Anja Schäfers, Mehr als Rock ʼnʼ Roll. Der Radiosender AFN bis

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Anja Schäfers, Mehr als Rock ʼnʼ Roll. Der Radiosender AFN bis
Francia­Recensio 2015/3
19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine
Anja Schäfers, Mehr als Rock ʼnʼ Roll. Der Radiosender AFN bis Mitte der sechziger Jahre, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2014, 454 S., 13 Abb. (Transatlantische Historische Studien, 52), ISBN 978­3­515­10716­7, EUR 68,00.
rezensiert von/compte rendu rédigé par
Werner Bührer, München
Als Günter Kunert, später ein bekannter »gesamtdeutscher« Schriftsteller, als Jugendlicher nach dem Krieg erstmals aus einem alten Volksempfänger Musik von Glenn Miller zu hören bekam, überwältigte ihn »ein vordem nie gekanntes Hochgefühl«. So wie ihm dürfte es auch manch anderen Deutschen ergangen sein, wenn sie den Radiosender American Forces Network (AFN) hörten. In ihrem Prolog schreibt die Autorin, dass der Sender des amerikanischen Militärs für etliche Deutsche »sogar zur Quelle eines neuen Lebensgefühls« geworden sei (S. 11). Sie waren indes nicht die Hauptadressaten des Senders. Seine ursprüngliche Aufgabe war die Motivierung der eigenen Streitkräfte, denen neben aktuellen Nachrichten vom Kriegsgeschehen Musik­ und Unterhaltungsprogramme sowie Sportübertragungen geboten wurden. Antje Schäfersʼ Anliegen ist es deshalb, seine Entwicklung und Wirkung in den ersten 20 Jahren seiner Existenz genauer zu erforschen und dabei unter anderem zu klären, wer den Sender einschaltete und warum, welchen Einfluss er auf die westdeutsche Gesellschaft und Medienlandschaft hatte und wie umgekehrt der Wandel des deutsch­amerikanischen Verhältnisses die Entwicklung des Senders beeinflusste. Auf einen munteren Musiksender, der insbesondere junge Deutsche für Rock ʼnʼ Roll begeisterte, lässt sich AFN, wie schon der Titel des Buches verdeutlicht, jedenfalls nicht reduzieren.
Das höchst informative und originelle Buch, entstanden aus einer von Axel Schildt und Bernd Greiner in Hamburg betreuten und für die Veröffentlichung stark gekürzten Dissertation, stützt sich auf eine beeindruckend breite Quellenbasis. Da die Archivbestände des Senders selbst, einschließlich der Tondokumente, ziemlich lückenhaft sind, musste die Autorin auf die Gegenüberlieferung in unterschiedlichsten Archiven – darunter staatliche und städtische Archive, Militär­, Zeitungs­, Rundfunk­ und Privatarchive – sowie schriftliche Befragungen von und Interviews mit Zeitzeugen zurückgreifen. Auf dieser Grundlage gelingt ihr eine überzeugende, mit vielen unbekannten Details aufwartende Darstellung des Senders, die auf gelungene Weise Institutions­, Programm­ und Rezeptionsgeschichte kombiniert und integriert.
Die ersten sechs Kapitel bieten einen im Wesentlichen chronologisch angelegten Überblick über die Entwicklung seit Februar 1942, als ein amerikanischer Major den Anstoß zum Aufbau eines eigenständigen Truppenrundfunks gab. Hintergrund war der Zustrom von US­Soldaten in das Vereinigte Königreich, deren Zahl im Oktober 1942 zunächst 200 000, Ende 1943 schon 700 000 Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/
Mann betrug – mit steigender Tendenz. Bereits im Herbst 1942 registrierte die Armeeführung besorgt, dass »die GIs in Großbritannien mehr Alkohol tranken, häufiger Karten spielten und sich öfter mit Frauen verabredeten« als zu Hause. Hörten in den USA »53 Prozent aller Soldaten Radio, taten dies in Großbritannien nur 11 Prozent« – nicht zuletzt deshalb, weil sie das Angebot der BBC »unattraktiv« fanden (S. 38). Um hier Abhilfe zu schaffen, gründeten die Amerikaner eigene Rundfunkstationen für ihre Soldaten. AFN nahm im Juli 1943 die Arbeit auf, sehr zur Freude der Soldaten, denn, so ein Unteroffizier Anfang 1944: »Das Radio ist der beste Zeitvertreib, den man haben kann« (S. 37). Nach Ende des Krieges rückten naturgemäß andere Aufgaben in den Vordergrund. Passte sich der Sender dabei zunächst den Erfordernissen der Besatzungspolitik an, bemühte er sich später, nicht in den »Ätherkrieg« zwischen Ost und West hineingezogen zu werden. Für die 1950er und vor allem die 1960er Jahre kann Schäfers zeigen, wie sich AFN als »Radiosender mit Vollprogramm alten Zuschnitts… immer weiter von der Medienentwicklung in den Vereinigten Staaten« entfernte, die durch den Siegeszug des Fernsehens gekennzeichnet war. So wurde er »immer mehr zum Anachronismus« (S. 155).
Die folgenden Kapitel widmen sich dem Programm von AFN, das Mitte der 1950er Jahre einen Musikanteil von knapp über 50 Prozent aufwies und neben populärer Unterhaltungsmusik auch Klassik und Jazz bot. Nachrichten, »aktuelle und belehrende Sendungen« sowie Sportberichte machten 22 Prozent aus, der Rest entfiel auf die Sparte Komik, Hörspiel und Varieté. In den letzten drei Kapiteln untersucht Schäfers die amerikanische und die deutsche Hörerschaft. Deren Reaktionen fielen höchst unterschiedlich aus: Während amerikanische Hörer das Programm mehrheitlich akzeptierten und junge Deutsche die Vielfalt des Musikprogramms und den lässigen Präsentationsstil zu schätzen wussten, lehnten viele deutsche »Nicht­Hörer« AFN wegen des »niedrigen kulturellen Niveaus«, der »Negermusik« und anderem »Ami­Mist« entschieden ab (S. 349).
Die Studie zeichnet sich durch große thematische Vielfalt aus und informiert über Besatzungspolitik, Rundfunkpolitik, kulturelle Trends und den »kulturellen Kalten Krieg« sowie die »Amerikanisierung«, um nur einige der Themen zu nennen. Auf diese Weise entsteht ein differenziertes Bild eines Radiosenders, der insbesondere die jungen deutschen Hörer und Hörerinnen zeitweise stark geprägt und bei ihrer Rebellion gegen das »Spießertum« der älteren Generation unterstützt hat.
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