Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus
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Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus
89 Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus neorealistischer Perspektive Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus neorealistischer Perspektive Alexander Siedschlag 1 2 3 4 5 6 1 Neorealismus als skeptische Gegenwartswissenschaft.................89 Voraussetzungen und Grenzen von Steuerungsleistungen im anarchischen Weltsystem.........................................................90 Realistische Möglichkeiten interdependenzgetriebener Global Governance .......................................................................94 Realistische Global-Governance-Mechanismen und Nachhaltigkeit einer Global-Governance-Architektur......................................96 Neorealismus und das 5-Säulen-Modell von Global Governance ..................................................................................98 Fazit ............................................................................................102 Neorealismus als skeptische Gegenwartswissenschaft Anfang der 1980er-Jahre fand im Fach Internationale Politik die „RealismusGlobalismus-Debatte“ statt. Realismuskritiker glaubten damals, die „kapitalistische Weltwirtschaft“ würde die Staaten ebenso wie die wachsende Zahl nichtstaatlicher Akteure in der internationalen Politik gleichermaßen einfangen und ein geordnetes, integriertes globales Weltsystem schaffen (vgl. Maghroori und Ramberg 1982). Internationale Organisationen würden darin eine den Nationalstaaten vergleichbare souveräne Rolle spielen und Routine in die internationale Politik bringen, sie bürokratisieren, vorhersagbar machen und in diesem Sinn zu einer aktenkundlichen Lösung der Weltprobleme führen. Die Essenz der Macht als Motor internationaler Politik würde so der Essenz der rational verwalteten Interdependenz weichen. 1980er Jahre: Realismus-GlobalismusDebatte Heute, zwanzig Jahre später und in einem neuen Jahrhundert, befindet sich das internationale System jedoch nach wie vor im Übergang. Es steht zwischen den Polen Staatenwelt und Weltgesellschaft, und wir haben es anders als im kalten Krieg gerade mit keiner Globalkonstellation zu tun. Die Globalkonstellation des kalten Krieges hat alles internationale Handeln irgendwie in ihren Bann gezogen und überlagert, doch dadurch hat sie auch oft genug kooperationsfördernd und konfliktregelnd gewirkt. Derart umfassende, existenziell bedeutsame strukturelle Bestimmungsfaktoren gibt es aus neorealistischer Sicht gegenwärtig nicht. Ähnlich wie die kulturtheoretische Sichtweise von Mike Featherstone (1995) geht der Neorealismus davon aus, dass wir es strukturell gesehen nicht mit der „einen Heute: StaatenweltWeltgesellschaftDebatte 90 Alexander Siedschlag Neorealistische Perspektive Welt“ oder der neuen, „zweiten Moderne“ zu tun haben, sondern mit einem ungeordneten Zusammenspiel verschiedenster „globaler Modernitäten“. Diese Eingangsdiagnose teilt der Neorealismus übrigens mit den wissenschaftlichen Anwälten einer Weltgesellschaft (z.B. Czempiel 1993, 196f.; Rosenau und Czempiel 1992). Die neuen kollektivistischen Ordnungsvisionen unserer Zeit eröffnen nach Meinung des Neorealismus indes nicht die Möglichkeit einer kosmopolitischen Weltdemokratie, sondern sind ein dysfunktionaler Reflex auf archetypische abendländische Einheitssehnsüchte (Link 2001a, 12f.) Global Governance: was ist realistisch? Die Realisierungschancen von Global Governance aus neorealistischer Sicht einzuschätzen, bedeutet skeptisch, tatsachenorientert und nicht zivilgesellschaftsemanzipatorisch zu untersuchen, was mit den gegenwärtig verfügbaren politischen Mitteln machbar erscheint bzw. was nun eigentlich diese politischen Mittel genau sind und unter welchen Bedingungen sie sich überhaupt Erfolg versprechend einsetzen lassen. Nach der Erläuterung in diesem Zusammenhang wichtiger neorealistischer Grundannahmen werden in diesem Beitrag prototypische GlobalGovernance-Mechanismen identifiziert, die aus neorealistischer Perspektive prinzipiell möglich sind. Danach wird untersucht, ob sich daraus dem Neorealismus zufolge eine ebenenübergreifende Global-Governace-Architektur herausbilden kann. Die Ergebnisse werden im gemäßigten 5-Säulen-Modell von GlobalGovernance verortet, wie es sich in der deutschen Diskussion herausgebildet hat. 2 Voraussetzungen und Grenzen von Steuerungsleistungen im anarchischen Weltsystem Mechanismen zur Realisierung von Ordnungskonzepten Neorealismus fragt vor allem auch nach den konkreten Mechanismen, die erforderlich sind, um politische Ordnungskonzepte zu verwirklichen. Gerade dafür muss er erst einmal mit einer technischen – und keiner von vornherein normativen oder gar teleologischen – Definition von Globalisierung arbeiten. Nicht sinnvoll ist in dieser Perspektive eine Begriffsfassung von Globalisierung, welche die Möglichkeit und den Nutzen nationaler Politik verneint und kollektives Entscheidungshandeln sowie gesamtgesellschaftliche Daseinsvorsorge an Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder gleich an die „Weltgesellschaft“ überantwortet (wie z.B. Fues und Hamm 2001). Postinternationale Politik: Vielmehr erscheint es angebracht, an den Begriff „postinternationale Politik“ (Czempiel und Rosenau 1989) anzuschließen. Er stammt zwar aus dem realismuskritischen Lager, doch auch aus neorealistischer Perspektive ist er treffend, weil er sowohl auf die prinzipielle Weite als auch auf die immanenten Grenzen des Möglichkeitsraums hinweist, in dem sich Global Governance abspielen kann. Der Begriff postinternationale Politik soll klar machen, dass globale politische Herausforderungen und globale politische Strukturen weder etwas Neues sind noch das Ende staatlichen Handelns oder der Staatenwelt als solcher bedeuten. nicht das Ende der Staatenwelt 91 Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus neorealistischer Perspektive Viele Anhänger von Global Governance missverstehen jedwede „realistische“ Sichtweise internationaler Politik als eine verwerfliche, ja weltfeindliche Machtstaats-Theorie: Realismus bezeichne das unangemessen düstere und weltgeschichtlich überholte Bild der vom ewigen Machttrieb mit Energie versorgten und hyperrationalen Kalkülen des Selbstinteresses rastlos von einem Konflikt in den anderen getriebenen Staaten. Das ist das so genannte Billardball-Modell (mit den Staaten als Kugeln), wie es am ehesten noch dem von Kenneth N. Waltz begründeten amerikanischen Neorealismus entspricht – auch struktureller Realismus genannt, weil er von der Struktur des internationalen Systems direkt auf das Verhalten der Staaten schließt (zusammenfassend Waltz 1990; zuletzt Waltz 2000). Herkömmliches Bild vom Realismus Zum Neorealismus gehören aber auch europäische Beiträge (z.B. Buzan et al. 1993; Kindermann 1986, 1996; Link 2001a; Siedschlag 1997, 66–150, 2001a), die davon ausgehen, dass wir es mit einer Akteursvielfalt und überhaupt mit einem pluralistisch organisierten internationalen System zu tun haben, in dem von einzelnen Akteuren keine durchgreifenden Steuerungsleistungen, sondern höchstens Europäische Variante vom Neorealismus Kasten I-6: Einige neorealistische Axiome Bild des internationalen Systems – Das internationale System ist anarchisch organisiert; – Anarchie bedeutet nicht Chaos, sondern „Nicht-Herrschaft“: Auf internationaler Ebene gibt es keine Zentralinstanz, die verbindlich Recht setzen und durchsetzen kann; – Institutionelle Werte und Regeln haben keine systematisch Politik prägende Kraft. Ordnungspolitische Grundannahmen – Institutionelle Ordnungen sind im labilen Gleichgewicht; – Die Verwirklichung einer internationalen Ordnung ist ursächlich von den (Eigen-)interessen der Akteure abhängig; – Internationale Institutionen sind keine Quellen für Problemlösungen oder „Macher“ von Entscheidungen: Sie erfüllen lediglich derivative, d.h. aus der Souveränität und den Eigeninteressen ihrer Mitglieder abgeleitete Funktionen. Deshalb sind sie in ihrer Zielsetzung und Wirksamkeit klar durch die Handlungsbereitschaft (oder -verweigerung) der Mitglieder determiniert; – Letzten Endes kann ein durchgreifender Ordnungswandel internationaler Politik nur emergent sein, d.h. spontan und selbstorganisiert entstehen, nicht aber durch Global Governance herbeigeführt werden. Grundkategorien der Weltpolitik – Systemische Struktureffekte: Staatliche Autonomie, Einwirkungsmöglichkeit und Regelungskompetenz wird durch die Existenz anderer Akteure sowie durch die Struktur des Systems, in das die Akteure eingebettet sind, konditioniert; – Macht- und Gegenmachtbildung als Ordnungsprinzip: Es geht darum, relativ zu anderen Staaten zu gewinnen; – Pfadabhängigkeiten: Beharrungstendenzen einmal eingeschlagener Entwicklungsrichtungen und zugleich Abhängigkeit aktueller Entscheidungen von vergangenen; vor allem in dem Sinn, dass früher getroffene Entscheidungen die gegenwärtigen Handlungsalternativen begrenzen. bestimmte Managementtätigkeiten erbracht werden können. Darüber hinaus betrachten diese Theorierichtungen internationale Politik nicht als ungeregeltes System und Nullsummenspiel in Form eines Ringens von Staaten um Machtpotenzial, sondern als ein pluralistisches und dynamisches Interaktionssystem – jedoch als ein anarchisches System ohne zentrale Entscheidungs- und Vollzugsorgane sowie ohne erzwingbare Rechtsordnung. 92 Neorealistisches Verständnis von Anarchie Einerseits übt Globalisierung systemischen Druck auf Staaten aus... andererseits aber ist Systemstruktur durch Staaten veränderbar Alexander Siedschlag Wenn der Neorealismus von der Anarchie des internationalen Systems spricht, meint er das allerdings zumeist nicht Hobbesianisch (dann würde sich die Frage nach der Möglichkeit von Global Governance von vornherein erledigen; denn es wäre dann nur ein Welt-Leviathan denkbar, dem sich alle gleichzeitig und in gleicher Weise unterwerfen), sondern im Sinn von John Locke: Dem Weltsystem fehlt eine herrschende und durchsetzungsfähige regulative Idee, die es ermöglichen würde, alle seine Mitglieder kollektiv in die Pflicht zu nehmen. Aus der fehlenden zentralen Normierungs-, Entscheidungs- und Aufsichtsinstanz resultiert eine existenzielle Unsicherheit, die bei den Staaten zu einer vorherrschenden Handlungsorientierung gemäß dem nationalen Eigeninteresse und einem Streben nach Macht und Sicherheit führt. Neorealismus sagt aber keineswegs, dass Global Governance deswegen prinzipiell unmöglich ist. In gewissem Sinn geht ja auch die Global-Governance-Schule von einem Anarchie-Axiom aus, wenn sie eben von Governance spricht und nicht von Government. Wohlgemerkt ist auch aus Sicht des Neorealismus staatliches Handeln den strukturbildenden Prozessen der Globalisierung unterworfen (Link 2001c). Waltz (1979, 79–101) hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die staatliche Autonomie, Einwirkungsmöglichkeit und Regelungskompetenz durch die Existenz anderer Akteure sowie durch die Struktur des Systems, in das die Akteure eingebettet sind, konditioniert wird. Globalisierung kann deshalb zu einem systemischen Druck werden, der die Akteure in bestimmte Verhaltensrichtungen drängt (zu dieser Logik siehe Waltz 1979, 73–78). Dass das „Ordnungsprinzip“ der Anarchie das Akteursverhalten von vornherein in bestimmte Bahnen lenkt, ist im Grunde sogar ein neorealistischer Global-Governance-Mechanismus: „Strukturwandel wirkt sich auf das Verhalten von Staaten und auf die Ergebnisse ihrer Interaktionen aus“ (Waltz 2000, 39). Dadurch, dass die Systemstruktur bestimmte Verhaltensweisen der Akteure hervorruft, können die Akteure jedoch prinzipiell auch wieder die Systemstruktur beeinflussen und verändern, sodass auch staatliche Global-GovernanceLeistungen strukturell möglich sind und ein Interesse der Staaten an der Verwirklichung dieser Steuerungsmöglichkeiten entstehen kann. Allerdings muss das Ergebnis dabei nicht unbedingt den zugrunde liegenden Absichten entsprechen. Waltz bezieht sich dabei auf die Markt-Analogie: „Der Markt entsteht aus den Aktivitäten getrennter Einheiten heraus [...], deren Ziele und Bemühungen nicht darauf gerichtet sind, eine Ordnung zu schaffen, sondern eher darauf, ihre eigenen intern definierten Interessen zu verwirklichen [...]. Die einzelne Einheit handelt für sich selbst. Aus der Koaktion einzelner Einheiten taucht eine Struktur auf, die allen von ihnen Beschränkungen auferlegt. Einmal geschaffen, wird ein Markt zu einer eigenständigen Kraft und zu einer Kraft, die die konstitutiven Einheiten [...] nicht kontrollieren können. Stattdessen werden die Gründer mehr oder weniger [...] zu den Geschöpfen des Markts [...].International-politische Systeme sind, Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus neorealistischer Perspektive 93 wie ökonomische Märkte, individualistischen Ursprungs, spontan errichtet und unintendiert.“ (Waltz 1979, 90f.) Der europäische Neorealismus geht noch ein Stück weiter. Zu ihm gehört die Annahme, dass das Handeln der Staaten in einem steten dynamischen und wechselseitigen Verhältnis zur Struktur des Weltsystems steht (z.B. Buzan et al. 1993, 65; Link 1991). Prinzipiell kann das Weltsystem sogar selbst zum Akteur werden oder zumindest ein interaktionssteuerndes Netzwerk bilden (Buzan et al. 1993, 69–80). Gleichwohl ist auch der europäische Neorealismus skeptisch gegenüber Richtungen von Global Governance (z.B. die englische Schule der Transformationalisten mit Martin Albrow, David Held u.a., vgl. Menzel 2001, 232f.), die damit rechnen, dass sich über die Entwicklung der Gesellschaftswelt sozusagen zu einen System der internationalen Verhandlungsdemokratie eine dauerhafte Affektbändigung staatlicher Eigeninteressen erreichen und eine konfliktbeseitigende und kooperationsträchtige Transformation des internationalen Systems zugunsten der Verwirklichung kollektiver „Weltinteressen“ bewerkstelligen lasse. Zusammenfassend gesagt betont der europäische Neorealismus vor diesem Hintergrund bestimmte Grundvoraussetzungen für erfolgreiche Steuerungsleistungen im internationalen oder auch globalen Maßstab. Dass die neuere Global Governance Diskussion in wichtigen Stücken entweder daran anschließt oder von einem anderen Ausgangspunkt aus zum gleichen Ergebnis kommt, ist dabei offensichtlich (vgl. Arbeitsgruppe „Global Governance“ 2001, 108f.; Messner, in diesem Band, 15 u. 27–29). • • • Transformationsprozesse im internationalen System sind typischerweise langfristig, unterschwellig und verschwommen: „Neue Strukturen entstehen nicht auf einer tabula rasa. Sie entwickeln sich in Anknüpfung an (noch) bestehende Strukturelemente, die sich wandeln und die dann zusammen mit neuen Elementen eine neue Konfiguration bilden.“ (Link 1991, 84) Deshalb muss staatliches Handeln – gerade auch im Dienst von Global Governance – darauf ausgerichtet sein, auf der Grundlage seiner wertorientierten außenpolitischen Handlungsmaximen ein Gleichgewicht zwischen den jeweils aktuellen strukturbildenden Tendenzen im internationalen System zu erreichen, das auch Pfadabhängigkeiten berücksichtigt (Siedschlag 2001b, 43f.). Effektive Interaktion unter den Bedingungen von Globalisierung hängt davon ab, dass es auf der regionalen Ebene zu historisch gewachsener kollektiver Identitätsbildung kommt, die dann zu einer eigenen Struktur wird, die staatliches Handeln koordiniert und Reibungsverluste verringert (Buzan und Little 1994). Staatliches Handeln in Wechselbeziehung zur Struktur des Weltsystems Grundvoraussetzungen für erfolgreiche Steuerungsleistungen 94 Alexander Siedschlag 3 Interdependenz als Herausforderung an die Staaten durch: – neue Akteure – plurilaterale Ebenenstruktur Realistische Möglichkeiten interdependenzgetriebener Global Governance Auch aus neorealistischer Sicht bringt Interdependenz und Globalisierung also klare Herausforderungen an die Staaten mit sich und kann das internationalpolitische System verändern. Zugleich eröffnet sie neue Möglichkeiten, neue Notwendigkeiten und neue Ebenen des Regierens (Roloff 1998, 65): • • Erstens wird die durch die Anarchie bedingte funktionale Vereinheitlichung der Staaten (ein Axiom von Waltz 1979, 96f. und 104) dadurch überlagert, dass durch ökonomische Verflechtungs- und Verdichtungsprozesse neue Akteure an Bedeutung gewinnen und im Rahmen des „pooling“ von Souveränität z.B. in der EU zwischen den Staaten funktionale Differenzierung stattgefunden hat und sich weiterentwickelt. Zweitens ist infolge der Verschiebung der Funktion verbindlicher Wertzuweisung vom Staat zum Markt eine plurilaterale Struktur internationaler, regionaler und interregionaler Zusammenarbeit und Konkurrenz entstanden, in deren Rahmen Staaten und gesellschaftliche Akteure in flexiblen Koalitionen teils miteinander, teils nebeneinander und teils gegeneinander arbeiten. Problem ungleichzeitiger Globalisierung Gleichwohl ist Globalisierung für den Neorealismus nicht universell, sondern eine ausschnitthafte, netzwerkartige Verdichtung und Verflechtung der ökonomischen, politischen und sozialen Beziehungen in der industrialisierten und sich industrialisierenden Welt (Roloff 1998, 68). Sie betrifft nicht alle Staaten in gleicher Weise, sondern in unterschiedlichen Graden. Wie in anderen strukturlogischen und staats-, nicht gesellschaftsorientierten Theorien internationaler Politik auch (z.B. im so genannten neoliberalen Institutionalismus, vgl. Keohane und Nye 2000, 2), versteht der Neorealismus Globalisierung darüber hinaus weniger als Prozess oder als neue Ordnungsidee (oder neue Chaosgefahr), sondern als einen zeitbedingten Zustand des internationalen Systems, der viel weniger auf Homogenisierung hinweist als auf neue Bruchstellen und Konfliktlinien. Daran muss die GlobalGovernance-Schule denken, wenn sie sich zum Beispiel auf das neoliberalinstitutionalistische Modell „komplexe Interdependenz“ bezieht (wie Messner in diesem Band, 6f.). Fehlannahmen des neoliberalen Institutionalismus aus neorealistischer Sicht In wichtigen Aspekten stützen sich Global-Governance-Modelle allerdings auf diejenigen Ansichten des neoliberalen Institutionalismus, die der Neorealismus für erwiesenermaßen falsch hält (vgl. Baldwin 1993, 4–11; Mearsheimer 1994/95). Das bezieht sich vor allem auf die Auffassung, internationaler Einfluss resultierte nicht in erster Linie aus strukurbedingten Positionen oder aus Machressourcen, sondern aus Überzeugungsarbeit und aus dem gekonnten Umgang mit den Restriktionen und den Möglichkeiten, die der Zustand komplexer internationaler Interdependenz mit sich bringt. Deshalb gehe der Gewinn des einen Akteurs nicht zu Lasten der anderen Akteure, sondern trage zur kontinuierlichen Ent- 95 Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus neorealistischer Perspektive wicklung der Gesamtmenge politischer und gesellschaftlicher Ressourcen bei und schaffe Kooperationsanreize. Dagegen vertritt der Neorealismus die Auffassung: Neue internationale Strukturen und Ordnungsmuster entstehen nie aus dem Nichts und deshalb auch nie auf der Grundlage reiner Kosten-Nutzen-Kalküle, sondern knüpfen – im Sinn von Pfadabhängigkeit – immer an schon bestehende an. Außerdem führen zu starke Problemverknüpfungen gemeinsame Problemwahrnehmungen in relativ dichten Verhandlungs- und Governance-Netzwerken nicht in erster Linie zur Schaffung gemeinsamer Regelungsmechanismen, sondern erhöhen die Konfliktgefahr und mindern die Realisierungschancen von Global Governance. Institutionen können aus neorealistischer Sicht auch nur vorhandene Kapazitäten bündeln, aber keine neuen Problemlösungsansätze und Handlungsressourcen liefern. Multilateralismus (oder allgemein gesagt Institutionalisierung) schafft keine Pfadabhängigkeit von Ordnungsmustern Institutionen liefern keine Problemlösungen, sondern... Kasten I-7: Das PRiME-Faktorenbündel: Chancen und Grenzen komplexer Interdependenz aus neorealistischer Sicht Wie wirken Problemverknüpfungen auf die Effektivität und Stabilität von Kooperation? ! Problemverknüpfungen stören, sie führen zu einem zu starken Schatten der Zukunft. Ist die Organisation der Beziehungen auf der Grundlage direkter oder diffuser Reziprozität zu empfehlen? ! Diffuse Reziprozität ist, vor allem am Anfang, vorzuziehen; denn damit wird Abweichlern ermöglicht, später in den Kooperationsrahmen zurückzukehren. Wie dicht soll das institutionellen Rahmenwerk für die Kooperation sein? ! Vorzuziehen ist ein möglichst flexibler Multilateralismus, der Prinzipienwechsel und variable Akteurskonfigurationen ermöglicht. Wie soll die Mitgliederstruktur von Kooperationsordnungen beschaffen sein? ! Vorzuziehen ist eine eher größere Mitgliederzahl und eine heterogene Mitgliederstruktur, die viele Interaktions- und Kompensationsmöglichkeiten schafft. Wie sind zu erwartende Ausstrahlungseffekte der Kooperation zu bewerten? Was ist die allgemeine politische Effektivität der Kooperation und der erzielten Konfliktregelungen jenseits des ursprünglichen Problembereichs? ! Ausstrahlungseffekte sind positiv: Es entstehen Bausteine internationaler Kooperation, die je nach Eigeninteresse aufgegriffen werden können oder nicht. Quelle: Siedschlag 2001b, 27–31 neuen Eigenschaften/Fähigkeiten sondern redistribuiert nur (Siedschlag 1997, 136). Internationale Organisationen und Regime ebenso wie Weltkonferenzen sind somit zwar relevante Handlungskontexte, aber nicht Quellen für Problemlösungen oder „Macher“ von Entscheidungen: Sie erfüllen lediglich derivative, d.h. aus der Souveränität und den Eigeninteressen ihrer Mitglieder abgeleitete Funktionen. Deshalb sind sie in ihrer Zielsetzung und Wirksamkeit klar durch die Handlungsbereitschaft (oder -verweigerung) der Mitglieder determiniert. erfüllen auf Interessen basierende Funktionen 96 Alexander Siedschlag 4 Neorealistische Global-GovernanceMechanismen Management der WeltPolitik durch Großmächte Staaten orientieren sich am absoluten, nicht am relativen Nutzen von Kooperationen Regionalisierung als Gegenmachtbildung Realistische Global-Governance-Mechanismen und Nachhaltigkeit einer Global-GovernanceArchitektur Vor dem Hintergrund der bisherigen Erläuterung prinzipieller neorealistischer Annahmen über nachhaltige Kooperation im großen Maßstab – vor allem, aber nicht nur zwischen Staaten – lassen sich die folgenden prototypischen neorealistischen Global-Governance-Mechanismen festhalten: Global Governance als Hegemonieklub: Dieser Mechanismus ergibt sich aus der spezifischen Auffassung, welche die Strukturalisten (v.a. Link, Waltz) unter den Neorealisten von einem idealen internationalen System haben: Stabilität und Kooperation kann prinzipiell nicht durch Institutionen und Machtverteilung relativ dauerhaft hergestellt werden, sondern nur auf dem Weg eines Managements der Weltpolitik durch Großmächte (z.B. Waltz 1979, 138f.). Organisierter Multilateralismus: Internationale Organisationen und Institutionen (gemeinsam vereinbarte Normen, Regeln und Verfahrensweisen) entfalten dem Neorealismus zufolge nie Eigenleben, sondern sind Instrumente der Staaten. Besonders deutlich hat das Joseph M. Grieco (1996) mit seiner „voice opportunity“Hypothese herausgearbeitet: Staaten suchen organisierte multilaterale Kooperation nicht nur aus institutionenökonomischen Gründen, um Kooperation billiger zu machen, sondern vor allem, um sich gerade auf dem Weg institutioneller Einbindung individuelles Handlungskapital zu schaffen. Dabei sind sie nicht an dem absoluten Nutzen, sondern an dem relativen Nutzen von Kooperation interessiert (Grieco 1990, 37–50): Jeder Staat will sich immer besser stellen bzw. mehr gewinnen als die anderen. Deshalb darf der Institutionalisierungsgrad aber nicht zu hoch sein und multilaterale Kooperation nie generalisiert werden, sondern immer fokussiert bleiben und auf spezifischen „Investitionen“ der Akteure aufbauen. Sonst drohen Governance-Konflikte (vgl. Gourevitch 1999): Die Institutionen prägen dann keine kooperativen Strategien und Politikergebnisse, sondern die Akteure benutzen sie, um ihre unilateralen Optionen zu erweitern und ihr Eigennutzstreben optimal an die Umweltbedingungen anzupassen. Regionale Konsolidierung und Integration: Dies ist eine klassisch neorealistische Strategie der Gegenmachtbildung gegen globale Systemstrukturen: Staaten suchen gemeinsame Problemlösungen und berücksichtigen die Position von NGOs nicht, um gemeinsame tragfähige Lösungen für Weltprobleme zu erreichen, sondern um eine bessere relative kollektive und auf diesem Weg vor allem auch individuelle Position zu verbessern. Ein Beispiel ist die kooperative Balancepolitik im Rahmen der EU, die weniger darauf gerichtet ist, gemeinsam die Herausforderungen der Globalisierung zu bewältigen, als vielmehr darauf, durch die Vertiefung und Erweiterung der Integration in eine Position zu kommen, die es erlaubt, die Chancen der Globalisierung ebenso zum eigenen Vorteil zu nutzen wie die USA oder möglichst noch besser (Link 2001b, 307). 97 Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus neorealistischer Perspektive Regression: Die Antwort der Staaten auf den Anpassungsdruck der Globalisierung muss keineswegs in der Schaffung gemeinsamer Institutionen oder in der Unterstützung von multilateralen Regimen, geschweige denn von globalem Multilateralismus bestehen. Auch hier ist der Neorealismus ähnlich skeptisch wie der neoliberale Institutionalismus (vgl. Keohane und Nye 2000, 21): Staaten können natürlich auch isolationalistisch oder unilateral antworten, und gerade die Aggregation solcher Unilateralismen kann dann zu einem Global-Governance-Effekt führen. Ein Beispiel dafür ist Emulation, die Übernahme anderer nationaler Standards, verändert um einige Zugeständnisse an die Situation oder den „Geschmack“ im eigenen Land, um Funktionsprobleme mit geringem Aufwand lösen und vom Legitimitätspotenzial fremder Lösungen profitieren zu können. Zu den Beispielen zählen die internationale Übernahme der in den USA entwickelten Y2K (Jahr-2000)-Standards und die Übernahme von Verfassungssystemen durch andere Staaten. Staatliches Handeln nicht unbedingt kooperativ Das politisch Relevante und zugleich Ambivalente an Emulationsprozessen ist, dass zwar Muster und Funktionen nachgeahmt werden, nicht aber notwendigerweise die ihnen zugrunde liegenden Ideen und Ziele (Rosenau 1996, 259f.): Nationenbildung und Souveränitätspolitik verfechten heutzutage nicht typischerweise diejenigen Ideen und Ziele, die damit in den westlichen Modellstaaten verbunden waren und sind (Bürgerrechte, Grundfreiheiten, Parlamentarismus, Volkssouveränität usw.). Dieses Beispiel weist zudem auf die Fragwürdigkeit der auch von Global-Governance-Anhängern vertretenen friedenspolitischen These und Strategie hin, wonach die weltweite Verbreitung demokratischer Ordnung direkt zum Weltfrieden führe. Emulationsprozesse Die Herausstellung der Mechanismen für Global Governance aus neorealistischer Perspektive beantwortet die Frage nach den Realisierungschancen jedoch allenfalls zur Hälfte. Zusätzlich muss man auf alle Fälle fragen, inwieweit sich darauf eine ganze Global-Governance-Architektur gründen lässt, die Bestand haben kann. Die Frage also, wie nachhaltig eine einmal in Funktion gesetzte GlobalGovernance-Architektur sein kann, findet aus neorealistischer Sicht keine ermutigende Antwort. Auf der Grundlage des ökonomischen Realismus von Gilpin (1981) wird das am deutlichsten. Dieser Ansatz geht davon aus, dass internationaler Strukturwandel und das Entstehen neuer Kooperationsordnungen nie die Handlungsrationalität der Akteure – die alle in irgendeiner Weise auch am Eigennutz und Selbsterhalt interessierte Interessengruppen sind – verändern wird. Deshalb ist die Handlungsrationalität immer in allererster Linie auf Eigengewinn, oder genauer: den Gewinn von Machtressourcen ausgerichtet. Neben Mechanismen auch die Frage der Nachhaltigkeit von Gobal Governance relevant Sobald ein Gleichgewicht zwischen dem Nutzen und den Kosten weiteren Wandels erreicht ist, besteht deshalb die Tendenz, dass die Kosten für den Erhalt des Status quo schneller ansteigen als die Kapazität, die nötig ist, um den Status quo zu untermauern. Infolge dieses Ungleichgewichts ändert sich das System auf selbstorganisierte Weise, und ein neuer Gleichgewichtszustand pendelt sich ein. Handlungsrationalität auf Gewinn von Machtressourcen ausgerichtet 98 Global Governance: kein Steuerungsmodell sondern emergentes Phänomen Mechanismus: Gegenmachtbildung zur Sicherung komparativer Wettbewerbsvorteile Alexander Siedschlag Global Governance kann sich in diesem Sinn nur selbst organisieren, ist ein emergentes Phänomen und kein Steuerungsmodell. Allenfalls möglich erscheint auf der Grundlage dieser Logik die Verwirklichung von Global Governance im Sinn einer „pluralistischen Führerschaft“ der Weltwirtschaft (vgl. Gilpin 1987, 366–378) oder allgemeiner gesagt eine konsortiale Führung der Weltpolitik auf der Grundlage der wachsenden problemfeldübergreifenden Bedeutung informeller Gremien (Roloff 2001, 1062f.) – zum Beispiel der G 8, die seit dem Kölner Gipfel von 1999 auch als sicherheitspolitischer Akteur auftritt. Gerade vor diesem Hintergrund können es Staaten jedoch als in ihrem Interesse liegend betrachten, gemeinsam sozusagen über den Staat als Institution hinaus zu regieren. Dies kann durchaus im Sinn des Global-Governance-Modells geschehen, spielt sich für den Neorealismus aber – wie eben gesagt – nicht auf der globalen Ebene ab, sondern im regionalen Maßstab. Solch regionale, internationalisierende Governance, die globale Effekte erzielen kann, ist in der neorealistischen Modell-Logik als generalisierte Allianz zu verstehen (Link 2001a, 135–150; Roloff 1998, 77f.): um entweder wahrgenommene Machtungleichgewichte auszubalancieren oder durch Gegenmachtbildung („pooled souvereignty“, d.h. Bündelung nationaler Fähigkeiten) in ihrem Entstehen zu hemmen. Von regionaler Kooperation versprechen sich Staaten eine Stärkung ihrer individuellen Position und ihres politischen (Ver-)handlungskapitals im engen und weiten internationalen Umfeld. Regionalismus als möglicher Baustein einer Global-Governance-Architektur dient also aus neorealistischer Perspektive nicht zur Lösung von gemeinsamen oder gar von Weltproblemen, sondern zur Gegenmachtbildung gegenüber anderen Regionen, zur Stärkung des Multilateralismus und damit zur Sicherung komparativer ökonomischer und politischer Wettbewerbsvorteile. 5 Das 5-Säulen-Modell aus neorealistischer Sicht Neorealismus und das 5-Säulen-Modell von Global Governance Wie die Realisierungschancen von Global Governance aus neorealistischer Perspektive bausteinspezifisch zu beurteilen sind, lässt sich auf der Grundlage der bisherigen Darstellung gut anhand des gemäßigten 5-Säulen-Modells des Instituts für Entwicklung und Frieden (INEF) und der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) (z.B. Messner und Nuscheler 2000; Nuscheler 2000, 2001; vgl. auch Arbeitsgruppe „Global Governance“ 2001, 108–111) systematisieren. Demnach beruht Global Governance auf fünf Prinzipien (oder zumindest Thesen), die im Folgenden neorealistisch kommentiert werden. 1. Zur These: Global Governance heißt nicht Global Government Im Zentrum dieses Bausteins stehen in Anlehnung an den weltpolitischen Kantianismus und Idealismus auf der Solidarität kollektiver Erfahrungsgemeinschaften beruhende Regelungen und kollektive Weltinteressen, denen politikfeldübergrei- 99 Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus neorealistischer Perspektive fende Ordnungsstrukturen folgen. David Held (1995) zufolge könnte dies über eine kosmopolitische Demokratie bewerkstelligt werden, einem System ineinander greifender demokratischer und friedensschaffender Institutionen und entsprechender Werte und Einstellungsmuster – von der Stadt bis zum globalen Weltsystem. Aus neorealistischer Perspektive dagegen hat eine auf weltumspannende Werte und Moralvorstellungen gebaute Governance-Ordnung nicht nur feste strukturelle Grenzen ihrer Verwirklichung, sondern ihre Verwirklichung ist auch mit Risiken verbunden und deshalb nicht in jedem Fall wünschenswert. Bereits Edward H. Carr merkte in seinem idealismuskritischen Buch The Twenty Years' Crisis von 1939 dazu an: Kosmopolitische Demokratie... ist mit Risiken verbunden „Ebenso wie Rufe nach `nationaler Solidarität´ in der Innenpolitik immer seitens der überlegenen Gruppe erhoben werden, die diese Solidarität dafür benutzen kann, ihre eigene Kontrolle über die Nation als ganzes zu verstärken, so kommen Rufe nach internationaler Solidarität und Weltgemeinschaft von solchen überlegenen Staaten [ergänze: oder Gruppen], die die Hoffnung hegen können, dann die Kontrolle über die geeinte Welt auszuüben“ (Carr 1939, 86). Der Neorealismus betrachtet deshalb ein System von Checks and Balances als ein universelles Prinzip aller pluralistischen Gesellschaften und Beziehungen zwischen Staaten. Politikfeldübergreifenden Ordnungsstrukturen kann man sich seiner Ansicht nach höchstens dadurch annähern, dass man Interessen gegeneinander ausgleicht – was immer nur zeitweilig gelingen kann – und Konflikte beizulegen, nicht von Grund auf zu lösen versucht. Denn verstärkte, noch dazu ebenenübergreifende Interaktion führt auch zu verschärften Konkurrenzsituationen. Lockere Ausstrahlungseffekte von einem Kooperationsfeld auf ein anderes oder von einer Ebene auf die andere bewertet der Neorealismus jedoch insgesamt positiv: Es entstehen variable Bausteine weltpolitischer Kooperation, die je nach Eigeninteresse aufgegriffen werden können oder nicht. 2. System von Checks and Balances notwendig Zur These: Global Governance beruht auf verschiedenen Formen und Ebenen internationaler Koordination, Kooperation und kollektiver Entscheidungsbildung Dieser Baustein besteht aus neuen Regelungsformen: einem komplexen Zusammenspiel von Akteuren mit unterschiedlichem Status und unter Einbezug unterschiedlicher politischer Ebenen und dezentralisierter Abstimmungsmechanismen. Selbst Hegemone lassen sich demzufolge auf diese Kooperation ein, weil die Regelung im gemeinsamen Interesse ist. Global Governance als komplexes Zusammenspiel von Akteuren... 100 Alexander Siedschlag Die dafür notwendige globale Aufgabenteilung lässt sich aus neorealistischer Sicht nicht bewerkstelligen und vor allem nicht überwachen und sanktionieren. ist aus neorealistischer Sicht instabil Ein Glaube an die rationale Gestaltbarkeit globaler Beziehungen und ein Vertrauen auf die gestalterische Eigenkraft von Institutionen grenzt aus dieser Perspektive deshalb an politisch verantwortungslose Utopie. Der Neorealismus, vor allem der strukturelle Realismus, hält multipolare Systeme sowieso aus drei prinzipiellen Gründen für instabil (klassisch Waltz 1964, danach Mearsheimer 1990/91): Erstens sind bei mehr Akteuren auch mehr Konfliktbeziehungen strukturell möglich. Zweitens besteht mehr Tendenz zu Machtungleichgewicht. Deshalb wird die natürliche Tendenz des internationalen Systems geschwächt, sich nach Ausregelungen aus dem aktuellen Gleichgewichtszustand selbstorganisiert in ein neues, kooperatives Machtgleichgewicht einzupendeln. Drittens bestehen vielfältige Gelegenheiten für Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen, und relative Machtunterschiede können sehr große Wirkungen haben. Auch ungewollt kann so Destabilisierung und Konflikt ausgelöst werden. 3. Geteilte Souveränität... ist für den Neorealismus nicht erforderlich und nicht herstellbar Zur These: Der objektive Zwang zur Kooperation verlangt Souveränitätsverzicht Diesem Baustein zufolge wird im Zuge der Entwicklung globaler Rechsstaatlichkeit traditionelle staatliche Souveränität zu einem anachronistischen Relikt des Westfälischen Systems. Wenn Staaten sich dieser Entwicklung anschließen und ihre Souveränität sozusagen aktiv zur Verfügung stellen oder jedenfalls mit nichtstaatlichen Akteuren teilen, ergibt sich ein Zugewinn an gemeinsamer Handlungsund Problemlösungsfähigkeit. Demgegenüber sind aus neorealistischer Sicht die internationalen Ordnungsgaranten einzig und allein die Staaten (sofern die Ordnungsgarantie in ihrem Eigeninteresse liegt). Um globale Handlungsgleichgewichte herzustellen, ist ein Souveränitätsabtritt der Staaten nicht erforderlich und würde auch nichts bringen, weil sich Gleichgewichte im Weltsystem von alleine einstellen: Sie sind emergent und können nicht willentlich herbeigeführt werden (Waltz 1979, 121). Dabei stimmt gerade der Waltz'sche strukturelle Neorealismus durchaus mit der Ausgangsdiagnose der Transformationalisten unter den Global-GovernanceAnhängern (z.B. die „englische Schule“ – v.a. Martin Albrow, Anthony Giddens, David Held, Martin Shaw – und in Deutschland u.a. Dirk Messner, Ulrich Menzel, Franz Nuscheler) überein: Globalisierung übt auf die Staaten (und ihre Gesellschaften) unausweichlichen strukturellen Druck aus; sie müssen sich anpassen, ob sie wollen oder nicht. 4. Zur These: Global Governance ist ein gesellschaftsgetragenes PublicPrivate-Partnership-Projekt 101 Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus neorealistischer Perspektive Dieser Baustein besteht im Zusammenwirken von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren von der globalen bis zu lokalen Ebene unter Einschluss einer horizontal und vertikal vernetzen Zivilgesellschaft. Er setzt auf partizipatorische Bottom-upEntscheidungsverfahren, die sich als leistungsfähiger erwiesen hätten als zentralistischen Top-down-Verfahren. Dagegen betont der Neorealismus, was die Rolle der Zivilgesellschaft anbelangt, dass sich hinter der wachsenden Relevanz und dem zunehmenden Kompetenzanspruch von NGOs auch konkrete politische Gefahren verbergen: dass nämlich in Konfliktfällen, zum Beispiel bei Minderheitenkonflikten, die traditionelle zwischenstaatliche Ebene und die dortigen Möglichkeiten einer Konfliktregelung von vornherein ausgeblendet werden und der Konflikt durch die direkte Einmischung von NGOs auf eine weltpolitische Ebene gehoben und verschärft wird. Einbeziehung der Zivilgesellschaft in Entscheidungsverfahren... kann wegen Selektivität politisch gefährlich sein Auf der anderen Seite ist auch dem Neorealismus klar, dass die Devolution weltpolitischer Verantwortung von der Staaten- auf die Gesellschaftswelt Konflikte prinzipiell auch mäßigen und ein internationales Sozialmilieu (also eine systemische Struktureigenschaft) schaffen kann, das sachdienliche Lösungen fördert, etwa in den Bereichen Klima- und Umweltschutz. Aber solche Funktionsbeiträge und die sie regelnden Normen erwachsen nicht selbständig aus irgendwelchen objektiven Trends internationaler Vergemeinschaftung. Die Verrechtlichung der internationalen Zivilgesellschaft ist kein Imperativ der Geschichte oder ein automatischer Prozess, sondern auch sie basiert auf bewussten politischen Entscheidungen von Staaten. Hier vertritt der Neorealismus den selben Standpunkt wie die völkerrechtliche Debatte über neue internationale Akteure (z.B. Hofmann 1999). 5. Zur These: Staaten als Hauptakteure internationaler Politik sind die Schnittstellen und Klammern zwischen den verschiedenen Handlungsebenen und die tragenden Pfeiler der Global-Governance-Architektur Die beispielsweise von Zürn (1998) vertretene ebenso anti-realistische wie sträflich unrealistische Auffassung, in Globalisierungsprozessen und im politischen Prozess von Global Governance löse sich der Zusammenhang zwischen Nationalstaaten und ihren Gesellschaften auf, die Gesellschaft werde ein eigener Akteur (Zivilgesellschaft), was zu einer „Denationalisierung“ und „Entgrenzung“ der Welt führe, ist in den gegenwärtigen Global-Governance-Modellen kein maßgeblicher Faktor mehr. Vielmehr gilt es als wichtige Komponente von Global Governance, dass Staaten als Moderatoren und Klammern zwischen den verschiedenen Bausteinen bzw. Säulen fungieren: Global Governance benötigt und stützt Nationalstaaten (Arbeitsgruppe „Global Governance“ 2001, 108; Messner in diesem Band, 19). Ebenso wie inzwischen also die Global-Governacne-Diskussion selbst, weist der Neorealismus darauf hin, dass funktionsfähige übernationale Regulierungssysteme sich auf handlungsfähige Staaten stützen. Ohne leistungsfähige Staaten ist Staaten als Moderatoren von Global Governance... setzt leistungsfähige Staaten voraus... 102 Alexander Siedschlag Global Governance nicht zu verwirklichen. Im gegenwärtigen, von verschiedengradigen, vielfach durchbrochenen Integrationsniveaus und von flexibler Multipolarität gekennzeichneten internationalen System gibt es jedoch viele unklare Konstellationen. Es gibt viele Gelegenheiten, politische Fehler zu machen, und es gibt zu wenig kompetente und anerkannte Akteure, um diese Fehler wieder gutzumachen. Auch die Definition vitaler Interessen wird immer schwieriger. da Unsicherheit politische Desintegration befördert Mangelnde nationale Interessendefinition und schwammige Selbstbeschreibungen internationaler Organisationen machen die internationale Politik nicht gerade berechenbarer. Unter diesen Umständen wird sich aus neorealistischer Sicht die Bereitschaft der Staaten verringern, dauerhafte Selbstbindung einzugehen und sich aktiv für stabile Kooperation und den Ausbau internationaler Integration einzusetzen. Die Bedingungen der Unsicherheit begünstigen Trends zu politischer Desintegration und erhöhen die Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt. Auch die Verrechtlichung internationaler Politik wird viel langsamer voranschreiten; denn internationale Normbildung ist neorealistisch gesehen am besten innerhalb von stabilen Konstellationen möglich. Kasten I-8: Fortgesetzte Funktionen von Staatlichkeit aus neorealistischer Sicht, die Global Governance berücksichtigen muss, auf die sie sich aber auch stützen kann (1) Souveräne Staaten sind nach wie vor die Garanten dafür, dass Vereinbarungen, Kooperationsformen und Integrationsprozesse überhaupt stabil sein können und Erwartungsverlässlichkeit entsteht. (2) Allein der legitime Nationalstaat besitzt eine allgemeine Handlungsfähigkeit: Das Völkerrecht kennt vornehmlich Staaten, und über den Staaten existiert mit wenigen Ausnahmen (z.B. bestimmten Feldern der Europäischen Union) keine allgemein anerkannte, tatsächlich von sich aus sanktionsfähige Ordnungsmacht. Staaten sind – im Gegensatz etwa zu internationalen Organisationen und zu NGOs – formal gleichberechtigte Aktionseinheiten mit formal gleichen Rechten und Pflichten. (3) Staaten sind normalerweise dauerhafte Einrichtungen mit nachvollziehbarem Entscheidungsablauf: Sie verleihen dem komplexen Prozess der globalen Politik ein notwendiges Maß an Berechenbarkeit. (4) Staaten verlieren ihre Funktionen mit der Erosion des „Westfälischen Systems“ nicht zusehends, sondern nehmen nach wie vor vielfältige Aufgaben nach innen und außen wahr. Beispielsweise transformieren sie Informationen aus ihrer internationalen Umwelt nach innen, ebenso wie sie innere Meinungsbilder nach außen vermitteln. (5) Staaten verkörpern aufgrund ihrer nach wie vor maßgeblichen Souveränität die entscheidenden Kristallisationspunkte in den internationalen, transnationalen und auch weltgesellschaftlichen Beziehungen. Quelle: Siedschlag 1997, 224f.; Spruyt 1994 6 Krisenmanagement und neue Ordnungsstrukturen notwendig Fazit Die Frage der politischen Beherrschbarkeit von Weltproblemen und Globalisierungstendenzen fordert die traditionellen Fähigkeiten der Staatenwelt mit ihren herkömmlichen Verfahren und Instrumenten der nationalstaatlichen Macht- und Interessenpolitik heraus. Das bestreitet der Neorealismus auf dem heutigen Stand seiner Entwicklung nicht, und er plädiert auch nicht krampfhaft für eine universelle Aufrechterhaltung der Staatenwelt oder übersieht nichtstaatliche Akteure. Die Herausforderung besteht aus seiner Sicht darin, punktuelles und reaktives Realisierung von Global Governance: Chancen und Grenzen aus neorealistischer Perspektive 103 Krisenmanagement durch neue Ordnungsstrukturen und Koordinationsinstrumente zu ersetzen, ohne den Möglichkeitsspielraum, den die Struktur des internationalen Systems dafür bietet, zu überschätzen. Die über verschiedene Handlungsebenen laufenden dialogischen und kooperativen Prozesse, die für Global Governance zentral sind, sind aus neorealistischer Sicht sehr wohl möglich. Allerdings ist der Staat gerade dem Neorealismus zufolge überfordert, wenn er als Interdependenzmanager auftreten soll, wie das vor allem die deutschen Global-Governance-Modelle vorsehen. Nationale Eigeninteressen und existierende Machtasymmetrien sind und bleiben zentrale Hindernisse nicht unbedingt für bestimmte einzelne Global-Governance-Prozesse, aber doch für eine übergreifende Global-Governance-Architektur. Hindernisse: nationale Eigeninteressen und Machtasymmetrien Global Governance als romantisches Konzept für eine einige, gesunde Welt mit globalem Weltbürgerethos, wie es bei den Diskussionsbeiträgen der Commission on Global Governance (CGG) teilweise hindurchscheint, ist aus neorealistischer Perspektive schon gar nicht umsetzbar. Eine Verwirklichung wäre für den Neorealismus auch nicht wünschenswert; denn moralischen Universalismus lehnt die realistische Schule Internationaler Politik insgesamt ab. Machtverteilung, nicht Weltinteressen gelten ihr als regulative Idee und verantwortungsbewusste Grundlage kooperativer Weltpolitik. Moralischer Universalismus der Commission on Global Governance lehnt neorealistische Schule ab Dahingegen hat das gemäßigte 5-Säulen-Modell von Global Governance aus neorealistischer Sicht zumindest in wichtigen Teilen gute Realisierungschancen: Wie gesagt, gerade auch aus neorealistischer Perspektive übt Globalisierung auf alle Akteure unausweichlichen strukturellen Druck aus und zwingt sie zur Anpassung. Allerdings sollte diese Anpassung am besten auf regionaler Ebene und in einem wohl geordneten Handlungssystem erfolgen, nicht in Form eines globalen Multilateralismus. Letzten Endes sagt der Neorealismus: Je dichter die Globalisierung wird, desto diffuser muss effektive Global Governance sein, damit es den Akteuren möglich ist, unterschiedliche Probleme in unterschiedlichen Akteurskonfigurationen zu bearbeiten und somit sowohl ihr politisches Eigenkapital zu vergrößern als auch tragfähige Entscheidungen über ausbalancierte Maßnahmen zur globalen Problembewältigung zu treffen. Einige mag es überraschen, dass neorealistisch gesehen aus den von Messner (in diesem Band, 18) zusammengestellten Szenarien also nicht das Hegemonie-Szenarium, sondern das RegionalismusSzenarium die besten Realisierungschancen aufweist. 5-Säulen-Modell von Global Governance aber in Teilen realistisch Regionalismus-Szenario beste Realisierungschance 104 Alexander Siedschlag Literatur Arbeitsgruppe „Global Governance“ (der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“). 2001. Global Governance, in: Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“. Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, Drucksache 14/6910 (21.09.2001), 105–120 (http://www.bundestag.de/gremien/welt/index.html). Baldwin, David A. 1993. Neoliberalism, Neorealism, and World Politics, in: David A. Baldwin (Hg.). Neorealism and Neoliberalism. The Contemporary Debate. New York: Columbia University Press, 3–25. Buzan, Barry, Charles A. Jones und Richard Little. 1993. The Logic of Anarchy. Neorealism to Structural Realism. New York: Columbia University Press. Buzan, Barry und Richard Little. 1994. The Idea of „International System“: Theory Meets History, aus: International Political Science Review 15, 231–255. Carr, Edward H. 1939. The Twenty Years' Crisis, 1919–1939. An Introduction to the Study of International Relations. London: Macmillan. Czempiel, Ernst-Otto. 1993. Weltpolitik im Umbruch. 2., neu bearbeitete Auflage. München: Beck. 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