Depression – es kann jeden treffen

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Depression – es kann jeden treffen
WISSEN
GESUNDHEIT
Depression –
es kann
jeden treffen
400 000 Mitmenschen leiden bei uns
an einer echten Depression. Die Folge
davon ist oft eine Ausgrenzung in der
Gesellschaft. Schuld daran sind viele
falsche Vorstellungen und Vorurteile.
G
enauso schnell, wie sich
im Herbst das Tageslicht
verabschiedet, so schnell
fällt bei vielen Menschen
in der dunklen Jahreszeit das Stimmungsbarometer. Sie leiden an einer Herbst-Winter-Depression oder saisonal-affektiven
Störung (SAD), wie der Fachmann das
nennt. Das sind schweizweit immerhin rund
250 000 Betroffene. Doch die SAD ist nur
eine eher milde Spielart des Krankheitsspektrums Depression – mit dem grossen
Vorteil, dass sich die Stimmung im Frühling
meistens wieder von selbst hebt.
Dieses Glück haben die rund 400 000
Menschen nicht, die jährlich wegen einer
echten Depression in einer psychiatrischen
Klinik behandelt werden. Bei ihnen kümmert sich die Krankheit nicht um die Jahreszeit. Und: Treffen kann es jeden. «Einer von
fünf Menschen erkrankt einmal im Leben
an einer Depression», sagt Prof. Dr. Martin
Keck, ärztlicher Direktor an der psychiatrischen Privatklinik Clienia Schlössli in
Oetwil am See ZH und Vorstandsmitglied
der Schweizerischen Gesellschaft für Angst
und Depression. Tendenz steigend.
Die Auswirkungen dieser Entwicklung
sind dramatisch: So schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass Depression
bis im Jahr 2030 die Hauptursache für verlorene Lebensjahre in den Industrieländern
sein wird – mit den entsprechenden Folgekosten. «Wichtig ist deshalb», erklärt Martin Keck, «dass Betroffene weder ausgegrenzt noch geächtet werden.» Doch dafür
muss die Krankheit von ihrer Stigmatisierung befreit werden.
36 SonntagsBlick magazin
Irrtum 1: Unter
Depression leiden
nur schwache und
labile Menschen.
«Genau wie eine
Grippe kann auch
eine Depression jeden treffen», stellt
Prof. Dr. Martin
Keck klar. Auch
Menschen, die vermeintlich robust
im Leben stehen.
Ein Auslöser ist
chronischer Stress.
«Aber bei wem dieser Stress zu einer
Depression führt
und wer ihn einfach so wegsteckt, wissen wir im voraus
nicht», sagt der Neurologe.
Irrtum 2: Bei alten Menschen ist eine
Depression etwas ganz Normales.
Auch wenn Senioren im Vergleich zu Jüngeren öfter mit den Themen Tod, Gebrechlichkeit und Krankheit konfrontiert werden,
sind Alte nicht häufiger depressiv als Junge.
Doch 60 bis 70 Prozent der Altersdepressionen werden nicht oder zu spät erkannt.
«
Einen von
fünf Menschen
trifft es einmal im
Leben.»
Prof. Dr. Martin Keck
Teilweise, weil die älteren Menschen selber
der Ansicht sind, in ihrem Alter sei eine
bedrückte Stimmung normal. Das Fatale
daran: Depression fördert Demenz, und
Demenz fördert Depression. «Es ist deshalb
enorm wichtig, diesen Teufelskreis frühzeitig zu durchbrechen», erklärt Martin Keck.
Denn die Krankheit lässt sich auch im Alter
gut behandeln. «Aber das klappt nur medikamentös und mit professioneller Hilfe.»
Irrtum 3: Antidepressiva sind gefährlich, da sie
abhängig machen.
«Ein Vorurteil, das sich hartnäckig hält, aber
komplett falsch ist», so Keck, der auch wissenschaftlicher Beirat im Vorstand der
Schweizerischen Gesellschaft für Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie ist. «Antidepressiva machen weder abhängig, noch
So erkennt man
eine Depression
Eine Depression ist die Entgleisung
des Stresshormonsystems. Sie wird oft
durch chronischen Stress ausgelöst.
Typische Anzeichen einer Depression sind
neben der allgemeinen Niedergeschlagenheit Appetitmangel, oft verbunden mit ungewollter Gewichtsabnahme. Merkmale aller
Depressionen sind Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Dazu kommen eine permanente Müdigkeit, Energie-, Interesse- und
Freudlosigkeit, bedrückte Stimmung, grübelndes Gedankenkreisen, Konzentrationsstörungen und Nervosität. Selbst Ferien sind
für Depressionsgeplagte keine Erholung.
lobt Martin Keck. «Er deckt seine Probleme
nicht zu, sondern behandelt sie und verdient
dadurch den Respekt der Umgebung.»
Antidepressiva sind bei einer schweren Depression nachweislich das beste Mittel, um
Suizide zu verhindern.
Bild: Edvard Munch / Bridgemanart.com © Pro Litteris
Melancholie: Mit
diesem Titel
bezeichnete der
Maler Edvard
Munch 1894 sein
Bild zu diesem
schwierigen
Seelenzustand.
verändern sie die Persönlichkeit.» Sie stabilisieren das entgleiste Stresshormonsystem,
also den Auslöser der Depression. «Das ist
wie bei einer ausgekugelten Schulter», erläutert er die Wirkungsweise. «Die Medikamente schaffen den Boden, um die Behandlung nachhaltig angehen zu können.» Im
Fall der Schulter eine Physiotherapie, im Fall
der Depression eine Psychotherapie.
Irrtum 4: Antidepressiva heben sofort die
Stimmung.
«Leider nicht», bedauert Martin Keck.
Es dauert je nach Patient zwischen 5 und
20 Tagen, bis die Medikamente eine Wir«Gesundheit» im Schweizer Fernsehen
SRF 1, Montag, 9. Dez., 21.05 Uhr
Wenn der Mann zu früh kommt ...
kung zeigen. Deshalb ist bei der Behandlung
einer Depression eines äusserst wichtig: Geduld. Aber es gibt genügend Behandlungsmethoden zur Überbrückung dieser Wartezeit. «Wer die Stimmung künstlich sofort
heben will, der müsste Drogen nehmen»,
scherzt Keck. «Das schafft aber wieder andere erhebliche Probleme.»
Irrtum 5: Antidepressiva erhöhen das
Selbstmordrisiko.
Im Gegenteil. Das ist wie bei einem Diabetiker, der sich Insulin spritzt, um nicht zu
sterben. So nimmt ein Depressiver Antidepressiva. «Er macht genau das Richtige»,
Irrtum 6: Suizidäusserungen braucht man
nicht ernst zu nehmen.
«Selbstmordäusserungen bei depressiven
Menschen sind ein absoluter Notfall und
gleich zu behandeln wie ein Herzinfarkt»,
sagt der ärztliche Leiter an der Klinik
Schlössli. Sie seien sehr froh, wenn jemand
darüber spreche – so könnten sie wenigstens
reagieren. «Denn», betont Keck, «ein solcher Patient gehört in ärztliche Betreuung –
notfalls gegen seinen Willen.» Seine Erfahrung zeigt, dass 80 Prozent der Selbstmordkandidaten im Vorfeld versuchen, darüber
sprechen.
Depressionen sind ein Hauptgrund für
Selbsttötungen. Von den jährlich 1400
Schweizer Selbstmördern litten die meisten
an dieser Krankheit. Klar ist: Wer die Ankündigung eines Suizids als leere Drohung
abtut, unterschätzt das Risiko.
Irrtum 7: Kinder kennen keine Depression.
Das Tragische an dieser psychischen Erkrankung ist, dass sie bereits in jungen Jahren beginnen kann und Betroffene oft ein Leben
lang begleitet. Ein Viertel aller Depressiven
erkrankt bereits in der Pubertät oder noch
früher. Eine Zeit, in der Stimmungsschwankungen zum Alltag gehören. Dies erschwert
es, eine Depression zu diagnostizieren.
«Deshalb ist es enorm wichtig, dass Eltern
und Lehrer wachsam
sind», so Keck.
Thomas Vogel
SRF 1, Samstag, 14. Dez., 18.10 Uhr
Speiseröhrenkrebs nimmt zu
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