Leaving Las Vegas
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Leaving Las Vegas
borders Leaving Las Vegas Die kleine Stadt Svilengrad an der bulgarisch-türkischen Grenze lebt von Glücksspiel und Grenzverkehr. Jedes Wochenende kommen TouristInnen aus der Türkei über die neue EU-Außengrenze in die Casinos. Von Katharina Ludwig „Heute habe ich kein Glück”, sagt Nilgün Duman* und drückt wieder die Play-Taste des Automaten. Die 47jährige ehemalige Wirtschaftsassistentin und Hausfrau ist mit ihrem Mann Mustafa aus der türkischen Grenzstadt Edirne ins 34 Kilometer entfernte bulgarische Svilengrad gekommen, um sich zu amüsieren. Die 19.000-EinwohnerInnen-Stadt gilt als das „Las Vegas” Bulgariens, mit seinen Spielhallen lockt es die Menschen aus den angrenzenden Ländern Griechenland und Türkei, wo das Glücksspiel verboten ist. An einem der 59 Glücksspielautomaten im Casino „Montecarlo” will Nilgün Duman den Alltag hinter sich lassen. Wenn sie die Grenze von der Türkei nach Bulgarien überschreitet, sagt sie, dann vergisst sie alles. Die zweifache Mutter kommt heute als Touristin in die EU, vor 44 Jahren als Tochter eines sogenannten Gastarbeiters. Und wieder ziehen am Monitor vor ihr in fünf Bahnen Goldmünzen, Kelche und Zeus vorbei. Es ist vorerst Nilgüns letzter Abend in Svilengrad. Ihr Visum läuft schon wieder aus. * Name von der Redaktion geändert Europäische Grenzen. Von dem Haus am Stadtrand von Edirne, wo Nilgün und Mustafa Duman mit ihren beiden 30 l an.schläge Dezember 2010 l Jänner 2011 Kindern leben, können sie die Berge sehen, zwischen denen die Türkei, Bulgarien und Griechenland liegen. Mit dem Handy kann man hier sieben Mobilfunkanbieter empfangen, zwei türkische, zwei griechische und drei bulgarische. An den Grenzen zwischen den Staaten hat sich einiges getan. Seit 2007 ist Bulgarien Mitglied der Europäischen Union und arbeit auf einen Beitritt 2011 zum Schengen-Raum hin. Der bulgarische Grenzübergang Richtung Türkei, Kapitaan Andreevo, hat sich zum „Focal Point” der europäischen Grenzschutzagentur Frontex entwickelt, also einem Hotspot für Grenzschutz, wo auch GastbeamtInnen aus anderen Ländern tätig sind. Von der Modernisierung der Grenzgebäude merkt man auf der bulgarischen Seite eher wenig, im Gegensatz zum türkischen Gegenpart Kapıkule, wo sich auf einem Areal von 330.000 Quadratmetern zwölf Fahrspuren mit 23 Abfertigungsschaltern erstrecken. „Das Grenzgebäude ist sehr schön, sehr europäisch geworden”, findet Nilgün Duman. Egal, ob von bulgarischer oder von türkischer Seite – die Übergänge auf dieser Haupttransitroute zwischen Asien und Europa sind chronisch über- lastet. Wenn sich das Ehepaar Duman alle ein, zwei Wochen am Freitag Abend oder Samstag Nachmittag nach Svilengrad aufmacht, nimmt es deswegen am liebsten zuerst den türkischen Bus und dann ein bulgarisches Grenztaxi. So sparen sie Zeit und Geld. Das weitläufige Grenzareal selbst passieren sie zu Fuß. Je nach Tageszeit haben sie beim Weg über den Asphalt vorbei an der Grenzmoschee zu ihrer Linken den Ruf des Muezzins im Rücken. Egal wann sie unterwegs sind, ist zur Rechten ein Stau. Bis zu 20 Kilometer reihen sich LKWs aneinander und warten darauf, in die Röntgenanlage zu fahren. Unterwegs nach „zu Hause”. Die E-80 liegt an einer der ältesten Handelsrouten der Welt, der Name „Svilengrad” („Seiden-Stadt”) verweist darauf. Heute riecht es permanent nach Diesel. Die PKW-Spur ist diesmal eher ruhig, aber besonders in den Urlaubsmonaten Juli und August wollen hier bis zu zwei Millionen Autos durch. In vielen sitzen MigrantInnen und ihre Kinder aus Österreich, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden oder Belgien, die ihre Familien besuchen oder vom Besuch zurückkehren. Manche sitzen 24 Stunden borders und länger im Auto. Das Rote Kreuz und der Rote Halbmond haben diesen Sommer deshalb erstmals an der Straße eine Sanitätsstation eingerichtet. Lange Autofahrten kennt Nilgün Duman aus eigener Erfahrung. 1967, als sie vier Jahre alt ist, holt der Vater sie und ihre Mutter nach Bremen, wo er Schiffskräne führt. Nilgün wächst in Bremen auf. Auch zu Hause wird Deutsch gesprochen, und der Vater rät der Mutter davon ab, auf der Straße ein Kopftuch zu tragen. Nach dem Abschluss der Realschule beginnt Nilgün Duman als Assistentin in einer Zahnarztpraxis. Anfang der 1980er Jahre kann der Vater aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten, und als Deutschland 1983 Rückkehrprämien an die sogenannten Gastarbeiter zahlt, nimmt er das Geld an. Auch Nilgün geht mit ihrer Familie „zurück”. Zu diesem Zeitpunkt spricht sie kaum Türkisch, doch nach zwei Monaten arbeitet sie bereits an der Grenze im Seite eher wie Bausteine aus einer Geisterstadt. Wenn Nilgün Duman nach Svilengrad will, muss sie immer die gleichen Fragen beantworten, und ihre Antworten reichen nie aus. Wieso will sie nach Svilengrad? Wieso will sie dort essen? Wieso will sie sich amüsieren? „Und dann?”, fragt der Beamte. „Dann gehen wir zurück nach Hause”, lacht Nilgün. „Immer das Gleiche, jede Woche, jede Woche.” Bei einem türkischen Pass würde nicht mehr geschaut, was für ein Beruf oder was für ein Leben dahintersteckt. „Wenn du einen türkischen Pass hast, bist du gleich gestempelt. Asylant. Aus, Schluss, vorbei.” Wer sich ihren Pass nämlich genauer ansehen würde, meint sie, könne sehen, dass sie ein, zwei Nächte bleibt und dann wieder fährt. „Ich mache das für mich.” Sie sind jetzt in der EU. Kleine Hütten verkaufen Autobahnvignetten und Proviant. Nilgün und Mustafa Duman nehmen ein Grenztaxi, los geht’s. Wenn Nilgün Duman nach Svilengrad will, muss sie immer die gleichen Fragen beantworten: Wieso will sie dorthin? Wieso will sie dort essen? Wieso will sie sich amüsieren? Abfertigungsbüro des Unternehmens Youngtürk Ltd. Sie lernt schnell dazu, beantragt Genehmigungen, schickt Telex nach Istanbul und übersetzt zwischen Deutsch und Englisch. Und sie lernt Mustafa kennen, der zu diesem Zeitpunkt von der Grenze aus Möbeltransporte für Familien organisiert. In Edirne beginnt sie, sich ein neues Leben aufzubauen. Wieso amüsieren? Und dennoch, mit ihrem türkischen Pass fühlt sich Nilgün Duman heute an den Grenzposten unter Generalverdacht. Sie geht vorbei an den leerstehenden bulgarischen Duty-Free-Shops, die 2008 auf Drängen der EU schließen mussten. Ist man zuerst im türkisch betriebenen Niemandsland am „Setur Duty FreeCenter” vorbeigekommen, das bis in die Nacht aktiv ist und von Architektur und Ausmaß an das deutsche Bundeskanzleramt erinnert, wirken die kleinen geschlossenen Alkohol- und Zigaretten-Läden auf bulgarischer Wenn Nilgün nach Svilengrad kommt, dann will sie den Alltag vergessen. Am Markt kauft sie günstiger als in ihrer Heimatstadt Parfüm, Camembert und frische Pilze, im Restaurant genießt sie es, dass sie zum Abendessen ein Glas Wein bestellen kann. Svilengrad leuchtet und blinkt nicht wie das USamerikanische Las Vegas. In den zwei „Prestige-Casinos”, die geräumiger und eleganter sind als die Automatenhallen, legen junge Frauen im kleinen Schwarzen die Karten. Sie haben Ringe unter den Augen. TouristInnen aus Deutschland oder Österreich verschlägt es eher an die Schwarzmeerküste als hierher. Gerade die kleineren Geschäfte und Gastwirtschaften in Svilengrad merken also Einbußen, wenn es für Reisende aus der Türkei schwieriger wird, über die Grenze zu fahren. Glückspiel Visum. Wenn Nilgün Duman z.B. in die EU einreisen möchte, muss sie jedes Mal von neuem beim griechischen oder bulgarischen Konsulat in Edirne ein Visum beantragen. Dort vollzieht sich für sie eine eigene Art von Glücksspiel: Sie zieht eine Nummer, bringt wie jedes Mal drei Passfotos, ihre Heiratsurkunde, Kontoauszüge, Dokumente zu ihrem Arbeitsstatus und ihrem Haus und eine Reiseversicherung. Sie zahlt ca. 60 Euro, auch wenn sie nur über das Wochenende bleibt. Ungefähr fünf Tage später erfährt sie, ob sie ein Visum für drei, sechs oder zwölf Monate erhält, oder wie letztes Mal nur für zwei. Wie die Entscheidung gefällt wird, wieso das Visum mal kürzer, mal länger gilt, erfährt sie nicht. „Die sind so lustig”, meint Nilgün. Ein deutsches Visum zu bekommen sei für sie noch schwieriger. In Edirne gibt es kein deutsches Konsulat, also muss sie dafür über zwei Stunden nach Istanbul fahren. Das hat die Familie einmal gemacht. Um sechs Uhr morgens waren sie dort, warteten mehrere Stunden. Als sie an der Reihe waren, wollte der Beamte ein zusätzliches Dokument. „Da kannst du dir die Haare ausreißen”, sagt sie. „Da kannst du wieder zurückfahren, die Unterlagen besorgen und es noch einmal probieren.” Vor dem Automaten sieht Nilgün den Zahlen und Figuren zu. „Es dreht sich, und du wirst lustig”, meint sie. Nach einer bestimmten Zeit, vielleicht ein, zwei Stunden, hört sie dann auf zu spielen. Sie bleibt auf dem Hocker vor einer der Maschinen sitzen und sieht sich nur um, sieht zu, wie die anderen spielen. Das gefällt ihr auch, sagt sie, das reiche ihr schon aus. Für die nächste Zeit werden sie und Mustafa kein Visum beantragen, sie müssen sparen. „Außer wir gewinnen in der Lotterie oder von irgendwoher kommt Geld, dann beantragen wir es doch.” Nilgün Duman wäre auch gerne wieder berufstätig, aber mit 47 Jahren ist es schwer, in der Region Arbeit zu finden. Ihre Bewerbungen bei deutschen Firmen wurden bislang abgelehnt. Man nehme lieber jemanden aus Deutschland. Sie werden also in Edirne bleiben. Am Abend werden sie Nachrichten schauen und dann Karten spielen bis Mitternacht oder ein Uhr früh. So wie sonst auch. l Katharina Ludwig schreibt als freie Journalistin in Berlin. Dezember 2010 l Jänner 2011 an.schläge l 31