aktionsraum kunst - Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren eV

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aktionsraum kunst - Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren eV
sozio
kultur
PRINZIPIEN
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AKTIONSRAUM KUNST
PRAXIS
PERSPEKTIVEN
vernetzt
TAG DER SOZIOKULTUR | 13.10.2011
READER ZUM THEMA
AKTIONSRAUM KUNST
Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e.V.
AKTIONSRAUM KUNST
soziokultur 1|11 READER
AKTIONSRAUM KUNST
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vernetzt
TAG DER SOZIOKULTUR | 13.10.2011
BEITRÄGE AUS DER ZEITSCHRIFT
WEITERE BEITRÄGE
Aktionsraum Kunst* Terra incognita! Zwischen New Genre Public Art und Soziokultur
Rein oder raus? 21
WIND – eine Installation der Gruppe D.N.K./FILOART
BA R BA R A R Ü T H , G R I T B E N AT H
„Er schnitzet, hauet, gräbt und schneidet” –
Bildhauerei in Bremen und anderswo 22
Veronika Wiegartz im Interview
JENS UTHOFF
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H A N S - J Ö R G S I E W E RT
10
M A T T H I A S A . J. D A C H W A L D
Globale Soziale Plastik Hermann Josef Hack im Interview
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Participate & innovate Ariane Jedlitschka im Interview
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IN ACTIO
Das gewisse Geheimnis der Insel ... Thüringische Sommerakademie
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M A RT I N A Z S C H O C K E
IN PERSONA
Neue Formen der Erinnerung Jens Huckeriede
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G R I E T G ÄT H K E
Die Welt verändern** 20
WERNER PREGLER
Titel: GrashalmProjekt des Künstlers Thomas May.
Siehe S. 18. Foto: May | www.grashalminstitut.de
* Langfassung des Beitrags der Print-Ausgabe
** Der Beitrag erschien in der Print-Ausgabe
in der Rubrik KONTINENT KULTUR.
Verantwortliche Redakteu­rinnen: BETTINA RÖSSGER, Geschäftsführerin des Landesverbandes Soziokultur Thüringen,
und MAXI KRETZSCHMAR, Kunst- und Kulturmanagerin.
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AKTIONSRAUM KUNST
Kinder bei der LeoPART-Performance „Schatten: Schau! Spiel!“ 2009
(siehe Beitrag S. 10). Foto: Stefan Hippel
AKTIONSRAUM
KUNST
Bildende Kunst heute kann überall stattfinden. Oft arbeiten
die ProtagonistInnen nach soziokulturellen Prinzipien.
Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen Kunst und Soziokultur?
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AKTIONSRAUM KUNST
HANS-JÖRG SIEWERT
D
ie Beziehungen zwischen bildender
Kunst und Soziokultur gelten als spannungsgeladen. Das muss verwundern,
gibt es doch grundlegende Denkfiguren, die beiden gemein sind: Entgrenzung und
Verflüssigung, Flexibilität und Partizipation,
Durchlässigkeit und Offenheit. Hier geht es um
die strukturellen Gemeinsamkeiten. Dass Kunst
auch völlig anders gefasst werden kann, muss
nicht irritieren. Es geht nicht um eine kunstgeschichtliche Abhandlung.
Soziokultur hatte in den 70er Jahren die
Schranken zwischen professioneller Kunst und
selbst organisiertem künstlerischen Schaffen
durchbrochen. Entgegen wohlfeiler Ideologie
war Soziokultur nicht gedacht als Gegenbegriff
zur Kunst und Ästhetik. Sie war Aufforderung,
deren Bedeutung ernst zu nehmen: als Medium
für Kommunikation, Reflektion und Partizipa­
tion. Dennoch unterstellte eine heftige Polemik
der Neuen Kulturpolitik „Kunstfeindschaft“.
Der Konflikt ist ein (gepflegter) Scheinkonflikt. Soziokultur wie aktuelle Kunst haben ähnliche Denkmuster: Der erweiterte Kulturbegriff
trifft auf den erweiterten Kunstbegriff. So einfach könnte es sein?
Qualität durch Offenheit
Ihre Qualität bezieht Soziokultur durch Offen­
heit, durch positives Grenzgängertum und
ris­kiert dabei den Anwurf der Profillosigkeit:
„Kultur für alles und jedes“. Ihre Professionalisierung, die Förderung durch Kulturpolitik und
ihre innovative Kraft und Offenheit gegenüber
neuen kulturellen Bedürfnissen, ihre unkonventionelle sparten- und ressortübergreifende Orientierung, auch ihre Angebotsvielfalt haben sie
zu einem wichtigen Faktor der kommunalen Kultur wachsen lassen. Allenfalls eine erfolgreiche
Normalität (und strukturelle Unterfinanzierung)
machen ihr zu schaffen.
Soziokultur ist kein Gegensatz zur Kunst. Sie
akzentuiert vielmehr die Bedeutung von Kunst
und Kultur für das Leben der Einzelnen und den
politisch-kulturellen Zustand der Gesellschaft.
Kreativität, künstlerische Ausdrucks- und Genussfähigkeit, kommunikative Kompetenzen
sind Voraussetzungen für die Souveränität der
Menschen im Umgang mit ihrem Leben und für
die demokratische Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft, so die Wiepersdorfer Erklärung.
Prozesse wechselseitigen Lernens
„Entgrenzung“ ist für beide Bereiche grundlegend. Die Einheit der Kunst bricht auf. Perfor-
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mance Art überschreitet seit den 60er Jahren
die Grenzen tradierter Kunstgattungen und ihre
ästhetischen Systematiken. Künstlern stehen
unbegrenzte Kombinationsmöglichkeiten offen.
Kunst wie Soziokultur
offerieren den „draußen
Gebliebenen“ die Möglichkeit zur Teilhabe.
Kunst wie Soziokultur verweigern eine klare
Trennung zwischen den „zum Feld gehörigen“
Diskursen, Produktionen und Menschen. Beide offerieren den „draußen Gebliebenen“ die
Möglichkeit zur Teilhabe. Es geht nicht um einseitige Vermittlung, Belehrung oder Anleitung,
sondern um Prozesse wechselseitigen Lernens,
um gleichberechtigten Austausch von Partnern:
Kunstverhandlung statt Kunstvermittlung. Kunst
ist keine elitäre Denkschablone; Kunst ist längst
entinstituionalisiert und „vergesellschaftet“.
Freie Kunst, die etwas anderes tut, als in einem
Museum „auf ihrem Arsch“ zu sitzen (Claes Oldenburg), hinterläßt keine elitären Duftmarken.
Künstlerische Setzungen ignorieren nicht länger
ihr Umfeld. Kunst manifestiert sich nicht mehr
allein in spezifisch dafür konzipierten Räumen.
Und – der Prozess ist umkehrbar. Die Graffiti
sind im Museum angekommen.
Kein Ort bleibt „unbekunstet“
Ging es in den 80er Jahren um die Ausweitung der Orte der Kunst, geht es heute um die
Ausweitung des Publikums der Kunst – für die
Soziokultur ein vertrautes Thema. Jenseits der
von Aura und Weihe umgebenen Institution des
traditionellen Kunstbetriebes gedeihen ganze
Kunstsparten, Stilistiken und kulturelle Perspektiven auf der Suche nach neuen Räumen: ortsbezogene Kunst. Insbesondere an den Bruchlinien
des gesellschaftlichen Wandels suhlen sich in
den Brachen der umbrechenden Systeme gleichsam die „Trüffel­schweine des Transfers“ und
erobern „Räume der Freiheit”. Vorübergehende Zwischennutzung. Ein transitorischer Raum,
mit der Folge: „flüchtige Kunst“. Industriebrachen werden „Brutplatz“ für eine neue kreative
Klasse. „Kultur aktiv in alten Gebäuden“, hieß
das weit vor Richard Florida. Angesichts der
Entwicklung der europäischen Stadt und des
öffentlichen Raumes bietet sich deren systematische künstlerische Erforschung an. Gerade das
paradoxe Faktum der Enteignung des öffentlichen Raumes in Gestalt seiner Reinszenierung
verlohnt sich. Es handelt sich um die Kulissen
des Glücks, um eine zunehmende Trivialisierung
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der urbanen Stadtkultur, allerdings auch um
den „verhafteten Raum”, in dem Allianzen aus
Geschäftsleuten und Behörden non-konforme
Gruppen aus den Stadtzentren drängen.
Hausbesetzungen, Um- und Ausbau der maroden Hinterlassenschaften einer Industriekultur
prägen das Verhältnis von soziokulturellen Zentren zu Prozessen der Stadtentwicklung in den
70er Jahren. Später organisieren sie kritische
Öffentlichkeiten bis hin zur Vermittlung unterschiedlicher Partner.
Bildende Kunst als
moderne Hobbykultur?
Kunst im öffentlichen Raum überschwemmt
derweil Straßen und Plätze. Keine Nische bleibt
„unbekunstet“. Das wird von Friedrich Heuband
als „Kunst in Laufnähe“ verspottet. Die Kurzsichtigkeit des Projektes Kunst im öffentlichen Raum
liegt darin, dass lediglich neue Räume erschlossen werden, wo eigentlich eine andere Form der
Kunst gefragt ist. Eine neue Künstlergeneration
spielt heute mit allem, was der urbane Raum hergibt. Irritationen erzeugen, mit temporären Installationen Widersprüche aufzeigen sind die Inhalte
des „Playing the City“, eines Projektes in Frankfurt am Main. Die „Formen des Verschwindens“
stehen im Vordergrund. Lothar Romain grandelt:
„Möblierung von Mal zu Mal.“ Kunst taucht
auf, interveniert und verschwindet. Sozialkitsch,
Trash-Ästhetik? Wer weiß schon, wo Selbstwitz
und Improvisation, wo Naivität und Chuzpe beginnen. Zumindest ist die Verhübschung der Stadt
nicht Ziel. Im kontrollierten und überwachten
Raum wird vielmehr mit kreativer Unterwanderung für das Moment der Freiheit gestritten.
Eine Ästhetik subjektiver Erfahrung
Seit den 80er Jahren setzt sich Kunst mit öffentlichen Kommunikationsprozessen und gesellschaftlichen Organisationsformen auseinander.
Als Eingriff in Gesellschaft. Die Grenze zwischen
„freier” und „angewandter” Kunst bzw. „Nichtkunst” wird aufgeweicht. Kunst wird Dienstleistung und gestaltet Kommunikationsräume.
Das künstlerische Engagement ist prozesshaft,
vorübergehend, in direkter Interaktion mit dem
Alltagsgeschehen. Die Ästhetik des Objekts
wandelt sich zudem zur Ästhetik der subjektiven
Erfahrung. Eine neue Generation von KünstlerInnen geht, Ethnologen ähnlich, in das (urbane)
Umfeld. Dabei sind sie keine Forscher im aka-
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demischen Sinn. Sie bleiben Kunstproduzenten.
Ähnlich wie Soziokultur den Kulturbegriff
radikal erweitert hat, haben KünstlerInnen den
Kunstbegriff gesprengt. Immer mehr KünstlerInnen verweigern die Herstellung von Bildern und
Objekten, beleben die aktuelle Kunstszene mit
„Dienstleistungen“. Kochen Gerichte, erstellen
eine Theke oder kommen ihren Mitmenschen
als Massagesalon näher. Das autonome Kunstwerk ist dieser Szene gründlich suspekt. Nicht
nur die documenta-Macherin Catherine David verdammte es maliziös als „Fetisch“. Weg
vom Fetisch, weg vom Werk und damit auch
weg vom Kunstmarkt. Diese Kunstwerke erweisen sich isoliert betrachtet als funktionierende
Handlungsmodelle im sozialen, ökonomischen
oder politischen Kontext. Erst durch die Definition des Künstlers erhalten sie ihren Kunststatus. Es ist dies die „ästhetische Inwertsetzung”
alltäglicher Problembewältigung. Der Künstler
ermöglicht über die Verschränkung bislang klar
getrennter Zeichen und Handlungsräume einen
irritierend neuen Blick auf Überkommenes. Dieses Auf­brechen fest betonierter Verhältnisse und
Abläufe geschieht weniger in Form von spekta­
kulären Provokationen, eher als konkrete Einmischung in bislang kunstfremde Arbeitsfelder.
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Ein exzellentes Beispiel ist die Dresdener Künstlergruppe Reinigungsgesellschaft. Sie versteht
sich als „Labor im Denkraum Kunst an der
Schnittstelle zu anderen gesellschaftlichen Bereichen“. Demokratieentwicklung, Zukunft der
Arbeit, Migration und Fragen nach alternativen
Ökonomien sind ihre Themen. Im mecklenburgischen Grambow setzt sie sich mit der Bevölkerung über die Zukunft ihres „Schlafdorfes“
auseinander. An alle Haushalte wurde ein Fragebogen verteilt, der Zukunftswünsche erfassen
soll. Der Schein trügt: Es wird keine sozialwissenschaftliche Studie betrieben. Martin Keil und
Henrik Mayer bleiben Künstler. Indem „wir die
Dinge reflektieren, wirken sie wie die Störung
einer Alltagswahrnehmung.“ Diese Irritation
weckt auf, reizt zum Nachdenken.
Ähnlich wie in der Soziokultur provoziert
dieses Vorgehen heftige bis polemische Kritik.
Es bleibt die Frage nach einer Allgemeinverbindlichkeit der so vielseitigen wie vielschichtigen, bisweilen aber auch flachen und banalen
Dienstleister-Kunst. Hat sich die bildende Kunst
in eine privilegierte Spielwiese moderner Hobbykultur verwandelt, an keine Grenzen gebunden?
Ein Schelm, der hier keine Parallele zur Soziokultur mit einem bis zur Beliebigkeit gedehnten
Kulturbegriff sieht! Soziokultur und aktuelle
Kunst, beide evozieren durch ihre Offenheit
letztlich eine stete Qualitätsdiskussion – und sie
stellen sich ihr auch selbstbewusst.
Die Schnittstellen von Soziokultur und aktueller Kunst beschränken sich keineswegs auf
urbane Szenen. In enger Zusammenarbeit mit
dem Landschaftsarchitekten Udo Weilacher
hat sich der Verein Kunst und Begegnung Hermannshof in Völksen nahe Hannover zum Eckpunkt der Begegnung von Kunst und Soziokultur
im ländlichen Raum entwickelt. Die Installation
des Künstlerkollektivs Indoor Landart Program
(ILAP), Amsterdam, in den Bäumen des Parks rief
Irritationen hervor. Soundskulpturen der Berlinerinnen Andrea Neumann und Sabine Ercklentz
provozierten Neugier und Fragen. Hier werden
erfolgreich offene Geschichten erzählt. Und –
es werden nicht nur unterschiedliche Genres
verknüpft, sondern auch unterschiedliche Publikumssegmente. KunstgängerInnen und bodenständige Dorfbevölkerung treffen aufeinander.
Im fruchtbaren Verschränken soziokultureller
und künstlerischer Ansätze ließ „Landarbeit
07“ „kunstferne“ Dorfbewohner mit aktuellen
Kunstkonzepten zusammentreffen. KünstlerInnen regten die Gründung eines Beschwerdechores an, forderten mit einer Tischtransaktion Familien in Heinde auf, ihren Esstisch für mehrere
Wochen gegen den Tisch anderer zu tauschen.
Das Projekt „Landart 07“ intervenierte um Kommunikation und Gemeinschaft zu stimulieren,
AKTIONSRAUM KUNST
um gewohnte Wahrnehmungsmuster aufzubrechen, aber auch, um die Welten der Künstler mit den Alltagswelten der Dorfbewohner zu
konfrontieren. Das funktionierte auf gleicher
Augenhöhe und respektvoll: Die KünstlerInnen
waren die Experten für Kunst, die Heinder für
dörfliche Kommunika­tionsstrukturen und technische Infrastruktur.
Soziokultur ist – entgegen wohlfeiler Vor­ur­
tei­le – keine Spielwiese für betuliche, kulturpädagogische Arbeit, in der ein „Gut gemeint!“
dominiert. Norbert Sievers stellt bei einer Analyse der Projekte des Fonds Soziokultur eine
Zunahme von KünstlerInnen als „die treibenden
Kräfte“ heraus. Sie sind, wie Leonie Baumann
am Beispiel des Vernetzungsprojektes „Der
Friesische Teppich“ betont, eigenständiger geworden. Sie verorten sich selbstbewusst im
Betriebssystem Kunst und nicht in dem diffusen
Bereich der Kultur- oder Sozialarbeit. Sie sind
mehr denn je die Bestimmenden und UrheberInnen von Prozessen. Sie entwickeln die Konzepte,
anstatt die Ideen anderer umzusetzen oder gar
zu „illustrieren“.
Soziokulturelle Zentren verstehen sich (zumindest in Teilen) als Kultur- und Kunstlabor.
KünstlerInnen finden dort eine Bühne und
probieren ungewöhnliche Formate aus. Das
Düsseldorfer zakk mit seinen „Werkstätten“,
FAUST e.V. in Hannover mit seiner „Kunsthalle“
und Künstler­ateliers sowie das Bürgerzentrum
Schuhfabrik Ahlen mit seinem jüngsten Projekt
„Wir in der Stadtgalerie“ sind gute Beispiele, die
erfolgreiche Alltagsarbeit, aber auch fruchtbares
Reiben mit den aktuellen Künsten belegen.
Soziokultur wie aktuelle Kunst können die sozialen Fragen unserer Gesellschaft nicht lösen. Sie
können sie aber – gemeinsam – thematisieren,
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Denkräume anbieten, die zeigen, dass Alternativen möglich sind. Eine verwandte Sicht der Dinge
schafft Verständnis und erleichtert Kooperation
zwischen Soziokultur und aktueller Kunst (gelegentliche Denkblockaden einbezogen).
HANS-JÖRG SIEWERT ist Mitarbeiter im niedersäch­si­
schen Ministerium für Wissenschaft und Kunst.
LITERATUR Bundesarbeitsgemeinschaft der
Kultur­kooperativen und freien Gruppen u.a. (Hg.):
Forderungen und Empfehlungen für eine Strukturhilfe
Soziokultur in den neuen und alten Bundesländern
(Wiepersdorfer Erklärung). Dortmund u.a. 1992 |
L. Baumann: … und das soll Kunst sein?! …
Kunstaktionen und Öffentlichkeit – ein Einblick in
40 Jahre Praxis. In: Arbeitgemeinschaft Deutscher
Kunstvereine e.V. (Hg.): Der Friesische Teppich.
Ein Gewebe aus Kunst, Kirche & Kommunikation.
Berlin 2004 | C. Biehler, J. Fritz (Hg.): Landarbeit
07. Leipzig 2010 | S. Binas: Flexibilität – die Kunst,
in Bewegung bleiben zu müssen! In: Räume der
Freiheit. Hamburg 2001, S. 36–39 | C. Demand: Wie
kommt die Ordnung in die Kunst? Springe 2010 | H.
Glaser: Deutsche Kultur. Bonn 1997 | T. Kaestle: Wie
funktioniert demokratische Kunst? In: W. Schneider (Hg.): Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik.
Hildesheim 2010, S. 145–158 | Kulturpolitische
Mitteilungen II/2008 | B. Mandel: Von der Vermittlung
des Nutzens der Nutzlosigkeit. In: B. Mandel (Hg.):
Audience Development. München 2008, S. 173–177 |
S. Neuenhausen: Die Hainholz-Stele. Hannover 2005 |
S. Schmidt-Wulffen: Perfekt­imperfekt. Freiburg
2001 | S. Sembill: Ausweitung der Forscherzone.
Das Reale als Areal künstlerischer Recherchen. In:
Orientale 1, Weimar 2001, S. 28–35 | H.-J. Siewert:
Kunstvereine im Wandel. In: T. Kaestle (Hg.): Wo
ist die Kunst? Hildesheim 2004 | Stadt Nürnberg
(Hg.): Perspektive Soziokultur. Nürnberg 2007 |
N. Team (Hg.): SPROUTBAU. Ein Sommer im Beton.
Wohnen und Kunst im Abrisshaus. Bremen 2009
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Terra incognita!
Zwischen New Genre Public Art (NGPA) und Soziokultur
M AT T H I A S A . J. D A C H W A L D
E
in Pferd trabt durch den Stadtteil einer
deutschen Großstadt. Blätter, Plastikbecher,
Papierfetzen und bunte Tüten tanzen, vom
Wind dirigiert, über einen sonnenfleckigen Platz,
unter aufgehängten Bettlaken hindurch, gen Osten. Auf seinem Weg nimmt der Wind auf dem
Platz erklingende Gesänge in fremden Sprachen
mit sich. Das Pferd biegt um die Ecke ...
Kunst im öffentlichen Raum kann temporär und
lebendig sein oder auch stumm, skulptural an
einem Ort über Jahre hinweg verweilen. Sie berührt viele andere Bereiche – Architektur, Stadtplanung, Kunst am Bau ... Im Folgenden geht
es um ihre Beziehung zu Sozialer Arbeit und
Soziokultur.
Öffentlicher Raum
Dem öffentlichen Raum haben sich in den letzten Jahrzehnten verschiedene TheoretikerInnen
genähert. Hannah Arendt kehrte in ihrem Werk
„The Human Condition“ von 1958 zu den Ursprüngen der Theorien zurück – dem klassischen
Altertum in Griechenland. Nach Arendt bezeichnet öffentlich „zwei eng miteinander verbundene, aber doch keineswegs identische Phänomene: Es bedeutet erstens, daß alles, was vor der
Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar
und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche
Öffentlichkeit zukommt. Daß etwas erscheint
und von anderen genau wie von uns selbst als
solches wahrgenommen werden kann, bedeutet
innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt. [...] Der Begriff des Öffentlichen
bezeichnet zweitens die Welt selbst, insofern
sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich
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von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen
ist, also den Ort, den wir unser Privateigentum
nennen.“1
Das heißt, wir brauchen den öffentlichen Raum,
um uns uns Selbst und um uns die Anderen zu
vergegenwärtigen. Nur im Gemeinsamen und
Trennenden des öffentlichen Raumes sind wir in
der Wirklichkeit. Und dieser Raum ist gleichzeitig
das uns Gemeinsame, was uns also von unserer
Privatheit unterscheidet. Ein im arendtschen Sinne gedachter öffentlicher Raum ist für Künstler,
Kulturschaffende, Soziologen und jeden politisch
denkenden Menschen interessant. Der Raum
gehört uns allen und in ihm begegnen wir uns,
in ihm teilen wir uns mit, in ihm entwerfen wir
unser Lebensmodell für den Alltag. Damit ist der
öffentliche Raum der Ort der (politischen) Kommunikation. Hier treffen wir durch Worte und
Taten mit unseresgleichen zusammen. Hier teilen
wir uns mit.
Existiert kein Raum mehr, in dem wir in Erscheinung treten können, wie wir sind, mit Worten
und Taten, im Handeln, dann sind wir in die Privatheit zurückgedrängt. In dieser aber sind wir
keine politischen, also handelnden Menschen
mehr, sondern nur mehr biologisch funktionierende Geschöpfe. Wie Hannah Arendt über uns
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in der Moderne sagt: „animales labores“ – arbeitende Tiere. (Für Arendt stellen die Erwerbsarbeit ebenso wie Finanzgeschäfte eine private
Angelegenheit dar, da sie der antiken Logik zwischen privat und öffentlich folgt.)
Für die so verstandene künstlerische Arbeit stellt
der öffentliche Raum einen Ort dar, in dem wir
durch Handlung politisch tätig werden können.
In diesem Sinne ist Ziel der partizipatorischen
Intervention, den Menschen ihre politischen
Grundrechte in der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft durch Einmischung aufzuzeigen und somit die offene Verortung des Individuums2 als Selbstverständlichkeit einzufordern.
Es geht also in erster Linie darum, die Handlung
im öffentlichen Raum wieder als politischen
Akt ins Bewusstsein zu heben. Die Handlung in
unserem Sinne wird dabei durch künstlerischgestalterische Aktion vorgenommen.
NGPA
Die Ursprünge der Kunst im öffentlichen Raum
sind im Dadaismus und im russischen Produktivismus und Konstruktivismus zu suchen. In der
jüngeren Vergangenheit beruft man sich vor allem auf Joseph Beuys und die Idee der Sozia­len
Plastik3, wenn es um NGPA4 geht. Nicht mehr das
Kunstwerk als fertiges Produkt eines Künstlers
AKTIONSRAUM KUNST
steht im Fokus, sondern der Entstehungsprozess
und seine kommunikativen Beziehungen. So
stellen sich VertreterInnen des NGPA in gewisser Weise gegen die klassische Auffassung von
Kunst. Kommunikation, Intervention, Beteiligung
werden zur Maxime des Genres. Die Vollendung
des Kunstwerks ist somit nicht mehr zwingend.
Der Prozess steht im Zentrum und dadurch ist ein
Scheitern des Kunstwerks möglich.
Konsequent gedacht kann NGPA ebenso scheitern wie gelingen, nur dass das Scheitern nicht
ein Versagen im klassischen Gepräge darstellt,
sondern durch die Offenheit des Prozesses
systemimmanent mitgedacht wird und insofern ein reguläres Ergebnis eines prozessorientierten Kunstwerkes ist. Durch die Möglichkeit
des Scheiterns wird auch deutlich, dass klassische künstlerische Herangehensweisen von
der Konzentra­tion bis hin zur Kontemplation
in NGPA-Prozessen weniger relevant sind als
beispielsweise Fähigkeiten des Projektmanagements wie Vorstudien, Empowerment,
Herstellen von Helferstrukturen, Finanzaquise,
Controlling und – zwingend – Evaluation und
Reflexion. Grundfähigkeit des NGPA-Prozesses
ist und bleibt die Kommunikation. Nur wer es
schafft, mittels Kommunikation sein unbekanntes Gegenüber zu erreichen, darf hoffen, mit ihm
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einen Teil des Weges gemeinsam zu gehen und
so der Möglichkeit Raum gewähren, aus einem
Unbekannten einen Bekannten zu machen.
Diese Herangehensweise unterscheidet sich
vom individuell inspirierten und geplanten Vorgehen anderer künstlerischer Arbeitsweisen. Es
steht die Nähe zu soziokulturellen und sozialarbeiterischen Aktivitäten einerseits (manchmal
kann man einen Unterschied nicht mehr erkennen) und die Nähe zum (Kultur-) Management
andererseits auffallend deutlich im Raum. Nicht
zwangsläufig muss diese Nähe negativ sein,
resp. muss sie überhaupt sein. Allerdings ist sie
meist so evident, dass sie entweder ignoriert
wird oder man ihr mit heftiger Abgrenzung begegnet. Die faktische Gegebenheit dieser Nähe
liegt wesentlich am gemeinsamen Objekt des
Interesses von Sozialer Arbeit, Soziokultur und
NGPA: der Mensch in seiner sozialen Umgebung.
Soziale Arbeit
Soziale Arbeit in ihrem Ursprung hat neben den
vielfach gern zitierten karitativen durchaus einen revolutionären Charakter. Da, wo es nicht
um einen gesellschaftlichen Reparaturbetrieb
geht, will Soziale Arbeit – also Arbeit an der Gesellschaft – Emanzipation und Freiheit.
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Das Geheimnis von NGPA – wenn man überhaupt von einem solchen sprechen will – liegt
darin begründet, dass soziale interaktive Prozesse auf spielerische, irritierende und den Alltag unterbrechende (künstlerische) Methoden
in Gang kommen. Warum schreibe ich „künstlerisch“ in Klammern? Weil die TeilnehmerInnen
oft während des Prozesses oder im Nachhinein
überhaupt erst die Methode als solche erkennen
(ebenso ergeht es oft genug auch den RezipientInnen). Es ist jedoch die künstlerische Methode,
die den Prozess im Idealfall mächtig werden
lässt. Sie unterscheidet sich diametral von sonstigen Ansätzen sozialer Arbeit: Kunst schafft es,
automatisierte und von subjektiven Kategoriesystemen gesteuerte sensorische Wahrnehmungsprozesse zu unterbrechen. Dadurch ist sie
prädestiniert, vorhandene Verkrustungen aufzubrechen. Es unterscheiden sich beide Ansätze
durch die handelnden Personen und die ihnen
zugrunde liegenden Berufsbilder. KünstlerInnen
werden per se darauf vorbereitet, sich allein
durch die Welt zu schlagen. Ihr kreatives Potenzial soll sie allein ernähren. Der/die SozialarbeiterIn dagegen wird darauf vorbereitet, innerhalb
eines Systems (Verwaltung, Institution) zu agieren. Prinzipiell ist der Berufsstand eingebunden
und damit kontrolliert, so dass er nicht oder nur
selten unabhängig und frei agieren kann.
AKTIONSRAUM KUNST
Unterschiedliche Ziele spielen ebenfalls eine Rolle. Die Soziale Arbeit will, bzw. muss durch ihre
Auftraggeber – seien dies die Kommunen oder
die paritätischen Wohlfahrtsverbände – eine Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Klientel
erreichen. Die Klientel wird resozialisiert, wie es
so schön heißt. KünstlerInnen dagegen wollen
primär erst einmal nichts für den Menschen,
sondern vielmehr etwas mit ihm erreichen, indem sie ein gemeinsames Projekt angehen und
sich idealerweise auf eine Ebene mit den TeilnehmerInnen stellen. Das Gelingen des Projekts
ist – wie bereits gesehen – offen. KünstlerInnen
sind frei, nach einer Kunstaktion wieder zu gehen. Die künstlerische Methode wird nicht per
Auftrag innerhalb eines Gesetzes an die Klientel
herangebracht, sondern scheint in Form eines
spielerischen und freiwilligen Ausprobierens auf.
Man muss nicht mitmachen, aber man kann.
Schließlich kann man vielleicht sogar als KünstlerIn an einem Kunstwerk beteiligt gewesen sein.
Es handelt sich um niedrigschwellige Anreize, die
einen anderen Zugang zum Menschen als die
klassische Soziale Arbeit ermöglichen.
Soziokultur
Eine besondere Rolle kommt zwischen diesen
beiden Polen – der sozialen Arbeit und der
NGPA – der Soziokultur zu. Sie agiert ebenfalls
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– wie die Kunst – in einem eher freiwilligen
Rahmen und muss keine dauerhafte Beziehung
zu ihrer Klientel eingehen. Wie Soziale Arbeit ist
sie über soziokulturelle Zentren oder Stadtteilläden langfristig in den Stadtteilen angesiedelt.
Durch sie entstehen Kontakte zu Menschen,
die im Stadtteil leben. Multiplikatoren können
gefunden und künstlerische Prozesse ebenso
initiiert wie versorgungsrelevante Basisbedürfnisse der StadtteilbewohnerInnen organisiert
werden. Soziokultur – möglicherweise der
„Missing Link“ zwischen den beiden Polen –
ist dennoch kein Fortsatz von beiden Theorien,
sondern vertritt eigene Interessen. „Soziokultur
ist der Versuch, [...] Kunst als Kommunikationsmedium zu begreifen – als eine und zwar sehr
gewichtige Möglichkeit, die plurale (und damit
auch in vielfältige Einzelinteressen, Interessenskonflikte, Verständigungsbarrieren) zerklüftete
Gesellschaft auf der – kommunikativen – Ebene
zusammenzubringen.“5
NGPA und Soziokultur gemeinsam ist der partizipative Grundton. Die Menschen sollen selbst
zu Handelnden werden, sollen ihre Potenziale
freilegen, die bereits vorhanden, aber noch nicht
aktiviert sind. Wichtig ist, mit den Menschen,
nicht für sie aktiv zu werden. Kommunikation
als zentraler Aspekt ist sowohl in der Theorie
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AKTIONSRAUM KUNST
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der Soziokultur wie in der des NGPA maßgeblich, wobei in der Regel soziokulturelle Aktivität
langfristig geplant wird, während NGPA temporär bleibt.
Kunst schafft es,
auto­matisierte Wahr­
nehmungsprozesse
zu unterbrechen.
Wofür NGPA immer und Soziokultur manchmal steht, ist die Intervention in den Alltag, in
den öffentlichen Raum. Dabei ist diese Art der
Intervention mit dem brechtschen V-Effekt6 zu
vergleichen, im Gegensatz zu der Vorstellung
der Intervention, wie sie Soziale Arbeit häufig versteht. Intervention soll von der Irritation
her verstanden werden. Soziokultur und NGPA
ähneln sich also in Herangehensweise und
Wirkung stark und unterscheiden sich in ihrer
Projekt-Orientiertheit oft kaum voneinander.
Die Unterschiede zwischen ihnen liegen meist
im ästhetischen Charakter wie auch in der
Prozessorientierung, sie können synergetisch
optimal genutzt werden, wenn beide Ansätze miteinander im Kontext erscheinen. Für die
NGPA ist vieles leichter, wenn sie auf vorbereitete Strukturen trifft. KünstlerInnen können die
Recherche abkürzen und Erfahrung und Wissen
soziokultureller Strukturen nutzen. Andererseits
initiieren AktivistInnen der Soziokultur oft selbst
NGPA-Prozesse.
NGPA, Soziale Arbeit und Soziokultur eint der Gedanke der Veränderung mittels Eingriff in den bestehenden Alltag. Während Soziale Arbeit vielfach
zum Reparaturbetrieb degradiert wurde und im
arendtschen Sinne meist in der Privatheit agiert,
können NGPA und Soziokultur tendenziell frei(er)
und partizipativ arbeiten und in den öffentlichen
Raum gehen. Damit besteht die Möglichkeit, einen unmittelbaren, ergebnisoffenen Zugang zu
den Menschen zu erhalten. 1
2
3
4
Hannah Arendt: Vita Activa. München: Piper Verlag 62007, S. 62 ff.
Mit der offenen Verortung des Individuums
meine ich, dass jede Person durch eigenes
Aktivwerden den ursprünglich verorteten
gesellschaft­lichen Bereich verlassen und in
einen neuen Bereich wechseln kann.
Der Begriff Soziale Plastik wurde durch Joseph Beuys in die Kunst eingeführt. Er sah
zudem erstmals die Kunstvermittlung gleichwertig neben dem Kunstwerk verortet.
Der Begriff New Genre Public Art (selten
New Public Art oder Performance Art in
Public Spaces) kommt aus den USA und
wird vielfach auch in Europa benutzt, um
sich von der klassischen objektbezogenen Kunst
im öffentlichen Raum abzusetzen. Siehe hierzu
auch Suzanne Lacy: Mapping the Terrain: New Genre Public Art. Seattle, Washington: Bay Press 1995.
5
Hermann Glaser/Karl-Heinz Stahl: Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und
Modelle einer neuen Soziokultur. München:
Juventa 1974, S. 25 f., zitiert nach Norbert Sievers,
Reinhold Knopp, Jochen Molck: Kultur nicht für
alle? Kulturpolitik und gesellschaftliche Teilhabe.
In: Kulturpolitische Mitteilungen IV/2009, S. 34.
6
„Brecht setzt in seinen Dramen planmäßig Mittel
ein, die zwischen Bühnengeschehen und Publikum
Distanz schaffen sollen. Eines der wirkungsvollsten
ist der Verfremdungseffekt (V-Effekt): Er besteht
darin, daß sich ein Darsteller aus der gespielten
Szene heraus plötzlich ans Publikum wendet und
es als solches anspricht. So wird der Spielcharakter
[…] deutlich gemacht, der Bühnenraum öffnet sich
zum Zuschauer hin.“ Die Neue Herder Bibliothek,
Bd. 13, Literatur. Freiburg i. Brsg. 1973, S. 241.
Gekürzte Fassung des Textes aus: Weg entsteht
im Gehen, Schritte im Prozess. LeoPART – Kunst-
projekte in St. Leonhard. Katalog LeoPART,
Nürnberg 2009. Langfassung unter www.liter-art.
de. Das Projekt LeoPART unter www.leopart.eu.
Abb.: Projekt „Kunst & Logis Frei“, Zwischenbericht, Kerstin Polzin und Anja Schoeller, Stadtteil
St. Leonhard, Nürnberg 2009/10 (S. 6); Projekt
„Liebevolles St. Leonhard … oder die Ware Liebe
im Stadtteil/Standortfaktor Prostitution“, Michael
Aue, Stadtteil St. Leonhard, Nürnberg 2009 (S. 7);
Projekt „Rosi, Ross und Reiter – ein Denkmal für
St. Leonhard“, Stadtteil St. Leonhard, Nürnberg
2009 (S. 8–9); Regina Pemsl und Wolfgang Weber
beim Projekt „Schatten: Schau! Spiel!“, Nürnberg
2009 (S. 10), Projekt „Geschäftig unterwegs –
Frieda geht einkaufen“, Stadtteil St. Leonhard,
Nürnberg 2009 (S. 11), Fotos: Stefan Hippel
MATTHIAS A. J. DACHWALD ist Kurator und Aus­
stellungsmacher im K4 Nürnberg und Mitbegründer
der Kunst- und Forschungsgruppe für den öffent­
lichen Raum LeoPART. Von 1996 bis 2009 war er
Vorstandsmitglied der LAG Soziokultur Bayern e.V.
12
AKTIONSRAUM KUNST
READER soziokultur 1|11
KünstlerInnen heute sind oft Allrounder. Mit Kunstaktionen reisen sie um die ganze Welt oder be­spie­len
kontinuierlich Orte mit vielen Beteiligten. Sie sind Experten für Konzept und Design, Management und
Marketing, für strategische Planung und Krisenbewältigung. Sie sind Sozialarbeiter und Handwerker,
Chef und Hilfsarbeiter. Wir fragen zwei nach den Hintergründen ihres Tuns.
Klimaflüchtlingscamp Weimar
Foto: H. J. Hack
Hermann Josef Hack, bitte sagen Sie einige
Worte zu Ihrer Person.
Als Künstler fühle ich mich, solange ich denken
kann. Erfahren habe ich das Wichtigste, was mit
Kunst machen zu tun hat, nicht an einer Akademie, obwohl bzw. weil mir Joseph Beuys im
Nachhinein sicher viele Anregungen gegeben
hat. Als ich mir bewusst die Frage gestellt habe,
welche Form von Kunst ich machen will, war sofort klar: Es kann nicht so weiter gehen, es kann
nicht das sein, was alle anderen machen. Nicht
den Kunstmarkt beliefern, damit elitäre Sammler bedient und starre Strukturen, die uns die
heutigen Missstände eingebrockt haben, noch
mehr gefestigt werden.
Mich hat interessiert, wie ich möglichst viele Menschen teilhaben lassen kann an einer
Lösungsfindung für die vielen Probleme und
Herausforderungen unserer Zeit. Damals, in den
1970er Jahren, hat mich fasziniert, was man erst
viele Jahre später mit Vernetzung bezeichnet
hat: mit vielen anderen gleichzeitig verbunden
sein und sein kulturelles Umfeld gestalten. Daher rührt auch mein Interesse an Kommunikation und Medien. Ich wollte lernen, wie man in
einem funktionierenden, möglichst flächendeckenden System operiert, um Veränderungen
herbeizuführen. Das ist der Grund, weshalb ich
1979 bei der Deutschen Bundesbahn als Künstler eine Ausbildung zum Manager gemacht
habe, was meine damaligen Künstlerkollegen
nicht verstehen konnten.
Globale Soziale Plastik
Hermann Josef Hack
Von welchem Kunstbegriff gehen Sie aus?
Mein Kunstbegriff ist ein sehr weit reichender,
basierend auf dem von Beuys geprägten Begriff
der Sozialen Plastik. Ich gehe noch einen Schritt
weiter zur Globalen Sozialen Plastik. Weil alles,
was wir heute tun oder nicht tun, weltweite Auswirkungen hat. Hinzu kommt der von mir geprägte Begriff der Ästhetik des globalen Überlebens.
Was verbirgt sich hinter diesen Begriffen? Wenn
ich heute vor meiner Haustür entscheide, ob ich
mit dem Rad in die Stadt fahre oder das Auto
nehme, ob ich Fleisch esse oder Gemüse, dann ist
das zugleich eine konkrete Entscheidung, welche
die Klimakatastrophe anheizt oder bremst.
Mich treibt einerseits
ungeheure Wut, andererseits Befriedigung, mich
einzumischen.
Was inspiriert Sie? Was macht Sie verrückt?
Mich treibt einerseits eine ungeheure Wut, dass
weltweit alle 6 Sekunden ein Kind verhungert,
während wir vor lauter Diäten nicht wissen, wie
wir unser Übergewicht wegkriegen. Dass wir zusehen, wie jeden Tag zig Fußballfelder betoniert werden, Regenwälder aus Habgier abgeholzt werden
und die Ärmsten als Sklaven unter schlimmsten
Bedingungen dafür schuften, damit wir uns günstig Dinge kaufen, die die meisten gar nicht brauchen. Andererseits treibt mich die Hoffnung und
eine Befriedigung, als Künstler die Dinge auf den
Kopf zu stellen, mich einzumischen und Chancen
zu ermöglichen, damit mehr Menschen ihre Rechte
wahrnehmen und sich nicht alles gefallen lassen.
Die Vision, das Erfinden und Vorwegnehmen von
Möglichkeiten, finde ich spannend.
Wie arbeiten Sie? In welchem größeren
persönlichen Zusammenhang stehen Ihre
Projekte? Wie ist Ihr Credo?
Meine Aktionen, Bilder und Objekte stehen in einem persönlichen Zusammenhang, der von einem
christlich humanitären Weltbild geprägt ist. Für
mich ist die Freiheit des Andersdenkenden wichtig, Gleichheit ohne Ansehen der Person, egal ob
Penner oder Prokurist, Nutte oder Nobelpreisträgerin. So habe ich als Erster Internetprojekte für
Obdachlose mit kostenlosen Internet-Zugängen
Mitte der Neunzigerjahre realisiert (www.hack-
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AKTIONSRAUM KUNST
13
PROJEKT
Foto: Bettina Rößger
Klimaflüchtlingscamp
Im September 2008 errichtete Hermann Josef Hack
auf dem Theatervorplatz des
Deutschen Nationaltheaters
Weimar, in dem 1919 die
Verfassung der Weimarer
Republik angenommen
wurde, ein Lager mit über
300 Miniaturzelten als
Klimaflüchtlings-Camp.
Er erklärte damit diesen
Ort zum Klimaflüchtlings­
lager. Mitveranstalter
der Aktion war die LAG
Sozio­kultur Thüringen e.V.
roof.de). Als ich mit der Künstlergruppe Ponton
1992 als documenta-Projekt das weltweit erste
interaktive Fernsehformat „Van Gogh TV“ umgesetzt habe, war das eine Form von kreativer Anarchie, der passive Empfänger wurde zum Sender,
Jahre bevor es das Internet gab.
Was sind die Ziele Ihrer Projekte? Wofür
bzw. wogegen richten sie sich?
Derzeitig wichtigste Ziele meiner Projekte sind
die Bekämpfung der Klimakatastrophe mit ihren jetzt schon verheerenden Folgen für die
Schwächsten und Ärmsten auf der Welt sowie
der wachsenden Ungerechtigkeit. Das Fatale
ist, dass wir in einer Person Täter und Opfer
sind und nur gemeinsam mit größten Anstrengungen eine soziale Katastrophe verhindern
können. Um es positiv zu sagen: Wir stehen vor
einer großen kulturellen Revolution, die wir gemeisam gestalten können. Dies zeige ich auch
in meinen Bildern auf Zeltplane, die u. a. im öffentlichen Raum ungefragt präsentiert werden,
Thema: die Brote Armee Fraktion, Botschaft der
Klimaflüchtlingsrepublik usw.
Welche Rolle spielt der Ort in Ihren Arbeiten (Transfer, lokaler Bezug, …)?
Mein Atelier ist die Welt. Ich brauche eigentlich
kein Studio. Das heißt aber, überall, wo ich bin,
fängt die Arbeit an. Es nützt nichts, über globale Herausforderungen zu schwafeln, wenn es
beim Abladen der Verantwortung auf die anderen bleibt. Der erste Schritt beginnt immer bei
mir vor Ort. So versuche ich in meinen Projekten, die Leute selbst erleben zu lassen, was die
global sichtbaren Veränderungen z. B. mit persönlichem und lokalem Handeln zu tun haben.
Beispiel: Mit meinem Klimaflüchtlingslager aus
Hunderten von Mini-Flüchtlingszelten gehe ich
in die Fußgängerzonen und Marktplätze unserer
Großstädte, dorthin, wo die Menschen konsu-
mieren und dadurch entscheiden, ob sie nachhaltiges Wirtschaften unterstützen oder nicht.
Ich bringe die durch den Klimawandel heimatlos
Gewordenen dorthin, wo die Ursachen liegen,
wenn auch nur symbolisch, aber sehr präsent.
Welche Rolle spielen Sie in Ihren Projekten? Welche Rolle spielt das Publikum?
In allen Aktionen und Projekten ist mir Partizipation wichtig, d.h. dass sich die BetrachterInnen
selbst einbringen, sei es, dass sie selbst zum
Akteur werden wie beim Virtuellen Dach für Obdachlose oder beim Arme-Socken-Teppich, den
ich aus den Strümpfen von Erwerbslosen aus
ganz Deutschland gefertigt und dann vor dem
Kanzleramt ausgelegt habe, um zu zeigen, dass
die Betroffenen an den Spitzengesprächen für
das Bündnis für Arbeit nicht teilnehmen durften.
Beim Klimaflüchtlingslager sind immer VertreterInnen von Organisationen dabei, welche konkrete Tipps geben, was jeder Einzelne tun kann.
Zum Beispiel habe ich mit der Nichtregierungsorganisation Oxfam International zeitgleich
in fünf europäischen Hauptstädten ein Klimaflüchtlingslager mit je 200 Zelten errichtet, um
bei den EU-Staatsoberhäuptern Gerechtigkeit
im Klimawandel einzufordern. Ich sehe mich
eher als Stifter von Kommunikation und Anreger, bin mir aber nicht zu schade, auch mit den
Passanten zu diskutieren und mich meiner Arbeit zu stellen.
Wie viel Planung ist notwendig? Wie offen
ist der Prozess? Kann er scheitern?
Alle Aktionen wollen geplant und organisiert
sein. Bei ca. 1.000 Zelten, die z. B. vor dem
Brandenburger Tor aufgestellt werden sollen,
braucht man eine Genehmigung, ebenso wenn
man – wie ich es häufig gemacht habe – vor
dem Bundeskanzleramt oder dem Reichstag arbeitet. Da ich alles selbst mache, vom Konzept
bis zur Pressemitteilung, ist dies schon eine umfangreiche Arbeit, gehört aber zum Projekt. Ich
kommuniziere diesen Prozess ganz offen. Beispielsweise als das Ordnungsamt von Erfurt mir
verbieten wollte, mit Kreide auf dem teuren Granitpflaster zu zeichnen, um die Klima-Fußspuren
von Menschen festzuhalten, habe ich dies gleich
publik gemacht. Allein die Drohung, die Presse
zu informieren, führte zu einem Gesinnungswandel, so dass ich dann die Genehmigung
erhielt. Oder als die Berliner Stadtverwaltung
mir keine Genehmigung für mein Camp vor dem
Brandenburger Tor geben wollte, habe ich dies
öffentlich gemacht und mich bei einzelnen Politikern gemeldet, bis ich schließlich die Genehmigung erhielt. Aber auch Scheitern gehört zum
Versuch und bringt neue Erkenntnisse.
Woran messen Sie den Erfolg? Wann ist ein
Projekt erfolgreich?
Den Erfolg meiner Arbeit sollen andere beurteilen. Hier geht es nicht um Noten wie beim European Song Contest oder um Verkaufsrekorde
bei Sotheby‘s. Manchmal stellen sich Erfolge
erst langfristig ein. Hauptsache, meine Arbeit
bewirkt etwas in den Köpfen, das dann zu Taten
führt. Wenn ich sehe, wie z. B. die Kinder in meinem Projekt „Malbuch für Flüchtlingskinder“,
das ich mit aktion-deutschland-hilft e.V. und
Flüchtlingskindern in Sri Lanka im Februar 2010
gestartet und dann mit Dresdner und Berliner
Schulklassen weitergeführt habe, sich ernst genommen fühlen und mir offen ihre Umgebung
zeichnerisch darstellen, dann ist das eine schöne Bestätigung für die mühevolle Vorbereitung.
Oder wenn mir Passanten zurufen, dass sie das
Camp super finden und meine Installation sie
angeregt hat, jetzt was Konkretes zu tun, weiß
ich, dass meine Kunst wirkt.
www.hermann-josef-hack.de
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AKTIONSRAUM KUNST
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PROJEKT
Jahrtausendfeld
Das Projekt „Dein Feld“ setzt sich seit 2010 für
den Erhalt der Freifläche „Jahrtausendfeld“, einer
24.000 qm großen Brache im Stadtgebiet Leipziger
Westen, ein. Nach dem Motto „Kauf ein Stück
Stadt“ soll es in den Besitz der Bürger­schaft übergehen und so als Freiraum inmitten der funktionalisierten und zunehmend privatisierten Stadt erhalten bleiben. Jeder Interessierte könnte so schon
mit kleinen Beiträgen zum Anteilseigner werden.
Wie das Feld zukünftig genutzt wird, entscheiden
die 24.000 AnteilseignerInnen über eine eigens beschlossene Verwaltungsinstanz – eine 24.000-Quadratmeter-Gemeinschaft – unter Einbeziehung
der AnwohnerInnen öffentlich. Bis 2014 sollte der
modellhafte Eigentumserwerb abgeschlossen sein.
Bis dahin werden regelmäßig Informationsveranstaltungen und Gespräche mit der Stadtverwaltung Leipzig und interessierten Bürgern
stattfinden. 2011 wird das Projekt im Rahmen von
UTOPIA ATTRAKTOR 2011 thematisiert und weiterentwickelt. UTOPIA ATTRAKTOR 2011 ist Feldforschung auf partizipativer Basis. Das offene Format
soll als ein jährlicher Festivalkongress entwickelt
werden, um gemeinschaftlich selbstorganisierte
Modellprojekte in Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Thüringen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen.
www.deinfeld.de, www.utopiaattraktor.org
Participate & innovate
Ariane Jedlitschka
Ariane, sagst du bitte einige Worte zu deiner Person?
Ich bin „Pop”: diplomierte Immobilienwirtschafterin, freischaffende Künstlerin, Projektorganisatorin, Galeriebetreiberin, Regisseurin,
Mitbegründerin der Vereine Westbesuch und
Helden wider Willen.
Ich stehe auf Kunst. Das ist mein Lebenssinn.
Seit 2008 betreibe ich im Westwerk Leipzig gemeinsam mit Matthias Petzold den Kunstraum
essential existence gallery (EEG). Dieser Raum
ist meine Hommage an diese Stadt und ihre Bewohner (www.eexistence.de). Hier lebe ich mit
meinem Sohn und zwei Katzen. Von hier aus
arbeite ich an meinem europäischen Kurzfilmprojekt „Supermom Kick-Off“, dass seit 2010
in fünf Ländern stattfindet. Ich setze mich darin mit dem Alltag alleinerziehender Eltern und
ihrer Kinder auseinander. Deren Geschichten
will ich nicht bloß dokumentieren, sondern mit
ihnen gemeinsam einen fantastischen Spielfilm
mit europäischer Tragweite produzieren (www.
supermom.eu).
Von welchem Kunstbegriff gehst Du aus?
Für mich ist es von Bedeutung, mit Menschen zu
arbeiten. Ich arbeite prozessorientiert an sogenannten sozialen Plastiken. Für mich ist es von
Bedeutung, wenn ohne ökonomischen Zwang
das Zusammenkommen von Menschen, Ideen
und Orten ermöglicht wird.
Was inspiriert dich? Was macht dich verrückt?
Mich motiviert es immer wieder, dass wir einen
Raum schaffen, in dem Zeit, Ruhe und Momente
entstehen, die anderen Menschen die Möglichkeit geben, über ihre Interessen zu reden, ihre
Gedanken zu äußern, so dass sie einen Widerhall
finden. Sei das eine Installation, die beispielsweise auf Sprache reagiert, oder ein Film, der Ereignisse reflektiert und bewahrt … Wichtig ist die
Reaktion. Mich inspirieren Menschen, wie sie sich
im Alltag bewegen, sich in ihren Familien verhalten, wie sie ihre sozialen Beziehungen gestalten.
Hinzu kommt die mediale Unterstützung, die Prothese, die diese Prozesse hervorhebt. „Wir sind
verrückt nach dieser Welt!“
Wie arbeitest du? In welchem größeren persönlichen Zusammenhang stehen deine Projekte? Wie ist dein Credo?
Ich arbeite frei, so weit es mir möglich ist. Das
heißt, ich bestimme, was ich mir zutrauen und
schaffen kann. Allerdings möchte ich nicht allein
arbeiten. Allein arbeiten ist einsam, der Weitblick
geht verloren, man kann sich in Details verlieren.
Die Gruppe ist wichtig, um Schwerpunkte immer
wieder neu zu denken, andere Ansätze zu finden
und komplexe Konstruktionen zu erfinden. Wir arbeiten daran, subtile Vorgänge in der Gesellschaft
Ariane Jedlitschka
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AKTIONSRAUM KUNST
Welche Rolle spielt der Ort in deinen Arbeiten (Transfer, lokaler Bezug ...)?
Der Ort spielt eine große Rolle, auch wenn man
mit der ganzen Welt kommunizieren kann. Uns ist
aber der Transfer in die reale Welt, ins Räumliche
und damit zeitlich Fühlbare wichtig. Die Identifikation mit dem Raum ist wichtig, sowohl für den
Besucher als auch für den Veranstalter, um vor
Ort sinnvoll wirken zu können und Ideen greifbar zu machen. Unsere international agierenden
Künstler brauchen Verortung, damit sie ihre Ideen
vermitteln können, so dass sie beim Publikum ein
Feedback erzeugen.
Und Du so? | Fotos: EEG
mit Hilfe medialer Werkzeuge anschaulicher darzustellen und zu transportieren. Schwer fassbare
Zusammenhänge werden somit auch für Außenstehende erfahrbar und vermittelbar und damit
diskutabel. Das geht nicht allein.
Was ist das Ziel deiner Projekte? Wofür bzw.
wogegen richten sie sich?
Sie richten sich g e g e n nichts und sind auch
f ü r nichts. Sie versuchen Möglichkeiten zu erforschen, wie Menschen ihr Umfeld, ihr Leben
umdeuten und reflektieren können. Die Prozesse,
die hinter den Dingen liegen, können sichtbar gemacht werden, so dass Menschen angeregt werden und ihren eigenen Zugang schaffen können.
Aktiv am Leben teilzunehmen, das ist ein Ziel.
Im aktuellen Projekt „Utopia Attraktor“
stellen wir vor allem die Alternativen ins Zentrum unserer Arbeit. Wir können durch unsere
künstlerische und kuratorische Arbeit besonders
glaubhaft darauf hinweisen, dass zu unserer angeblich so alternativlosen Lebensform unzählige
Möglichkeiten des Andersseins, -handelns und
-denkens möglich sind. Daneben sind subversive
Strukturen interessant, da sie unsichtbar Wege
beschreiten, die öffentlich wirken, ohne selbst
im Fokus der Öffentlichkeit zu stehen. Mit Hilfe
subversiver Denkansätze und unseres Spezialgebietes in der essential existence gallery, der
Vermittlung der Idee der freien Bildung und des
Wissensaustausches, wollen wir einen Prototyp
der Zukunft entwickeln, der die vielen Utopien
der Menschen sichtbar macht und im Internet
offen zugänglich zusammenführt.
Welche Rolle spielst du in deinen Projekten? Welche Rolle spielt das Publikum?
Ich verstehe mich als Projektorga­nisator, als
Netzwerker, als Öffent­lichkeitsarbeiter. Ich versuche, aus dem Publikum neue Leute zu gewinnen, die neue Projekte entwickeln. Daher ist das
Publikum das Wichtigste. Ohne das Publikum
können wir uns als Galerie nicht weiterentwickeln. Das Schönste ist, wenn das Publikum
inspiriert wird, Neues zu schaffen, eine Person
aufgrund eines Projektes, einer Veranstaltung
oder Ausstellung mit einer neuen Idee auf uns
zukommt.
Wie viel Planung ist notwendig? Wie offen
ist der Prozess? Kann er scheitern?
Es ist immer mehr Planung notwendig, als uns
Zeit, Geld oder Möglichkeiten zur Verfügung
stehen. Prozesse scheitern regelmäßig, täglich.
Andere sind erfolgreich. Das Wechselspiel ist
notwendig für unser Lernen und eröffnet neue
Wege. Scheitern ist in unserem offenen Arbeitsprozess nur das Indiz, die Idee aus einer anderen
Perspektive noch einmal neu zu denken.
Woran misst du den Erfolg? Wann ist ein
Projekt erfolgreich?
Ein Projekt ist dann erfolgreich, wenn es durchgeführt ist, wenn es in seiner Form, wie es erdacht
ist und sich entwickelt hat, funktioniert. Egal ob
es gescheitert ist oder nicht. Die Hauptsache ist,
dass der Prozess offen liegt und die Menschen
sich damit auseinandersetzen. Wenn das Publikum versteht, warum etwas so stattgefunden hat
bzw. das Publikum nach dem Sinn der Unternehmung forscht, ist das unser Erfolg.
Die Fragen stellten BETTINA RÖSSGER und MAXI
KRETZSCHMAR.
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KOLUMNE
Wunderland ...
... ist ein geheimnisvoller Ort. Man kann ihn
schaffen aus allem, was Weisheit, Wissen und
Fantasie hergeben. Dann schickt man Alice
dort hin. Mit verrückten Begleitern in bizarre
Spiegelsäle. Wenn viele diese Reise miterleben möchten, ist ein Kunststück gelungen,
das sein Publikum gefunden hat.
Man kann aber den Vorgang auch ganz andersherum sehen. Wer sich aufmerksam umguckt sieht ja: Wunderland ist überall. Es lässt
sich buchstäblich anfassen. Denn täglich tun
Menschen die rätselhaftesten Dinge, folgen
verschlüsselten Absichten und führen in ihren Begegnungen immer neuartige Tänze auf.
Kunst ist nötig, um dieses reale Wunderland
sichtbar zu machen – und um es zu begreifen. Sie ist der komplexeste, der intelligenteste und gleichzeitig emotionalste Code, der
Menschen zur Verfügung steht.
Wenn man so will, ist jeder von Geburt an
ein kleiner Künstler. Wohin er es bringt, hängt
auch davon ab, ob dieser kleine Künstler im
Alltag am Leben bleibt. Zu oft wird er ja blind,
taub, stumm und starr über den Zumutungen
des Realen. Als zuschauendes Publikum des
Alice-Wunderlands schwebt er hin und wieder zwischen Traum und Droge.
Im Prinzip ist es Aufgabe der Soziokultur,
dauernd Herz-Kreislauf-Rettung zu betreiben,
damit die Grenze zwischen beiden Wunderländern flüssig bleibt oder wird. Was für ein
Kampf! Wo doch die einen von Bourdieu gelernt haben, dass sie die Grenzen dicht machen müssen, um sich von den anderen zu
unterscheiden. Die nur als schauendes zahlendes Publikum an den äußersten Rand des
wunderbaren Reiches gelockt werden.
Kunst jedoch entfaltet ihren magischen, lebendigen Atem dort, wo beide Wunderländer
sich selbstverständlich ineinander verweben.
Der Seele nach braucht sie mehr öffentliche
Gefährten als private Geldbeutel. Doch weil
eine gesunde Seele eben einen gesunden
Leib braucht, haben wir sie mal wieder: die
Quadratur des Kreises oder die Krux mit dem
Publikum.
Wie immer wünsche ich mir: Machen Sie trotz­
dem weiter!
Ihre Friede Nierbei
AKTIONSRAUM KUNST
16
soziokultur 1|11 READER
IN ACTIO
THÜRINGISCHE
SOMMERAKADEMIE
I
Das gewisse
Geheimnis
der Insel ...
m 19. Jahrhundert eine Färberei, später Holzdrahtrollos, Thermometer, Sanduhren …
Eine alte Fabrik im kleinen Thüringer-WaldDorf Böhlen. Bis 1990, dann war Schluss.
Im Jahr darauf treffen sich hier etliche bildende
KünstlerInnen, um eine Zeit lang gemeinsam
zu arbeiten. Ein buntes Völkchen, die Böhlener
schauen skeptisch, manche sagen: „Hauptsache, es passiert was“. Wenig später Gründung
eines Vereins, in der Mehrzahl Dorfbewohner,
die gefangen sind von dieser fremdartigen
Idee, eine vernachlässigte Industriebrache als
Arbeitsort anderer Art wiederzubeleben. Auch
im neu etablierten Kunstministerium des jungen
Landes Thüringen verhaltene Skepsis, aber man
fördert das Projekt, und seitdem kontinuierlich,
bis heute. Einige der Akteure der ersten Stunde
sind immer noch dabei, ob in Küche, Büro, als
Künstler oder Hausmeister. So auch Christoph
Goelitz, Mitbegründer und künstlerischer Leiter: „Im Dorf hielt man sich bedeckt, aber ließ
uns in Ruhe. 1993 dann zwei Wochen lang unerhörte Klänge von früh bis spät, 36 ausgewählte
Musikstudierende aus aller Welt, ein babylonisches Sprachgewirr wie nie zuvor an diesem
abgelegenen Ort. Eine Mischung aus jugendlichem Kräftemessen, virtuoser Leichtigkeit und
berührender Tiefe, Musik als das Verbindende
schlechthin. Jetzt war die Neugier nicht mehr
zu bändigen: Öffentliche Proben, umjubelte
Konzerte in der alten Fabrik, der Dorfkirche und
umliegenden Orten. Das war der Durchbruch,
und dieses ambitionierte internationale Pro-
jekt jedes Jahr aufs Neue ein Höhepunkt. 1997
fühlte sich schließlich das ganze Dorf geehrt,
als die Sommerakademie den Thüringer Kulturpreis bekam.“ Etliche kommen auch zu anderen
Veranstaltungen, um über ungewohnt schräge
Klänge, Tanzskulpturen, Limericks oder Obertongesang zu staunen, die meisten der Dorfbewohner aber kommen am liebsten zum Irischen
Abend im Winter.
Das ganze Dorf
fühlt sich geehrt.
Ja, die Sommerakademie ist auch im Winter
schön. Zeit für freie Arbeitsaufenthalte, ein Kontrastprogramm zu Sommertrubel und Baden im
Waldsee. Der Tag wird angenehm strukturiert
vom traumhaften Essen der Küchenfeen, arbeitslose Frauen aus dem Dorf. Alles wird frisch
gekocht und gebacken, jeden Tag ein neuer,
sehnsüchtig erwarteter Kuchen.
„Das Beste ist die Verbindung von leckerem
Essen, frischer Luft und guten Ideen“, sagt Jana
Gunstheimer, die gerade erst von einem Stipendium für bildende Kunst in der Villa Massimo
aus Rom zurückgekehrt ist und sich sofort wieder heimisch fühlt im Thüringer Wald. „Weil man
hier rund um die Uhr arbeiten kann und trotzdem
noch ein Weinchen am Kamin schafft und weil es
im Wald so riecht, wie man es aus der Kindheit
kennt. Weil man Glücksgefühle hat, wenn einem
auf dem Berg der Wind um die Ohren weht und
weil die Küchenfrauen so schöne Schürzen anhaben … Man muss den Computer aus dem Fenster
halten, wenn man ins Internet will“, setzt sie mit
einem Lächeln hinzu. Die schlechte Erreichbarkeit
verstärkt das Inselgefühl. Die Bühnenbildnerin
Helke Hasse geht noch einen Schritt weiter:
„Wenn ich im Winter hierher komme, habe
ich immer die Hoffnung, dass wir eingeschneit
werden und ich nicht mehr nach Hause fahren
kann.“ – „Es ist fast wie ein drittes Zuhause …
Einfach wunderbar, dass es solche Orte gibt“,
sagt die Leipziger Fotografin Claudia Lindner.
Viele, die einmal da waren, kehren wieder. Wie
auch ich, seit etwa zehn Jahren schon. Und war
überrascht, dass man nach so langer Zeit noch
neue Räume entdecken kann, die sich verwinkelt
verwunschen hinter einer Abstellkammer mit Staffeleien und Pinseln verstecken, obwohl man dachte, die Gebäude bereits wie die eigene Westentasche zu kennen. Mit einem geradezu kindlichen
Starrsinn hatte ich mich immer nach einem solchen Ort gesehnt, mit vielfältigsten Möglichkeiten
und wundervollen Ausblicken, an dem gleichermaßen Ruhe und kreatives Chaos herrscht.
Die Wiesen vor dem Haus sind bereift und
über dem Wald liegt der Morgennebel, eine gute
Atmosphäre, um weiterzuarbeiten. www.sommer-akademie.com | Fotos: Brigitte Romann
MARTINA ZSCHOCKE, freie Autorin, lebt in
Görlitz. Sie war Stipendiatin der Thüringischen
Sommerakademie und ist häufig Gast in Böhlen.
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AKTIONSRAUM KUNST
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IN PERSONA
JENS HUCKERIEDE
Künstler und Filmemacher
Neue Formen
der Erinnerung
E
ine Filmszene führt in einen kleinen
Laden, der vollgestopft ist mit Grammophonen und alten Platten. Zu hören
ist ein knisternder Sprechgesang, der
von einer Schelllackplatte kommt. Drei junge
Männer hören intensiv hin und grooven im RapRhythmus mit den Köpfen vor und zurück. Mit
dieser Szene fängt der Hamburger Künstler und
Filmemacher Jens Huckeriede in wenigen Minuten ein, wie der Brückenschlag von der Volksmusik zum Hip-Hop gelingt. Der Film trägt den
Titel „Return of the Tüdelband“. Autor und Regisseur ist Jens Huckeriede, 1949 geboren und
in St. Pauli aufgewachsen. Nach langjähriger
kaufmännischer Tätigkeit engagiert er sich u. a.
in freien Theatergruppen und arbeitet geschäftsführend im SterniPark e.V. mit. Seine Filme realisiert er als Mitglied in der thede filmproduktion.
Seit Anfang der 90er Jahre sucht Jens Huckeriede Spuren jüdischen Lebens in Hamburg. Seine künstlerischen Projekte erforschen Familien­
geschichten, die von der Vergangenheit zur
Gegenwart führen und in die Zukunft verweisen.
Im Film „Return of the Tüdelband“ geht es um
die Geschichte der Gebrüder Wolf – Hamburger
Künstler, die in ihrer Zeit sehr populär und erfolgreich waren, bis sie vor den Nationalsozialisten
fliehen mussten und über Shanghai in die USA
emigrierten. Einer der jungen Rapper ist Dan
Wolf, Urenkel von Leopold Wolf und wie dieser
der Welt der Musik und des Theaters mit Haut
und Haar verschrieben. Er ist der Protagonist des
Films. Erst durch Jens Huckeriedes Recherchen
lernt er die Geschichte seiner Familie kennen. Der
Film begleitet ihn durch Hamburg und zeigt in
real time, wie er „seine Geschichte erfährt“.
Mit der Vergangenheit
in die Zukunft.
Das Tüdelband-Lied der Gebrüder Wolf wird in
Hamburg immer noch gesungen – die Geschichte der Familie Wolf musste erst wieder in das
Gedächtnis zurückgeholt werden. Ein Schlüsselerlebnis auch für Jens Huckeriede, der wie die
meisten Hamburger das Lied von Kind auf singen kann, aber auf die Geschichte der Familie
Wolf erst mit über vierzig Jahren gestoßen ist.
Jens Huckeriede ist überzeugt: Das Wissen um
die eigene Vergangenheit ist der Schlüssel für
die Gestaltung der eigenen Zukunft. Seine Erlebnisse bestätigen ihn darin. Seine Begegnung mit
Dan Wolf führte zu einer intensiven Zusammenarbeit. Gemeinsam initiieren sie künstlerische
Projekte mit jungen Menschen zu den Themen
Rassismus, Vertreibung und Migration. Hip-Hop,
Rap, Beatbox, Theater sind ihre künstlerischen
Ausdrucksmittel – für viele unvorstellbar, wie
das in Verbindung mit Holocaust, Zeitzeugenbefragung und Gedenkstättenarbeit funktionieren
soll. „Mit der Vergangenheit in die Zukunft“ ist
ihr Motto. Sie wollen die Frage beantworten,
wie Geschichte nicht vergessen wird, wenn Zeitzeugen nicht mehr berichten können.
Mit seinem letzten Film „Ab nach Rio – die
Akte Guggenheim“ erzählt Jens Huckeriede die
Geschichte der Familie Guggenheim. Ausgangspunkt ist die Villa Guggenheim in Hamburg. Der
Verkauf des Hauses an einen Verein, der hier
eine Kita betreibt, legte ihre Geschichte offen.
Auch hier entsteht eine komplexe Projektarbeit.
Im Haus wurde ein Archiv eingerichtet und ein
Veranstaltungsraum, um die Geschichte der Familie Guggenheim gegenwärtig zu halten. Eine
erste Installation von SchülerInnen ist bereits
zur Eröffnung zu sehen und zu begehen.
Jens Huckeriede produziert Filme, interveniert
im öffentlichen Raum mit Installationen und
Aktionen, schafft Raum für Begegnungen unterschiedlichster Menschen, organisiert Ausstellungen und Workshops. Diese komplexe Form der
Projektarbeit, die sich im Prozess stetig weiterentwickelt, versteht er als soziokulturelle Praxis,
in die er alle künstlerischen Mittel einbringt, auf
die er sich versteht.
Mit dem Film über das Tüdelband-Lied begann
die Zusammenarbeit zwischen Jens Huckeriede
und dem Hamburger Stadtteil&Kulturzentrum
MOTTE. Im September wird die MOTTE direkt
mit Dan Wolf kooperieren. Polnische Jugendliche
und Hamburger SchülerInnen werden mit ihm in
der Gedenkstätte Neuengamme bei Hamburg
Musik und Texte produzieren. Die Ergebnisse
dieser Workshops werden an unterschiedlichsten Orten aufgeführt werden.
Ebenfalls im September wird ein Projekt
fortgeführt, das Jens Huckeriede und die MOTTE zum 700-jährigen Stadtteiljubiläum von
Ottensen initiiert haben. Sieben Protagonisten
erzählen über ihre Biografie Geschichte und Geschichten dieses Stadtteils, der so aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet wird.
Sieben filmische Installationen, die „endlos“
aus Ottenser Schaufenstern auf den Gehweg
projiziert werden, laden ein zu individuellem
Verweilen, treffen auf zufällige Passanten oder
auf ein Publikum, das gezielt die Filme im Fenster ansteuert. Geplant ist ein Zusammenschnitt
der sieben Porträts zu einem Film. www.diethede.de, www.gebruederwolf.de
www.plattmaster.de/andeeck.htm (Lied vom Tüdelband)
GRIET GÄTHKE ist Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit
im Stadtteil&Kulturzentrum MOTTE in Hamburg-Altona.
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AKTIONSRAUM KUNST
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PROJEKT
GrashalmProjekt
In dem Kunstprojekt von Thomas May werden
seit 2001 rund um die Welt von unterschiedlichen Menschen Grashalme aus Balsaholz
geschnitzt. Die Halme dieser Sammlung werden
nummeriert und katalogisiert und in Ausstellungen immer wieder chronologisch in echten
Rollrasen aufgesteckt. May unternahm seine
sogenannten Schnitztouren – hauptsächlich abseits der gängigen „Kunst-Orte“ – bisher durch
Finnland, Schweden, Tschechien, Makedonien,
Italien, Polen, Süd-China, Österreich, Ukraine,
Japan und Deutschland. Sammlungsstand
am 9. März 2011: 10.789 Halme.
www.grashalminstitut.de | Foto: Thomas May
Die Welt verändern
WERNER PREGLER
S
eit etwa 20 Jahren ziehen aktivis­tische
KünstlerInnen und KünstlerInnengruppen aus den Mu­seen und Galerien aus,
um im Stadtraum mit der Bevölkerung
zusammen neue Projekte zu entwickeln. Drei
Kriterien sind dabei häufig erfüllt:
Prozessorientiertheit Im Gegensatz zur klassischen „Kunst im öffentlichen Raum“ setzen
die KünstlerInnen nicht einfach Objekte in den
Stadtraum, sondern versuchen Räume für die
freie Entfaltung der Kreativität zu schaffen. Häufig ist der Prozess der Entstehung interessanter
als das dabei entstehende Objekt.
Partizipation Die KünstlerInnen kehren sich
ab vom Geniekult der Romantik und beteiligen
aktiv die BürgerInnen, die nicht mehr nur als Publikum oder RezipientInnen verstanden werden.
Ortsbezug Die KünstlerInnen beziehen nicht
nur architektonische Elemente ein, sondern auch
den spezifischen sozialen und politischen Charakter eines Ortes.
Zwischen Agitation und Ästhetik
International maßstabsetzend war der Sammelband „Mapping the Terrain: New Genre Public
Art“ von Suzanne Lacy, der mit einem Manifest
beginnt („To search for the good and make it
matter: This is the real challenge for the artist” –
Nach dem Guten zu suchen und ihm in der Welt
Bedeutung zu verschaffen: Dies ist die wahre
Herausforderung für den Künstler) und so ziemlich alles enthält, was man tradi­tionellerweise
mit Kunst eben nicht meint! Diese weltverbessernde Haltung wird verständlich, wenn man
die Ursprünge dieses Manifestes in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der sechziger
Jahre kennt. Und so durchziehen feministische,
öko-aktivistische und anti-rassistische Motive
die Aktionen der Künstlerinnen (Männer sind hier
deutlich in der Minderheit) und führen zu einer
Gratwanderung zwischen den Polen Ästhetik und
Politik einerseits und Ästhetik und Sozialarbeit
andererseits. Während manche Ausstellungen
von einem Soziologieseminar kaum mehr zu
unterscheiden sind, gibt es auch Beispiele, wo
die Kritik an den entfremdeten Umständen sich
gerade der sensiblen Annäherung an einen Ort
(seinem spezifischen Klang, Geruch, Aussehen,
seinen Menschen) verdankt und damit doch wieder dem traditionellen Feld der Ästhetik in seiner
ursprünglichen Bedeutung – also der Kunst der
Wahrnehmung – zugehört. Und lange vor der
Diskussion in Deutschland wurden hier die spannenden Debatten der Interkulturalität (Identität/
Fremdheit) und Interdisziplinarität geführt.
Neue Organe der Wahrnehmung
Die von Shelley Sacks gegründete Forschungseinrichtung zur Sozialen Plastik widmet sich ebenfalls dem Zusammenhang zwischen Ästhetik und
gesellschaftlicher Transformation. Ökologische
und politische Fragen spielen auch hier eine wichtige Rolle. An die Ideen Joseph Beuys´ anknüpfend, geht es zuallererst darum, „Imagination
und Intuition als neue Organe der Wahrnehmung,
Strategien des Hörens und Zuhörens“ zu entwickeln (Shelley Sacks). Die Verbindung zwischen
Ästhetik und Ethik wird an dem Wortspiel „responsiblity as an ability to respond“ erläutert, das
auch im Deutschen funktioniert: Die Verantwortung (= das verantwortliche Handeln in der Welt)
entspringt nicht, wie traditionell oft argumentiert
wird, moralischen Überzeugungen, sondern der
Fähigkeit zu antworten, also etwas zunächst sensibel zu bemerken und darauf einzugehen. Dieses
Vermögen des Künstlers – eine im Grunde nie zu
beendende Schulung der Aufmerksamkeit – ist
der Anknüpfungspunkt für eine wirkliche „partizipative“ Kunst, also eine Kunst, die an die Kreativität des Mitmenschen anschließt und diesen
nicht – wie so oft – lediglich als Hilfspersonal für
die Aktionen des Künstlers missbraucht.
Und so ziehen die KünstlerInnen und KünstlerInnengruppen weiter in den Stadtraum hinaus, in
den letzten Jahren immer mehr in der Gewissheit, dass eine angemessene Annäherung an
einen Ort und seine BewohnerInnen nicht nur
mit allen Sinnen (Aufgabe der Kunst), sondern
auch mit der menschlichen Intelligenz geführt
werden muss, und verbünden sich dabei mit
Soziologen, Stadtethnologen und Architekten,
denen bewusst ist, dass die Annäherung nicht
nur mit der menschlichen Intelligenz (Aufgabe
der Wissenschaft), sondern auch mit allen Sinnen geführt werden muss. LITERATUR Lucy R. Lippard: The Lure of the Local:
Senses of Place in a Multicentered Society.
New York 1997 | Suzanne Lacy (Hg.): Mapping the
Terrain: New Genre Public Art. Seattle 1995 | Stella
Rollig / Eva Sturm (Hg.): Dürfen die das? Kunst als
sozialer Raum. Wien 2002 | Shelley Sacks: Exchange
Values. Bilder unsichtbarer Leben / Images of Invisible Lives. Fiu-Verlag, Wangen im Allgäu 2007
WERNER PREGLER ist Mitglied der Kunst- und
Forschungsgruppe LeoPART. www.leopart.eu
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AKTIONSRAUM KUNST
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REIN
Rein oder raus?
„WIND“ – eine Installation der Gruppe D.N.K./FILOART im Gleimtunnel Berlin
B A R B A R A R Ü T H , G R I T B E N AT H
D
er Wind bewegt seit dem 2. Oktober
2010 die zwei Worte rein/raus in fünf
Metern Höhe über den Fußwegen im
Gleimtunnel zwischen Berlin-Wedding (Bezirk
Mitte) und Prenzlauer Berg (Bezirk Pankow).
Unbeeinflusst von Menschenhand, treibt der
Zufall oder die allgemeine Wetterlage sein Spiel
mit den Bedeutungen. In den Stadtraum gesetzt,
verwirrt die Schilderanordnung, die weder Hinweis, Verbot noch Werbung ist. Die Zweckfreiheit der Anordnung hinterlässt den Betrachter
nachdenklich, vielleicht auch ärgerlich. Wer soll
sich angesprochen fühlen? Von welcher imagi-
nären Grenzziehung ist hier die Rede? Wer ist
drinnen, wer ist draußen und wer bestimmt das?
Die Installation der zwei „Windspiele“ ist am
Ein- und Ausgang des Gleimtunnels auf der
Fußgängerseite montiert worden. Ganz in der
Nähe des Mauerparks, einer ehemaligen Grenze, an der es darum ging, dass DDR-Bürger
nicht raus und Bundesbürger nicht rein sollten.
Allerdings vermischen sich hier nicht nur alte
Ost-West-Animositäten. Der Gleimtunnel verbindet/trennt zwei Stadtteile, die unterschiedlicher nicht sein könnten und bietet aktuell
Gesprächsstoff sowohl für Pankow als auch für
Mitte im Rahmen der geplanten Bebauung des
Mauerparks.
Die ersten Durchquerenden waren die Gäste eines inzwischen über den Kiez hinaus bekannten
Events, der Gleimtunnelparty. Sie wurden befragt, was sie mit den beiden Worten assoziieren,
ihre Antworten wurden über die Schaufenster
des „KulturvorRat“ – eines Projekts des Vereins
Förderband e.V., der auch das „WIND“-Projekt
begleitete – öffentlich sichtbar und auf der
Internetseite www.kulturvorrat.foerderband.org
auch hörbar.
Umgesetzt werden konnte diese Installation
über Mittel aus dem Fonds Soziale Stadt.
BARBARA RÜTH, Kuratorin
GRIT BENATH, Projektmanagerin
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„Er schnitzet,
hauet, gräbt und
schneidet“
Bildhauerei in Bremen und anderswo
Mit dem Gerhard-Marcks-Haus ist in Bremen nicht ein,
son­dern laut Eigenbeschreibung d a s Bildhauermuseum
des Nordens beheimatet. Zwischen Kunsthalle und GoetheTheater gelegen, behütet es in erster Linie das Werk seines
Namensgebers, zeigt aber auch immer wieder Ausstellungen Artverwandter. Für viele bleibt Bildhauerei allerdings
eine eher leidenschaftslose Angelegenheit. Man mag damit Reiterstatuen und Herrscherdarstellungen, biblische
und antike Skulpturen verbinden. Zwar setzt Bildhauerei
das Puzzle Stadt genauso mit zusammen wie Karstadt und
Kirche, aber wie moderne, aktuelle Bildhauerei funktioniert, erfährt keine große Aufmerksamkeit. „Der Bildhauer
schnitzet, hauet, gräbt und schneidet“, heißt es in der Oeconomischen Enzyklopädie von Johann Georg Krünitz aus dem
Jahre 1858. Was damit alles noch nicht gesagt ist, erzählt
Veronika Wiegartz, Kustodin im Gerhard-Marcks-Haus.
Zett: Mit der bekanntesten Bremer Skulptur
würde ich gerne beginnen: Zuletzt wurde gesagt, die Stadtmusikanten seien zu klein – was
halten Sie denn von einer Vergrößerung?
Veronika Wiegartz: Hier im Hause halten
wir von der Debatte gar nichts, weil Gerhard
Marcks, der sie ja geschaffen hat, sich sehr klar
für diesen Standort entschieden hat, sich auch
sehr viele Gedanken um den Sockel der Stadtmusikanten gemacht hat und darüber hinaus
die Größe der Skulptur genau so wollte. Gerhard
Marcks war kein Gigantomane, er hat immer das
Maß gesucht im Verhältnis zum Menschen. Ich
glaube, für auswärtige Besucher ist dieser Überraschungseffekt durchaus auch ein Teil der Figur,
wenn sie dann entdecken: „Oh, da sind sie ja!“
Zett: Okay, die Stadtmusikanten sind noch recht
gängig, aber Sie wollen uns ja über Bildhauerei
generell aufklären. Welche Art von Kunst fällt
denn überhaupt alles unter Bildhauerei?
Wiegartz: Streng genommen sind das alle künstlerisch gestalteten dreidimensionalen Objekte.
Das ist jegliche Kunst, bei der man etwas modelliert oder zusammenfügt. Und an Material kann
das alles sein: Holz, Plastik, Metall, Gips … Und
dann gibt es natürlich die Unterscheidung zwischen abstrakter, häufig als modern bezeichneter
Skulpturkunst, und eben figürlicher Darstellung.
Zett: Und in Bremen bleibt man der Figur treu?
Wiegartz: Ja, das ist richtig, das liegt natürlich
daran, dass unser Haus hier das Werk Gerhard
Marcks’ bewahrt – und der war eben ein figürlicher Bildhauer. In Bremen gibt es durch Personen
wie Bernd Altenstein, der derzeit noch den Lehrstuhl für figürliche Bildhauerei an der Hochschule
innehat, eine starke Lobby dafür. Das ist schon
auch ein eigenes Profil, das sich Bremen da mit
dem figürlichen Schwerpunkt erarbeitet hat.
Zett: Bei figürlicher Bildhauerei denken viele
wahrscheinlich noch an Statuen, repräsentati­ve,
vielleicht biblische Skulpturen – sind Sie bestrebt, so einen alten Staub da abzuwischen?
Wiegartz: Tatsächlich ist es so, dass Bildhauerei
in der Vergangenheit für sehr stark repräsentative Aufgaben bestimmt war, etwa Herrscherdarstellungen, Denkmäler, Erinnerungsmale. In
der jüngeren Kunstgeschichte seit dem 19. Jahrhundert setzt aber eine Tendenz ein, dass Kunst
generell sich von offiziellen Aufträgen löst. Diese
Entwicklung hat Malerei wie auch Bildhauerei
beeinflusst.
Zett: Moderne und postmoderne Positionen haben also auch die Bildhauerei erreicht?
Wiegartz: Ja, sicher, auch wenn es im Moment
sogar eine Renaissance der figürlichen Bildhauerei gibt und sie wie alle anderen Künste auch
immer von Aufs und Abs gekennzeichnet ist. Aber
wenn Sie sich Figuren aus den 1910er, 20er oder
50er Jahren angucken, dann werden Sie immer
einen großen Anteil an Abstraktion entdecken.
Zett: Wie sieht’s denn allgemein mit politischer
Bildhauerei aus? Auch hier waren ja Skulpturen
ausgestellt, die zu Themen wie dem Irak-Krieg
Stellung nahmen.
Wiegartz: Die Bildhauerei ist da mittlerweile
genauso pluralistisch wie alle anderen Kunstrichtungen auch.
Zett: Gibt es denn in der Bildhauerei auch Abgrenzungen zu Kitsch und Trivialität?
Wiegartz: Bildhauerei kann sich da gar nicht
großartig abgrenzen, die Windspiele am Tiefer
hier in Bremen zählen natürlich auch zu Bildhau-
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erei. Es gibt auch strengere Definitionen, die die
Auseinandersetzung mit Raum und Betrachter
immer mit einbeziehen. Aber diese Übergänge zu
Kitsch sind in der Bildhauerei selbstverständlich
fließend, man denke an Porzellanfigürchen oder
Gartenzwerge. Aber letztendlich hat das auch
immer etwas mit Zeitgeist und Bewertungsprozessen zu tun – ein Gartenzwerg im Schrebergarten kann Kitsch sein, in einer Installation eines
jungen Künstlers kann das durchaus Kunst sein.
Zett: Was kann denn Bildhauerei an Auseinandersetzung leisten in Bezug auf Gedächtnis- und
Erinnerungskultur?
Wiegartz: Erstmal verfolgt sie ästhetische Ideale und transportiert Inhalte wie andere Künste
auch. Dieses Erinnern an Dinge spielt eher auf
einen repräsentativen Anspruch an, den sie heute gar nicht mehr haben will oder kann. Bildhauerei ist aber etwa überlebensfähiger als andere
Kunsterzeugnisse, dadurch, dass sie aus so robusten Materialien gefertigt ist. Ansonsten würde ich sagen, die Bildhauerei hat es im Vergleich
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zu anderen Künsten seit jeher schwer gehabt,
weil ihr dieses Klischee der Repräsentativität
immer noch anhaftet.
als Schale aufgefasst hat. Der Brunnen erschließt
sich eigentlich nur in Vorderansicht, und er hat gerade den Neptun hinten offen gelassen.
Zett: Und im Moment haben Sie mit Waldemar
Otto einen der Bremer Bildhauer im Hause …
Wiegartz: Ja, wir betonen immer, dass Waldemar
Otto zufällig in Worpswede lebt und wir deshalb
in den Genuss eines sehr qualitätsvollen Bildhauers hier in Bremen kommen. Wir haben sechzig
Skulpturen von Otto hier, aus allen Schaffensperioden. Wir haben viele Torso-Varianten aus den
unterschiedlichsten Phasen von ihm, und anhand
dessen kann man gut seine Entwicklung und die
der figürlichen Bildhauerei nachvollziehen. Es
sind sogar schon Werke von 2009 zu sehen!
Zett: Braucht man denn heute immer noch griechische Götter?
Wiegartz: Ich denke, die Zeitlosigkeit der Geschichten ist es, die dafür sorgt, dass sie immer
wieder verwendet werden.
Zett: Was verbindet man in der Stadt denn mit
dem Namen Otto?
Wiegartz: Am bekanntesten von ihm ist sicher der
Neptunbrunnen auf dem Domshof. Der war sehr
umstritten, weil die Figur für viele zu abstrakt war.
Für Otto ging das so weit, dass er Figur nur noch
Abb.: S. 20: Veronika Wiegartz mit der Skulptur
von Gerhard Marcks´ „Bremer Stadtmusikanten“
(klein), 1951/71 Bronze, Höhe 35,5 cm | S. 21:
Waldemar Otto, „Das Fenster“, Sockeltorso V
und VI, 1984, Bronze, Höhe 43 cm (links); „Mann
mit Flasche“, 2006, Bronze, Höhe 45 cm (rechts
oben); „Mann aus der Enge heraustretend II“,
1971–72, Bronze, Höhe 300 cm (rechts unten).
Fotos: Kai-Erik von Ahn
Das Interview führte JENS UTHOFF. Es erschien in der
ZETT, Zeitung für Stadtkultur, herausgegeben vom
Kulturzentrum Schlachthof, Bremen, Ausgabe 4/2009.
IMPRESSUM
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Soziokultur Nr. 83 | 21. Jahrgang | 1/2011 | ISSN 0946-2074
Herausgeberin Redaktion/Lektorat Redaktionelle Mitarbeit Externe Redakteure Thementeil Layout Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e.V.
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