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LANDKREIS STARNBERG
PST
Freitag, 15. April 2016, Nr. 87 DEFGH
Flüchtlinge und Arbeit Die ersten Firmen im Fünfseenland haben bereits Erfahrung mit Asylbewerbern in ihrem Betrieb gesammelt
von christiane bracht
J
eden Tag kommt ein Asylbewerber in
Arbeit“, weiß Daniela Tewes von der
Gesellschaft für Wirtschaftsförderung (Gfw) in Starnberg. Wer die Zeltdörfer
in Berg, Tutzing oder Pöcking sieht, die
Spendensammlungen und mühsamen Versuche der Helferkreise, den Flüchtlingen
ein paar Worte Deutsch beizubringen, mag
darüber erstaunt sein. Doch Arbeit ist der
beste Weg für die Fremden aus Syrien, Afghanistan, Eritrea oder dem Irak, Deutsch
zu lernen. Im Alltag mit deutschen Kollegen können sie auch sehen, wie man sich
hier verhält, welche Sitten und Gebräuche
es gibt. „Das ist Integration“, stellt der Leiter der Starnberger Arbeitsagentur, Dirk
Dieber, klar.
In den ersten drei Monaten dürfen die
Flüchtlinge nicht arbeiten, nur unentgeltliche Praktika sind möglich, vielleicht auch
ein Ein-Euro-Job. Erst ab dem vierten Monat können sie eine Arbeitserlaubnis bei
der Agentur für Arbeit beantragen. „Und
das ist auch gut so“, findet Dieber. „Es wäre
furchtbar, wenn die Leute erst drei Jahre
im Zelt, Container oder sonst wo sitzen
müssten und auf dumme Gedanken kämen. Dann besteht die Gefahr, dass das
gleiche passiert, wie bei unseren Langzeitarbeitslosen, dass sie von der Arbeit entwöhnt werden oder gar aus Frust anfangen
zu trinken.“
Früher war das so. Heute legt man großen Wert auf Integration. „Am liebsten
würden wir die Leute in sehr kurzer Zeit in
eine Berufsausbildung bringen“, sagt der
Behördenleiter. „Aber das ist ein Traum.“
Manche sind Analphabeten, andere wollen
schnell Geld verdienen, um es zu ihrer Familie in die Heimat zu schicken, denn die
setzt die Geflohenen meist ganz schön unter Druck. Wieder andere sind zu alt für eine Ausbildung.
„Die wollen hier Fuß fassen“
Einige Arbeitgeber schätzen die Motivation und den Ehrgeiz von Flüchtlingen und bieten ihnen deshalb
besonders gerne einen Ausbildungsplatz an. Mangelnde Sprachkenntnisse sind allerdings ein Problem
In der Berufsschule
gibt es oft Schwierigkeiten,
dem Unterricht zu folgen
Es gibt Firmenchefs, die nach
Dienstschluss noch mit einem
Auszubildenden Mathe lernen
Die Bereitschaft der Arbeitgeber im
Landkreis Starnberg, Flüchtlinge einzustellen, ist aber laut Dieber lobenswert
hoch. Einige hätten schon „Pionierarbeit“
geleistet, und ihre Erfahrungen sei in vielerlei Hinsicht positiv. Allerdings seien die
Chefs oft auch deutlich mehr gefordert:
Manch einer lernt nach Dienstschluss mit
seinem Auszubildenden noch Mathematik
oder ein anderes Fach für die Berufsschule. Andere sagen: „Man muss unendlich
viel Geduld haben.“ Denn die Flüchtlinge
kommen aus Ländern, in denen ganz andere Gepflogenheiten herrschen. So müssen
sie den Umgang mit Kunden noch lernen
oder es fällt ihnen schwer, exakt und sauber zu arbeiten.
Dennoch gibt es Unternehmer wie Rainer Dollinger von der Radotec in Krailling,
die Flüchtlinge als Azubi bevorzugen.
Denn die deutschen Jugendlichen hätten
zwar durch ihre Schulbildung vom Wissen
her einiges voraus, aber viele würden von
den Eltern gedrängt, sich zu bewerben,
manche kommen sogar mit der Mutter
zum Vorstellungsgespräch. „Die Flüchtlinge indes haben sich schon durchgebissen.
Sie haben eine andere Motivation und viel
mehr Ehrgeiz. Sie wollen sich integrieren
und hier Fuß fassen“, sagt Dollinger. Drei
gebiet ist die Arbeitsvermittlung. Und so
verspricht er den Betriebsleitern: „Herr
Dieber hat 100 bis 150 Mitarbeiter dazugewonnen, ohne dafür bezahlen zu müssen.“
Denn in jedem Helferkreis gibt es Ehrenamtliche, die Einzelgespräche mit den
Flüchtlingen führen, auch zum Thema Arbeit. Sie können die Leute gut einschätzen
und begleiten sie auch zu Vorstellungsgesprächen. Das ist schon deshalb hilfreich,
wirbt Strasser, weil die meisten große
Sprachprobleme haben. Da ist es gut,
wenn jemand den Werdegang und die Motivation schon kennt und vermitteln kann.
Es müsse auch nicht immer gleich der optimale Job sein. „Wir wollen, dass die Flüchtlinge auch niederschwellige kleine Jobs angeboten bekommen. Das hilft ihnen bei
der Werteentwicklung. Sie müssen erleben, wie es in Deutschland läuft, damit sie
sozialisiert werden“, erklärt Strasser.
Die meisten Arbeitgeber, die einen
Flüchtling eingestellt haben, berichten,
dass sie ihn zuvor als Praktikanten kennen
gelernt haben, um zu sehen, ob er überhaupt in den Betrieb passt, ob er pünktlich
zur Arbeit erscheint und ob sie mit ihm zurechtkommen. Das empfiehlt auch Dieber.
Für eine Probearbeit ist auch keine Erlaubnis nötig, sagt er. Ein Praktikum mit dem
Ziel, jemandem eine Berufsausbildung zu
ermöglichen, kann vier Wochen bis maximal drei Monate dauern, und wer den
Flüchtling über einen längeren Zeitraum
im Betrieb haben will, kann ihm eine Einstiegsqualifizierung zwischen sechs und
zwölf Monaten anbieten. Es gibt viele Spielarten des Kennelernens.
Engagiert und ehrgeizig: Rainer Dollinger, Chef der Kraillinger Firma Radotec, ist begeistert von seinen beiden Lehrlingen – beides Flüchtlinge, der eine aus
Eritrea, der andere aus Afghanistan. Sie sind interessiert und beobachten genau, wie man mit der Fräsmaschine umgeht.
FOTOS: ULFERS (3), THIEL (1)
Azubis aus fremden Ländern habe er bereits eingestellt.
Wer jetzt Angst hat, dass die Einheimischen, egal ob Jugendliche oder Erwachsene, das Nachsehen haben, dem sei gesagt:
Ganz so einfach haben es die Asylbewerber
nicht auf dem Arbeitsmarkt. Erstens denken nicht alle Chefs wie Dollinger und zweitens muss die Arbeitsagentur eine Vorrangprüfung machen, bevor sie eine Arbeitserlaubnis ausstellt. Das bedeutet, es darf
kein Einheimischer für den entsprechenden Job in Frage kommen. Denn der müsste zuerst eingestellt werden. „Wir haben eine Arbeitslosenquote von 2,8 Prozent. Da
können wir das großzügig auslegen“, er-
klärt Dieber. Erst wenn die Asylbewerber
16 Monate oder länger in Deutschland
sind, fällt die Vorrangprüfung weg. Die
zweite Voraussetzung für eine Arbeitserlaubnis ändert sich indes nie: Die Flüchtlinge müssen unter den gleichen Bedingungen eingestellt werden wie Einheimische.
Ihr Verdienst darf nicht niedriger sein als
der Mindestlohn, und es darf auch keine
Mehrarbeit verlangt werden. Selbst für
450-Euro-Jobs ist eine Arbeitserlaubnis
nötig, sagt Dieber und warnt davor, Asylbewerber heimlich früher zu engagieren.
„Wenn die Finanzkontrolle Schwarzarbeit
auftaucht, wird es unlustig“, warnt der
Chef der Arbeitsagentur.
Dieber bat um Verständnis, weil es 14 Tage oder auch mal drei Wochen dauern
kann, bis die Arbeitserlaubnis erteilt wird.
Seine Leute hätten sehr viele Anträge zu bearbeiten. Außerdem müsstren übergeordnete Behörden in das Verfahren involviert
werden. „Es ist einfach ein Massenproblem“, erklärt der Behördenleiter. Von den
2000 Asylbewerbern, die momentan im
Fünfseenland sind, waren 525 schon bei
der Arbeitsagentur, um eine Beschäftigung zu finden. Aus- oder Weiterbildungen werden laut Dieber auch bei Flüchtlingen gefördert, aber nur bei solchen, bei denen eine hohe Bleibewahrscheinlichkeit besteht. „Das ist bei Leuten aus Iran, Irak, Sy-
rien, Eritrea und Afghanistan der Fall.“
Aber wie kommt man an jemanden, der
zum Betrieb passt, der motiviert ist und
schon leidlich deutsch spricht? Das fragen
sich wohl die meisten Arbeitgeber, die mit
dem Gedanken spielen, einen Flüchtling
einzustellen. „Sprechen Sie uns an. Wir
werden für Sie den richtigen Menschen finden und Ihnen präsentieren“, ermunterte
Georg Strasser vom Herrschinger Helferkreis die Unternehmer bei einer Veranstaltung der Wirtschaftsfördergesellschaft
(Gfw) im Landratsamt Starnberg. Strasser
ist dabei, sich mit den anderen Helferkreisen im Fünfseenland, insgesamt sind es
wohl um die 15, zu vernetzen. Sein Spezial-
Diejenigen, die schon Erfahrung mit
Flüchtlings-Azubis haben, bemängeln,
dass die Berufsschulen keine Rücksicht
auf diese nehmen. Auch wenn die meisten
leidlich deutsch sprechen, so haben sie in
der Schule oft große Schwierigkeiten, dem
Unterricht zu folgen. Viele Chefs fürchten,
dass ihre Schützlinge daran scheitern,
auch wenn sie technisch sonst gut sind.
„Kann man da nicht Lobbyarbeit leisten
und für nicht deutsche Azubis eine Sonderbehandlung in der Berufsschule erwirken“, regte Gunther Kadegge von KL-Techik in Krailling an. Er hat einen Azubi aus
dem Kosovo. Auch Stephan Fischer von
der gleichnamigen Bootswerft in Bernried
wünscht sich eine spezielle Förderung
oder dass man in der Berufsschule ein Auge zudrückt bei den Flüchtlingen. „Wir prüfen, was möglich ist“, verspricht Dieber. Er
fürchtet allerdings, dass es von der einzelnen Berufsschule abhängt, ob er Erfolg hat
mit dem Anliegen der Arbeitgeber. „Uns ist
daran gelegen, dass die Berufsausbildung
in normaler Zeit absolviert wird“, versichert er.
„Es wäre gut, wenn die Azubis mit Sicherheit hier bleiben dürften“, formuliert
Bettina Treml, die in ihrer Firma Laufgut
in Herrsching ebenfalls einen Flüchtling
ausbildet, ihr Herzensanliegen. Dann wäre
der Anreiz der Asylbewerber, sich zu integrieren auch viel größer, vermutet sie. „Es
ist nicht in Ordnung, wenn sich so viele Leute engagieren und sie dann das Land verlassen sollen. Da fragt man sich schon, ob
man das noch mal machen soll.“
Licht und Schatten
Die Erfahrungen der Firma Radotec mit Asylbewerbern
Ursula und Rainer Dollinger vom Drehmaschinenhersteller Radotec in Krailling: Die beiden Firmenchefs sind „total
begeistert“ von ihren Flüchtlings-Azubis.
Sie haben inzwischen sogar drei, aus drei
verschiedenen Ländern: Eritrea, Afghanistan und Iran. Handwerkliche Berufe stehen bei den Einheimischen nicht besonders hoch im Kurs, weiß Ursula Dollinger.
„Es ist wohl ein Phänomen des Landkreises: Wer irgendwie kann, bleibt auf der
Schule. Denn die landläufige Meinung ist:
Mit Handwerk wird man nichts.“ Obwohl
sie da ganz anderer Meinung ist. Und so
sucht die Kraillinger Firma schon lange
händeringend Feinwerksmechanikern,
die sie ausbilden kann. Kaum ein Deutscher meldet sich.
Die neue Situation mit den vielen
Flüchtlingen, die Arbeit oder einen Ausbildungsplatz suchen, kommt dem Kraillinger Betrieb sehr entgegen. Unter den
jungen Asylbewerbern sind einige, die
nicht nur technisches Verständnis und
handwerkliches Geschick mitbringen,
sondern auch noch dreidimensional denken können. Der 23-jährige Meba aus Eritrea und der 21-jährige Asam aus Afghanistan „sind die besten Lehrlinge, die wir
je hatten“, sagt Rainer Dollinger. Und der
Betrieb hat schon bis zu 20 Jugendliche
ausgebildet. Anders als andere Arbeitgeber haben die Dollingers kaum mit Sprachproblemen zu kämpfen, denn ihre Lehrlinge sind schon vor zwei oder drei Jahren
nach Deutschland gekommen und hier
zur Schule gegangen. Sie können sogar
sehr gute Hauptschulabschlüsse vorweisen, sagt Ursula Dollinger.
Aber die Kraillinger haben nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Einen 22-jährigen Syrer wollten sie im vergangenen Jahr
in ihr Team aufnehmen. Der Helferkreis
Gauting hatte ihn vermittelt, um ihm die
Chance zur Integration zu geben. Doch als
nach 14 Tagen seine Frau mit 14 Koffern
am Flughafen aufkreuzte, kam er nicht
mehr zur Arbeit. „Er war wie von Sinnen,
wir waren alle völlig geschockt“, erinnert
sich Ursula Dollinger. Nach einer Woche
ließ er von seinen Betreuern ausrichten,
dass er keine Zeit mehr habe.
Ein anderes Mal stellte sich ein Bewerber vor und weigerte sich, Ursula Dollinger die Hand zu geben, weil sie eine Frau
ist. „So jemanden schicke ich das nächste
Mal sofort raus“, sagt sie. „Die Leute müssen unsere Regeln akzeptieren, sonst werden sie sich nicht integrieren.“
Doch trotz schlechter Erfahrung haben
die Dollingers im vergangenen Jahr einen
Mann aus dem Iran als Azubi aufgenommen. Er ist schon seit 2009 in Deutschland und bereits 28 Jahre alt. „Er hat gemerkt, dass er ohne Ausbildung keine
Chance hat, einen echten Beruf auszuüben“, sagt Dollinger. Der vierte Flüchtling beginnt im September seine Lehre.
Außerdem will der Betrieb einen Asylbewerber als Helfer engagieren.
cb
Handwerkliches Geschick ist nötig, um
die Platte in der Flasche für einen Kerzenständer zu fräsen.