Projekt Extreme Metal Vocals: Die Welt Kompakt - UK

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Projekt Extreme Metal Vocals: Die Welt Kompakt - UK
SEITE 16
MITTWOCH, 13. FEBRUAR 2013
DIE WELT KOMPAKT
KÖLN
Melodien aus
Rachenschleim
druck gemessen. Dann haben wir mit
einem Video-Endoskop direkt in den
Rachen gefilmt.
Wissenschaftler erforscht die Stimmorgane von Metal-Sängern
M
arcus Erbe, Musikwissenschaftler an der Uni Köln,
blickte für ein Forschungsprojekt Sängern aus mehreren verschiedenen Metal-Sparten mit einem
Video-Endoskop tief in den Rachen.
Er sprach mit Andreas Poulakos über„Growling“, „Pig-Squealing“ und andere monströse Stimmen.
DIE WELT: Herr Erbe, wie kommt
man denn auf so eine Idee?
MARCUS ERBE: Ich habe vor zwei
Jahren eine Feldforschung in der Extreme-Metal- und Hardcore-Szene in
Deutschland begonnen. Dabei habe
ich mich relativ früh für den Aspekt
der Vocals interessiert, Techniken wie
Growling oder Pig-Squealing – also
stark geräuschhafte Möglichkeiten, etwas mit der Stimme zu artikulieren.
Das hat mich fasziniert, weil sich dabei im Bereich der Stimmforschung
ein völlig neues Forschungsfeld aufgetan hat. Dabei ist es hoch interessant,
was dabei eigentlich stimmlich-organisch stattfindet. Es muss ja große Un-
terschiede zum herkömmlichen Gesang geben – das ist ja unüberhörbar.
Es gibt also für den Metal-Gesang
kein historisches Vorbild?
In der Operngeschichte werden sie so
etwas vergeblich suchen. Im Bereich
der Rockmusik oder Jazz und Blues
gibt es dagegen tatsächlich mögliche
Vorbilder.
Zum Beispiel?
Da fällt mir zunächst James Brown
ein. Es gibt von ihm unzählige Titel, in
denen er plötzlich anfängt, ekstatisch
zu schreien. Ein anderes Beispiel ist
Screaming Jay Hawkins, der Interpret
von „I Put A Spell On You“. Übrigens
nicht nur beim Gesang: Hawkins ist
auch gerne im Voodoo-Kostüm mit einem Knochen durch die Nase aufgetreten.
Sie haben sich die Stimmorgane
von Metal-Sängern von innen angesehen. Hatten Sie Probleme, geeignete Probanden zu finden?
Nein, überhaupt nicht. Ich war erstaunt, wie locker ich als Musikwissenschaftler aufgenommen wurde. Zuerst habe ich mich mit den Vokalisten
zusammengesetzt und Stimmproben
für Frequenzanalysen genommen. Dabei habe ich schnell gemerkt, dass ich
interdisziplinäre
Hilfe
brauche.
Schließlich haben Sven Grawunder
und Daniel Voigt vom Department für
Linguistik des Max Planck Instituts
für evolutionäre Anthropologie in
Leipzig mitgewirkt, außerdem Professor Michael Fuchs vom Universitätsklinikum Leipzig. Letzterer hatte
schon Forschungserfahrung im klassischen Bereich, allerdings mit Sängerknaben.
Und jetzt kamen ihre Metal-Probanden.
Genau. Es gab einen ersten Durchgang
mit sechs Vokalisten aus den Bereichen Death Metal, Hardcore und so
weiter. Zuerst haben wir ihnen eine
Maske aufgesetzt und damit beim Singen zum Beispiel den erzeugten Luft-
Wie sieht das von innen aus?
Interessant! Es ist bekannt, dass beim
normalen Singen die Stimmlippen periodisch schwingen. Durch das Zusammenspiel von Mundraum, Nase, Zunge
und Lippen entsteht dann der hörbare
Ton. Aber wenn ein Death-Metal-Sänger eine bestimmte Art von Growling
macht, passiert etwas Außergewöhnliches. Wir alle haben einen sogenannten Kehldeckel. Der sorgt gewöhnlich
dafür, dass Speiseteile nicht in die
Luftröhre gelangen, wenn er aufklappt. Beim Growling klappt er extrem auf und vibriert außerdem noch.
Das hat uns alle sehr erstaunt.
Metal-Sänger haben also eine zusätzliche Membran?
Naja, wir haben sie offensichtlich alle.
Nur wir benutzen sie nicht so
MUSIKTIPP
intensiv. Aber es
Marcus Bengel empfiehlt
gab noch andere
„Sons of Belial“ von The
Faceless, einer TechnicalSachen:
Zum
Deathmetal-Band aus
Beispiel bei dieKalifornien.
sen
Einathttp://kURL.de/ecavo
mungsgeräuschen rutscht
der Kehlkopf relativ weit in den
Rachenraum
zurück.
Die
Stimmlippen
bilden dabei eine Art passive
Wand, durch die der Schall hindurchgedrückt wird. Das führt dann zu dem
geräuschhaften Grunzklang. Und die
Sänger verwenden offenbar auch instinktiv den Rachenschleim, um die
Stimme noch rauer zu machen.
Ruiniert man sich damit nicht die
Stimme?
Singen an sich kann natürlich die
Stimme belasten. Aber auch beim normalen Gesang. Entgegen den gängigen
Klischees haben wir bei unseren Probanden keine Stimmschädigung feststellen können. Es klingt offenbar
schmerzhaft, aber es ist wohl nicht
schädlich. Von unseren paar Beispielen kann man aber natürlich nicht auf
den Rest der Welt schließen.
MUSIKTIPP
Ein weiterer
Anspieltipp ist
„Beaten and Left
Blind“: Death-Metal
von Landmine
Marathon – mit
einer Frontfrau!
http://kURL.de/ibipu
Was werden Sie jetzt mit Ihrem
neuen Wissen anfangen?
Zunächst einmal ein Aufsatz in einer
wissenschaftlichen
Fachzeitschrift.
Außerdem soll sich ein Kapitel meiner
Habilitationsschrift damit befassen.
Und die anderen Kapitel?
Die Arbeit beschäftigt sich mit dem
Phänomen der „monströsen Stimme“.
Dr. Marcus Erbe, geboren 1975, studierte
Musikwissenschaft, Germanistik und Pädagogik. Seit 2005 arbeitet und lehrt er an der
Universität zu Köln als wissenschaftlicher Mitarbeiter im
Rahmen der Professur für Musik
der Gegenwart am Musikwissenschaftlichen Institut. Sein
Forschungsschwerpunkt liegt in
der Popular-, der Neuen und
elektroakustischen Musik. Seine
geplante Habilitationsschrift trägt den
Arbeitstitel „Das stimmliche Monster. Vokale Austauschprozesse zwischen Musik, Film,
Hör- und Videospiel“. Für harten
Metal interessiert sich der Sohn
einer Opernsängerin schon
seit seiner Jugend, als er in der
Essener Zeche Carl seine ersten
Konzerte besuchte. Er sei selbst
auch nach all den Jahren noch
im Herzen Teil der Szene, meint
MARCUS ERBE
PA/ DPA/ MARIO RUIZ
GROWLING IN VOLLENDUNG
Erbe. Auch deshalb werde er bei seinen
Feldforschungen immer sehr freundlich
aufgenommen. Für die langwierigen Tests
Probanden zu finden, sei gar kein Problem.
Teilgenommen habe auch der Sänger der
seit Jahren erfolgreichen Leipziger Band
Disillusion. Für alle, die mit dieser Art von
Musik noch nie in Berührung gekommen
sind, hat Erbe einige prägnante Tonbeispiele gesammelt, im Netz abrufbar unter
http://kURL.de/uxegu