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FRAUEN & MÄNNER
SONNTAG, 23. SEPTEMBER 2007 / NR. 19 676
DER TAGESSPIEGEL
S3
Von Gerrit Bartels
A
ls der dänische Schriftsteller
Poul Vad in den 90er Jahren
Island besuchte und sich auf
die Spuren einer seltsamen
Saga begab, schrieb er voller
Enthusiasmus in seinen Reisebericht:
„Eine Reise nach Island ist die Wallfahrt
zu einer Literatur“. So ein Satz freut die
Isländer, der bestätigt sie in ihrem Stolz
auf die eigene Literatur und lässt sie
umso überzeugter von sich behaupten,
sie seien das Volk der Bücher, das Land
der Erzähler und der Leser. „Fast jeder
Isländer ist ein Leser oder Erzähler. Oder
beides“, sagt Halldór Gudmundsson, der
1956 in Reykjavík
geboren wurde und
Schriftsteller, Litera- Sie haben
turwissenschaftler
und Verleger ist, 40 Verlage
gleichermaßen Is- und einen
lands oberster LiteNobelpreis
raturimpresario.
So
vollmundig für Literatur
das klingt, so gewissenhaft
versucht
Gudmundsson seine Aussage zu belegen.
Er verweist auf die berühmten mittelalterlichen Island-Sagas, die von Generation
zu Generation weitergegeben und immer
wieder abgeschrieben worden seien: „Analphabetismus kennen wir nicht.“ Er
weiß um den Hang der Isländer zum fröhlichen Fabulieren auch im täglichen Leben, ohne dem Wahrheitsgehalt der Geschichten größere Bedeutung beizumessen: „Man sollte unseren Geschichten
nicht immer trauen. Aber man muss sie ja
auch erst einmal erzählen können. Allein
das ist ja ein Wert an sich.“ Er kann aber
auch mit imposanten und nicht zuletzt
nachprüfbaren Zahlen aufwarten, war er
doch von 1984 an fast 20 Jahre lang Leiter des größten isländischen Verlags,
Mál og Menning. 200 bis 250 Neuerscheinungen habe dieser zu seinen Zeiten pro
Jahr herausgebracht, wovon 60 bis 70
Prozent aus einheimischer Produktion
stammen und der Rest ausländische Lizenzausgaben sind, und das für eine isländische Gesamtbevölkerung von nur
knapp 300 000 Einwohnern! Gar 1500
bis 1800 Titel seien es insgesamt, mit denen die 40 isländischen Verlage ihren
Mini-Markt versorgen.
Und, da blitzt allerdings der Schalk in
Gudmundssons Nacken, man könnte sagen, dass Island nicht nur die meisten
Schriftsteller im Verhältnis zur Bevölkerungszahl habe, sondern auch die
höchste Literaturnobelpreisträgerdichte
pro Kopf in der Welt: 1955 erhielt der
isländische Schriftsteller Halldór Laxness den Literaturnobelpreis. Laxness,
1902 geboren und 1998 hochbetagt verstorben, ist ein nationales Heiligtum, das
durch so gut wie alle gesellschaftlichen
und politischen Wirren des 20. Jahrhunderts hindurchgegangen ist und in dessen Werk sich vielfältige literarische Strömungen wiederfinden.
Laxness war auf Sinnsuche in einem katholischen Kloster, versuchte sich in Hollywood als Drehbuchautor, verstand sich
als Sozialist, zeitweise gar als überzeugter Kommunist, der sich gern und oft in
der Sowjetunion aufhielt und nicht zuletzt dem Stalinismus aufsaß. Erst 1963,
in seinen autobiografischen Reflexionen
„Zeit zu schreiben“, rückte er von seinen
früheren politischen Überzeugungen ab
und gab sich fortan als „skeptischer Humanist“, wie ihn Halldór Gudmundsson
nennt. Gudmundsson hat vor drei Jahren
eine fast 900 Seiten starke Biografie über
Laxness geschrieben, die in diesem
Herbst auch auf Deutsch erscheint.
Darin beschreibt er wahrlich erschöpfend das Leben von Halldór Laxness,
E
Eismoor auf Reykjanes, der Halbinsel im Südwesten Islands, auf der auch der internationale Flughafen Keflavík ist. Das Foto, das wir mit freundlicher Genehmigung
des Knesebeck-Verlags drucken, stammt aus dessen „Island-Kalender 2008“ mit Bildern des Naturfotografen Patrick Desgraupes.
Sage
& schreibe
Jedes Jahr erscheinen in Island bis zu 1800 neue Buchtitel, das ist einer auf 166 Einwohner.
Hier ist jeder entweder Leser oder Schriftsteller. Oder beides.
dem Sohn eines Bauern und Straßenarbeiters, der zum Dandy und Kosmopoliten wird, aber trotzdem heimatverbunden auf Sozialist bleibt. Und der vor
allem eines von früh an werden wollte
– ein Schriftsteller von Weltrang. So
sah er nur zwei Lebensmöglichkeiten
für sich: „entweder die Welt so gründlich zu erobern, dass ich sie in der
Tasche habe, oder aber völlig vor die
Hunde zu gehen“.
Erfolgstyp. Einar Kárasons Bücher finden
sich in jedem Haushalt. Foto: Isolde Ohlbaum
ZAHLEN, BITTE
F
Island
Er hat dann tatsächlich die Welt erobert, mit Büchern, in denen der Widerstreit der traditionell ländlichen isländischen Kultur mit der sich immer weiter
verfeinernden städtischen Kultur eine
große Rolle spielt, in denen der isländischen Bauernkultur genauso ein Denkmal gesetzt wie sie kritisch hinterfragt
wird, und mit denen er nicht zuletzt nach
eigenen Angaben auch „altisländische
Kunstwerke für moderne Menschen“
schaffen wollte. An Laxness kommt auch
in der jüngeren isländischen Schriftstellergeneration niemand vorbei, sei es,
dass man ihm respektvoll huldigt, sei es,
dass man sich intensivst an ihm abarbeitet. Einar Kárason beispielsweise will auf
Laxness nichts kommen lassen, „das geht
gar nicht, er war nunmal unser Größter,
erst recht nach der Verleihung des Literaturnobelpreises“. Wenn Laxness eine
Rede gehalten habe und die im Radio
übertragen wurde, habe sein Vater lauter
gedreht, „wir mussten dann alle still sein
und zuhören“, erzählt Kárason, der alle
Bücher von Laxness gelesen hat und ihn
sich schon in jungen Jahren zum Vorbild
genommen hat. Und das nicht ohne Erfolg: Der 1956 geborene Kárason gilt seit
seiner in den 80er Jahren entstandenen
Romantrilogie „Die Teufelsinsel“, „Die
Goldinsel“ und „Das gelobte Land“ wahlweise als „Laxness-Enkel“ oder als der
„meistgelesene Erzähler seit den Zeiten
eines Halldór Laxness“. Allein von „Die
Teufelsinsel“ hat Kárason auf Island fast
35 000 Exemplare verkauft, also an mehr
als jeden zehnten Isländer eins. Man
kann somit davon ausgehen, dass in jedem isländischen Haushalt zumindest einer seiner auch später zahlreich folgenden Familienromane aus den schmuddeligen Randbezirken der städtischen Gesellschaft steht.
Kárasons Freund und Schriftstellerkollege Hallgrímur Helgason dagegen geht
respektlos mit dem Erbe von Halldór Laxness um. Machten schon in seinem Slackerroman „101 Reykjavík“ die Protagonisten ihre Witze über Laxness und riefen „Holy Laxness“, wenn es ihnen die
Sprache verschlug, so ist in Helgasons
2001 erschienenen Roman „Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein“ Laxness
gleich selbst die Hauptfigur, die es in das
Setting seines Romans „Sein eigener
Herr“ verschlägt. Der genauso ironische
wie komplexe, unter seiner narrativen
und historischen Last schwer tragende
Roman bescherte Island viel Diskussionsstoff, wurde von vielen Kollegen aber
auch begrüßt. So sagt Halldór Gudmundsson, der das Buch seinerzeit in seiner Eigenschaft als Verleger bei Mál og Menning veröffentlichte: „Der Roman stieß
Laxness auf eine erfrischende Art von seinem hohen Sockel und machte ihn sogar
wieder etwas lebendiger.“
Um Lebendigkeit indes braucht sich
die zeitgenössische isländische Literatur
nicht zu sorgen, im Gegenteil: Es hat fast
den Anschein, als habe in den vergangenen 20, 30 Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden, als habe der hohe Hipness-Grad des Reykjavíker Nachtlebens
auch die isländische Literatur erfasst.
War diese zu den hohen Zeiten eines Halldór Laxness in der Regel auf dem Land
angesiedelt, spielten in isländischen Romanen eigentlich immer die Natur und
die Beziehung des Menschen zu ihr eine
Hauptrolle, so gibt es seit Gudbergur
Bergssons bizarrem Roman „Das Herz
lebt in einer Höhle“, Steinunn Sigurdardóttirs postfeministischen Liebesroman
„Zeitdieb“ oder eben Einar Kárasons
Slumgeschichte „Teufelsinsel“ zunehmend das Genre des Stadtromans.
Entfremdung, gebrochene Elternhäuser, urbane Szene, lässiges Savoir-Vivre,
Probleme mit der modernen Identität
zwischen Sage und Globalisierung: All
das wird inzwischen in der isländischen
Literatur zuhauf verhandelt, in Bragi
Ólafssons eigentümlichen Roman „Haustiere“, in dem sich ein Mann unter seinem Bett verkriecht und zusieht, wie andere Leute sich seiner Wohnung annehmen, in Einar Kárasons neuestem Buch
„Sturmerprobt“, in dem ein Fake-Dichter
so tun soll, als komme er aus dem Milieu
der Obdachlosen und Alkoholiker, und
auch in den Kriminalromanen eines Arnaldur Indridason, in denen der knorrige
Ermittler Erlendur Sveinsson nicht zuletzt mit seiner heroinabhängigen Tochter und seinem alkoholkranken Sohn zu
kämpfen hat.
Mit seinen inzwischen sieben Erlendur-Sveinsson-Romanen ist Indridason
einer der erfolgreichsten Autoren Islands auch im Ausland, zum Beispiel in
Deutschland, wo er die gleichen Auflagenhöhen erreicht wie Henning Mankell
oder Arne Dahl. Davon sind Autoren
wie Einar Kárason Export-Hits:
oder
Hallgrímur
Helgason ein gan- Die Autoren
zes Stück weit ent- wollen noch
fernt. Es sei denn,
ihre Romane wer- berühmter
den verfilmt. Das werden.
treibt die Verkaufszahlen ganz erheblich nach oben, wie „101 Reykjavík“ (Helgason) oder „Die Teufelsinsel“ (Kárason) gezeigt haben. Manche Autoren entwickeln aber auch eine Eigenschaft, die
Kárason bei seinem Vorbild Laxness als
einzige immer als leicht störend empfand: nämlich, dass dieser so sehr hinter
seinen Buchverkäufen in Europa und
dem Rest der Welt hergewesen sei. Allerdings schränkt Kárason umgehend ein:
„Aber das müssen wir ja alle irgendwie.“
Auch Halldór Gudmundsson ist sich darüber im Klaren, gerade da „neben dem
Fischfang die Kultur und insbesondere
die Literatur die Grundlage unserer Existenz ist“, dass Islands Literatur noch
lange kein Selbstläufer ist, ein globaler
Exportschlager gar. „Ich wünsche mir,
dass Island und insbesondere die isländische Literatur aus der Ecke der Island-Spezialisten herauskommt“, sagt er
und arbeitet selbst tüchtig daran mit.
Zum einen organisiert er jedes Jahr ein
internationales isländisches Literaturfestival, in diesem Jahr mit dem öffentlichkeitsscheuen südafrikanischen Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee als Eröffnungsredner und Daniel Kehlmann: Damit die Literaturwelt auf die blühende isländische Literaturszene aufmerksam
werde. Zum anderen hat Gudmundsson
gerade die Unterstützung der Regierung
für eine Bewerbung zugesagt bekommen:
Island will im Jahr 2011 Gastland der
Frankfurter Buchmesse sein. Als Vorbild
schwebt ihm der Auftritt der niederländischen Literatur in Frankfurt 1993 vor, der
als eine der erfolgreicheren Gastlandauftritte in die jüngere Literaturgeschichte
einging. „Danach war die niederländische
Literaturin allerMunde“, sagt Gudmundsson: „Das müsste uns doch eigentlich auch
problemlos gelingen.“
Björk Gudmundsdóttir, Musikerin
Aus Interviews zusammengestellt von Dialika Krahe
Gesammelt von Mathias Klappenbach
33 500 Euro werden derzeit für ein Islandpferd bei einer Auktion verlangt, das
sowohl als Zuchthengst als auch als Kinderpferd geeignet ist.
Quelle: ipzv.de
499
Einwohner Islands sind nach dem
Vættatal, dem offiziellen Handbuch der
isländischen Trolle, Zwerge und anderer
Sagengestalten, normale Menschen –
dann kommt statistisch gesehen wieder
ein Geist.
Quelle: iceland.de
40
Prozent der befragten Isländer gaben in einer Umfrage an, bereits Kontakt
mit einem Toten gehabt zu haben.
Quelle: iceland.de
30 Zwergwale und neun Finnwale waren
in der vergangenen Saison unter großen
Protestenzum kommerziellenFangfreigegeben worden, gefangen wurden jedoch
nur sieben Tiere. Für das Wahljahr am 1.
September wurde der Fang wieder verbo-
WAS ICH MAG
ten, weil weltweit kaum Kunden nach
Walfleisch verlangen.
Quelle: nzz.ch
22
Kinos gab es 2005 landesweit, die
Anzahl der Kunstmuseen ist ebenso
hoch. Aquarien und Zoos gab es nur 3.
Quelle: statice.is
8,3
WAS ICH NICHT MAG
1. An Island: Moos und Wind, ein Zelt und Haferflocken – mehr braucht man hier nicht. Herrlich!
1. An Island: Die Touristen! Für die bin ich, was
Donald Duck für Disneyland ist.
2. Zu Hause: Dass ich das Geräusch meines Toasters
in einen Song integrieren kann.
2. Zu Hause: Isolation.
3. An Elfen: Wegen der Elfen glauben die Leute, dass
alle Isländer per se Mystizismen sind.
3. An Elfen: Nicht dass ich sie ernst nehmen würde,
aber ich glaube an sie.
Prozent des isländischen Bruttoinlandsproduktes werden für Bildung ausgegeben. Das ist der höchste Wert in Europa. Deutschland investiert 5,2 Prozent
in Bildung.
Quelle: Der Tagesspiegel
4. An Schwan-Kleidern: Um in der Großstadt noch
einen Rest Natur um mich zu haben, trage ich Tierkopien. Sie sind meine Freunde. Sie beschützen mich.
0:0 spielte die deutsche Fußball-Natio-
6. An der Natur: Den Klang von Schnee.
nalmannschaft 2003 auf Island. Die folgende Kritik veranlasste Nationaltrainer
Rudi Völler zu seiner legendären „Käse,
Scheißdreck, Mist“-Rede, in der er Moderator Waldemar Hartmann den Genuss
von drei Weizenbier vorwarf und feststellte, dass es im Fußball keine „kleinen
Nationen“ mehr gebe.
Quelle: kicker
7. An der Stadt: In London kann man gut in Tunnels
singen. Und in New York sind die Brücken wunderbar. Da können Sie schreien, so laut Sie wollen.
4. An gewöhnlichen Kleidern: T-Shirts und Jeans sind
für mich Teil des weißen Imperialismus. Wie
Coca-Cola. Da will ich nicht klein beigeben!
5. An Musik: Ich werde verrückt, wenn ich ein paar
Tage lang keine mache.
5. An Musik: Du explodierst in 70 Stücke und am
nächsten Tag bist du wie neu.
8. Am Berühmtsein: Fühlt sich an wie Starkstrom.
9. Am Älterwerden: 20 ist nicht cool, 30 ist ein
großes Durcheinander, aber 40 ist nett.
6. An der Natur: Dass es sie nicht gibt, in New York.
Aus der Not gehe ich täglich in den Central Park.
7. An der Stadt: Sie ist kompliziert.
Björk, 41, ist berühmt für ihren experimentellen Stil. Sie
wurde in Reykjavík geboren und hat grönländische
Inuit-Vorfahren. Die Mutter zweier Kinder lebt in New
Foto: AFP
York. Zuletzt erschien ihr Album „Volta“.
8. Am Berühmtsein: Ich kann nicht per Anhalter
fahren.
9. Am Älterwerden: Dass man um Altersgleichberechtigung kämpfen muss.