktion zwischen allgemeinem und individuellem Wohl zu. Der ärztliche Kernauftrag gilt also einer preiswerten oder ressourcensparenden Gesundheitsversorgung für große Bevölkerungsgruppen. Diese Aufgabe der Ärzteschaft wird im gegenwärtigen Gesundheitssystem nicht hinreichend erfüllt. Die Medizin vernachlässigt unter den Zwängen der Profitziele im System ihren sozialen Auftrag. Die Gesundheit des sozialen Gewebes der Zivilgesellschaft ist zu wenig Gegenstand von medizinischer Theorie und Praxis. 1 Die mit dem ärztlichen Gemeinwohlauftrag korrespondierende Kernaufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beinhaltet die Kultivierung von Gemeinschaftlichkeit in großen Bevölkerungsgruppen. Es geht für die einzelne Krankenkasse um die Bildung einer solidarischen Community. Solidarität und Mitmenschlichkeit sind nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis starke Gesundheitsressourcen, die das Morbiditätsspektrum in der Bevölkerung maßgeblich prägen. „Menschen, die sich als kompetent erfahren, die soziale Resonanz finden und die bei sozialen Entscheidungen mitwirken können, sind weniger krank. Umgekehrt steigen Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit in der Bevölkerung deutlich an, wenn das gesellschaftliche Bindegewebe unter Spannung steht“ (Fischer, J.E. 2007, S. 32). Der Zustand des sozialen Bindegewebes prägt die Aufgaben der Versorgung und auch die ökonomische Lage der Gesetzlichen Krankenversicherung. Die systemische Verpflichtung zur Kultivierung von Solidarität und sozialer Teilhabe unter ihren Versicherten ist vielen Kassen kaum bewusst. Der Auftrag wird nur mangelhaft erfüllt. De facto arbeiten alle Krankenkassen unter den Rahmenbedingungen des Risikostrukturausgleichs (RSA) mit einem globalen Budget. Für die einzelnen Versicherten erhält die Krankenkasse nämlich eine definierte Zuweisung aus dem Gesundheitsfonds. Diese „Kopfpauschale“ setzt sich aus einer Grundpauschale sowie alters-, geschlechts- und risikoadjustierten Zu- und Abschlägen zusammen. Basis zur Ermittlung der morbiditätsabhängigen Pauschalen ist ein Katalog mit derzeit 80 schweren und kostenintensiven Erkrankungen (Bundesversicherungsamt 2008). Die Normkosten des morbiditätsorientierten RSA entsprechen den durchschnittlichen Ausgaben aller Krankenkassen für die so bestimmten gesunden und kranken Versichertengruppen. Die durchschnittliche Höhe der Versichertenpauschale liegt gegenwärtig bei 2.500 Euro im Jahr: für ernsthaft kranke Menschen darüber und für gesunde darunter. Die Summe der individuellen Kopfpauschalen bestimmt die finanziellen Möglichkeiten und damit auch die ökonomische Überlebensgrenze der Kasse. Sind die realen Versorgungskosten geringer als das Versichertenbudget, geht es der Kasse gut, sind sie höher, bricht das Kassenunternehmen unter steigenden Zusatzbeiträgen zusammen. Mit zwei Strategien kann das Management darauf reagieren: mit Risikoausgrenzung oder mit Solidarisierung innerhalb der Versichertengemeinde. Durch den Risikostrukturausgleich, der also Krankheiten und die Probleme von kranken Versicherten abbildet, wird eine Kultur von solidarischer Gemeinschaftlichkeit zur sinnvollen Überlebensstrategie für Kassen, die ihren sozialen Auftrag erkennen. Das Lehrstück aus einer Stadt in Texas Die Konflikte zwischen sozialer Verantwortung und individuellem Egoismus oder Geldgier und Nächstenliebe sind ein generelles Problem, in Deutschland ebenso wie in den anderen europäischen Ländern oder den Vereinigten Staaten von Amerika. Überall steigen die Versorgungskosten und die Krankheitslasten in einer politisch beängstigenden Weise. Alle entwickelten Industriestaaten suchen nach einer Lösung der Kosten- wie Qualitätsprobleme ihrer Gesundheitssysteme. Der Arzt Atul Gawande 2 hat sich auf den Weg gemacht, um das allgemeine Kostenrätsel zu ergründen (Gawande 2009). Seine exemplarisch in Amerika erworbenen Erkenntnisse sind hoch aktuell und auch für Deutschland von Bedeutung. Wir können von den Erfahrungen in den USA lernen und müssen die dort erkannten Fehler nicht nachmachen. Die Stadt McAllen gehört zu den teuersten Gesundheitsmärkten in den USA. Im Jahr 2006 gab Medicare1 hier 15.000 Dollar pro Antragssteller aus. Der landesweite Durchschnitt liegt aber unter der Hälfte dieser Summe. Im Gegensatz zur McAllen Region hat beispielsweise Rochester in Minnesota, wo die Mayo-Klinik die Szene dominiert, ein beeindruckend hohes Niveau an technologischen Fähigkeiten und Qualitäten, aber die Ausgaben für Medicare liegen in 2006 bei nur 6688 Dollar pro Antragsteller. Rochester braucht also 8000 Dollar weniger als McAllen. Was macht McAllen nun so teuer? Die Ausgaben für die medizinische Versorgung beruhen letztendlich auf einer Anhäufung individueller Entscheidungen, die Ärzte darüber treffen, welche Dienstleistungen und Behandlungen verschrieben werden. Das für die Krankenkassen teuerste Stück medizinischer Ausstattung ist der Kugelschreiber des Doktors. Ärzte steuern die Kostenströme durch ihre Sicht von der richtigen Medizin. Die Mayo-Klinik zählt zu den Gesundheitszentren mit der höchsten Qualität und den niedrigsten Kosten. Es ist dort auffällig, wie viel Zeit die Ärzte den hilfsbedürftigen Menschen widmen. Es gibt keine Fließbandabfertigung, kein schnelles Hin- und Herschieben der Patienten von Raum zu Raum, während der Doktor von einem zum nächsten springt. Die Bedürfnisse des Patienten stehen an erster Stelle und nicht die Bequemlichkeit der Ärzte und nicht ihre Einkünfte. Ärzte und Krankenschwestern, und auch die Hausmeister, treffen sich fast wöchentlich zu Meetings, um Ideen für einen besseren Service und eine bessere Pflege zu erarbeiten, nicht aber um noch mehr Geld aus den Patienten herauszuquetschen. Lernende Organisationen in sozialer Verantwortung Die Mayo-Klinik achtet zuerst auf das Wohl der Patienten und erst danach auf die finanziellen Umsätze. Ziel der Führung ist es, die Qualität zu steigern und den Ärzten und anderen Mitarbeitern dabei zu helfen, im Team zu arbeiten. Und, fast durch Zufall, führt das zu niedrigeren Kosten. Die leitenden Ärzte und das Krankenhausmanagement sorgen dafür, dass abträgliche finanzielle Anreize unterbleiben und sie übernehmen gemeinsame Verantwortung, um die gesamte Patientenversorgung zu verbessern. Das Krankenhaus gestaltet also eine „lernende Organisation“ für eine patentenorientierte 1 Medicare ist eine staatliche, über Beiträge und hohe Eigenbeteiligungen der Versicherten finanzierte Krankenkasse für Rentner und Menschen mit Behinderungen oder schwerem Nierenversagen. Die Versicherung entstand 1965 und hat zwei Bereiche: die Krankenhausversicherung (Teil A) und die Versicherung für Arztbesuche und andere ambulante Dienste (Teil B). Eine schwerwiegende Erkrankung führt aber auch bei Medicare-Versicherten wegen der Selbstbeteiligungssätze schnell zur wirtschaftlichen Überforderung und privater Insolvenz. 3 Versorgung. Das funktioniert in allen Einrichtungen des „MayoGesundheitsmanagements“, so wie in Minnesota auch in Florida oder Arrizona. Die Handlungsweise der Mayo Kliniken wird an zahlreichen Orten der USA von anderen Unternehmen ebenfalls praktiziert: vom Geisinger Health System in Danville (Pennsylvania), den Marshfield-Kliniken in Marshfield (Wisconsin), von Intermountain Healthcare in Salt Lake City (Utah) oder von Kaiser Permanente in Kalifornien. Diese Unternehmen sind gemeinnützige Einrichtungen mit klar formulierten Ethical Conduct Guidelines. Und sie verfügen alle über eine beneidenswert höhere Qualität bei niedrigeren Kosten im Vergleich zum amerikanischen Durchschnitt. Es gibt Versorgungsregionen, die nur ein Drittel dessen kosten, was McAllen ausgibt. Die Versorgungsqualität hat also nichts mit den Kosten zu tun. Kosten sind vielmehr das Ergebnis von Handlungsgewohnheiten und medizinischen Verrichtungen, die Ärzte für notwendig erachten und dann in die Praxis umsetzen. Entscheidend ist offensichtlich, ob Ärzte die Bedürfnisse des Patienten an allererster Stelle sehen oder ob sie primär ihre Einkünfte maximieren wollen, ob Ärzte also für Quantität oder für Qualität bezahlt werden. Und auch, ob sie als Einzelpersonen oder als Mitglieder eines Teams, das gemeinsam für ihre Patienten tätig ist, Honorar erhalten. Beide Praktiken, die Einkommensmaximierung und die Einzelkämpfermentalität verursachen in Amerika ernsthafte Probleme. Und, wie wir alle wissen, auch in Deutschland. Die Angst des vereinzelten Doktors um die Sicherung seiner Einkommen im Hamsterrad der Abrechnungsregeln setzt ihn permanent unter Druck. In diesem System erleiden Ärzte ebenso Stress wie ihre Patienten. Medizinische Versorgung erfordere eine komplexe Gesamtleistung und sei so ähnlich schwierig, wie ein Haus zu bauen, analysiert Berichterstatter Gawande auf seiner Reise durch Amerika. Die Aufgaben brauchen viele verschiedene Experten, eine teure Ausrüstung und exzellente Technik, vielfältige Materialien, kreativen Innovationsgeist und einen großen Anteil an Koordinierung und Führung. Vernünftige Bauherren engagieren und bezahlen einen Bauunternehmer, der ein Team aufstellt und dieses beaufsichtigt und dafür sorgt, dass das Haus entsteht und funktioniert. Würde die Bauleitung nun den Elektriker für jede Steckdose bezahlen, die er empfiehlt, den Klempner für jeden Wasserhahn und den Tischler für jeden Schrank, gäbe das ein chaotisches Ergebnis: ein Haus mit 1000 Steckdosen, Wasserhähnen und Schränken zum dreifachen Preis und das ganze Ding würde nach wenigen Jahren auseinander fallen. Selbst wenn der Hausbesitzer den besten Elektriker im ganzen Land für den Job engagiert, wird das Problem fehlgeleiteter ökonomischer Anreize oder falsch definierter Leistungen nicht gelöst. Es bringt auch nichts, den Kostenträger auszutauschen, der den Scheck für die Pseudoleistung ausstellt. Wer den Doktor bezahlt oder den Elektriker ist egal, wenn die Fachleute ihre monetären Ziele über das qualitative Arbeitsergebnis stellen und gierig Geld scheffeln statt die Gesundheit oder den Hausbau zu fördern. Zwischen Ethik und Profit (Berbuer 1992) werden Ärzte und Patienten zum Opfer eines Systems, das fremden Interessen folgt: Geld oder Gesundheit, das ist eine Frage der Orientierung und der Verantwortung der beteiligten Professionen. 4 Zwischen Ethik und Profit Die weltweite Lektion, die uns Regionen mit hoher Qualität und niedrigen Kosten in den USA erteilen, sind eindeutig: es muss immer jemand für die gesamte Versorgung verantwortlich sein und das Versorgungsmanagement anführen. Sonst erhält man ein System, das über keine Bremsen verfügt. Man erhält McAllen: Ärzte hören auf, Ärzte zu sein. Sie machen Geschäfte und lasten die ankommenden Probleme lukrativ aus. Die Profiteure der Finanzwirtschaft hatten kein Empfinden für die Gefahren ihres Handelns und die Wirtschaftskrise hat bei ihnen kein soziales Gewissen angeregt. Manche lukrativen Heilsversprechen der Pharmawirtschaft entsprechen heute dem Vernunftpotential von Zertifikaten des Investmentbankings. Zynische Manager erfinden Krankheiten als Absatzmärkte für teure Medikamente. Profite und nicht Gesundheit sind das Ziel dieser Strategien, die Menschen auf Arzneimittel fixieren und von Pharmaprodukten abhängig machen (Walter & Kobylinski 2010). Die Botschaft aus Amerika lautet: McAllen und andere teure Versorgungskulturen müssen von ihren unhaltbar zerrissenen, an Quantität orientierten Systemen der Gesundheitsversorgung entwöhnt werden, Schritt für Schritt. Ärzte und Kliniken sollten dann belohnt werden, sagt Gawande in seinem Bericht, wenn sie sich zu Organisationen für eine verantwortliche Versorgung zusammenschließen. Die Gesundheitspolitik und Krankenkassen müssten Netzwerke fördern, in denen alle Beteiligten zusammenarbeiten, um die Vorsorge und die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern und in denen übertriebene wie untertriebene Behandlungen sowie reine Geschäftemacherei vermieden werden. Ein nationales Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit könnte Mediziner, Kliniken, Versicherungen, Arbeitgeber und Bürger zusammen bringen, damit sie regelmäßig die Ergebnisse und Kosten der Gesundheitsversorgung überprüfen, die Strategien mit ihrem Gesundheitsnutzen überdenken und eindeutige Empfehlungen für lokale Systeme aussprechen. Die gesetzlichen oder privaten Versicherungen in den USA haben es nicht geschafft, soziale Verantwortung gegen die individuelle Geldgier durchzusetzen. Als Ergebnis leidet Amerika unter dem verschwenderischsten und sozial am wenigsten heilsamen Gesundheitssystem der Welt. Gesundheitspolitik in Deutschland sollte diese Gefahr erkennen und wirksamer als die Finanzpolitik für die Finanzwirtschaft der Gesundheitswirtschaft Grenzen setzen. Regionale medizinische Gemeinschaften und integrierte Versorgungsnetze haben in den USA, der Schweiz und auch in Deutschland gezeigt, dass sie das beschriebene Problem gut lösen können (Hildebrandt et al. 2009, Amelung et al. 2008, Amelung et al. 2009). Es muss dafür eine koordinierende Instanz die Verantwortung für Qualität und Kosten der Versorgung von Bevölkerungsgruppen oder regionale Bürgerschaften übernehmen und eine Versorgungskultur in sozialer Verantwortung sicherstellen. Wie beim Hausbau benötigt die Gesundheitsversorgung einen kompetenten „Generalunternehmer“, der die einzelnen Gewerke koordiniert und ihre Arbeit für das Versorgungsziel anleitet. Während Amerika sich damit abmühe, die Gesundheitsversorgung auszuweiten und 5 gleichzeitig die Gesundheitsausgaben zu drosseln, meint Doktor Gawande in seiner Systemdiagnose, stünden alle vor einer Entscheidung, die wichtiger sei als die Diskussion über Optionen einer gesetzlichen Versicherung, Systeme der privaten Selbstzahler oder eine Mischung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Die Entscheidung drehe sich darum, ob Amerika die Anführer belohnt, die versuchen eine neue Generation von Mayo-Kliniken und Grand Junctions aufzubauen. „Wenn das nicht geschieht, wird McAllen kein Sonderfall mehr sein. Es wird unser aller Zukunft sein“, prophezeit der Arzt für Amerika. Und nun stehen wir auch in Deutschland vor der Entscheidung: Wollen wir ein Gesundheitswesen, das dem Kapital mit seinen Interessen übereignet wird oder wollen wir ein Gesundheitswesen, das der Bevölkerung gehört und ihre Gesundheitsbedürfnisse erfüllt? Politik, Ärzte, Krankenhäuser, Krankenkassen und die Bürgerinnen und Bürger, die Organisationen der Zivilgesellschaft sind herausgefordert, den Weg der Finanzwirtschaft zu verlassen und eine Gesundheitswirtschaft umzusetzen, die sozial verantwortlich handelt und die Knochenbrüche des einzelnen Menschen ebenso wirksam behandelt wie die Risse des sozialen Bindegewebes. Heilkunst für Mensch und Gesellschaft Gesundheit, sagt schon Thomas von Aquin, ist weniger ein Zustand und mehr eine Haltung und sie gedeiht mit der Freude am Leben. Wissenschaft und Forschung verändern heute grundlegend unser Verständnis vom Leben. Die Maschinenbilder einer technischen Medizin werden durch das Wissen um miteinander kommunizierende Lebensnetze abgelöst. Nicht Räderwerke und biochemische Automaten sondern biologische Netzwerke und soziale Wechselwirkungen bestimmen unsere Lebenskräfte. Heilkunst für den individuellen Menschen und das soziale Gefüge muss diese Erweiterung der naturwissenschaftlichen Medizin hin zu einer umfassenden Gesundheitsförderung anerkennen und umsetzen. Die allgemeinen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit ändern sich gegenwärtig tiefgreifend (Kickbusch 2005). Integrierte Medizin und Integrierte Versorgung sind die gesundheitsdienlichen Perspektiven eines neuen Systems. Die Wissenschaft belegt, wie Geborgenheit in sozialen Netzen als Gesundheitsquelle wirkt. Wer im Kreis von Freunden, Bekannten und Gleichgesinnten angenommen und beteiligt ist, lebt gesünder und länger. Die wirksamsten Arzneimittel der Informationsgesellschaft heißen also Bildung und Gemeinschaft: Liebe statt Valium (Huber 1994). Diese Quintessenz der gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnis wird jetzt die Praxis der Heilkunst in Deutschland neu orientieren. Heilen, Pflegen und Helfen wird ganzheitlicher und gemeinschaftlicher erfolgen, unterschiedliche Professionen in Teams beschäftigen und individuelle wie soziale Probleme integriert lösen lernen. Eine solche Medizin benötigt Ärzte, Pflegewissenschaftler, Sozialarbeiter oder Pädagogen, die gleichberechtigt zusammenwirken und Bürger, die mit für gesunde Verhältnisse wie gesundes Verhalten eintreten. Die heutigen Gesundheitsprobleme lassen sich nicht mehr mit „medizinischem Fortschritt“ oder biochemischen „Wunderwaffen“ besiegen. Depressionen und Ängste 6 nehmen dramatisch zu. Das soziale Bindegewebe zerbricht mehr und mehr. Rückenschmerzen und chronische Gebrechen beschreiben nicht nur körperliche Probleme, sie drücken auch die Last der psychosozialen Verhältnisse aus. Die aktuelle Wirtschaftskrise beeinträchtigt die Gesundheit der Menschen. Sie ist für Angst, Verzweiflung, Unsicherheiten, andauernden Stress und alle daraus erwachsenden Folgen für das individuelle wie allgemeine Wohl ebenso Ursache wie für die Insolvenz einzelner Unternehmen. Die kulturellen und sozialökologischen Verhältnisse sind heute entscheidend, ob Menschen fett oder depressiv, süchtig oder schmerzgebeutelt sind, sich falsch ernähren oder zu wenig bewegen. Die individuelle Gesundheitskompetenz steht in Wechselwirkung mit der jeweiligen Lebenswelt. Integrierte Versorgung führt daher die beide Kernaufgaben des sozialen Gesundheitssystems zusammen und organisiert Solidarität und Hilfe gleichzeitig, integriert also Versicherung und Versorgung als transparente und gemeinsame Aufgabe von Managementgesellschaften: Es geht um preiswerte Gesundheit und solidarisches Miteinander für große Bevölkerungsgruppen. Dies zu erreichen ist nun die Aufgabe einer beharrlichen und nachhaltigen Organisationsentwicklung nach der Krise: Gesundheitssystementwicklung kann neuen Wohlstand und sozialen Fortschritt bewirken. Das erfordert eine Revolution, die keine Gewalt braucht, nur neues Denken und gemeinsames Handeln. Die Gesundheitsrevolution Ich habe die anstehenden Entwicklungsprozesse in Analogie zur „Zweiten Revolution in der Autoindustrie“ (Womak et al. 1997) als Gesundheitsrevolution beschrieben (Huber & Langbein 2004). Es geht darum, die Räderwerke des heutigen Systemgefüges durch offen kommunizierende Netzwerke abzulösen und arbeitsteilig hierarchische Organisationsmuster durch sich selbst steuernde Teams zu überwinden, also auch im Gesundheitswesen eine neue Organisationskultur umzusetzen. Die Macht verlagert sich dabei aus den Zentralen in die Peripherie und die neue Organisation muss eine gemeinsame Orientierung und gegenseitiges Vertrauen aufbauen, Selbstcontrolling und offene Kommunikation sollten die Kontrollansprüche der Verwaltung und die Macht der Standesfürsten wie Kassenfunktionäre ersetzen. Immer mehr entscheiden die Krankenversicherten selbst über die Akzeptanz der Angebote, sie nutzen ihre Wahlmöglichkeiten. Die Zukunft gehört der Beziehungsmedizin und der CommunityMedizin. Gentechnologie oder molekularbiologische Strategien können die Herausforderung der heutigen Krankheiten jedenfalls nicht bewältigen, auch wenn viele Nutznießer dieser Medizin solche Träume hegen. Die Zeit ist reif, dass Integrierte Versorgungsprojekte Schritt für Schritt die Regelversorgung übernehmen. Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz sind nämlich seit dem 1.1.2004 die dafür notwendigen politischen Voraussetzungen gegeben. Der Gesetzgeber zielt mit der Integrierten Versorgung (§ 140 SGB V) auf eine umfassende Modernisierung des Systems. Projekte der Integrierten Versorgung sollen neue Organisations- und Dienstleistungskonzepte entwickeln, mit denen die bisher beklagte Zersplitterung in Sektoren und die Probleme einer Über-, Fehl- oder Unterversorgung überwunden werden. Das Gesetz ermöglicht, dass 7 Managementgesellschaften in Analogie zu anderen Wirtschaftsbereichen als "Generalunternehmer" oder „Systemanbieter“ auftreten und im Rahmen eines Globalen Budgets die Vollversorgung definierter Bevölkerungsgruppen sicherstellen können. Von diesem Populationsmodell erwarten Fachleute einen Produktivitätssprung in der Gesundheitsversorgung und die Entwicklung von Gesundheitsunternehmen, die preiswerter und qualitativ besser als die bisherigen Strukturen die Versorgungsaufgabe bewältigen. Die finanziellen Spielräume sind mit den Normkosten des Risikostrukturausgleichs bürgerbezogen klar definiert. Bei durchschnittlich 2500 Euro „Kopfpauschale“ pro Person aus dem Gesundheitsfond bekommt ein Dorf mit 1000 Einwohnern 2,5 Millionen Euro, eine Stadt mit 100.000 Einwohnern 250 Millionen Euro und ein Land mit 10 Millionen Einwohnern 25 Milliarden Euro bereitgestellt. Kommunale Gesundheitspolitik und regionale Versorgungsnetze können damit subsidiäre Solidarität organisieren und einen optimalen Gesundheitsnutzen für die Bürgerinnen und Bürger erreichen. Die Reformmodelle der Schweiz Das Krankenversicherungsgesetz der Schweiz fördert Integrierte Versorgungsprojekte. Die dortigen Erfahrungen sind eine Bestätigung für das Konzept einer „Health Maintainance Organisation“ (HMO), in der die Funktionen von Versicherung und Versorgung integriert sind. Ein Team von Ärzten, Krankenschwestern und Therapeuten kümmert sich um alle medizinischen Belange einer Gruppe von Versicherten und ist an deren erfolgreicher Behandlung ökonomisch beteiligt. In Zürich existiert seit über fünfzehn Jahren unter der Marke "MediX" ein Gesundheitszentrum, das erfolgreich über 10.000 Versicherte mit einem globalen Budget versorgt. Die Ärztinnen und Ärzte sind ebenso zufrieden wie die Patienten und die Versorgungskosten sind im Vergleich zur Regelversorgung um über 20% günstiger (Huber & Langbein 2004. S. 208ff). Die Managementgesellschaft der MediX Organisation erhält für die Versicherten eine Kopfpauschale, bei der Alter und Geschlecht berücksichtigt werden und trägt dann die volle Budgetverantwortung. Entscheidend ist, dass ökonomische und medizinische Verantwortung ebenso zusammengeführt sind wie die Verantwortung für alle medizinischen Bereiche. Die HMO-Ärzte übernehmen erstmals die Gesamtverantwortung für die Betreuung und die gesamten Behandlungsprozesse der Versicherten. Sie werden also Prozessmanager und das prägt eine neue Denkweise. Die Schweizer HMOs haben von Anfang an begonnen, ihren Versicherten mit Kochkursen, Fitnessangeboten und Bewegungstherapien Lebensstilangebote zu machen, um die Häufigkeit von Erkrankungen zu reduzieren. Als einen zentralen Schlüssel zur Verbesserung der Ergebnisse der medizinischen Betreuung und zur Senkung der Kosten haben die MediX-Ärzte die umfassende Information der Patienten identifiziert. „Wir sagen jetzt den Betroffenen etwa vor dem Einsatz von Chemotherapie bei Lungenkrebs sehr genau, dass die Behandlung nur bei einem von zehn Patienten anspricht“, beschreibt der leitende Arzt Felix Huber den Entscheidungsprozess. Und viele möchten dann ein würdiges Lebensende im Kreis ihrer Liebsten erleben und keine maximale Medizin „erleiden“. 8 Solche Managed-Care-Modelle in der Schweiz wie in den USA eröffnen neue Wege (Janus & Amelung 2004). In Schweizer Modellversuchen verdienen die Ärzte zunächst entsprechend der geleisteten Arbeitszeit wie die meisten anderen Menschen auch, und über eine Gewinnbeteiligung ein wenig auch an der Gesundheit der von ihnen betreuten Versicherten, nicht an der Reparatur der Krankheit. Die Gesundheitsökonomen der Bertelsmann Stiftung schätzen das Einsparpotenzial ohne jeden Qualitätsverlust durch Managed Care-Modelle sogar auf 30 bis 35 Prozent (Böcken et al. 2000). Frühlingserwachen in Deutschland In Deutschland existieren noch vereinzelte, aber bereits erfolgreich arbeitende Projekte, die auf dem Weg zur integrierten Versorgung mit globaler Budgetsteuerung und einer Vergütung durch versichertenbezogene und morbiditätsbasierte Kopfpauschalen sind (Tiska 2005). Die Prosper-Modelle der Bundesknappschaft in Bottrop, Recklinghausen, oder im Saarland und die Gesundes Kinzigtal GmbH zeigen beispielhaft, wie dies glücken kann. Durch die Einrichtung eigener medizinischer Netze stärkt und erneuert die Knappschaft den traditionellen Verbundgedanken: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung, ein regionales System von Knappschaftsärzten, Knappschaftskrankenhäuser und Rehabilitationskliniken sowie ein eigener Sozialmedizinischer Dienst sind unter einem Dach vereint. Die Prosper Netze der Knappschaft sind um 8 bis 14 % kostengünstiger als das herkömmliche Versorgungssystem. Versicherte, die dem Integrierten Versorgungsnetz angeschlossen sind, haben dabei viele Vorteile. Sie bekommen eine hohe Qualität bei der medizinischen Betreuung. Die niedergelassenen Netzärzte und die Knappschaftskrankenhäuser arbeiten eng zusammen, ambulanter und stationärer Bereich sind miteinander verzahnt. Es gibt keine belastenden, zeitraubenden und mitunter auch risikobehafteten Doppeluntersuchungen mehr. Die stationären Aufenthalte sind kürzer, die Verweildauer im Krankenhaus sinkt. Die Praxisgebühr und die Zuzahlungen im Krankenhaus fallen weg. Vom Integrierten Versorgungsnetz der Bundesknappschaft profitieren alle Beteiligten des Verbundnetzes: die knappschaftlich Krankenversicherten, die Knappschaftsärzte, die Knappschaftskrankenhäuser und die knappschaftliche Krankenversicherung. Die Managementgesellschaft "Gesundes Kinzigtal GmbH" wurde im September 2005 von 35 niedergelassenen Ärzten gegründet, die in dieser ländlichen Region seit 15 Jahren kooperieren. Inzwischen machen 54 Ärzte und mehrere Krankenhäuser mit. Die Gesellschafter der GmbH sind zu zwei Drittel der Ärzte-Verein "Medizinisches Qualitätsnetz - Ärzteinitiative Kinzigtal e. V." und zu einem Drittel die auf Integrierte Versorgung spezialisierte OptiMedis AG aus Hamburg. Das Serviceunternehmen soll den Ärzten den Rücken für ihren eigentlichen Job, nämlich für die Rund-um-Betreuung ihrer Patienten freihalten. Es geht den Beteiligten darum, Bürokratie abzubauen, Prozesse zu vereinfachen oder den Kontakt zwischen Ärzten und den Vertretern nicht ärztlicher Heilberufe zu verstärken. Alles in allem rechnet die AOK Baden-Württemberg mit zehn bis 20 Prozent an Einsparungen und inzwischen zeigt sich, dass diese Erwartung realistisch ist. 9 Der Vertrag hat zunächst eine Laufzeit von neun Jahren. Er umfasst alle Sektoren der Versorgung und alle Indikationen und arbeitet mit einer virtuellen Gesamtbudgetvergütung. Das Budget entspricht den Normkosten des RSA für die Versicherten im Kinzigtal, also der realen Kaufkraft der AOK für die Versorgung in dieser Region. Diese Budgetsumme wird dann mit den realen Kosten verglichen, die für alle AOK Versicherten im Kinzigtal angefallen sind. Mehr Kosten wären ein Misserfolg des Konzeptes, geringere Kosten messen den Erfolg. Die AOK investierte zunächst 1,7 Millionen Euro in den Aufbau des Managements und in Angebote zur Qualitätssicherung. Diese Investition hat sich bereits nach kurzer Zeit gelohnt. Die erreichte Versorgungsverbesserung und die geringeren Kosten führten zur Refinanzierung des Vorschusses (Kolbeck 2009). Die Kultur eines sozial verantwortlichen Versorgungsmanagements Die vielfältigen Prozesse der Ökonomisierung und auch der Bürokratisierung im Gesundheitssystem sind zu einer Gefahr für die Gesundheit der einzelnen Menschen und des Gemeinwesens insgesamt geworden. Eine Medizin und Pflege in sozialer Verantwortung scheitern heute gleichermaßen am Terror der Ökonomie (Forrester 1997, Forrester 2001) wie am Terror der Bürokratie. In den Zeiten der Globalisierung und der Angst vieler Menschen vor sozialer Ausgrenzung und dem Verlust der Sicherheit in ihrer Gesellschaft streben die sozialen Fragen nach neuen Antworten. Die Menschen suchen Geborgenheit in sozialer Gemeinschaft (Opaschowski 2010). Das Zeitalter der rücksichtslosen Individualisten geht zu Ende (Klein 2010). Das Gesundheitssystem muss nun neu gedacht werden. Die Sorge um eine hinreichende Gesundheit des sozialen Bindegewebes gehört zu seinem Auftrag und zu seiner Aufgabe. Die Vereinzelung der Menschen und der Verlust sozialer Bindungen müssen durch soziale Integration oder verlässliche Beziehungen überwunden werden. Die Arbeit mit Not leidenden Patienten und die Sorge für Kranke vermitteln einen besonderen Kontakt zum Kern des Menschlichen. Krankheit, Hinfälligkeit und Tod stellen die elementare Gefährdung des einzelnen Menschen dar, die im seine Bezogenheit auf die Mitmenschen sinnlich vermitteln. Daher besitzt das soziale und solidarische Gesundheitswesen in der Bevölkerung so viel Zuspruch. Investitionen in die Gesundheit der Bürger sichern die Human-Ressourcen und stärken die inklusiven und produktiven Kräfte der modernen Gesellschaft. Individuelle und soziale Gesundheit stellen eben Werte dar, die nicht an der Börse gehandelt werden können. Gesundheit als Ziel bildet ein Bindegewebe, das die Menschen jenseits von ökonomischen und privaten Beziehungen miteinander verbindet. Ein italienischer Gemüsemarkt ist nicht nur ein Platz, wo Geld umgesetzt wird, sondern sehr viel mehr. Marktwirtschaft lässt sich auch an Werten, statt an reiner Geldvermehrung ausgerichtet denken und ein Wettbewerb um möglichst gute Ergebnisse ist nicht verboten. Markt und Wettbewerb sind als Instrumente für selbstsüchtige Ideologien ebenso nützlich wie für sozial dienliche Unternehmen. Unsere jetzigen Gesellschaften werden die Krise des Kapitalismus nur dann überwinden können, wenn sie lernen, marktwirtschaftliche und wettbewerbliche Systeme nicht geld-, sondern werteorientiert auszusteuern. Diese Non10 Profit Gesundheitswirtschaft braucht eine Managementkunst, die an Hochschulen bereits entwickelt ist, gelehrt und auch gelernt werden kann. Ein an humanistischen Werten ausgerichtetes systemisches Verständnis der Organisationen des Gesundheitswesens wird künftig zur zentralen Führungsaufgabe. Die bestimmenden Akteure wie Krankenkassen oder die helfenden Professionen, vor allem die Ärzteschaft müssen den Wandel von der geldgesteuerten Optimierung ihrer Partikularinteressen zu einer wertgesteuerten Optimierung der individuellen und sozialen Gesundheit schaffen. Sie können dies in einem zielgerichteten und bewussten Prozess des Change Managements erreichen und damit die heutige Verkrustung und Erstarrung des Gesundheitssystems überwinden. Zentral ist dabei die Einsicht aller Beteiligten, dass sie eben nicht Partikularinteressen vertreten, sondern eine gemeinsame Aufgabe in sozialer Verantwortung lösen müssen (Huber 2007). Seit einigen Jahren ereignet sich in erfolgreichen Wirtschaftsunternehmen ein epochaler Prozessmusterwechsel. Mit Begriffen wie "Lean Management" und "Business Reenginiering" wurde ein neues Paradigma der industriellen Produktion eingeführt, das die arbeitsteilige Hierarchie durch eine Teamkultur ersetzt, in der Individualität, Eigenständigkeit, Risikofreude und Kreativität von Menschen ins Zentrum rücken (Glasel & Lievegoed 2004). Die "Zweite Revolution in der Autoindustrie" beschreibt das veränderte Denken und Handeln am Beispiel dieser Schlüsselindustrie (Hammer & Champy 1994, Jampy 1995, Womack et al. 1997, Womack & Jones 1998). Seitdem verlaufen die globalen Entwicklungen in einem rasanten Tempo. „Change Management“ verändert die Kultur sozialer Gemeinschaften und die Führung von Unternehmen, die sich am Markt behaupten und erfolgreich gewinnen wollen (Doppler & Lauterburg 2002). Eine neue team- und kundenorientierte Haltung soll zwar auch in öffentlichen Verwaltungen und gemeinnützigen Organisationen Einzug halten. Doch diese und vor allem die Einrichtungen des Gesundheitswesens tun sich damit schwer. Die Zweite Revolution im Gesundheitswesen steht diesen Systemen noch bevor. Alle beteiligten Akteure ahnen, dass ein grundlegender Prozessmusterwechsel ansteht und dass sich auch im Gesundheitswesen eine neue Sichtweise und Organisationskultur durchsetzen muss. „Wie würde es funktionieren, wenn das medizinische System schlankes Denken einführen würde?“, fragen die Wissenschaftler des Massachusett Institute of Technology (MIT) (Womack &Jones 1997 S. 430ff). „Als Erstes würde der Patient in den Mittelpunkt gerückt werden, und Zeit und Bequemlichkeit wären die zentralen Leistungsmaßstäbe des Systems. (...) Als Nächstes würde das medizinische System seine Abteilungsstruktur überdenken und sein Expertenwissen auf mehrfach qualifizierte Teams übertragen. Die Idee dabei wäre sehr einfach: Wenn der Patient von einem mehrfach qualifizierten Team, das in einem gemeinsamen Raum arbeitet - oder eine „Zelle“ in der Sprache der Produktion -, in das System aufgenommen ist, wird ihm ständige Aufmerksamkeit und Behandlung gewidmet, bis das Problem gelöst ist.“ Es geht also darum, ein individuelles Versorgungsmanagement mit hoher Kreativität, Kommunikationsbereitschaft und Beziehungsfähigkeit umzusetzen und individuelle „Gesundheitsprodukte“ herzustellen. 11 „Schließlich müsste der Patient aktiv an dem Prozess beteiligt und aufgeklärt werden – und zum Mitglied des Teams werden -, damit viele Probleme durch Prävention gelöst oder von zu Hause aus geklärt werden, um Besuche bei dem medizinischen Team vermeiden zu können.“ Eine schlanke Verwaltung und eine offene Kommunikation im Gesundheitswesen investieren die vorhandenen Ressourcen in die primäre Wertschöpfung und sparen Overheadkosten maximal ein. Ein Hausarzt, der beispielsweise einen Hausbesuch bei einem sterbenden Patienten macht, erkennt sofort, dass die Kostenübernahme des Lohnausfalls für den pflegenden Angehörigen wesentlich preiswerter und humaner ist, als eine Überweisung ins Hospiz oder ins Krankenhaus. Als Manager des Primärprozesses entscheidet er sich daher für den Lohnersatz durch die Krankenkasse. Für diese vernünftige und ökonomisch produktive Entscheidung braucht es kein weiteres Formular und keinerlei Kontroll- und Genehmigungsbürokratie. Denn der Arzt oder in komplexen und schwierigen Betreuungsfällen ein multiprofessionelles Versorgungsteam übernehmen die Verantwortung für den Einsatz der Ressourcen im Versorgungsprozess. Ein individuell gestaltete „Case-Management“ durch den Arzt oder durch andere Gesundheitsberufe als neues Struktur- und Ordnungsprinzip für ein schlankes und ökonomisch optimiertes Versorgungsmanagement kann das heutige Steuerungsdilemma überwinden. Gesundheitsreform als Systementwicklung organisiert könnte der Gesundheitspolitik in Deutschland helfen vom Chaos der Gegenwart in eine bessere Zukunft zu blicken. Die systemische Fähigkeit mit möglichst günstigem Ressourceneinsatz größere Bevölkerungsgruppen von der Geburt bis zum Tode gesundheitlich gut zu versorgen, sozusagen einen Volkswagen der Gesundheitsversorgung zu entwickeln, ist auch ein Wirtschaftsprodukt, das überall gebraucht wird. Deutschland war mal die Apotheke der Welt. Deutschland könnte zum Gesundheitsversorger der Welt werden, wenn es die Herausforderung einer nachhaltigen Gesundheitsreform für Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit bewältigt. Es ist kein Traum, in diesem Sektor neue Arbeitsplätze und ein soziales wie wirtschaftliches Wachstum zu erreichen. Literatur Amelung, V., Meyer-Lutterloh, K. , Schmid, E., Seiler, R., Weatherly J. (2008): Integrierte Versorgung und Medizinische Versorgungszentren, Von der Idee zur Umsetzung, Berlin: BMC Schriftenreihe, 2. Auflage, Amelung, V., Deimel, D., Reuter, W., van Rooij, N., Weatherly J. (2009): Managed Care in Europa, Berlin: BMC Schriftenreihe, Berbuer, E. (1990): Zwischen Ethik und Profit: Arzt und Patient als Opfer eines Systems, Königstein: Access-Verlag 12 Böcken, J., Butzlaff, M., Esche, A., Hrsg. (2000): Reformen im Gesundheitswesen, Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung Bundesärztekammer (2010): §1 der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer, Online Dokument. URL: http://www.bundesaerztekammer.de/30/Berufsordnung, §1, Zugriff 1.10.2010 Bundesversicherungsamt (2008): So funktioniert der neue Risikostrukturausgleich im Gesundheitsfond, Online Dokument. URL: http://www.gkvspitzenverband.de/upload/Wie_funktioniert_Morbi_RSA_8102.pdf Champy, J. (1995): Reengineering im Management, Frankfurt: Campus-Verlag, Doppler, K., Lauterburg, Ch. (2002): Change Management, 10. Auflage, Frankfurt: Campus-Verlag Fischer, J.E. (2007): Gesundheitsstrategie: Gesund in Baden-Württemberg. Wissenschaftliche Stellungnahme im Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Soziales Baden-Württemberg. Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. Forrester V. (1997): Der Terror der Ökonomie, Wien: Paul Zsolnay Verlag Forrester V. (2001): Die Diktatur des Profits, München: Hanser Verlag Gawande, A. (2009): Annals of medicine, The cost conundrum, What a Texas town can teach us about health care. McAllen, Texas and the high cost of health care : The New Yorker, 1.6.2009 Glasel, F., Lievegoed, B. (2004): Dynamische Unternehmensentwicklung, 3. Auflage, Bern: Paul-Haupt-Verlag, Hammer, M., Champy, J. (1994): Business-Reengineering, Frankfurt: Campus-Verlag Hildebrandt, H., Richter-Reichhelm, M., Trojan, A., Glaeske, G., Hesselmann, H. (2009): Die Hohe Kunst der Anreize: Neue Vergütungsstrukturen im deutschen Gesundheitswesen und der Bedarf für Systemlösungen in: Sozialer Fortschritt, Jahrgang 58, Heft 7, S. 154ff Huber, E. (1995): Liebe statt Valium, Konzepte für eine neue Gesundheitsreform, München: Verlag Droemer Knaur Huber, E., Langbein, K. (2004): Die Gesundheitsrevolution, Radikale Wege aus der Krise - was Patienten wissen müssen, Berlin: Aufbau-Verlag Huber, E. (2007): Gesundheitsreform als Gesundheitssystementwicklung in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZaeFQ), Elsevier Verlag 13 Janus, K., Amelung, V. (2004): Integrierte Versorgungssysteme in Kalifornien, Erfolgsund Misserfolgsfaktoren der ersten zehn Jahre und Impulse für Deutschland, in: Gesundheitswesen 20004, 66: 649-655 Kickbusch, I. (2006): Die Gesundheitsgesellschaft. Megatrends der Gesundheit und deren Konsequenzen für Politik und Gesellschaft, Gamburg, Verlag für Gesundheitsförderung Klein, St. (2010): Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag Kolbeck, C. (2009): Integrierte Versorgung. Die zweite Generation; in: kma, Das Gesundheitswirtschaftsmagazin, Heft 162, 1209, S. 16-19; Stuttgart: Thieme Verlag Tiska, G. (2005): Praxisnetze: Erfolgsaussichten erkennen; in: Deutsches Ärzteblatt 102, Ausgabe 10 Seite A-649 / B-545 / C-511; Köln: Deutscher Ärzteverlag Walter, C., Kobylinski, A. (2010): Patient im Visier, Die neue Strategie der Pharmakonzerne, Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag Womack, J. P., Jones, D. T., Roos, D. (1997): Die zweite Revolution in der Autoindustrie, München: Heyne-Verlag, Womack, J. P., Jones, D. T. (1998): Auf dem Weg zum perfekten Unternehmen, München: Heyne-Verlag, Internetadressen: http://www.bundesknappschaft.de http://www.gesundes-kinzigtal.de http://www.medix-gruppenpraxis.ch http://www.optimedis.de http://www.prosper-netz.de http://intermountainhealthcare.org http://www.geisinger.org http://www.kaiserpermanente.org http://www.marshfieldclinic.org http://www.mayoclinic.org 14