Medien/Slums Themenheft: www.parapluie.de Redakteure: Igor

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Medien/Slums Themenheft: www.parapluie.de Redakteure: Igor
Medien/Slums
Themenheft: www.parapluie.de
Redakteure: Igor Krstic, Thomas Wägenbaur
Call for Papers
Status: 25.01.2011
Slums, Ghettos, Favelas, Banlieues usw. spielen in den medialen und
wissenschaftlichen Diskursen der Globalisierung eine untergeordnete Rolle. Wenn
sie überhaupt eine Rolle spielen, dann ist es entscheidend zu sehen, welche, denn
eine Rand- oder „Slum“-Perspektive könnte den jeweiligen Diskurs der
Globalisierung, wenn nicht von seinem blinden Fleck, dann von seinem Anderen her
interpretieren. Gerade diese Dialektik kann man jedoch ebenfalls als „slumification“
bezeichnen. Mit anderen Worten: Die Slums werden als Anderes des globalen
Mainstreams noch einmal diskriminiert.
Dabei kommt es durchaus auch zur positiven Diskriminierung, wenn nicht nur betont
wird, daß es in Slums auch nicht anders als anderswo zugeht, sondern die „quirlige
Lebensenergie“ (Anke Sterneborg in einer Rezension des Films Soul Boy (2010), SZ
2.12.2010) oder das ökonomisch kreative Potential der Slums (Prinz Charles in einer
Rede über Mumbais größtem Slum, Dharavi, Februar 2009) hervorgehoben wird.
Darüber hinaus gibt es neuerdings auch einen utopischen Slum-Diskurs, der die
globalen „No-Go-Areas“ zu Orten eines neuen Widerstands gegen die ansonsten
allgegenwärtige kapitalistische Ideologie erklärt (siehe z.B. Slavoj Žižek oder Julien
Coupat), oder – ganz im Gegensatz dazu – zum futuristischen Modell eines
kreativeren und innovationsreicheren Marktliberalismus (z.B. Saskia Sassen in ihrem
Artikel „Slumdog Entrepeneur“, The European, 7. 11. 2010).
Unbestreitbar brodelt in den Slums das Leben, aber ökonomisch wie kulturell handelt
es sich hier dennoch um die Kehrseite globaler Realitäten. Soziologen wie Zygmunt
Baumann, Mike Davis oder Loïc Wacquant warnen daher vor geradezu
apokalyptischen Zukunftsszenarien: Die Exklusions- und Diskriminierungsprozesse
der Globalisierung werden die Anzahl der Slums – die „Müllhalden der Moderne“
(Baumann) – nur noch stetig wachsen lassen. Die Medien scheinen jedoch alles zu
tun, um die populären Mythen, die sich um die globalen Slums ranken, aufrecht zu
erhalten, um von dem moralischen Skandalon entweder ganz absehen zu können
oder es in dialektischer Weise integrieren bzw. auf den kulturell-ökonomischen
Mainstream beziehen zu können.
Die Beiträger dieses Themenhefts von Parapluie befassen sich mit Fragen wie:
• In welchen Medien werden Slums überhaupt thematisiert? Darunter sollten
sich auch Literatur, Fotografie, Musik, Film und Fernsehen befinden.
• Wie wird thematisiert? Wird in der Thematisierung das hinlänglich bekannte
Problem erkannt, daß meist von außen betrachtet bzw. über andere geredet
wird? Wird dieses Problem kritisch reflektiert?
• Welchen Komplexitätsgrad erreicht die Thematisierung? Wie werden – wenn
überhaupt – globale, nationale und lokale sowie geschichtliche, politische,
ökonomische, kulturelle oder religiöse Entstehungsursachen und
Gegebenheiten aufeinander bezogen?
• Wie werden in der Thematisierung Momente der Erklärung, Rechtfertigung
und Provokation miteinander verrechnet? Eine Erklärung kann eine
Rechtfertigung darstellen, eine Rechtfertigung wäre eine Provokation
angesichts der offensichtlich materiellen Asymmetrien, eine Provokation würde
nach einer Antwort rufen, wie dem Skandalon Slum in Zukunft beizukommen
wäre.
• Wird das Thema Slum ideologisch und ideologiekritisch angegangen?
Inwieweit übernimmt das jeweilige Medium ideologisierende oder
idiologiekritische Funktionen?
• Wie korrespondieren Fragen der Ästhetik mit jenen der Ethik? Sind Ästhetiken
des Dokumentarischen bzw. des Realismus moralisch vertretbarer als
beispielsweise Ästhetiken der Postmoderne?
• Welche Effekte erzielen mediale Slum-Darstellungen? Inwieweit hängen
Phänomene wie etwa Slumtourismus mit dem globalen Bilderstrom der Mode-,
Musik- und Werbeindustrie zusammen („Favela-Chic“).
• Auch wenn man Slums als die Kehrseite der Globalisierungsdiskurse
bezeichnen muß, inwiefern ist es berechtigt oder hilfreich darauf zu verweisen,
daß sie auch ein Spiegelbild sind? Slums als das Andere sind also sowohl
different wie auch identisch mit dem Eigenen.
• Eine Frage, die nicht nur die Soziologie, sondern auch die Repräsentation von
Slums angeht, ist die der Geltung der „Culture of Poverty“-These (Oscar
Lewis, Daniel Patrick Moynihan, 1965), als ob Armut endemisch sein könnte
oder systemisch sein müßte. Welche Rolle spielt diese These, die seit kurzem
wieder aktuell zu sein scheint (New York Times, 18.10.2010) in der Politik der
Repräsentation von Slums?
Exkurs:
Eine Geschichte medialer Repräsentationen von Slums würde wohl mit Charles
Dickens (Bleak House, 1852) anfangen und mit den naturalistischen Romanen eines
Stephen Crane (Maggie: A Girl of The Streets, 1893) oder den dokumentarischen
Aufnahmen des Fotojournalisten Jacob Riis‘ (How The Other Half Lives, 1890)
fortgeführt werden. Im 20. Jahrhundert beschäftigten sich dann auch Filme mit Hilfe
dokumentarischer Ästhetiken bereits sehr früh mit urbanen Randzonen – so
beispielsweise der britische Dokumentarfilm Housing Problems (1935) von John
Grierson, der zusammen mit Robert Flaherty das „documentary“-Genre mit erschuf.
Zur gleichen Zeit übernahmen empirisch ausgerichtete akademische
Repräsentationen eine dominante Stellung in Diskursen über Slums (Chicagoer
Schule). Insbesondere in Disziplinen wie der (Stadt-) Soziologie und (Urban-)
Anthropologie entstanden eine Vielzahl „klassischer“ Feldforschungsarbeiten in
amerikanischen Slums – sozusagen als Fortführung von Friedrich Engels‘
Pionierarbeit zur empirischen Slum-Erforschung Die Lage der arbeitenden Klasse in
England (1845).
Bis in die 1960er Jahre wurde aber, ob in Literatur, Fotografie, Film oder
Wissenschaft, das Problem der Repräsentation kaum hinterfragt; eine Kritik an
stereotypisierenden Slum-Darstellungen setzte erst ein, als in den USA die „Culture
of Poverty“-These des mexikanischen Anthropologen Oscar Lewis debattiert oder in
Brasilien mit Janice Perlmans Favela-Studien die „Mythen der Marginalität“
dekonstruiert wurden. Filme und Filmbewegungen, die vom semi-dokumentarischen
italienischen Neorealismus beeinflusst waren (z.B. die „Ästhetik des Hungers“
zahlreicher Favela-Filme der brasilianischen Cinema Novo-Bewegung der 1960er
Jahre), kritisierten, ähnlich wie die soziologischen Diskurse jener Zeit, die
stigmatisierenden Beschreibungen und die unterdrückenden sozio-ökonomischen
Strukturen, die zu den verheerenden Bedingungen in den Slums führten und
schließlich zu Jugendkriminalität, Obdachlosigkeit, Prostitution, hohen
Scheidungsraten, Arbeitslosigkeit etc., anstatt diese in den „pathologischen“
Strukturen der Slums bzw. in den zivilisatorischen, erzieherischen oder moralischen
Defiziten der Slumbewohner selbst zu suchen.
Seit den 1980er Jahren spielen in der Soziologie Slum-Diskurse rund um das Thema
der ungleichen Modernisierung, urbaner Informalität und sozialer „Exklusion“ eine
immer wichtigere Rolle, wobei sich die Disziplin seither eher mit Fragen der
Globalisierung (bzw. Global Cities) beschäftigt hat; die zunehmende globale
„slumification“ (laut UN-HABITAT leben mittlerweile fast eine Milliarde Menschen in
Slums) wurde dabei aber zu Unrecht kaum mitreflektiert. Slums könnte man
regelrecht als das „Andere“ der Globalisierung, aber auch als „blinden Fleck“
wissenschaftlicher Globalisierungsdiskurse bezeichnen. Erst seit Kurzem
beschäftigen sich einige wenige prominentere Soziologen und Anthropologen
entweder komparativ (Loïc Wacquant) oder umfassend (Mike Davis, Zygmunt
Baumann) nicht nur mit lokalen, sondern auch mit globalen Entstehungsursachen
und Prozessen der „slumification“.
Gleichzeitig scheinen Slums als „settings“ für mediale Repräsentationen in den
letzten Jahren globale Dimensionen angenommen zu habe, man denke nur an
„Slum-Blockbuster“ wie Slumdog Millionaire (2008) und District 9 (2009), Romane
wie Rohinton Mistrys A Fine Balance (1995) und Paulo Lins‘ City of God (1997) oder
an Multimedia-Installationen wie The Places We Live des norwegischen MagnumFotografen Jonas Bendiksen. In den USA existiert sogar ein Slum-Themenpark mit
dem bezeichnenden Namen „Global Village & Discovery Center“ in Georgia. Der
Slum als audiovisuelles Spektakel, als virtueller Raum und mediales Konstrukt wirft
die klassischen (Cultural Studies-) Fragen der ethischen Dimension von
Repräsentation wieder auf den Plan: der Mythos Slum als Lokus des Exotischen, als
imaginärer Raum des „Anderen“ des eurozentrischen Blicks („poorism“).
Vorschläge für Beiträge werden erbeten bis:
Juli 2011
Abgabe der Beiträge ist:
November 2011
Das Themenheft wird erscheinen:
März 2012
Einsendungen bitte an:
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oder
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