Maternus Millett

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Maternus Millett
 Maternus Millett Alphacrash Roman © 2010 AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbeschränkt) Quickborner Str. 78 – 80,13439 Berlin Telefon.: +49 (0)30 565 849 422 Email: [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2010 Lektorat: Sabine Lebek, Berlin Cover: Hans Lebek Printed in Germany ISBN 978‐3‐86254‐004‐4 Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. 4 Kapitel Zahnersatz Sollbruchstelle Weibchenfilm Shopping Friedrich Verflixte Überlegenheit Hauptsache Arbeit Der Kuss Leiden verboten Einbruch Die Kreuzigung Gott und die Götter Wir Wunderkinder K.O. Banz Der Spatz Am Arsch der Welt Der Bombenleger Schweine Die Schnecke Entmietet Das Paket Artgerechte Haltung Knete selbst gemacht Crash 6 32 48 62 86 108 126 141 166 181 201 215 230 256 271 291 313 336 365 384 402 424 449 473 Für alle, die sich gemeint fühlen...
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Zahnersatz Sie werden mich für verrückt halten. Hier sitze ich, ein ehemaliges Mitglied der medi‐
alen Elite, eine Kosmopolitin, am Arsch der Welt, halte mir den Bauch, in dem es tritt und boxt und genieße die Gesellschaft eines Rentners und eines Dauerarbeitslosen. Vielleicht können Sie mich nach der Lektüre die‐
ser Geschichte zumindest ein wenig verstehen, aber wahrscheinlich werden Sie mich nicht beson‐
ders mögen. Dieses Risiko gehe ich ein. Bis zu meiner schicksalhaften Begegnung mit Herberts Chef hatte ich in den letzten zweieinhalb Jahren mit etwa hundert Männern ein Rendez‐
vous, davon im letzten allein mit dreiundsechzig (einschließlich jener, mit denen ich beim Speedda‐
ting ein „Date“ von jeweils sieben Minuten hatte, sieben pro Sitzung für neunundzwanzig Euro). Von diesen dreiundsechzig Kandidaten habe ich einundfünfzig spätestens nach dem zweiten Tref‐
fen aussortiert (ich fand sie nicht attraktiv, weil sie – ich bin jetzt ehrlich – meist sozial oder einkom‐
mensmäßig, manchmal auch physisch oder intel‐
lektuell nicht wenigstens auf meiner Augenhöhe waren). Mit fünfzehn bin ich im Bett gelandet, mit 6 zwölf davon nur einmal, neun davon waren (zu‐
mindest bei mir) impotent. Von den sieben, mit denen ich länger als einen Monat zu tun hatte, stellte sich bei fünf heraus, dass sie gebunden wa‐
ren, drei davon verheiratet. Nur einem Einzigen von diesen hundert konnte ich das Prädikat „Alpha‐Plus“ zuerkennen. Dieses Gütesiegel bekam ein Mann, der zuverlässig Herr der Lage ist, ein Fels in der Brandung, ein mensch‐
liches Gravitationszentrum, ein soziales Zentralge‐
stirn, ein Mann, der mich beruflich wie auch privat voranbrachte. Ein bisschen zu ihm aufschauen wollte ich schon. Ich nannte das das „Zehn‐Prozent‐Ideal“. Männer sind statistisch betrachtet im Schnitt zehn Prozent größer als Frauen. Ich bin knapp einen Meter siebzig groß, knapp einsneunzig sollte er al‐
so mindestens messen. Um mindestens zehn Pro‐
zent sollte er auch mein Einkommen und meine Position übertreffen. Ein solcher Alpha‐Plus‐Mann war mein Chefre‐
dakteur Herbert Westerborn. Er war zwar kaum größer als ich und überhaupt nicht hübsch, aber er machte das in anderen Bereichen mehr als wett. Wenn Herbert einen Raum betrat, so füllte er ihn sozusagen restlos aus. Gespräche erstarben, und 7
auch jene, die ihn nicht hatten kommen sehen, drehten sich unwillkürlich nach ihm um. In Sit‐
zungen folgte dann Schweigen, manchmal minu‐
tenlang. Erst nachdem er sich behaglich niederge‐
lassen und geräuspert hatte, lösten sich die Anwe‐
senden aus ihrer Habacht‐Haltung. Dann legte er sein Breitwandgrinsen auf und strahlte in die Runde. Immer wieder fragten wir Kollegen uns, ob dieses Raubtiergebiss wohl echt sei. Zum ersten Mal war ich Herbert während mei‐
nes Studiums der Geschichte und Soziologie in Frankfurt begegnet. Damals ließ ich ihn noch nicht an mich heran. Er war Dozent für Stochastik und lebte sein linkes Sendungsbewusstsein bei der Zeitschrift „Konkret“ aus. Später wechselte er dann zur „Tageszeitung“, brachte es bis in den Vorstand der Genossenschaft der „taz“ und war dann bei „Geld+Finanz“ und im Vorstand der Reu‐
terbank gelandet. Ich konnte mir das eigentlich nur durch die Gunst seiner Fußballkumpels erklären. In diesem Club schanzten sich die zu Professoren, Richtern, Bankern und Abgeordneten arrivierten Altlinken gegenseitig die Jobs zu und ließen die al‐
ten Zeiten hochleben. Herberts Karriere war nicht allzu erstaunlich in einem Land, in dem es ein e‐
hemaliger Steinewerfer zum Außenminister und 8 Vizekanzler gebracht hatte. Ein Vierteljahr nach meinem Einstieg als Redak‐
teurin bei „Geld+Finanz“ (auch durch Herberts Fürsprache, ich gebe es zu) war ich der Ansicht, dass es wohl nicht nötig sei, jedes Mal die gesam‐
ten drei bis vier Stunden einer Themenkonferenz von Anfang bis Ende abzusitzen. Ich hatte noch nicht begriffen, dass es da so etwas wie eine Rang‐
ordnung gab: Die wichtigeren Kollegen durften ihr Thema zuerst vortragen und sich den Rest sparen. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch „die Neue“ und mein Platz war immer der letzte gewesen. Als ich den Sitzungsraum dann zwei Stunden nach dem offiziellen Beginn betrat, war niemand mehr da. Ich kehrte zu meinem Büro zurück und als ich an Kathrins Zimmer vorbeikam, sah sie mich durch den Türspalt, griff meinen Arm und zerrte mich zu sich hinein. Sie schloss die Tür und fauchte: „Bist du wahnsinnig? Weil du nicht da warst, dürfen wir alle morgen noch mal antreten. Herbert erwartet, dass von Beginn an alle anwesend sind und du...“ Das nächste Mal war ich pünktlich. Und wie immer als Letzte dran. Ein Kollege steckte mir nach der Sitzung, dass in einem Fall von Unbot‐
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mäßigkeit wie meiner Schwänzerei Herbert um ei‐
ne Audienz zu bitten sei. Er war in den folgenden Tagen für mich nicht zu sprechen. Als ich letztlich doch vor seinem Schreibtisch strammstand, stand er von seinem Chefsessel auf, ging einmal um mich herum und scannte meinen herausgestreckten Hintern ab. Ich fühlte mich erfasst und vermessen und erschau‐
derte in erregter Peinlichkeit. Und dann raunte er mir ins Ohr: „Frau Wiesen‐
grund, ich glaube, wir sollten uns einmal ausführ‐
lich unterhalten. Privat.“ Bei einem x‐Beliebigen wäre ich darauf natürlich niemals eingegangen. Es folgte unser erstes Treffen im „Kleinen Lö‐
wen“. Das ist so ein Gasthaus, in dem man sich stundenweise Zimmer mieten kann. Ich kam gern. Danach war ich in der Reihenfolge der Vortragenden auf den ersten Platz aufgerückt. Das ist es, was ich mit „Alpha‐Plus“ meine. Doch dummerweise war Herbert mit ebendieser Kathrin, meiner Ressortleiterin verheiratet. Ein wenig verkommen war ich ja schon. Wahr‐
scheinlich halten Sie mich zudem für eine Lügne‐
rin, wenn ich Ihnen erzähle, dass dieser „Alpha‐
Plus‐Mann“ sich fortan von seiner Gattin verdre‐
10 schen ließ. Bei der vorletzten Themenkonferenz meiner Kar‐
riere stutzte ich, als ich in Herberts Gesicht schau‐
te. Und dann sah ich, was anders war als sonst: Kein Veilchen. Keine aufgeplatzte Lippe. „Herbert ist mal wieder gestürzt“, hatten wir Kollegen sei‐
nerzeit hinter seinem Rücken gefrotzelt, „Herbert hat sich gestoßen.“ Die anderen Kollegen waren schon nach Hause gegangen. Mir fiel auf, dass die Versicherungen von mal zu mal immer später an die Reihe ge‐
kommen waren und die Versicherungen, das war ich. Ich war wieder die Letzte – wie zu Beginn meiner Karriere. Auch das hatte ich Kathrins Ein‐
fluss zu verdanken, wie ich später erfuhr. Wir saßen um einen ovalen Tisch herum, mir ge‐
genüber Herbert, rechts von ihm Kathrin, neben ihr mein besonderer Liebling Striezel, der Verifika‐
tor. Wir Kollegen duzten einander. Striezel hinge‐
gen siezte und wurde gesiezt. Herbert war für seine Breite ein bisschen zu kurz geraten, Striezel hingegen zu lang. Woran musste ich denken, wenn ich den etwas dicklichen Herbert mit den buschigen Koteletten und Augenbrauen (sein Haupthaar schien sich dorthin zu verlagern) und den hageren Striezel mit dem immer abste‐
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henden Haarschopf beieinander sah? Genau: Max und Moritz. Die beiden hatten als kleine Jungs be‐
stimmt so ausgesehen wie die Bengel aus Wilhelm Buschs Urcomic. Damals fand ich das noch lustig. Dazwischen Kathrin. Sie erinnerte mich stark an meine Grundschullehrerin an der deutschen Schu‐
le in Buenos Aires. Beide hatten schwer zu bändi‐
gende Haare, und Kathrins würden irgendwann einmal so grau sein wie die jener Frau Hörr damals (Die Argentinier sprechen diesen Namen wie „Se‐
ñora Err‐or“, Frau Irrtum, oder wie „Señora Horr‐
or“ aus. Was beides nicht ganz unzutreffend war – auch in Bezug auf Kathrin.). Auch darüber lache ich heute nicht mehr. Striezel und Kathrin: Irgendwie passten sie zu‐
sammen. Beide waren hager und groß und hatten etwas Grausames an sich. Etwas Überkorrektes, das ich ihnen nicht abkaufte. Kathrin fixierte mich. Wie viel wusste sie? Sie kniff die Augen zusammen und wandte sich kurz zu Herbert. Er bemerkte das und schaute schnell auf den Seitenplan vor ihm auf dem Tisch. Ich zuckte zusammen und fühlte mich wie einst in der Schule, wenn ich nicht wusste, ob die Lehrerin mir während der Klassenarbeit von hinten beim Mo‐
geln zuschaute. Nur dass mir die Lehrerin diesmal 12 nichts konnte. Dachte ich und sah mich schon auf ihrem Platz sitzen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Herbert, was ist los mit dir? `Wer ist hier der Chef?´, so wollte ich ihn fragen. Und da sah ich, dass er schwitzte. Der Schweiß nässte durch sein Hemd; Tropfen glitzer‐
ten auf seiner Stirn. Es war ein Tag im April, und dieser April war sommerlich warm. Aus der Klimaanlage an der Decke ergoss sich ein eisiger Strom in den Raum; das Öffnen der Fenster war im Sitzungsraum nicht möglich. Ich fror und sehnte den Moment herbei, an dem ich meine Fahrradklamotten überstrei‐
fen und durch den Tiergarten rauschen, den Ge‐
ruch nach Fruchtbarkeit einsaugen, den Vögeln lauschen würde. Ich schaute nach draußen. Auf der linken Seite des Reuterplatzes stand die mit braun verspiegel‐
tem Glas eingehüllte Zentrale der Reuterbank, Herberts zweiter Arbeitsplatz. Die Fenster seien die Augen eines Hauses, sagt man. Warum tragen die dreizehn Geschosse der Reuterbank sozusagen eine verspiegelte Sonnenbrille? Ich fragte mich, ob die da drüben etwas zu verbergen haben. Gut dreieinhalb Stunden hatte ich mir die neues‐
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ten Telefontarife und DSL‐Angebote angehört, die heißen Aktientipps, die News aus der Fondsbran‐
che und Baufinanzierungen im Vergleich. Bring es hinter dich, dachte ich, als ich an der Reihe war und trug meinen Themenkomplex vor: Die Vor‐ und Nachteile von privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen, Tarif‐ und Leistungsver‐
gleiche. Dann der Höhepunkt: Zusatzpakete für Zahner‐
satz. Drei Wochen lang hatte ich den Markt durch‐
forstet, Tabellen angelegt, versucht, das Unver‐
gleichbare vergleichbar zu machen, Berge von Kleingedrucktem gewälzt. Striezel, der Verifikator und Stachel in meiner Seite, warf mir skeptische Blicke zu. Ich kriege dich, wollten seine Augen sa‐
gen. Ich war gespannt, ob er auch dem Paragra‐
phenmonster Zahnersatz auf den Zahn fühlen und mir zwecks Verifikation meiner Behauptungen auf meinem Leidensweg folgen würde. Demonstrativ ließ ich eines der Aktenbündel auf den Tisch knal‐
len, die ich hinter mir auf dem Boden gestapelt hatte. In Gedanken fragte ich ihn: Na, mein Freund, willst du dir das wirklich antun? Ich blickte ihn entsprechend an. Doch er wich nicht aus, sondern hob langsam das Kinn, straffte seine Haltung und verschränkte die Arme. Ich 14 schlang meine Beine und meine eisigen Schweiß‐
füße fester ineinander. Hätte man mich damals gefragt, ob mich das Versicherungsgeschäft überhaupt interessiert, so hätte ich geantwortet: „Selbstverständlich, schließ‐
lich ist das mein Beruf!“ Worüber ich heute lachen muss. Endlich Sitzungsende. Beim Hinausgehen fragte ich Herbert: „Wo sind denn deine Blessuren? Hast du laufen gelernt?“ „Sehr witzig. Hast du heute Abend Zeit, so ab sieben?“, fragte er. „Wird schwierig“, antwortete ich. „Ich muss zum Chorsingen.“ „Und morgen?“ „Geht auch nicht. Betriebssportgruppe. Muss Rennrad fahren.“ In der letzten Zeit war Herbert besonders an‐
hänglich geworden. Es machte mir Spaß, ihn ein bisschen zappeln zu lassen. „Freitag?“, fragte er. Ich schaute mich um. Kathrin war außer Hörwei‐
te. Ich zischte: „Mensch, Herbert, da bin ich doch ab fünf bei euch zum Babysitten.“ 15
Ja, Babysitten. Ich bin verrückt nach Kindern. Kathrin und Herbert hatten ein dreijähriges Söhn‐
chen, Julian. Mit blonden Löckchen und großen blauen Kulleraugen. Ich bin sicher: Irgendwo in Oberbayern gibt es eine barocke katholische Kir‐
che, in der ein Engelchen fehlt. Ich bin ein schwerer Fall von Gluckensyndrom. Welch rührender Versuch, dem Unausweichlichen, dem Altern und dem Tod zu entkommen! Indem man sein Ego zumindest zur Hälfte dupliziert, reicht man den Schwarzen Peter ans Kind weiter, macht eine neue Runde auf, Geburt, Altern, Tod, endlos und immer wieder von vorn. Herberts Schweißgeruch waberte mir um die Nase. Es war Angstschweiß. Ich drehte mich noch einmal um: Kathrin und Striezel gingen nebeneinander davon. Die passen wirklich gut zusammen, dachte ich. „Ich muss dich sprechen. Sofort und unter vier Augen“, sagte Herbert. „Ich muss jetzt los“, antwortete ich. „Es ist wichtig.“ „Heute nicht. Ich muss zum Chor.“ „Zum Chor!“ Er schnaubte. „Es geht auch um dich.“ 16 Er schaute sich um. Kathrin und Striezel waren in Kathrins Büro verschwunden. „Komm jetzt.“ Er griff mich am Oberarm und gab die Richtung vor. Das überzeugte mich. Er schob mich in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Er schloss sie ab, das hatte ich noch nie beobachtet. „Setz dich“, sagte er und ließ sich in seinen Chef‐
sessel plumpsen, nahm sein Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Also, was ist? Ich habe nicht viel Zeit“, drängte ich. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was hier los ist?“, fragte er. „Ein paar Posten werden neu vergeben, das hat‐
ten wir doch schon besprochen“, sagte ich. „Allerdings. Aber nicht so, wie du denkst. Wir sollten reinen Tisch machen. Ich habe hier keine Zukunft. Und du auch nicht.“ Keine Zukunft? Du auch nicht? Es hallte durch meinen Kopf. Ich spürte, wie sich die Härchen auf meiner Haut sträubten. „Wie bitte?“, platzte ich heraus. „Vergiss den Laden hier. Alles Affentheater. Wir bewegen uns an der Oberfläche, alles Fassade. Darunter läuft eine Sauerei, die so groß ist, dass sie 17
keinem auffällt. Niemand schaut hin, keiner fragt nach. Und wenn jemand darüber reden würde, würde man ihm nicht glauben, ihn für verrückt er‐
klären.“ Ich hoffte, dass er nur ein Spiel mit mir trieb. Mich veralberte, so eine Art Stressinterview mit mir machte. Doch dazu war er selber zu gestresst. „Aber das sind doch gute Jobs hier. Du selber hast einmal gesagt, für Systemkritik sei hier kein Platz. Und ehrlich gesagt: Ich sehe das auch so. Ich habe keine Lust, nachzustochern. Ich lebe ganz gut. Und du doch auch“, argumentierte ich. Er stand auf und lief vor dem Fenster hin und her. Im Gegenlicht fiel mir auf, dass er in der letz‐
ten Zeit eine Menge Kummerspeck angesetzt hatte. Seine Haltung war gebeugt. Nach einer Weile sagte er: „Ich bin sozusagen das System und das System fährt gerade an die Wand. Die Knautschzone ist demnächst ver‐
braucht. Kein Airbag. Höchste Zeit, auszusteigen.“ „Aussteigen? Was soll das heißen?“ Ich zog mei‐
nen Blazer zu und schlang die Arme um meinen Oberkörper. Aussteigen. Wohin bitteschön? Ich schaute mich um. Ein Chefzimmer. Eindeutig. Le‐
derner Chefsessel, ein ziemlich großer Schreibtisch (aus massivem Holz, nicht mit Plastikfolie), ein 18 echtes abstraktes Ölgemälde, eine lederne Sitzgar‐
nitur. Und natürlich Fotos von Kathrin und Julian auf dem Schreibtisch. Entweder hat er den Verstand verloren oder es ist wirklich ernst, dachte ich. Es sah danach aus, dass da ein Problem auf mich zukam. Es fühlte sich gar nicht gut an. Herbert setzte sich wieder und redete weiter: „Ich werde versuchen, zu retten, was zu retten ist. Aber dazu muss ich meine Jobs an den Nagel hän‐
gen.“ „Das ist nicht dein Ernst“, sagte ich leise. „Du kannst ja hier bleiben, wenn du willst. Viel Spaß dabei.“ Er lachte bitter. Mit Kathrin und Striezel allein. Das wäre das Ende gewesen. Ich wurde laut: „Verdammt, was geht hier vor? Was ist los mit dir? Bist du noch bei Verstand?“ „Sei vernünftig. Glaub mir einfach. Ich kann dir jetzt nicht mehr sagen, außer dass ich dich brau‐
che. Ich schaffe es sonst nicht“, bettelte er. Mir wurde plötzlich heiß und mir dämmerte, dass ich keine andere Wahl hatte, als dort zu sein, wo er war. Wir waren längst Komplizen. Er brau‐
che mich, sagte er. Das gehörte sich nicht für einen Chef. Er wurde schwach und das machte mir 19
Angst. Ein seltsames Flattern stieg in mir hoch. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr aufstehen zu können, so weich waren meine Knie. Mein Respekt für ihn hatte ohnehin schon gelitten, so wie er litt. Aber auch ich brauchte ihn. Nur: Er hatte nicht mehr vor, was ich vorhatte. Er kündigte unsere Verein‐
barung, drückte mir neue Bedingungen auf. Da glaubte ich, eine schlaue Idee zu haben. „Ich helfe dir. Gemeinsam stehen wir das hier durch. Wir kriegen das hin. Warum solltest du deinen Posten räumen?“, preschte ich vor. „Ausgeschlossen. Hier geht es für uns nicht wei‐
ter. Für mich genauso wenig wie für dich. Wir wollen die Verbraucher schützen und von der an‐
deren Seite kommt die Vollrasur unserer Sparer und Versicherten auf uns zu. Ich bin Teil der Voll‐
rasur – und Verbraucherschützer. Das geht nicht. Ich muss aus beidem raus und ein bisschen Gueril‐
la spielen. Aber alleine schaffe ich das nicht. Viel‐
leicht erinnerst du dich daran, wo wir beide her‐
kommen.“ Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. In jahrelanger Kleinarbeit hatte ich mir eine respek‐
table Existenz zurechtgebastelt. Aus einer aufsäs‐
sigen Linksradikalen war eine Versicherungsex‐
pertin geworden, die regelmäßig im Fernsehen et‐
20 was sagen durfte. Und er? Der einst gefürchtete Revoluzzer mit der rhetorischen Peitsche war jetzt ein Finanzexperte mit vollem Terminkalender, ständig auf Reisen, überall hin eingeladen von Banken, Versicherungen, Universitäten. Das alles wollte er hinschmeißen? Meine Schweißdrüsen nahmen die Arbeit auf. Ich sitze in einem schlechten Film, dachte ich. Alles sah so seltsam aus. Die Vögel klangen irgendwie blechern; der Verkehrslärm schmerzte mich und ich umschlang meinen Oberkörper noch fester. Unten rauchte jemand. Ein Hauch von Zigaretten‐
qualm stieg mir in die Nase. Mir wurde schlecht. „Es ist alles vorbereitet“, sagte Herbert. „Vorbereitet? Was denn, bitte schön? Eine neue Karriere? Wovon soll ich leben? Was soll ich den ganzen Tag lang machen, wenn ich mit dir gehe? Wohin überhaupt? Was soll ich sagen, wenn man mich fragt, wer ich bin, was ich mache? Und du? Hast du darüber schon nachgedacht? Was willst du dann machen? Was bist du dann noch?“, keifte ich. „Vertrau mir einfach“, sagte er mit gebrochener Stimme. Und schwitzte. Vertrauen sollte ich ihm. Einem Schatten von ei‐
nem Chef. 21
„Das ist alles nicht wahr“, schrie ich. Ich sprinte‐
te los und prallte gegen die abgeschlossene Tür. „Gib mir den Schlüssel!“ brüllte ich. Er entriegelte die Tür. Ich rannte nach draußen; Rotz und Tränen brachen aus mir hervor. Im Lauf‐
schritt eilte ich zur Toilette. Ich riss mir meinen Kompetenzsimulator von der Nase, meine Horn‐
brille. Als ich auf der Höhe von Kathrins Zimmer war, öffnete sich just in diesem Moment die Tür. Kathrin und Striezel traten heraus und blickten mit eisiger Miene in mein verheultes Gesicht. Ich japste und schlug die Tür des Waschraums hinter mir zu. Ich starrte in den Spiegel und dachte: Das ist alles nur ein böser Traum. Ich hatte Durst. Ich drehte den Wasserhahn auf, ließ meine hohlen Hände vollaufen und trank. Ich rotzte ins Becken und wusch mein Gesicht. Das ist nicht ladylike, ich weiß. Aber ich schminke mich nur selten und bin sozusagen ein Straßenkind. Doch dazu später mehr. Ich griff nach dem Handtuch und bedeckte mein Gesicht damit. Das tat seltsam gut. Nichts mehr sehen müssen, nicht gesehen werden. So, wie ich als kleines Mädchen die Bettdecke übers Gesicht gezogen hatte, wenn ich mich vor den Nachtges‐
penstern und den Monstern unterm Bett gefürchtet 22 hatte. Eine Weile stand ich mit verhülltem Gesicht da. Dann hörte ich, wie sich die Tür hinter mir öffne‐
te. Ich wollte jetzt niemanden sehen. Einfach alleine sein. Langsam zog ich das Handtuch vom Gesicht. Meine Stirn wurde sichtbar, dann meine Augen‐
brauen, meine Augenlider, meine Wimpern. Ich schaute in den Spiegel und sah: Kathrin. Ich setzte meine Brille auf. Sie war es immer noch. Sie stand so dicht hinter mir, dass ich ihren Atem auf meinem Hals spürte. Sie hob erst den ei‐
nen Arm, dann den anderen und verschränkte sie fest vor der Brust. Ihr Blick war kalt. Weg da, dachte ich. Wenn ich mich jetzt herum‐
drehe, bist du nicht mehr da, OK? Das ist jetzt wie bei den Vampiren, nur umgekehrt... Ich schloss die Augen. Dann drehte ich den Kopf und öffnete sie wieder. Ganz langsam. Sie war immer noch da und schaute mir über die Schulter direkt in die Augen. Tu was, sag etwas, irgendwas, dachte ich. Sie schwieg und stand da wie eine Statue. 23
Ich hoffte, sie würde sich wie ein Verfolger in ei‐
nem Albtraum einfach in Nichts auflösen, wenn ich sie anspreche. „Was”, krächzte ich und räusperte mich. Der Rotz in meinem Hals machte mir zu schaffen. Ich setzte neu an: „Was ist los?“ Sie kniff die Augen zusammen und schwieg wei‐
ter. Oh mein Gott, sie weiß alles, dachte ich. Ich stützte mich auf das Waschbecken und schloss die Augen. Herbert, lass mich nicht im Stich, dachte ich. Dann hörte ich, wie die Tür ins Schloss fiel. Ich öffnete die Augen. Sie war weg. Ruckartig drehte ich mich um. Sie war tatsächlich ver‐
schwunden. War das wirklich passiert? Gab es hier irgendwo eine Kamera? Eine Aufnahme, die man zurückspu‐
len konnte? Gab es Zeugen außer mir und Kath‐
rin? Ich verspürte den mächtigen Drang, ihr hinter‐
her zu rennen, sie zu packen, zu schütteln und an‐
zuschreien: Sag mir, was du weißt und vor allem: verschwinde endlich! Ich sah, wie sich mein Körper in Richtung Tür in Bewegung setzte, wie mein Arm sich hob, wie meine Hand nach der Klinke griff. Der Alarm in 24 meinem Kopf meldete sich: Falsch, falsch, mach jetzt keinen Unsinn. Striezel und Kathrin beobachteten die Tür, da war ich sicher. Wenn ich jetzt in diesem Zustand nach draußen stürmte... Ich drehte mich wieder zum Spiegel und be‐
trachtete mich: Meine Haare waren zerzaust. Ich nahm den Fingerkamm, ordnete sie so gut es ging und flocht mir einen Zopf. Dann zog ich den Bla‐
zer über. So sah man die Schweißflecken auf mei‐
ner Bluse nicht. Ich wusch abermals mein Gesicht und putzte meine Brille. Ich atmete ein paar Mal tief durch und drückte ganz langsam die Klinke herunter. Ich blickte in den Korridor nach links: Niemand. Und nach rechts. Auch niemand. Ich straffte meine Haltung, hob den Kopf und trat nach draußen. Die Tür zu Kathrins Zimmer gegenüber blieb geschlossen. Dennoch hatte ich das dumme Gefühl, dass mich jemand beobachtete. Mehr innerlich. Es war spät, die Chorprobe hatte längst begon‐
nen. Ich verdrückte mich in mein Zimmer, tauschte die Brille gegen Kontaktlinsen und zwängte mich in meinen Radlerdress. Ich griff Helm und Tasche und rannte fliegenden Schrittes die Treppe hinab, 25
klackklackklackklackklack, so tönten die Klickpe‐
dalschuhe. Ruhnke, der Portier, rief mir „Schönen Abend!“ hinterher. „Danke, auch!“, gab ich zu‐
rück. Ich zwängte mich durch die Drehtür, dann überholte ich die gestauten Autos im Kreisverkehr auf dem Reuterplatz und rauschte im Slalom zwi‐
schen den Studenten hindurch, die aus den Uni‐
versitätsgebäuden quollen und der U‐Bahn zu‐
strebten. Ich nahm die Ampeln bei Rot, denn es herrschte ohnehin fast Stillstand. Die Sonne wärm‐
te die Schwärze meines Hinterns und ich strebte der Goldelse entgegen, dem Engel auf der Sieges‐
säule. Ich fuhr am Charlottenburger Tor vorbei und unter der S‐Bahn hindurch. Ich sah einen Hubschrauber über dem großen Stern kreisen, immer um die Siegessäule herum. Wahrscheinlich Filmaufnahmen. Ich bog nach rechts in den Tiergarten ab und nahm die Abkürzung über den Großen Weg am Neuen See entlang. Dort wurde das Verkehrsrau‐
schen leiser; der Kies knisterte unter meinen Rei‐
fen. Die Wiesen waren wie dicke grüne Teppiche mit weißen und gelben Nestern aus Löwenzahn und Gänseblümchen, sehr früh in diesem Jahr. Ein hübscher junger Radfahrer mit sehnigen gebräun‐
ten Unterarmen und Beinen in schwarzen Radler‐
26 shorts kam mir entgegen und es duftete ein wenig nach Camembert. Feucht und fruchtbar. Verflucht, dieser Sattel. Meine Hüften wiegten mit jedem Tritt hin und her und meine Taille bog sich. Ich stellte mir vor, dass er sich nach mir umdrehte und dann irgendwo gegen führe. Dann wollte ich zu ihm hingehen. Ich träumte, er wäre der Richtige. Dann würde ich sagen: Komm! Wir gehen hinter die Büsche und legen uns auf die duftende Wiese. Ich trat im Stand weiter. Verdammt, woran erin‐
nerte mich dieser pilzige Duft? Ein kleiner Junge fütterte Spatzen mit Krümeln seines Brötchens und der Schwarm stob laut tschilpend auseinander, als ich heranrauschte. Ich drehte mich noch einmal nach dem Burschen in den Radlershorts um und sah, wie die gefräßigen Piepmätze sofort wieder kehrt machten und sich auf den Schmaus stürzten. Ich machte eine Vollbremsung, das Vorderrad blockierte und ich rutschte auf dem losen Kies zur Seite. Fast hätte ich einen Kinderwagen gerammt. Das kleine Mädchen darin schaute mich aus gro‐
ßen Augen an. Ein junger Mann kam herbeige‐
stürzt, griff das Vehikel und raunzte mich an: „Det is ja wohl nich wahr. Oogen uff hilft beim Kieken, junge Frau!“ 27
Ich machte den Mund auf und zu und schnappte nach Luft. Das Kind begann sofort zu brüllen. Der Papa machte mit dem Wagen kehrt und das Geschrei entfernte sich langsam. Was ist nur los mit mir, dachte ich. Ich atmete schwer und hatte weiche Knie. Ich lehnte mein Rad an die nächste Bank und setzte mich. Ver‐
flucht, der Chor, Kathrin, Herbert, Striezel... Ich setzte den Helm ab und bedeckte mein Ge‐
sicht mit den Händen. Ich atmete die satt duftende Luft ein und aus, ein, aus. Da zupfte es an meinem Zopf. Ich erschrak. Neben mir saß der kleine Bengel, der die Spatzen gefüttert hatte und grinste mich an. „Ist ja noch mal gut gegangen“, klärte er mich auf. „Guck mal, mein Brötchen ist fast alle“, sagte er und bröselte ein paar Krümel auf den Boden. Der lärmende Schwarm versammelte sich vor unseren Füßen. Einer von ihnen schiss mir im Flug auf die Radlerhose. Weiß‐grün leuchtete die Marke. Ein paar Brösel hatte der Wicht in seiner Hand behalten und hielt sie den Vögeln hin. Jetzt ka‐
men auch einige dicke Tauben herbei und stolzier‐
ten kopfnickend zwischen den Piepmätzen herum. 28 Waren welche davon im Weg, latschten die Tau‐
ben einfach auf die kleinen Gesellen, die sich schimpfend aus ihrer Zwangslage wanden. Einer war der Oberräuber. Er setzte sich tatsäch‐
lich auf die Hand des Jungen und stibitzte einen dicken Krümel. Der Bengel gluckste vor Vergnügen. Ich musste lachen und sah, wie er strahlte. Ich legte meine Hand auf sein goldenes Haar und er lächelte mich an. Wie schön du bist, dachte ich und staunte über seine glänzenden Augen und den silbernen Flaum auf seinen Wangen, auf seinem Hals und seinen leicht gebräunten Armen. Schwerstes Gluckensyndrom suchte mich heim. Ein Stich traf mich ins Herz. Ich griff meinen Helm und mein Rad und preschte los. Während der Fahrt rastete ich die Schuhe in die Pedale ein. Den Zoo mit den kleinen Tierchen umfuhr ich weiträumig. Alles und alle schienen mich heute quälen zu wollen. Ich passierte den Lützowplatz und folgte dem Landwehrkanal. Ich kramte meine Sonnenbrille hervor. Die Tränen tropften mir vom Kinn und das Salz juckte auf meinen Wangen. Ich passierte das Museum für Verkehr und Technik und der Rosinenbomber auf dem Dach glänzte in der Abendsonne, scharf vom tiefblauen 29
Himmel abgezirkelt. Am Mehringdamm bog ich rechts ab und nahm die Bergmannstraße in Rich‐
tung Marheinekeplatz. Warum fuhr ich überhaupt hierher? Für die Chorprobe war ich sowieso schon viel zu spät dran und ich fühlte mich eklig, mochte mich niemandem zumuten. Aus meinen verheul‐
ten Augen sah ich, dass die Straße von jungen Paa‐
ren wimmelte. Es tat weh, das zu sehen. Früher kannte ich sol‐
che Zustände nicht. Früher, als sich noch mehr Männer nach mir umgedreht hatten und mir das lästig gewesen war. Am Marheinekeplatz war die alte Schule, in der mein Chor probte. Ich hielt an, stieg ab und mein Gang verlangsamte sich. Klack, klack, klack, hallte es von den Hauswänden. Ich betrat den Schulhof und schlich. Klick. Klick. Klick. Da setzte der Chor ein: „Dat du min Leevsten büst. ick kumm Klock een.Vadder slöppt, Modder slöppt, du alleen. Vadder deucht, Modder deucht dat deit der Wind...“ Ich dachte an Paul, den schönen Tenor. Er war da, es war sein Fahrrad, das dort stand. Ich sank auf eine der Bänke, krampfte meine Ober‐
schenkel zusammen und schloss die Augen. Ich wünschte mir ein bisschen sexuelle Belästi‐
gung. Aber bitte vom Richtigen, von einem Mann, 30 bei dem ich nicht stark sein musste. Der selber stark war. Ich fantasierte, dass der Richtige nach mir greife, nach meinem Hintern, meinen Hüften, mein gieriges Becken an sich zöge, große, starke Männerhände, die meine Taille umfassten und butterweich kneteten, bis es ein bisschen weh täte. Das Herz hämmerte in meiner Brust. Das Blut pulste durch seinen Griff um meine Mitte bis in mein Feuchtbiotop. Ich wollte mich biegen und wiegen und winden. Er würde meine Flanken liebkosen und an meinem Ohr knabbern. Wir würden uns über meine Schulter hinweg küssen, erst zart und dann heftiger und dann würde ich ihm meinen Hintern entgegen strecken... 31
Sollbruchstelle An unser allerletztes privates Treffen erinnere ich mich noch lebhaft. Ich hatte vier Stunden in mei‐
nem Wochenpensum freigeschaufelt und wir zo‐
gen uns in den „Kleinen Löwen“ in Berlin‐Buch zurück. In unserer Lage wollten wir nicht gemein‐
sam irgendwelchen Bekannten über den Weg lau‐
fen. Auch wenn Kathrin offenbar zumindest etwas ahnte. Mädchen im Korsett von der Oranienburger Straße tauchen in dieser Pension erst spät abends auf. Ich wartete in meinem Radlerdress auf der Sitzgruppe neben der Rezeption auf Herbert und dachte über das horizontale Gewerbe nach. Kennen Sie die Oranienburger Straße in Berlin? Die Touristenmeile in Mitte mit der großen Syn‐
agoge, dem Tacheles und dem Straßenstrich? Ein‐
mal musste ich nachts eine von den jungen Damen dort ansprechen. Sie hob sich krass von den ande‐
ren ab. Ein enorm dicker und langer dunkelblon‐
der Zopf hing über ihre Brust; ihr herbes Gesicht mit seiner markanten Nase war bis auf den Mund kaum geschminkt. Sie trug eine beige Hose mit weit schwingenden Beinen, schwarze Schnürstie‐
felchen und eine weiße Bluse mit einer lose ge‐
32 bundenen tiefroten Krawatte und hochgeschlage‐
nen Manschetten. Sie steckte in einem nachtblauen Korsett mit weißen Nadelstreifen und Schulterträ‐
gern, das ihre Brust bedeckte und auf den Hüften endete. Sie stand im Gegenlicht und ihre Taille sah aus wie so eine Art Sollbruchstelle. Ich hörte ihre zarte Mitte rufen: Bitte hier anfassen, greife nach mir, knete mich. Oh wie geil, dachte ich. Sie wirkte diszipliniert, gebildet und edel und trotzdem oder genau deshalb so lasziv und sinn‐
lich. Alle Mädchen dort tragen Korsett, aber die meisten sehen eben aus wie Huren, mit diesen kit‐
schigen Plastikstiefeln und den albernen Gürtelta‐
schen auf dem Hintern. Diese hier war so ganz an‐
ders. Ich stolzierte einmal im Kreis um sie herum und musterte sie. Ihre Augen folgten mir und zunächst schaute sie sehr ernst drein, doch dann musste sie lachen, was mich erleichterte. Sie stand stramm, eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen umfasste sie ihre Mitte und ließ sich betrachten. Ab und zu wechselte sie das Standbein. Dabei kippte sie ihr Becken hin und her und das Korsett knarzte. Da sah ich, dass die überstehende Schnur mehrfach um die Taille gewickelt und mit einer langen Schleife im Rücken verknotet war, die wie 33
ein kleiner Schwanz über ihren Po hing. Mir kam die Gänsehaut. Ich blieb hinter ihr stehen und betrachtete die Beuge ihres Nackens und den Haarflaum darauf, sozusagen das symbolische Pendant zur Taille. Sie warf ihren Zopf nach hinten. Er baumelte schnur‐
gerade ihren Rücken hinab und sein Ende kam ge‐
nau auf ihrem Steißbein zum Liegen. Dann drehte sie mir ihr Gesicht zu. „Sie sind eine Augenweide“, sagte ich. „Danke.“ Sie lächelte. „Warum stehen Sie hier? Ich meine, Sie könnten doch auch in einen von diesen Clubs gehen, wo man sich einfach so kennen lernt.“ „Wir sind hier auf der Oranienburger. Hier be‐
komme ich sogar Geld dafür“, klärte sie mich auf und lachte. Bestimmt hielt sie mich für naiv. „Darf ich... darf ich Sie da mal anfassen?“ Ich deutete auf ihre Mitte. „Ausnahmsweise. Weil Sie es sind.“ Wieder lachte sie. Ich trat ganz dicht hinter sie. Vorsichtig tasteten meine Hände in die Biegung des Korsetts. Es fühl‐
te sich glatt und straff an, zwischen den Nähten und Stäbchen spürte ich die Wärme und Weichheit 34 ihres Körpers. Ihr Rücken war schmal und konisch und wurde vom Halsausschnitt bis zum Steiß von der Schnürung geteilt. Sie war kleinbusig, aber der Schnitt des Mieders ließ nur eine kerzengerade Haltung zu. So wölbte sich ihre Brust und ihre Hüften waren einfach nur satt. Ein warmer Duft nach neuer Kleidung und frisch geföntem Haar stieg von ihr auf und es war eindeutig ein herbes Deodorant für Männer dabei. Irgendwie hatte sie auch etwas Kraftvolles, Männliches an sich. Noch so ein aufreizender Widerspruch. Ich presste mei‐
ne Oberschenkel zusammen und bedauerte in die‐
sem Moment, kein Mann zu sein. Ich sah, wie ihre Brust sich im Ausschnitt hob und senkte. Ob sie wohl jemanden hatte, der ihr beim Schnü‐
ren half? Es schien mir ziemliche Verrenkungen zu erfordern, das allein zu tun. Ich traute mich nicht, sie zu fragen. Alle Antworten wären schlimm ge‐
wesen. Ich fand diese Filmszenen immer faszinierend: Die Zofe schnürt die junge Dame ins Korsett, die sich dabei am Pfosten des Himmelbettes fest‐
klammert. Die Leute liefen vorbei und die meisten taten so, als sähen sie nichts. Manche erwischte ich dabei, 35
wie sie sich aus den Augenwinkeln einen Blick ge‐
nehmigten; manche drehten sich verstohlen um und fühlten sich ertappt, als sie sahen, dass ich sie beobachtete. Ich hatte sogar den Eindruck, dass Frauen diesen Anblick interessanter fanden als Männer. „Wie lange stehen Sie schon hier?“, fragte ich sie. „Seit neun.“ Das waren fast zwei Stunden. Ich konnte es nicht glauben. „So lange?“, staunte ich. „Die meisten gucken nur und trauen sich noch nicht einmal, zu fragen. Nur ganz Wenige haben den Mumm. Und das sind meistens Betrunkene oder die verheirateten Anzugträger mit dicken Au‐
tos. Wie im richtigen Leben“, erklärte sie. Ich war schockiert. Ich fand mich bei weitem nicht so attraktiv wie sie und doch hatte sogar solch ein Edelweib offenbar ein ähnliches Problem wie ich. „Die Mädchen hier tragen alle Korsett. War das schon immer so?“, fragte ich. „Nee, erst seit ein paar Jahren.“ „Wo gibt’s denn so was zu kaufen?“ „In der Alten Schönhauser ist so ein Laden. Ist Handarbeit. Nicht billig, aber sitzt prima.“ „Ist das nicht unbequem und ungesund?“ 36 „Nicht, wenn man sich daran gewöhnt hat. Braucht am Anfang Disziplin. Inzwischen finde ich es angenehm. Macht eine gute Haltung und ein paar Zentimeter größer. Und formt dauerhaft, wenn man es lange genug trägt.“ Ich staunte: „Das heißt, Sie sind dadurch schlan‐
ker geworden?“ „Der Körper nimmt mit der Zeit die Form an und das Schnüren geht immer leichter”, sagte sie. Sie betrachtete mich von oben bis unten und ihr Blick blieb an meiner Mitte haften. „Würde auch dir gut stehen...“ Ein heißer Strom floss durch mich hindurch. Be‐
stimmt war ich rot geworden. Aha, also noch so eine Möglichkeit, den Körper zu manipulieren – neben Magersucht, Bodybuil‐
ding, Hormondoping, Fettabsaugung, Splitting, Branding, Piercing, Tätowierung und was weiß ich noch für bizarren Techniken. Es war die Einzige, mit der ich mich anfreunden konnte. Oh Mann. So ein Teil will ich auch, dachte ich. Geradezu subversiv im Zeitalter der Baggypants und Speckrollen. Mein investigativer Drang meldete sich. Ich sei Journalistin, sagte ich und sammele interessante Menschen für Interviews (schön wär’s, dachte ich). 37
Schließlich tauschten wir unsere Karten. „Pia Roh‐
loff, personennahe Dienstleistungen“ stand auf Ih‐
rer. Haha. Herbert kam hereingestürzt und ich schreckte aus meinem Film auf. Er schwitzte schon wieder. „Wie wär’s mit einem Deodorant?“, fragte ich ihn. „Zum Geburtstag schenke ich dir eins.“ „Ein bisschen schwer von Begriff bist du ja schon“, sagte er. „Wahrscheinlich habe ich mich neulich im Büro nicht verständlich ausgedrückt.“ Wir stiegen die Treppe nach oben. „Warst du schon mal bei einer Hure?“, wollte ich wissen. „Bist du eine?“, gab er zurück. Es fühlte sich an wie eine Ohrfeige. Ich verdrück‐
te mich zum Duschen ins Badezimmer, entflocht meinen Zopf, streifte mein Radlertrikot ab und quetschte meinen Hintern durch den Bund der Radlershorts. Ich war in einem Alter, in dem eine Frau lang‐
sam rückwärts zählen kann, von Monat zu Monat. Bei mir gab es jedoch schon seit Längerem nichts mehr zu zählen. Meine letzte Periode hatte ich vor etwa zehn Monaten gehabt, eine Schwangerschaft schied also aus. Meine Regel war in immer größe‐
ren Abständen gekommen und schließlich ganz ausgeblieben. Doch für die Menopause war ich 38 noch zu jung. Mein Frauenarzt meinte, ich sei zu mager und habe zuviel Stress und deshalb sei mein Hormonhaushalt durcheinander. Ich kalkulierte: Noch sechs Jahre bis fünfund‐
vierzig, macht ungefähr achtzig Perioden. Rund dreihundertfünfzig waren schon ins Leere gegan‐
gen. Ob ich Perioden sozusagen aufsparen konnte? Schön wär’s, dachte ich. Zumindest musste ich mir um Verhütung keine Gedanken machen. Nur: Ich wollte nicht mehr verhüten. Ich schaute in den Spiegel. „Kein ganz junges Mädchen mehr“, hatte ein Tangotänzer gesagt, mit dem ich auf der Piste gewesen war. Ich hatte Krä‐
henfüßchen und ein paar Fältchen an den Mund‐
winkeln, Narben und ein lädiertes Hand‐ und Kniegelenk vom Rennradfahren und ein paar Stürzen. Aber insgesamt nicht schlecht, dachte ich, nachdem ich auch Bustier und Slip abgelegt hatte. Unter zehn Prozent Körperfett (kürzlich gemes‐
sen), 300 Watt Dauerleistung über vierzig Minu‐
ten (und 55 Kilometer auf dem Rennrad unter ei‐
ner Stunde vierzig). Ich betrachtete meine Hüften, meinen Radlerhintern, meine ziemlich kleinen Brüste. Eine deutliche Taille hatte ich. Männer schauen da gerne hin und übersehen dann man‐
ches. Frauen übrigens auch. Mir machte Sex von 39
Jahr zu Jahr mehr Spaß und zwar in dem Maße, in dem sich weniger Männer nach mir umdrehten. Doch wozu die ganze weibliche Ausstattung? Immer mehr bekam ich das Gefühl, dass Sex wahr‐
scheinlich doch etwas mit Fortpflanzung zu tun hat. Der Raum zwischen meinen Hüften wünschte gefüllt zu werden. Immer öfter meldete sich mein Gluckensyndrom beim Babysitten, beim Anblick von Kinderwagen schiebenden Vätern und Müt‐
tern und von süßen kleinen Tierchen. Mein exzessives Interesse an Fortpflanzung hat womöglich auch mit meiner Herkunft zu tun, denn ich bin Jüdin. Demografie ist in Israel Teil der nationalen Verteidigungspolitik. Man zeugt dort gegen den Terror wacker an. Die Zeugungsfaulheit der Deutschen hat ihr Gu‐
tes: In Berlin‐Kreuzberg und Neukölln werden sie bald in der Minderheit sein, was ich sehr ange‐
nehm finde. Ich liebe die Deutschen; sie sind das freundlichste und weltoffenste Volk – wenn sie nicht unter sich sind. Wehe, es gibt zu wenige Fremde unter ihnen. Man schaue auf die „national befreiten Zonen“ in Sachsen‐Anhalt und Mecklen‐
burg‐Vorpommern. Auf vielleicht ein paar dut‐
zend vietnamesische Läden im ganzen Land kommen Tausende von organisierten Neonazis. 40 Nach Kreuzberg würden die sich niemals hinein‐
wagen. Der vermeintliche Babyboom im Prenzlauer Berg täuscht, denn dort leben fast nur Menschen im Fortpflanzungsalter zwischen 25 und 35. Die durchschnittliche deutsche Berlinerin bekommt im Laufe ihres Lebens so wenige Kinder, wie sonst niemand auf der Welt: Weniger als eines nämlich. In Deutschland ersetzt man Geburten durch die Weigerung zu sterben. Das nennt man „demogra‐
fischen Wandel“ und ist überhaupt kein Problem, denn in Zukunft werden junge Inder und Araber mit Freuden für die vielen kinderlosen Alten in Deutschland arbeiten. Zumindest auf die Araber verlässt man sich in Israel nicht: 2,6 Kinder be‐
kommt die durchschnittliche Israelin, doppelt so viele wie die durchschnittliche Deutsche... Es war ein warmer, sonniger Abend und ich sparte es mir, mich wieder anzuziehen. Ich nahm meine Sachen und verließ das Bad. Herbert lag mit Hemd und Krawatte auf dem Bett und starrte die Decke an. Er stand wortlos auf und ging, ohne mich anzuschauen, schnurstracks ins Bad. Ich öff‐
nete die Balkontür und wollte, so wie ich war, nach draußen treten und rufen: Hallo, ist da ein entspannter, potenter Mann, der sein Leben im 41
Griff hat? Jemand, mit dem man weniger Probleme hat statt mehr? Ich hatte die Nase von krampfigen Nervereien voll. Ich konnte keine Neurotiker und Schlapp‐
schwänze mehr sehen. Im Verdrängen war ich immer ziemlich gut ge‐
wesen und ich wusste: Wer sich die Laune verder‐
ben lässt, hat verloren. Ich gab die Hoffnung nicht auf und drapierte mich auf das frisch bezogene Bett. Vögel sangen. Der laue Luftzug streichelte den Flaum auf meiner Haut. Ich träumte von dem sü‐
ßen Radsportler neulich im Tiergarten und von dem kleinen Bengel, der die Spatzen gefüttert hat‐
te. Wir waren eine kleine Familie. Wir liebten ein‐
ander. Ich hatte einen glücklichen, aufgeräumten, lebendigen Mann zur Seite und einen süßen klei‐
nen Sohn. Wir würden mit dem Fahrrad Ausflüge machen und einen Rundflug mit dem Hubschrau‐
ber am Geburtstag meines Sohnes. Strahlende Son‐
ne. Wir hoben ab; der Kleine durfte sich auf den Schoß des Piloten setzen und der erklärte ihm, wo‐
zu die Hebel und Knöpfe da waren. Es war ver‐
dammt laut. Der Rotor wupperte, dann gab der Pi‐
lot Gas und wir schwebten über Berlin. Da hinten war der Tiergarten, die Goldelse glänzte und wir 42 drehten über dem Großen Stern eine Runde. Die Autos unten flossen im Kreisverkehr wie bunte Spielzeuge einher, ein endloser Partikelstrom. Mein schöner junger Mann zog mich von hinten an sich. Ich wurde schwach und drehte ihm über meine Schulter mein Gesicht zu. Ich öffnete die Augen und sah: Herbert. Mann, er sah echt fertig aus. Wir lagen beieinan‐
der auf der Seite, er hinter mir. Er hielt mich um‐
schlungen. Sein Bauch war im Weg und er war ein bisschen zu klein, um mich in meiner Lieblingsstel‐
lung auszufüllen. Ich spürte seinen Atem zwischen meinen Schulterblättern. „Warum trennt ihr euch nicht?“, fragte ich. „Sie schlägt dich, macht dich lächerlich.“ „Nein, noch nicht einmal mehr das“, klagte er. Ich wirbelte zu ihm herum. „Es fehlt dir?“, staunte ich. „Ich bin ein Schuft. Ich fühle mich besser, nach‐
dem sie mich verdroschen hat.“ Ich hatte mich wohl verhört. „Es geilt dich auf?“, fragte ich. Er schaute weg. Ich hatte ja schon einiges ausprobiert, auch Sa‐
chen, die ein braves Mädchen eigentlich nicht tut. 43
Aber das, das war einfach zu hart. Ich machte mich von ihm los und setzte mich auf die Bettkante. Was ist ein Sadist? Ein Sadist ist jemand, der zu einem Masochisten lieb ist. Oder so: Maso schreit: „Quäle mich!“ Sado antwortet: „Nein!“ Lachen konnte ich darüber nicht. Ich musste feststellen: Mein größter Erfolg als Großstadtsingle war diese Affäre mit meinem ver‐
heirateten Chefredakteur, der sich gerne mal von einer Frau verdreschen ließ. Aber er war Chefre‐
dakteur. Seitdem saß ich auf einem beruflichen wie privaten Schleudersitz und musste mich fragen, ob ich noch bei Verstand war. „Ich mag nicht mehr“, sagte er. Dann schaute er mich an: „Hör zu, Banz und ich, wir haben ein schönes Haus auf dem Land, du und ich, wir könnten...“ Klein‐Muselkow schon wieder. Er hatte schon mehrmals versucht, mich in dieses Kaff in Ostvor‐
pommern zu verschleppen. Was sollte ich, eine Jü‐
din, aufgewachsen in Buenos Aires, zwischen Kü‐
hen und Neonazis? Er ließ nicht locker. Er setzte sich neben mich. „Schau mich an“, sagte er. Ich drehte mich zu ihm und blickte in seine 44 wässrigen Augen. „Ich habe die Schnauze voll. Mir steht es bis hier.“ Er hob die Hand auf Nasenhöhe. „Kathrin macht mich fertig. Und bei der Reuterbank bin ich so was Ähnliches wie Striezel bei uns in der Re‐
daktion, nur dass der ganze Laden demnächst aus‐
einander fliegt und ich meinen Kopf hinhalten muss. Ich muss da weg, ganz schnell. Und nach Klein‐Muselkow. Das ist vielleicht der einzige Weg, das Desaster aufzuhalten.“ „Welches Desaster?“, staunte ich. „Das kann ich dir nicht genau sagen. Ich habe einen Verdacht und den kann ich noch nicht be‐
weisen. In Klein‐Muselkow kann ich das heraus‐
finden.“ „In Klein‐Muselkow? Was hat dieses Kaff mit der Reuba zu tun? Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?“ „Glaub mir einfach. Du könntest mir dabei hel‐
fen. Alleine kann ich es nicht. Ich habe nicht die Kraft dazu. Ich brauche dich.“ Wofür? Für Schläge? Wollte ich fragen. „Und dein Job in der Redaktion? Was wird mit dem?“ „Den soll meinetwegen Kathrin machen. Ich schmeiße alles hin. Lass uns ein neues Leben an‐
45
fangen. Wir müssen nicht mehr arbeiten, du und ich. Mach dir ums Geld keine Gedanken.“ Ich sackte zusammen. „Bist du verrückt? Du willst deine Karriere hinschmeißen? Und was wird aus mir?“ „Lass uns abhauen. Was soll dieser ganze Blöd‐
sinn, dieses Affentheater aus Banken und Geld und Medien? Vergiss das alles. Wir gehen aufs Land. Leben gesund. Wir könnten Kinder haben. Einfach in Ruhe leben. Diese Stadt macht mich krank.“ Moment mal, dachte ich. Das war gegen die Ver‐
einbarung. Er mutierte also tatsächlich zu einem Aussteiger? Wollte Kathrin seinen Posten überlas‐
sen? Und auch ich sollte als Landei enden? Als so eine Art Frührentnerin? Ich wollte alles: Karriere, einen Mann, der noch mehr Karriere macht als ich und super Kinder, die eines Tages Karriere ma‐
chen. „Komm mit mir, bitte“, bettelte er. „Du fragst mich, ob ich mal eben so meine gan‐
zen Pläne... Unsere Pläne... Ich soll meine Karriere aufgeben?“ Das war Erpressung. Er machte schlapp und nicht nur ich hatte keinen Respekt mehr vor ihm. Und ohne ihn als Chef war ich auf jeden Fall erle‐
46 digt – solange Kathrin noch da war, und sie würde seine Position einnehmen. Und dann kamen ihm die Tränen. Ihm. Mir wurde schlecht. Dein Elend kotzt mich an, dachte ich. Ich biss mir auf die Unterlippe. Mein Chef heulte wie ein kleiner Junge. Verfluchte Scheiße, jetzt sollte ich ihn womöglich auch noch in den Arm nehmen und trösten. Ich war hier diejenige, die getröstet werden woll‐
te. Ein erbärmliches Häufchen Elend hatte mein Leben in der Hand. Durch seine Schwäche zwang er mich, auch meine Pläne umzuwerfen. In diesem Moment senkte sich ein roter Schleier vor meine Augen. Ich sprang auf und schrie: „Du bist ein Weichei, ein Jammerlappen. Du kriegst keinen hoch und von mir erst recht keins in die Fresse, denn ich ekele mich vor dir. Reiß’ dich zu‐
sammen, verflucht noch mal und schlag’ dir das aus dem Kopf: Ich komme nicht mit dir, schon gar nicht in dieses Kaff!“ Ich raffte meine Sachen zusammen, quetschte mich in meine Shorts und streifte mein Trikot über. Dann rannte ich nach draußen und schwang mich auf meine Carbon‐Rennmaschine. 47
Weibchenfilm Das Blut rauschte durch mein Hirn. Ich schnitt hu‐
pende Autos und verursachte fast einen Auffahr‐
unfall. Ich nahm Kurs auf den Fernsehturm, der immer wieder zwischen den Häusern auftauchte. Dieser ganze Schlamassel machte mich krank. Warum konnte man nicht einfach miteinander glücklich sein? Ich wollte mein Leben genießen. Tage wie diesen. Frühling. Sonne. Fruchtbarkeit. Ich wollte nicht mehr nachdenken müssen. Nicht mehr planen, kalkulieren, taktieren, kämpfen, tricksen. Einfach glücklich sein. Warum nicht? Ich fuhr der Abendsonne entgegen, die die Stadt mit warmem Glanz überzog. Ich brauche Bewe‐
gung wie die Luft zum Atmen. Herberts Niedergang erinnerte mich stark an den meines Vaters. Als ich klein war, nahm er mich manchmal in seinem Porsche mit und sobald wir Buenos Aires verlassen hatten, nahm er mich vom Schoß meiner Mutter und setzte mich auf den Seinen. Dann durfte ich den Wagen lenken und den Schaltknüppel bedienen; bis zu den Pedalen reichten meine Beine noch nicht. Er gab Gas und wir rauschten über die Landstraßen, hinein in die unendlichen Llanos, vorbei an Rinderfarmen und 48 Grillbuden mit Steaks vom Format eines Klode‐
ckels. Wir bretterten ans Meer nach Villa Gesell mit den Sandpisten und dem breiten Strand und der Rennstrecke. Meine Mutter auf dem Beifahrer‐
sitz ängstigte sich zu Tode und mein Vater und ich, wir lachten. Ruth, meine große Schwester, das Engelchen mit den blonden Locken, liebte es, auf der Notbank hinten im Auto zu schlafen. Das Brummen des Motors ließ sie immer sanft entschlummern und auch ruppige Manöver meines Vaters weckten sie nicht auf. Es roch nach Benzin und der Wind don‐
nerte durchs Fenster, so laut, dass man sich an‐
schreien musste. In seiner Jugend nannte man meinen Vater den „Kleinen Fangio“, er war tatsächlich bei einigen Rennen mit Fangio mitgefahren und manche sa‐
gen, Fangio sei nur deshalb so verdammt schnell gewesen, weil Giorgio „El Flaco“ Di Sanzo ihm ständig am Heck klebte und die Verfolger aus‐
bremste. Diesen Hang zur Geschwindigkeit und zum Risiko scheine ich von ihm geerbt zu haben. Sehnig und mager ist er immer noch, immer son‐
nengebräunt mit schlohweißem Haar und einem präzise gestutzten Schnurrbart. Wenn er aus sei‐
nen blauen Augen strahlt und sein faltiges Gesicht 49
in ein breites Grinsen legt, werde nicht nur ich ganz schwach. So ist er – wenn er seine Pillen genommen hat. Wenn er auf Pillen ist, darf er aber kein Auto fah‐
ren. Was ihn dann wieder depressiv macht. Nimmt er keine, sinkt er zu einem gebrochenen Häuflein zusammen, heulend, klagend, voller Selbstzweifel und Sinnlosigkeitsgefühle. Wahrscheinlich wird er eines Tages alle seine verbliebenen Kräfte zusam‐
mennehmen und ein letztes Mal einen schnellen Wagen besteigen, um den Rennfahrertod zu ster‐
ben. Eigentlich war es ein Wunder, dass auch ich noch lebte – bei meinem Fahrstil. Das müssen die Gene sein, dachte ich. Ich war in Richtung Mitte unterwegs und ich dachte an Pia, die schöne Hure, mit der ich neulich auf der Oranienburger Straße gesprochen hatte. Ein böser Verdacht stieg in mir hoch. Vielleicht arbeiteten solche Schönheiten oft als Edelhuren, weil sie anders kaum noch einen passenden Part‐
ner finden? Vielleicht ist ja was dran an dem Kitschmärchen, dass die Prostituierten doch nicht alle so abgebrüht sind und das Anschaffen nicht nur als Geschäft sehen, sondern hoffen, bei der Arbeit den Prinzen zu treffen, der sie erlöst? Und 50 dass die Freier nicht alle gefühllose Sexmonster sind, sondern manchmal hoffen, bei der Richtigen irgendwann eben dies zu tun? Hure war bestimmt nicht Pias Traumberuf. Aber hoch bezahlt auf Partnersuche zu gehen, schien mir keine schlechte Strategie zu sein. Dieses Edel‐
weib schien es sich aussuchen zu können. Be‐
stimmt ging sie nicht mit jedem mit. Mit Sicherheit kannte sie mehr Alpha‐Plus‐Männer als ich. Was nicht schwer war, denn Herbert war ja keiner mehr. Die Fahrradkette schnurrte und der Wind sauste in meinen Ohren. Ich fuhr zur Alten Schönhauser Straße. Dort soll‐
te der Laden sein, wo es handgearbeitete Korsetts gibt. Hatte Pia zumindest gesagt. Es war viertel vor sieben und vielleicht hatte er noch auf. Ich wusste den Namen des Ladens nicht und auch nicht die Hausnummer. Deshalb stieg ich ab und ging zu Fuß. Ich sah, dass ich hier auf der Mi‐
niaturausgabe der Kastanienallee gelandet war: Boutiquen, Edelschneider und Dessousläden reih‐
ten sich aneinander. Und tatsächlich: Gleich auf der linken Seite sah ich ein paar Puppen im Schau‐
fenster stehen. Und die trugen: Korsetts. Die Scheibe zierte ein schwungvoller Schriftzug: „Ate‐
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lier Silhouette“. Daneben in wenigen kurvigen Strichen das passende Symbol dazu: Eine schlank taillierte Körperkontur. Ich schaute auf die Öffnungszeiten. Bis achtzehn Uhr. Das hatte ich befürchtet. Aber hinten im La‐
den brannte Licht. Da war noch jemand. Ich klopf‐
te an die Scheibe und es kam eine Frau zur Tür. Sie schloss auf und sagte: „Sie kommen leider zu spät.“ „Vielleicht sind Sie ja noch eine Weile da und ich darf mich derweil ein bisschen bei Ihnen im Laden umschauen? Ich mache auch keinen Unfug”, bat ich sie. Sie zögerte einen Moment und betrachtete mich von oben bis unten. „OK, ein paar Minuten. Ich muss noch ein bisschen aufräumen.“ „Darf ich mein Rad mit reinnehmen?“, fragte ich. Sie öffnete die Tür und bedeutete mir mit dem Kopf, hereinzukommen. Drinnen hingen die Mieder auf langen Ständern. Die Frau war ungefähr in meinem Alter und sah irgendwie süß aus. Ein bisschen mopsig, aber süß. Ein Puppengesicht hatte sie; sie trug einen Pferde‐
schwanz, ein enges rotes Shirt und eine schwarze Hose spannte über ihrem ausladenden Hintern. Und natürlich hatte sie eine Taille. 52 „Schauen Sie sich um, ich bin hinten in der Werkstatt, falls Sie mich brauchen“, sagte sie. Ich ging durch den Laden und blieb gegenüber einer Schaufensterpuppe mit Korsett stehen. Ich umfasste die zerbrechliche Mitte meines leblosen Gegenübers und verglich mit meiner. War doch ein enormer Unterschied. Ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlt, so et‐
was zu tragen. Bekäme ich noch Luft? Würde ich in Ohnmacht fallen? Im Augenwinkel sah ich in einem Spiegel, dass die Verkäuferin mit verschränkten Armen im Durchgang zur Werkstatt stand. Sie beobachtete mich. Ich tat so, als bemerke ich es nicht. Ich straffte meine Haltung, stolzierte die Reihe aufgehängter Korsetts entlang und stöberte darin herum. Ohne mich nach meiner Beobachterin um‐
zuschauen, fragte ich sie: „Meinen Sie, ich könnte so was mal anprobie‐
ren?“ Ich schaute zu ihr und sie sah verdutzt aus. „Die richtige Figur hast du ja schon“, sagte sie. „Ich heiße übrigens Jana.“ Sie lächelte, ging auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. „Esther.“ Ihre Hand war warm und weich. Sie griff ein Maßband und sagte: „Darf ich?“ 53
„Ich will dich aber nicht aufhalten“, sagte ich. „Dafür habe ich immer Zeit“, sagte sie und schaute mich verwegen an. Ich machte meine Mitte frei. Das Band war glatt und kalt und ich zog unwillkürlich den Bauch ein. Ihre Finger glitten über meine Haut und indem sie das Zentimetermaß stramm zog, rutschte es in die schmalste Stelle. „Da können wir ja gleich ein Fünfundfünfziger nehmen”, sagte sie. Beiläufig griff sie in meine Seite und drückte kurz. Ich zuck‐
te. Sie schlug ihre Augen auf und schaute mich an. „Oder soll es gleich ein bisschen enger sein? Farb‐
wunsch?“ „Schwarz und eng“, sagte ich. „Soll es über die Brust reichen oder nur was für die Taille? „Neulich habe ich ein todschickes Teil von euch an einem Mädchen auf der Oranienburger gese‐
hen. Die sah echt klasse aus. Nicht wie eine Hure. Einfach nur edel und elegant und sexy.“ „Mit einem langen Zopf?“ „Ja, genau.“ „Eine Stammkundin von uns.“ „Sie trug so eine Art Weste. Aber knalleng auf Taille.“ „Sowas machen wir nur gegen Aufpreis. Sozu‐
54 sagen für Fortgeschrittene.“ „Dann eines, das über die Brust reicht”, ent‐
schied ich. „Du bist kleinbusig. Ein gerader hoher Ab‐
schluss sieht bei dir bestimmt gut aus.“ Sie griff ein solches Stück aus dem Ständer und sagte: „Komm.“ „Ihr macht sie selbst?“, fragte ich. „Ja. Alle. Ich bin Schneiderin.“ Ich folgte ihr. Wir gingen durch die Werkstatt nach hinten zur Anprobekabine. Ich musste meine Nase natürlich auch dort hineinstecken. Ich ließ meinen Blick schweifen: Der Raum war klein und randvoll mit Arbeitstischen, Nähmaschinen und Werkzeugen. An den Wänden hingen Rollen mit Schnüren, Stoffen und Versteifungsstäbchen. Es roch nach fabrikneuer Kleidung. Schnittmuster la‐
gen herum. Eine Balkontür stand offen und gab den Blick auf einen grünen Hof frei. „Was sind das für Leute, die zu euch kommen und ein Korsett kaufen?“, fragte ich. „Männer. Frauen. Alte. Junge. Huren. Angestell‐
te. Einfach querbeet.“ „Männer?“, staunte ich. „Die kaufen Korsetts für ihre Frauen?“ „Auch. Aber nicht nur. Manche tragen selber 55
welche.“ „Männer tragen Korsetts?“ „Erstaunlich viele. Fast die Hälfte verkaufen wir an Männer.“ Verrückt, dachte ich. „Ziehen sie die an und befriedigen sich dann selbst?“ „Interessante Theorie. Da könnte was dran sein. Es gibt ja kaum noch Frauen mit einer Taille. Es gibt aber auch spezielle Herrenkorsetts. Zu Kaisers Zeiten haben Offiziere das unter der Uniform ge‐
tragen.“ Sie griff nach einem Katalog und zeigte ihn mir. Darin sah ich smarte Typen, die über dem Hemd ein solches Teil trugen und mit geschnürten Da‐
men flirteten. „Die Männer, die Korsetts tragen, sind das Schwule oder Transen?“ „Die wenigsten. Die meisten sind unauffällige, heterosexuelle Typen. Unsere männlichen Models sind allerdings in der Regel stockschwul.“ „Und kaufen viele Huren bei euch?“ „Naja, man sieht es ja meist nicht, wie eine Frau ihr Geld verdient. Auch die meisten Frauen sind ganz unauffällig.“ „Die Mädchen auf der Oranienburger und am 56 17. Juni sind ja wirklich alle geschnürt. Alle.“ „Ja. Ohne Korsett geht da gar nichts mehr. Das kommt wieder. Wir sind seit vier Jahren im Ge‐
schäft und müssen demnächst erweitern.“ Sie winkte mit dem Schnürstück. „Wollen wir?“, fragte sie. „Bin mit dem Fahrrad unterwegs, wie du siehst. Ich musste erst ein bisschen abschwitzen. Ich hoffe, es ist kein Problem, wenn ich nicht blütenfrisch dufte.“ „Behalte dein Hemdchen einfach an. Ist siche‐
rer.“ Sie zwinkerte. Ich ging in die Kabine und sie schloss den Vor‐
hang hinter uns. Ich wunderte mich: War da drau‐
ßen noch jemand? Sie stellte sich vor mich. „Arme hoch“, sagte sie und zog das Trikot über meine Hüften glatt. Sie nahm das Korsett und zog die Schnürung ausein‐
ander. Dann legte sie es von hinten um mich her‐
um an und hakte den Verschluss zu. Sie schob und zupfte es in Position und trat hinter mich. Sie rück‐
te die Lasche hinter der Schnürung zurecht. Und zog Schlaufe für Schlaufe stramm. Das Teil lag hauteng und faltenlos an. Ich konnte nicht anders, als mit den Händen zu überprüfen, was ich sah. 57
Die Schnur glitt durch die Ösen und Druck baute sich auf. Ich spürte, wie sich meine Haltung straff‐
te, meine Brust sich hob und meine Hüften immer deutlicher hervortraten. Tatsächlich, ich hatte das Gefühl, um zwei, drei Zentimeter gewachsen zu sein. Mein Herz pochte und das Blut rauschte durch meine Mitte in mein Becken. Ich fühlte, wie mein Körper sich in die Form ergab und mein A‐
tem ging schneller. Ich umfasste meine Taille, mir war heiß und ich dachte: Einen Mann bitte, ganz schnell und zwar den Richtigen... „Enger geht’s nicht“, sagte sie. Sie wickelte die Schnur doppelt um die schmalste Stelle des Mie‐
ders und verknotete sie im Rücken. „Du hast die richtige Anatomie. Selten, dass ein Fünfziger so leicht zugeht. Klafft aber unten ziemlich stark auf.“ Sie trat neben mich, schaute mir im Spiegel in die Augen und fragte: „Wie fühlst du dich?“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Meine Hände glitten über meine Flanken auf und ab, ü‐
ber meinen konischen Brustkorb in die Beuge der Taille, über meine Hüften und zurück. Meine Brust hob und senkte sich wie bei den Damen in den Kostümfilmen. Ich schloss die Augen und stand einfach nur da. Ich zitterte und atmete heftig. 58 „Ist wohl das erste Mal für dich“, sagte sie. Und sie flüsterte in mein Ohr: „Es gibt immer ein erstes Mal.“ Sie stand ganz dicht vor mir; meine Brust und ihre berührten sich. Ich spürte ihren Atem an mei‐
ner Wange. „Lass dich betrachten“, sagte sie. Sie legte ihre Hände auf meine Hüften, schob mich ein bisschen von sich weg und drehte mich ganz langsam. Und indem ich mich drehte, bog sich meine Taille und das Korsett knarzte. In mei‐
nem Unterleib stieg der Druck. „Das ist schön“, sagte sie. „Mach weiter.“ Dann griff sie meine Hüften und hielt mich an. Sie stand hinter mir und ich bebte. Ich drückte meinen Po gegen ihren Schoß und rieb ihn vorsich‐
tig an ihr. Ihr Atem kitzelte den Flaum in meinem Nacken. Sie zog meine Schultern zurück; ich drückte mein Kreuz durch und spürte durch den strammen Stoff, wie sie mit den Fingerspitzen über meine herausgestreckte Brust und dann meine Flanken entlangfuhr. Sie drehte mich an den Hüf‐
ten um, packte meine Mitte und zog mich an sich. Ich spürte ihre warmen Lippen auf meinen, zart erfühlte sie, was passieren würde. Ich schwankte, aber sie hielt mich fest, und ich ließ ihre Zunge ein, 59
die sich vortastete und dann zustieß. Meine Knie wurden weich. Ich griff nach ihren Schultern und dann streichelte ich ihren Nacken. Sie umschlang mit dem einen Arm meinen Brustkorb und drückte mich. Meine Rippen schmerzten und ich spürte ih‐
re andere Hand zwischen meinen Beinen. Ihre Zunge stieß vor und zurück. Nein, nein, hör bitte auf, wir werden in der Hölle schmoren, dachte ich. Ich sackte auf die Knie. Ich lehnte meinen Kopf in ihren Schoß und atme‐
te ihre feuchte Wärme ein. Sie kraulte mich mit den Fingerspitzen am Hals und hinter den Ohren. Dann trat sie hinter mich und griff mit sanftem Druck in meinen Nacken. Zitternd ließ ich mich nach vorne fallen und stützte mich auf den Hocker vor dem Spiegel. „Bleib so“, sagte sie. Ich hörte, wie sie den Vorhang aufzog. Mein Herz raste. Im Spiegel sah ich, wie sie zurückkam, mich betrachtete und sich hinkniete. Ich wollte still halten und konnte es nicht... Schluss jetzt. Ich habe Ihnen schon viel zu viel erzählt. Ich bin gerade furchtbar geil und schäme mich. Dieser Text schrieb sich quasi selbst; ich wollte ihn nicht wirklich schreiben. Ich bestehe eben auch aus einem Leib und der ist 60 lebendig und wird gierig und ungehalten, wenn er keine Zuwendung bekommt. Danke Mama. Danke für dieses Über‐Ich. Beneiden Sie mich? Ekeln Sie sich vor mir? Sind Sie gerührt, wütend, bezaubert, entrüstet, erregt? Gelangweilt? Immerhin haben Sie bis hierher durchgehalten und das hatte wohl irgendeinen Grund. Natürlich habe ich solch ein Korsett gekauft. Maßanfertigung und mit mehr Platz für meine Hüften, von Jana handgefertigt. Endlich hatte mich jemand genommen und die‐
ser Jemand war eine Frau. Ich musste nichts ent‐
scheiden, nichts verantworten. Jana hatte in mei‐
nem Kopf diesen Weibchenfilm abgespielt. 61
Shopping Es war Samstagmorgen und ich war allein in unse‐
rer Wohnung. Meine beiden Mitbewohner, Rico und Steffen, waren ausgeflogen – wie auch sonst fast immer. Beides viel beschäftigte Burschen. Je teurer und toller die Wohnung, desto mehr muss man arbei‐
ten und desto seltener wohnt man darin. Fast im‐
mer unterwegs, die beiden, wie auch ich. Rico war freiberuflicher Unternehmensberater (Sagte er. Manche behaupteten, er verkaufe halbseidene Geldanlagen), Steffen war Arbeits‐ und Organisa‐
tionspsychologe. Teamentwickler, wie er sagte. Ri‐
co war eine Sportskanone, der die Frauen offenbar nur aus dem Internet kannte und ständig auf Rei‐
sen irgendwelche Abenteuer erlebte (sagte er). Steffen konnte ich mir beim besten Willen nicht mit einer Frau im Bett vorstellen. Er hatte eindeu‐
tig etwas Asexuelles und war als Mann gerade noch erkennbar. Für Wachstumshormone war es bei ihm definitiv zu spät. Es war ein Moment, in dem ich eigentlich ganz gern alleine war, auch wenn ich mir das WG‐
Leben so nicht vorgestellt hatte. Rico bestand im‐
mer darauf, dass ich Besuch anmeldete. Er war der 62 Meinung, die 150‐Quadratmeter‐Wohnung sei mit drei Menschen eindeutig überfüllt, obwohl es ein Jahrhundertzufall war, wenn wir einmal alle drei zu Hause waren. Wenn Rico nicht da war, veranstaltete ich manchmal einen argentinischen Sonntagnachmit‐
tag mit Musik und Filmen aus Argentinien. Die Nachbarn brachten Essen und Getränke mit, und ich räumte die Möbel zur Seite und unterrichtete ein bisschen Tango. Einmal kam Rico zufällig an solch einem Nach‐
mittag nach Hause und starrte mit großen Augen auf das Treiben in meinen beiden Zimmern. Dann verschwand er wortlos in seinem. Am nächsten Tag stellte er mich zu Rede: Warum ich die Party nicht angemeldet habe, warum ich mich nicht an unsere Vereinbarung halte und so weiter. Ich ver‐
wies ihn auf das geltende Mietrecht, das mir so etwas durchaus einmal im Monat gestatte. Diese Verletzung seiner Reviergrenzen hat er mir nie wirklich verziehen. Ich drehte die Musik auf: Rock Nacional aus Ar‐
gentinien. Charly García, No Te Va A Gustar, La Portuaria, Turf. Die Nummern „Buenos Aires“ und „Nada Es Igual“ machten mir richtig Laune. Ich tanzte im Hemdchen durch die Flügeltür zwi‐
63
schen meinen beiden Zimmern, öffnete die Balkon‐
tür und ließ die Sonne herein. Niemand beschwer‐
te sich über ein bisschen Krach. Ist halt Kreuzberg. Den Vormittag hatte ich mir frei gehalten und ich machte mich fürs Einkaufen im KaDeWe fein. Ich brauchte ein paar neue Sachen, denn ich hatte innerhalb eines Jahres fast zehn Kilo abgenommen. Langsam stellte sich bei mir Euphorie ein, ein Gefühl des Triumphes. Im Fasten hatte ich Erfah‐
rung und ich beobachtete mit Befriedigung, wie mein Körperfett dahinschmolz. Ich ging ins Bad, zog mich aus und stellte mich auf die Waage: 53 Kilo bei einem Meter neunundsechzig. Ich zwickte in den Muskelstrang zwischen Rippen und Hüft‐
knochen: Da war nichts mehr abzunehmen. Ich fühlte mich leicht und legte das Maßband um mei‐
ne Taille: 63 cm, mit Baucheinziehen kam ich auf knapp über 60. Nicht schlecht, dachte ich, vor al‐
lem mit einem geräumigen Becken wie dem mei‐
nen. Als junges Mädchen war ich über meinen schwellenden Hintern sehr unglücklich. Heute weiß ich, worauf die meisten Männer stehen. Mein Hüftumfang maß satte 97 cm. Auch hier null Fett. Muskeln und Knochen. Dank sportlicher Schultern Figurtyp X, eindeutig. Ich stand vor dem Spiegel stramm und streckte Brust (viel war es nicht) und 64 Hintern heraus, zog den Bauch ein und die Schul‐
tern nach hinten. Wenn ich mit einem Mann tan‐
zen wollte, musste ich nur ein paar Minuten so da‐
stehen. Ja, wenn die so attraktiv ist, warum findet sie keinen Mann, mit dem sie glücklich ist? Gegenfra‐
ge: Was nützt der tollen Frau das Tollsein, wenn es kaum zumindest ebenso tolle Typen gibt und wenn es sie gibt, sie in der Regel belegt sind? Was traut sich ein Typ noch, der weiß, dass er bei solch einer Frau nie mithalten kann? Kriegt so einer noch einen hoch? Sogar Herbert bekam keinen mehr hoch. Und na‐
türlich war er belegt. Noch. Wenn Kathrin einmal aus dem Weg wäre, würde sich das alles bereini‐
gen, dachte ich. Ich hoffte das zu diesem Zeitpunkt immer noch, auch wenn Herbert schlapp zu ma‐
chen drohte. Im Verdrängen war ich schon immer gut. Ich klammerte mich an meinen Optimismus. Tags zuvor war ich Tango tanzen gewesen. Un‐
denkbar mit Rico und Steffen oder gar mit Herbert. Ein paar gute Tänzer gab es immer, welche, die führen konnten. Aber warum lief mit ihnen nie etwas? Zumindest bei mir nicht? Was machte ich verkehrt? Einmal mehr war mir aufgefallen: Es gibt kaum 65
noch Frauen mit einer Taille – immerhin ein ent‐
scheidender Vorteil für mich. Ich erinnere mich genau: In den Achtzigern, als die Gürtel noch in der Taille saßen, gab es noch Taillen. Sie ver‐
schwanden mit dem Auftauchen der Hüfthosen und der bauchfreien Tops, die meist nur noch Speckrollen unterschiedlicher Anzahl sehen lassen (was im Auge des gutwilligen Betrachters sogar mehrere „Taillen“ ergibt). Inzwischen trägt frau wieder monströs breite Gürtel und das sogar dort, wo bei ihren Müttern und Großmüttern einmal die Taille gewesen war. Ob sie jemals wiederkehren wird? Neulich las ich, dass die Konfektionsgrößen alle paar Jahre neu festgelegt werden, indem man ein paar tausend Körper vermisst. Und siehe da: Es ist objektiv belegt, dass die durchschnittlichen Taillen immer breiter wurden und beinahe verschwunden sind. So passt Größe 38 heute sehr viel maskuline‐
ren Körpern als Größe 38 im Jahre 1975 oder 1950. Ich merkte das deutlich: Was mir am Hintern pass‐
te, war in der Mitte viel zu weit und in dem, was in der Mitte passte, bekam ich meinen Hintern nicht unter. Wenn ich an das Verschwinden der weiblichen Kurven denke, wundere mich nicht mehr über 66 Scheidungsrekorde, Fortpflanzungsmüdigkeit und grassierende Impotenz. Viagra hilf. Sie glauben nicht, dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat? Eine ausgeprägte Taille fan‐
den und finden fast alle Menschen (auch Frauen übrigens) überall und jederzeit erotisch. Ist sogar wissenschaftlich erwiesen. Erwiesen ist angeblich auch, dass Frauen mit einer Sanduhrfigur im Schnitt mehr und schlauere Kinder haben. Bei Begrüßungsküsschen landeten auch die Hände von Frauen fast immer in meiner Mitte. Manche wollten wohl haptisch überprüfen, was sie da sahen. Es gibt darüber keine Diskussionen wie über Titten und Ärsche und ob das eine oder das andere sexier sei. Entschuldigen Sie das Sprachni‐
veau. Die Taille steht jenseits dieser Konkurrenz; hier gilt: Weniger ist mehr. Titten und Ärsche wir‐
ken überhaupt erst mit einer Taille dazwischen. Eine schlanke Taille ist edel, elegant und erotisch zugleich, zeitlose Ästhetik. Eine Taille darf man sogar fast immer anfassen, ohne eine gescheuert zu bekommen oder gar Schlimmeres. Versuchen Sie das mal mit anderen sekundären Geschlechts‐
merkmalen. Über Taillen spricht man nicht mehr. Dieses Wort klingt nach Kostümfundus und Mottenkiste, 67
und ich habe es schon immer geliebt, in so etwas herumstöbern. Hier spricht Esther, die Taillenfetischistin. Ich liebe es, dort berührt zu werden. Manche nahmen Maß, indem sie die Hände zart und exakt in der unverfänglichen Zone meine Flanken ent‐
lang gleiten ließen, manche waren etwas forscher und legten ganz kurz beide Hände in meine Mitte. Und staunten nicht schlecht, wenn unter der figur‐
betonten Bluse noch ordentlich Luft war. Ich schloss immer mit mir selber Wetten ab, wie lange es wohl dauerte, bis die Hand meines Tanz‐
partners von meinen Schulterblättern nach dort unten gewandert war. Ein zuverlässiger Hinweis auf einen sofortigen Zugriff war, wenn er schon vorher ein paar Mal dort hingeschaut hatte. Mehr lief in der Regel nicht. Meist fragte ich gar nicht erst weiter nach, wer er war, was er machte. Die Chancen, einen interessanten Kandidaten zu fin‐
den, sind minimal, das hatte ich nach reichlicher Erfahrung gelernt. Ich stand im Bad, duschte und frisierte mich an‐
schließend. Das heißt, ich flocht mir einen Zopf. Ich bin nicht der Typ, der sich aufbrezelt. Ich habe auch kaum Schmuck. Ich schminke mich eigentlich nie. Außer, ich werde geschminkt – wenn ich im 68 Fernsehen etwas über Versicherungen erzähle. Auch wenn ich ein Rendezvous habe oder zum Ball gehe, lege ich kaum Farbe auf. Ich bin ein dunkler Typ mit dunklen Wimpern und Augen‐
brauen. Mein Gesicht ist recht maskulin, denn ich habe ein kräftiges Kinn mit einem markanten Grübchen, was mir wiederum sehr gefällt. Und schmale Lippen und leichte Schlupflider. Wenn ich mich schminke, denke ich immer, ich sehe wie eine Transe aus. Vielleicht ziehe ich mich auch deshalb so gern figurbetont an. Diese Proportionen bekam keine noch so überzeugende Transe hin. Ich streifte ein schwarzes hautenges T‐Shirt über und schlüpfte in meine dunkelblaue Hüftjeans. Als Hingucker zog ich einen weißen Koppelgürtel durch die Schlaufen und schob das Ende durch die Schließe. Ich zog das Shirt ein bisschen aus der Hose, so dass es sich gut in die Figur schmiegte. Fertig ist das Verkehrszeichen für Männer und Frauen: „Hallo, alle mal herschauen. Hier kommt ein junges Weib mit geräumigem Becken und straffer Bauchdecke, garantiert nicht schwanger“. Garantiert nicht schwanger traf garantiert zu, was in meinem Fall allerdings unbequeme Fragen auf‐
warf: Wie steht es mit der Fruchtbarkeit? Wo ist der Mann? 69
Ich trat auf den Balkon. Meinem Apfelbäumchen im Kübel schien es gut zu gehen. An den Zweig‐
lein trug es jede Menge Knospen, die gerade auf‐
brachen. Ich hatte hier einen Logenplatz an der Südseite des Kreuzberger Paul‐Lincke‐Ufers. Es war inzwischen so stickig heiß, dass ich schnell wieder nach drinnen ging und den Ventilator ein‐
schaltete. Diese Wohnung hatte auch noch weitere Vorzü‐
ge: Parkett. Jugendstilbeschläge aus Messing. Kas‐
tenfenster. Vierter Stock. Hier wollte ich immer wohnen und so machte ich eben bei meinen Mit‐
bewohnern und bei der Miete ein paar Abstriche. Aber mein Geld reichte gerade eben so. Ich lud mir den Rock Nacional auf meinen mp3‐
Player; dann fiepte mein Handy und eine SMS kam herein: „Nach dem Alltag, dem nicht Stillen, könnt Ihr heut kriegen Euren Willen: Zeitungspa‐
pier zerknüllen, sich in Rauch einhüllen, nichts mehr sehen trotz Brillen, gedopt sein ohne Pillen, SunDownLightShow im Stillen, Abendstunden fül‐
len, mit einem Worte: Grillen!“ Sie war von Gipsy, meinem Privatclown. Gipsy (oder Chipsy, je nach Aussprache) war Schwabe und ebenfalls hochgradig begeisterter Bewohner des Paul‐Lincke‐Ufers. Er wohnte einige Blocks 70 weiter . Ich schickte eine SMS zurück: „Hast du den Wet‐
terbericht gehört? Guck mal nach Westen.“ Von dort zog eine rabenschwarze Wolkenwand heran. Noch schien die Sonne und da war ein un‐
wirklich scharfer Kontrast zwischen dem blauen Himmel und dem Dunkelgrau der Gewitterfront. Ich entschied mich, mein Fahrrad stehen zu las‐
sen und mit der Linie 1 zum KaDeWe am Witten‐
bergplatz zu fahren. Unten glitten zwei Ausflugsdampfer auf dem Landwehrkanal aneinander vorbei. Hier war die Sonnenseite von Kreuzberg. Wenn irgendwo eine solche Wohnung frei wurde, war sie schnell ver‐
mietet. Etliche Promis hatten sich in den letzten Jahren hier niedergelassen. Auch bei mir im Haus wohnten zwei Filmemacherinnen und eine Schau‐
spielerin. In der Küche quirlte ich mir noch einen Shake aus Ananas, Möhre und Birne, trank und griff mir eine Karotte stattlichen Kalibers als Wegzehrung. Ich steckte Schlüssel und Brieftasche ein, klemmte mir die Sonnenbrille aufs Haupt, schnürte meine Schuhe und trappelte die Treppe hinab. Ich eilte zum Kottbusser Tor, der ganz und gar natürlich gewachsenen Umsonst‐Geisterbahn Berlins. 71
Wenn Sie schlecht draufkommen wollen, dann stellen Sie sich an einem Regentag eine halbe Stunde auf eine Ecke am Kotti und lassen das Sze‐
nario auf sich wirken. Um den Effekt noch zu stei‐
gern, empfehle ich einen wenigstens fünfminüti‐
gen Aufenthalt in einem der dortigen Hauseingän‐
ge. Wenn Sie sich in hohem Bogen übergeben möchten, können sie auch ein paar Stockwerke hinauf‐ und wieder hinuntersteigen. Falls Sie einen Stadtteil mit mehr gestörten, kranken, vereinsamten Menschen kennen als die Gegend um das Kottbusser Tor herum, dann zei‐
gen Sie ihn mir. Und das alles nur ein paar hun‐
dert Meter vom sonnigen Paul‐Lincke‐Ufer ent‐
fernt. Ich steckte mir die Ohrhörer rein, stellte die Mu‐
sik an und stieg in die U‐Bahn. Es war nur ein Sitz frei und so nahm ich gegenüber von einem Mann Platz, dessen Alkoholfahne mir entgegenkam. Er dämmerte mit halb geöffneten Augen dahin; man sah nur das Weiße darin. Speichel rann aus seinem Mundwinkel und tropfte von seinem stoppeligen Kinn auf das fleckige T‐Shirt mit einem Monster und der Aufschrift „Sepultura“ darauf. Wie oft mochte er schon von Endstation zu Endstation hin‐ und hergefahren sein? Ein kleines orientalisch aus‐
72 sehendes Mädchen lief bettelnd durch den Wagen. Ein Obdachloser verkaufte die Straßenzeitung „Motz“. Ich setzte die Sonnenbrille auf, schaute aus dem Fenster und drehte die Musik lauter. Das nächste Lied war „Ella Vendrá“ von Palo Pandolfo, ein furchtbar schöner, bezaubernd melancholischer Song. „Sie wird kommen“, so sang sich ein einsa‐
mer Junggeselle seine Liebste herbei. Schauder lie‐
fen mir den Rücken hinunter. Wen meinte er? Mich? Ob ich auch mal wieder kommen würde? Bei einem Mann vielleicht? War ich einsam? Objektiv betrachtet war ich fast ständig von Menschen umgeben. Und ich hatte ja Herbert. Aber ich fühlte mich nicht so, als hätte ich jemanden. Man kann in diesem Berlin wohl so ein‐
sam sein, wie sonst nirgends. Es gibt Menschen, die in dieser Stadt praktisch ohne irgendwelche Kontakte leben. Sozialhilfe. Einraumwohnung. Fernsehen. Internet. Pizza‐Bringdienst. Ich mag die Linie 1. Man kann von der Hoch‐
bahn aus den Leuten direkt ins Wohnzimmer schauen. Mein Gott, so viele Menschen gibt es hier. Und doch begegnet man so wenigen in mehr als dem Augenschein. Die Bahn fuhr dem Unwetter entgegen. Noch 73
schien die Sonne. Das war ein Tag, an den ich noch denken sollte. Ich wunderte mich über meine grundlos gute Lau‐
ne. Der Schlamassel mit Herbert, Kathrin und Striezel perlte noch an mir ab – zumindest wenn ich nicht in der Redaktion war oder Herbert wie‐
der Probleme wälzte. Der Zug hielt am Wittenbergplatz. Ich klappte meine Sonnenbrille hoch und nahm die Ohrhörer heraus. Das ist die schönste Berliner U‐Bahnsta‐
tion, die ich kenne. Sie ist im spätrömischen Stil gehalten und innen mit Werbung aus den 20er Jah‐
ren dekoriert. Besonders das riesige Plakat mit ei‐
nem Rennwagen von Opel und zwei schneidigen Fahrern mit wehenden Schals, Sturmhauben und Fliegerbrillen finde ich toll. Ganz groß daneben ein zeitgenössisches Girl mit einer Ballonmütze, unter der blonde Locken hervorquellen, mit einem win‐
zigen Puppenmündchen und einer Fliegerbrille. Frau von Welt fuhr eben schon damals Opel. Oder doch nicht? Warum sitzt sie nicht mit im Rennwa‐
gen, fährt ihn gar selber? Vor der Station steht eine Mahntafel mit der Aufschrift „Orte des Schreckens, die wir nie ver‐
gessen dürfen“. Darauf sind die Vernichtungslager der Nazis aufgeführt: Auschwitz, Majdanek, Treb‐
74 linka und die anderen. Einen Moment lang blieb ich stehen. Ein Teil der Familie meiner Mutter war in Europa geblieben. Überlebt hatten jene, die rechtzeitig nach Argentinien ausgewandert waren. Den jüdischen Emigranten waren nach dem Krieg dann eine Menge Nazis gefolgt. Ein hoher SS‐
Offizier wohnte sehr lange schräg gegenüber unse‐
rem Haus in der Calle Ravignani im Stadtteil Pa‐
lermo Hollywood. Bis er steinalt im Bett entschlief. Ohne die weise Entscheidung meiner Großel‐
tern, rechtzeitig aus Deutschland zu fliehen, wären meine Eltern sich nie begegnet. Und ohne den be‐
rufsbedingten Hämorrhoidalabszess meines Vaters auch nicht. Dieses Geschwür brachte ihn seinerzeit in das Hospital, wo er der Krankenschwester Sarah Wiesengrund begegnete. Esther: Das Produkt ebenso grausiger wie unap‐
petitlicher Umstände. Ich schweife schon wieder ab. An der Fassade des KaDeWe hingen riesige Uni‐
on Jacks, britische Flaggen. „Harrod’s British Weeks“ war das Verkaufsmotto. Aha, Harrod’s in London und das KaDeWe arbeiteten jetzt zusam‐
men, dachte ich. Oder hatte Harrod’s Chef und Papa des Ex von Lady Diana selig jetzt auch das KaDeWe gekauft? Feierte man den 81. Geburtstag 75
Ihrer Majestät? Gleich am Eingang stand völlig regungslos ein Wachsoldat vom Buckingham Palace stramm. Mit Rotrock, weißem Koppel und Bärenfellmütze. Und Trommel. Ich dachte, es handele sich um eine kos‐
tümierte Schaufensterfigur. In der Halle war der weiße Mercedes Pullmann der Beatles geparkt. Er war noch länger, als ich ge‐
dacht hatte. Darin konnte die ganze Band samt Groupies eine Orgie feiern. Offensichtlich das Ori‐
ginal. Wow, dachte ich, die scheuen mal wieder keine Kosten. Und Leihgaben von Madame Tus‐
saud’s waren auch zugegen. Ihre Majestät im rosa Kostüm mit Hut und Handtasche hob die weiß behandschuhte Rechte huldvoll lächelnd zum Gruß, während Sir Paul Mc Cartney ihr die Tür zum Wagenfond öffnete. Offensichtlich war er ge‐
rade eben geadelt worden. Am Steuer saß John Lennon und neben ihm Yo‐
ko Ono. Im Fond knutschten die anderen Beatles mit irgendwelchen Mädchen. Das Personal lief im Butler‐Frack herum, die weiblichen Angestellten mit weißen Spitzenschür‐
zen und weißen Häubchen. Plötzlich neben mir ein Trommelwirbel. Der Wachsoldat am Eingang war keine Puppe. Eine 76 Gruppe junger Mädchen stand kichernd vor ihm. Sie stießen sich einander an und flüsterten einan‐
der ins Ohr. Dann stand er wieder stramm. Eine lebende Sta‐
tue, irgendwie unwirklich perfekt. Völlig makellos, wie aus dem Katalog. Ist ja irgendwie in Mode, das mit den lebenden Statuen, meist mit golden glän‐
zenden Gewändern und golden geschminkten Ge‐
sichtern und Händen. Menschliche Skulpturen, die regungslos in der Fußgängerzone stehen und die Leute erschrecken, wenn sie unvermittelt die Posi‐
tion wechseln. Diese hier bewachte den Eingang zur „Harrod’s British Week“. Der Wachwechsel am Buckingham Palace mit den schwarz‐weiß‐rot uniformierten Soldaten ist ja auch so ein britisches Klischee und ein Touristenspektakel. Ich hatte das einmal live miterlebt und war schauderhaft fasziniert von der Gleichförmigkeit und strengen Dressur dieser jun‐
gen Männer. Es war Sommer und sehr heiß. Die Armen mussten in ihren engen, hoch geschlosse‐
nen Monturen und Bärenfellmützen in der prallen Sonne stundenlang strammstehen und exerzieren. Einer von ihnen fiel aus der Reihe einfach um. Hitzschlag. Das Protokoll verlangte, ihn liegen zu lassen, bis das Spektakel vorüber war. 77
Jetzt sah ich so einen mal aus der Nähe. Er war sehr jung. Wahrscheinlich noch nicht einmal voll‐
jährig. Seine glatten Wangen mit silbrigem Flaum darauf glühten. Zwischen den Fransen der Mütze und der dicken goldenen Kette an seinem Kinn sah man seinen rosigen Mund. Und man sah es an seiner Statur. Die Uniform war um seinen langen, schmalen Oberkörper her‐
um faltenlos stramm zugeknöpft. In seiner zierli‐
chen Taille leuchtete ein schneeweißes Koppel. Die Jacke reichte wie ein Röckchen lang und etwas ab‐
stehend über seine Hüften. Und dann diese beiden Knopfreihen auf dem Hintern. Was sollte das sein? Eine schwule Einladung? Irgendwie feminin, das ganze, ein Spiel mit den Attributen. Überhaupt schien mir militärisches Spektakel immer eine ziemlich schwule Inszenierung zu sein. Männer als Objekte, eindeutig feminisiert. Warum tat er das? Ob man ihn gut bezahlte? Wie fühlte er sich wohl? Die ganze Zeit strammstehen und sich begaffen lassen, zu allem Überfluss auch noch von Gruppen albern kichernder Backfische? Schämte er sich gar nicht, in diesem Aufzug, so völlig unzeitgemäß? Warum begaffte auch ich ihn? Er weckte starke Assoziationen in mir, und ich ü‐
berlegte, woran er mich erinnerte. Er wirkte so dis‐
78 zipliniert und edel und hob sich von den Men‐
schen darum herum so krass ab... Es machte klick. Natürlich, neulich auf der Ora‐
nienburger. Die Schöne im Korsett. Auch sie stand gleichsam stramm. Beide reizten durch das Spiel mit den Gegensätzen zwischen Mann und Frau, Stärke und Verletzlichkeit, Keuschheit und Lüs‐
ternheit, Antiquiertheit und Jugendlichkeit. Sie verkörperten das Sich‐Fügen in eine selbst gewähl‐
te Form als höchste Form der Individualität. Raffi‐
niert und sexy finde ich das. Und subversiv, weil figurbetonte Verhüllung gegen penetrante Entblö‐
ßung stand, straffe Disziplin gegen den Zwang zur Lockerheit, definierte Form gegen sich ausbreiten‐
de teigige Körpermasse, Adrettheit gegen als Läs‐
sigkeit getarnte Vernachlässigung. Kurz: Phallische Oxymorone auf zwei Beinen. Ich oute mich hiermit: Ich bin retrosexuell. Ein titanisches Poltern rollte heran, dann echote ein scharfer Knall über den Platz. Ich fuhr zusam‐
men und es blieb ein Moment Taubheit. Wind brauste auf; Papier und Laub wirbelte durch die Luft. Jemand knipste das Licht aus. Binnen Augenbli‐
cken hatte sich die Wolkenwand vor die Sonne ge‐
schoben und verdunkelte den Himmel wie ein 79
Vorhang. Regentropfen zerplatzten auf dem Pflas‐
ter. Die Menschen kamen herbeigesprintet und suchten im Eingangsbereich des KaDeWe Schutz vor der Sturzflut, die gen Erde unterwegs war. Binnen Sekunden hatten sich die Gehwege ge‐
leert. Druckwellen von Wind rissen an den Flag‐
gen an der Fassade, eine löste sich ganz aus der Verankerung und entschwebte. Der Union Jack schlängelte wie ein chinesischer Drachen durch die Luft. Wir standen mitten im Gedränge Bauch an Rücken, Arm an Arm. Der Soldat hatte seine Trommel abgeschnallt und unter den Arm ge‐
klemmt. Ich schmiegte mich mit dem Rücken voll‐
flächig an ihn. Ich konnte ja nicht anders. Drei, zwo, eins. Petrus öffnete die Schleusen. Die Temperatur stürzte, Blitze flammten zeitgleich mit scharfen Donnerschlägen vor der Schwärze des Himmels auf und feine Gischt wurde bis ins Ge‐
bäude geblasen. Der Union Jack ging wie ein Putz‐
lappen zu Boden. Die Gullys versagten, Autos schoben Flutwellen auf die Gehwege und der Bus, der vorbeifuhr, gab eine Seitenfontäne von sich. Die Herde drängte sich noch fester zusammen, bis mir die Luft wegblieb. Ich rieb meine Pobacken am Schoß der Erschei‐
nung hinter mir. Indem ich auf die Zehenspitzen 80 stieg, passte da etwas ganz wunderbar. Ich besann mich auf die dicke Möhre, die ich eigentlich für den Weg eingeplant hatte. Ich zog sie aus der Ta‐
sche und begann, sie mit lautem Knacken zu ver‐
speisen. Ich war ein bisschen enttäuscht, als das Wasser genauso schnell wieder abgedreht wurde, wie die Schleusen sich geöffnet hatten. In den Vorhang am Himmel riss ein Loch und die blitzblank gewa‐
schene Stadt erstrahlte in einem brillanten Spot‐
light. Ein paar Blocks weiter schüttete es noch, man sah, wie die Regenwand sich in Wellen auf die Erde ergoss. Ein kitschig bunter Regenbogen erstrahlte vor der immer noch schwarzen Hälfte des Himmels. Bildete ich mir das ein oder zuckte da etwas hin‐
ter mir? Ganz vorsichtig hatte er seine warme Hand zwischen meinen Ellenbogen und meine Taille geschoben. Ich drückte sie zart an mich. Es ging also auch ohne Worte. Ich saß im Kino. So kam es mir vor. Nur dass ich es im Kino kitschig gefunden und es dem Regis‐
seur schlicht nicht abgekauft hätte. Tolle Trick‐
technik, aber leider zu dick aufgetragen. Die Herde zerstreute sich. Ich hatte jetzt keinen Vorwand mehr, mich an meinen strammen Zinn‐
81
soldaten zu kuscheln. Ich rückte von ihm ab und konnte ihn dafür wieder betrachten. Ich bekenne hiermit: Ich fand ihn schön. Er war so jung und süß. Ich stellte fest: Ich stehe auf noch mehr unzeitgemäßes Zeug aus der Mottenkiste: Nicht nur auf Korsetts und Wespentaillen, sondern auch noch auf antiquierte Uniformen. Außerhalb des militärischen Kontextes gefiel mir das, diese starken optischen Kontraste und diese adrette Perfektion. Die oben benannten Wider‐
sprüche. Dieser jugendlich straffe Unisex hätte auch an einem Mädchen reizend ausgesehen. Mich bannte diese völlige Hingabe an das Ob‐
jektsein. Und die Ausübung von Macht dadurch, die Macht, Blicke auf sich zu ziehen, zu provozie‐
ren, Begehren zu wecken. Zumindest bei mir funk‐
tionierte das. Und offenbar nicht nur bei mir. Jun‐
ge Mädchen schienen stark darauf zu reagieren. Albernes Kichern kann man als verlegene Ersatz‐
handlung für das Eigentliche deuten. Und es funk‐
tionierte schon seit Jahrhunderten. Ich griff nach meiner Brieftasche. Ja, ich hatte noch ein paar Visitenkarten. Ich kritzelte meine private Handynummer auf die Rückseite der obersten und trat an ihn heran. Er strahlte eine er‐
staunliche Wärme ab. Unter dem dicken Wolltuch 82 musste tropisches Klima herrschen. Der Geruch nach Mottenkugeln stieg mir in die Nase. Ich nahm die erste Karte und schob sie zwischen den ersten und zweiten Knopf der sich auf seiner Brust wölbenden Reihe. Dann noch eine zwischen den zweiten und dritten Knopf und so weiter bis hinunter zu seinem weißen Koppel und dann noch eine links und eine rechts von der Schließe. Er musste lachen. Ich stieg auf die Zehenspitzen, klappte die dicke Kette an seiner Mütze hoch, hauchte einen Kuss auf seinen Mundwinkel und ging shoppen. Natürlich gab es auch im KaDeWe Korsetts. Von Axford’s und von Vollers, made in The United Kingdom. Industrieware und deutlich preiswerter als die vom Atelier Silhouette. Aber die waren Handarbeit und mir gefiel die Vorstellung, dass Jana gerade an meinem nähte und ein bisschen mehr Platz für mein Becken einbaute. Eine gewisse Kundenbindung war ja schon eingetreten. Ich kaufte mir einen schwarz‐weiß‐rot karierten Mini‐Faltenrock und einen in unschuldigem Weiß. Dazu ein paar hohe schwarze Doc Martens und passende Strümpfe in rot, weiß und schwarz mit Spitzenabschluss. Strapse waren mir doch zu fragwürdig. Tragen junge Mädchen Strapse? 83
Dazu gönnte ich mir einen weißen, einen roten und einen schwarzen Kaschmirrolli, hauteng. Und Seidentücher: in rot mit weißen Punkten, in weiß mit schwarzen und in schwarz mit weißen Punk‐
ten. Die eignen sich als Kopftuch, als Halstüchlein oder zum Einflechten und Verknoten im Zopf. Für die Hüften kaufte ich mir einen sehr breiten wei‐
ßen Nietengürtel. Nach dem Bezahlen ging ich noch einmal in die Kabine. Ich stieg in das Schottenröckchen, schlüpf‐
te in den flauschigen schwarzen Rolli und zog ihn über die Hüften. Ich streifte die weißen Strümpfe über. Ich überlegte kurz und dann zog ich mein Höschen aus. Der Rock streichelte meinen Po, und ich wollte meiner Lustzentrale ein bisschen Früh‐
lingsluft gönnen. Dann schnallte ich mir den Hin‐
gucker auf den Fruchbarkeitsindex und schnürte mir die Stiefel. Das rote Seidentüchlein mit weißen Punkten faltete ich zum Dreieck und verknotete es im Nacken. Ein paar Strähnchen ließ ich an der Stirn und an den Ohren hervorschauen. Mrs. Robinson als Schulmädchen. Als ich das KaDeWe mit der Einkaufstüte un‐
term Arm verließ, stand er immer noch da. Ker‐
zengerade und regungslos. Die Karten hatte er eingesteckt. 84 Gut. Tschüss, mein kleiner Zinnsoldat und ruf mich an, dachte ich. Ich winkte ihm zu und er ver‐
abschiedete mich mit einem Trommelwirbel. Ich berührte den Boden nur ganz selten. Und wer nach mir schaute, wurde angestrahlt. Danke Herr Regisseur. Das weitere Drehbuch kannte ich ja noch nicht. 85
Friedrich Ich saß im Büro und kämpfte mich durch die Do‐
kumentation für den Zahnersatz, mit der Striezel mich quälte. Es blieben noch genau sechs Ar‐
beitstage bis zum Redaktionsschluss. Da zwitscherte mein Handy. „Hallo?“ „Hallo, ich bin’s, Friedrich. Wir haben uns neu‐
lich am KaDeWe getroffen.“ Ich wollte japsen, aber ich beherrschte mich. „Schön, dass du anrufst.“ Meine Stimme bebte, so sehr ich mich auch mühte. Ich hatte das dringende Gefühl, dass das drüben glasklar angekommen war. „Machst du das öfters? Ich meine, als Job oder so?“, fragte ich. „Ja, ich gehe noch zur Schule. Bringt ein bisschen Geld.“ „Wie alt bist du denn?“ „Siebzehn.“ Oh mein Gott, dachte ich. Siebzehn. Er könnte glatt mein Sohn sein. Zum Glück fragte er nicht nach meinem Alter. „Ist das nicht anstrengend, die ganze Zeit in die‐
ser Montur dazustehen?“, fragte ich. „Ja, schon. Aber auch irgendwie...“ 86 „Aufregend?“, fragte ich. Er schwieg. „Was hältst du davon, wenn wir uns mal live unterhalten? Es wird sonst ein bisschen teuer für dich, mich auf dem Handy anzurufen.“ Er schwieg immer noch. Ich wollte den Notausgang nehmen. „Was machst du so, wenn du nicht zur Schule gehst?“ „Ich bin Trommler in der Kadettengarde.“ Aha, daher also. Wie süß, dachte ich. Ein kleiner Trommler. „Kann ich dich mal anrufen?“, fragte ich. „Lieber nicht. Meine Eltern sind sehr streng.“ Friedrich. Welch ein altertümlicher Name. Aber in den letzten Jahren werden wieder mehr Söhne so getauft. Auch Namen wie Gustav, Karl und Ri‐
chard sind wieder beliebt. Die Retrowelle rollt. „Wo übt ihr denn mit deinem Spielmannszug?“ „Der Verein ist in Rudow.“ Ganz schön weit draußen. Wozu die Umwege, dachte ich. „Das ist eine schicke Uniform, die du da anhat‐
test.“ Ich sah durchs Telefon, wie er rot wurde. „Als Sie da so vor mir standen... Warum haben Sie, ich meine...”, stammelte er. 87
Wie niedlich, er siezte mich. „Ich glaube, du bist sehr nett. Ich würde dich gern einmal wiedertreffen“, sagte ich. Siebzehn. Vielleicht hatte er noch nie... Ich flat‐
terte. „Ist dir so was schon einmal passiert?“, fragte ich. „Nein.“ Er suchte nach Worten. Dann sagte er sehr leise: „Das war schön.“ „Komm mich doch mal besuchen. Ich möchte gern einmal mit dir...“ Ich zögerte. „...zu Abend essen. Ich koche uns was. Was hältst du davon?“ Ich dachte einmal mehr an „Die Reifeprüfung“. Nur eine passende Tochter hatte Mrs. Esther Ro‐
binson nicht. „Ich muss aber spätestens um acht wieder zu Hause sein“, sagte er. „Und mir was einfallen las‐
sen, wo ich gewesen bin.“ Manchmal hatten wir Praktikanten in der Redak‐
tion. Die waren alle in seinem Alter. Damals hatten wir gerade keinen. Ich wollte ihn nicht nur einmal sehen und ich glaubte, einen schlauen Einfall zu haben. „Sag mal, musst du von der Schule aus ein Prak‐
tikum machen?“, fragte ich. 88 „Ja. Ab nächster Woche.“ „Hast du schon einen Platz?“ „Ja. In einer Buchhandlung.“ „Wir suchen noch einen Praktikanten. Ich bin Redakteurin bei ‚Geld+Finanz’. Schreibst du gerne, ich meine, bist du gut in Deutsch?“ „Ich denke schon. Ich habe eigentlich überall ziemlich gute Noten.“ Er war überhaupt nicht normal für sein Alter. Er sprach leise und gut artikuliert. „Lass uns doch mal darüber sprechen. Sag dei‐
nen Eltern, dass du ein Vorstellungsgespräch für ein Praktikum hier in der Redaktion hast. Aber wir müssen uns gleich nach der Arbeit bei mir treffen, ich habe sonst keine Zeit.“ Das war nur zum Teil gelogen. Ich war ungeduldig. „Morgen um halb fünf? Geht das bei dir?“ „Wo wohnen Sie denn?“, fragte er. Ich gab ihm meine Adresse. Ich bin verrückt, ich suche einen Partner und kein Spielzeug, dachte ich. Er schlug Saiten in mir an, die ich bisher noch nicht kannte. Er könnte glatt mein Sohn sein – wenn ich mit zweiund‐
zwanzig Mutter geworden wäre. Damals war ich gerade nach Deutschland gekommen, 1990, im 89
Jahr der Wiedervereinigung. Ich hatte in Israel den Militärdienst hinter mich gebracht. Wenn es Sie in‐
teressiert, wie es in der dortigen Armee zugeht, dann sollten Sie „Das Mädchenschiff“ von Mihal Zamir lesen. Es gibt Dinge, an die ich nicht erin‐
nert werden möchte und die ich Ihnen hier besser nicht erzähle. Eines habe ich dort immerhin ge‐
lernt: Es gibt viel Schlimmeres, als einen schnellen Tod. Ich provoziere gerne und so ging ich nach Deutschland, das Wiedervereinigte. Allein. Ich hat‐
te mich gegen meine Eltern durchgesetzt. Deutsch‐
land einig Vaterland, welch ein Alptraum für viele Juden. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Deutschland. Ziemlich verrückt für eine Jüdin. Aber ich fand immer, dass Deutsche und Juden ziemlich gut zusammenpassen oder vielmehr: Ziemlich viel gemeinsam haben. Den Erwählt‐
heitsanspruch zum Beispiel. Den Drang, möglichst unter sich zu bleiben (was den Deutschen mit aller Härte ausgetrieben worden war. Aber das ist eine Anlage, die nur verschüttet ist, da bin ich sicher). Die tief sitzende Überzeugung, dass die Welt eine Bessere wäre, wenn alle so wären wie das eigene Volk und dass es da leider immer auch die „Ande‐
ren“ gibt, Menschen von völlig anderer Beschaf‐
90 fenheit, Gojim bzw. Undeutsche. Dass man ein „richtiger“ Deutscher oder Jude eigentlich nur qua Geburt sein kann. Überhaupt so ein „völkisches“ Bewusstsein. Welch ein böses Wort. Und nicht zu‐
letzt die Kunst des Mauerbaus. Wobei die in Paläs‐
tina die „Anderen“ aussperrt, während die DDR‐
Mauer die eigenen Leute einsperrte. Bei Deutschen wie Juden findet sich oft so ein nicht ganz unverdienter Hochmut im Bewusstsein bemerkenswerter Genialität, die in besonderer Häufung bei Menschen zu finden ist, die beides sind oder waren: deutschsprachig und Juden. Heinrich Heine, Felix Mendelssohn‐Bartholdy und Karl Marx zum Beispiel. Oder Sigmund Freud, Walter Benjamin, Albert Einstein, Arthur Koestler, Theodor Adorno, Hannah Arendt, Esther Vilar. Auch deshalb nenne ich mich nach meiner Mutter, nämlich Wiesengrund. Jude ist, dessen Mutter Jü‐
din ist, und darauf bin ich schon ein wenig stolz. Das Verbotene, Verfemte, Verdrängte hat mich schon immer magisch angezogen. Ich war immer das schwarze Schaf meiner Familie. Als Kind büxte ich in die Favelas aus und trieb mich mit Straßen‐
jungs herum, stand ab der Pubertät unter dem Ter‐
rorismusverdacht meiner Mutter, fraternisierte mit Palästinensern und wurde unehrenhaft aus der 91
Armee entlassen, ging allein nach Deutschland und studierte in Frankfurt Geschichte und Sozio‐
logie (die Kritische Theorie und die Frankfurter Schule hatten es mir angetan). Im metrosexuellen Berlin ist heterosexuelle, kleinfamiliäre Monogamie das Verfemte. Schon al‐
leine deshalb finde ich es interessant, so ganz Weibchen zu sein, und das ist sozusagen ein geis‐
tig‐sexuelles Verbrechen im orwellschen Sinn. Die Religiösen, sexuell Skrupulösen vermehren sich und vögeln auch mehr als die sexuell Befreiten – zumindest wenn man die Standardnummern zählt. Man schaue zum Beispiel nach Israel. Die keusche Triebhaftigkeit und reizende Verpa‐
ckungskunst eines Friedrich war dementsprechend ein erotischer Lichtblick für mich. Ich musste Regine, meiner Therapeutin, von meinen politisch unkorrekten Verirrungen erzäh‐
len. Sie ist in meinem Alter und eine verheiratete Mutter. „Mir sind merkwürdige Dinge passiert“, sagte ich zu ihr. Sie schwieg. „Ich führe eine heimliche Beziehung mit einem verheirateten Mann. Er und seine Frau sind meine Chefs. Ich hatte bei einer Anprobe Sex mit einer 92 Verkäuferin. Und ich habe auf offener Straße einen Minderjährigen verführt. Ich will das doch gar nicht. Es passiert einfach. Ich will eigentlich einen richtigen Mann und ganz normalen Sex und Kin‐
der.“ „Interessant. Über das Letzte haben wir ja bereits gesprochen”, sagte sie. „Und ich habe andere merkwürdige Vorlieben”, legte ich nach. „Möchten Sie mir davon erzählen?“, fragte sie. „Ich glaube, ich bin eine Fetischistin oder so was Ähnliches. Ich stehe auf Korsetts und Wespentail‐
len und antiquierte Uniformen.“ „Ein Fetisch ist etwas, ohne das man nicht zum Höhepunkt kommen kann“, erklärte sie. „Nein, so ist es nicht“, sagte ich hastig. Ich war erleichtert. „Aber diese Sachen erregen mich, ich finde das sehr erotisch.“ „Das sind Vorlieben“, sagte sie. „Aber das ist total reaktionär und out und muse‐
al.“ „Alle Moden wiederholen sich irgendwann wie ein Echo oder ein Zyklus. Sie liegen ganz gut im Trend, glaube ich.“ Sie lachte. „Was empfinden Sie, wenn Sie ein Korsett tragen?“, fragte sie. „Spannung. Ich fühle mich gehalten, ich genieße, 93
mich in diese Form zu ergeben. Nicht mehr stark sein zu müssen. Den Pulsschlag in meiner Mitte zu spüren. Den Anblick schwellender Hüften, die sich wölbende Brust, das Gefühl von Zerbrechlichkeit. Den Druck in meinem Becken. Das hat alles ir‐
gendwie etwas Phallisches, falls Sie wissen, was ich meine.“ Oh Gott, wie ist das peinlich, dache ich. Ich zögerte. „Was ich da neulich erlebt habe, mit der Verkäu‐
ferin und dem Jungen, das hat sich aus der Situati‐
on heraus ergeben. Und es war schön. Ich fühle mich schuldig, aber auch sehr lebendig”, legte ich nach. „Wenn Sie mögen, können wir uns anschauen, was es bedeutet”, sagte Regine. „Was es bedeutet? Und dann, wenn wir es wis‐
sen, was ist dann?“, fragte ich. „Dann können Sie bewusster damit umgehen. Dann passieren die Dinge vielleicht nicht mehr, sondern Sie wissen, was Sie tun und Sie können sich entscheiden und es steuern.“ „Aber das war doch gerade das Schöne daran, dass es einfach passiert ist. Ich habe mich der Situ‐
ation hingegeben, habe sie eben nicht kontrolliert.“ „Man sollte sich seinen Leidenschaften nicht zu 94 sehr ausliefern. Sie bringen sich und Andere in Ge‐
fahr, wenn Sie die Kontrolle aufgeben.“ „Das ist es doch gerade, was es so aufregend macht. Nicht zu wissen, wohin es führt. Unver‐
nünftig sein. Experimentieren, mit dem Risiko spielen.“ Oh Regine. Das wirst du wohl nie verste‐
hen, dachte ich. Verheiratete Mutter. Gewissenhaf‐
te Therapeutin. „Wie alt sind Sie?“, fragte sie mich. Ein Stich ins Herz. Sie wusste das natürlich. Neununddreißig. Genau wie sie. „Ich vermute, dass Sie einen entscheidenden Le‐
bensabschnitt erleben. Neulich sprachen wir über Ihren Kinderwunsch.“ „Ich will Kinder. Und ich will mich lebendig füh‐
len. Guten Sex. Eine gute Arbeit. Einen attraktiven Partner.“ „Das wollen wir alle. Aber wer bekommt das schon alles gleichzeitig und für immer? Wollen Sie Ihr Glück davon abhängig machen?“ „Was bitte soll denn sonst Glück sein, wenn nicht, eben nicht verzichten zu müssen?“ „Wir zahlen alle irgendeinen Preis. Meist muss man auf irgendetwas verzichten, um etwas ande‐
res zu bekommen.“ „Sind Sie schon mal von einer Frau verführt 95
worden? Haben Sie schon einmal einen ganz jun‐
gen Mann entjungfert?“, fragte ich sie. Sie schlang die Beine ineinander. „Nein, das ha‐
be ich nicht. Aber ich bin zufrieden.“ „Ich fühle mich gerade viel jünger, als ich bin. Und ich genieße das wahnsinnig“, sagte ich trot‐
zig. „Das ist sicher sehr aufregend. Aber ich fürchte, es wird Ihnen langfristig wenig bringen“, sagte sie. Ich würgte an einem dicken Brocken und ver‐
kniff mir die Tränen. Verflucht noch mal, warum macht es keinen Spaß, vernünftig zu sein?, fragte ich mich. Kaum hatte ich die Sitzung verlassen, stellte ich mein Handy an. Ich sah, dass Friedrich versucht hatte, mich anzurufen, und wählte seine Nummer. Zum Glück ging er ans Telefon und nicht seine Mutter. „Ich würde gern zu unserem Treffen etwas mit‐
bringen”, sagte er. „Wenn du mir eine Freude machen willst, dann...“ Ich zögerte. „Ich meine, ich würde mich freuen, wenn du...“ Ich wich aus. „Ich hatte mir im KaDeWe neue Sa‐
chen gekauft...“ 96 „Ja, in rot und weiß und schwarz. Steht ihnen gut.“ „Rot und weiß und schwarz. Schöne Farben sind das, finde ich. Auch du siehst darin sehr hübsch aus.“ Da kam mir das Hohelied Salomos in den Sinn: „Mein Geliebter ist weiß und rot, ist ausgezeichnet vor Tausenden.“ „Die vom KaDeWe kann ich nicht mitbringen. Aber die vom Spielmannszug. Die ist in blau und weiß“, sagte er. „Prima. Wir verkleiden uns ein bisschen, wenn du magst”, schlug ich vor. Ich wurde ganz weich. Regine, du weißt nicht, was dir entgeht, dachte ich. Die Nacht darauf tat ich kein Auge zu. Eine ver‐
rückte Sehnsucht nach einer anderen Zeit, einer anderen Welt zerriss mich. Warum bin ich so son‐
derbar? Tags darauf quälte ich mich wieder mit dieser verfluchten Dokumentation; der Zahnersatz ver‐
folgte mich. Es blieben noch fünf Tage. Ich fühlte mich wie ein Fressen, auf das Striezel sich schon freute. Ich brütete über den Tabellen, den Zahlen‐
reihen und dem Vergleichsmodell. All diese Pa‐
pierstapel musste ich nochmals sichten und hun‐
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derte von Daten korrekt eingeben, einen vollstän‐
digen Quellenindex erstellen. Ich schaute immer wieder auf die Uhr. Noch drei Stunden. Zwei. Eine. Ich gab in Google „Kadetten‐
garde Rudow“ ein und tatsächlich: die gab es. Ich sah Jungen und Mädchen in nachtblauen Unifor‐
men mit weißen Koppeln und Tschakos, in Reih und Glied mit Trommeln und Instrumenten. Die Mädchen trugen weiße Faltenröcke und weiße Schnürstiefel, die Jungs weiße Hosen und schwar‐
ze Schuhe. Wie antiquiert, wie spießig. Und wie hübsch, dachte ich. Dass es so etwas noch gab... Ich eilte nach Hause. Auf dem Weg kaufte ich auf dem Markt am Maybachufer gegenüber mei‐
ner Wohnung ein bisschen Gemüse zum Kochen. Ich ertappte mich dabei, wie ich versonnen gut gewachsene Gurken, Karotten und Zucchini be‐
trachtete. Dann stand ich vor dem Kleiderschrank: Weiß und Rot und Schwarz. Nur: In welcher Kombinati‐
on? Ich entschied mich für rote Strümpfe, das weiße Röckchen und den schwarzen Pulli. Dazu den weißen Nietengürtel und ein rotes Kopftuch mit weißen Punkten, im Nacken verknotet. Und mein Korsett wartete auf seine Einweihung. Ich schnürte 98 es etwas unbeholfen und nicht zu eng. Es ging also auch alleine. Es zeichnete sich deutlich unter dem Pullover ab, der in der Mitte Falten warf. Ich schnallte den Gürtel um die Taille, doch das lose Ende reichte glatt ein zweites Mal um mich herum. Also doch auf die Hüften. Das Höschen ließ ich weg. Verrückt, dieser Mummenschanz. Aber ich fand es aufregend, dieses Spiel mit der Verpackung, diese züchtige Lüsternheit. Fast hätte ich meine Stofftiere vergessen. Sie la‐
gen immer noch auf meinem Bett herum. Ich raffte meinen kindischen Zoo zusammen und stopfte ihn in den Kleiderschrank. Um Punkt halb fünf klingelte es. Ich öffnete die Tür und dann kam er die Treppe hoch. Er trug ei‐
nen nachtblauen hautengen Rippenrolli, eine wei‐
ße Hose und eine große Umhängetasche aus bei‐
gem Leinen. Der Taschengurt spannte sich schräg über seine Brust. Sein blondes Haar war kurz ge‐
schnitten und sauber gescheitelt. Ich zitterte inner‐
lich. Er war so groß und so schön schlank. Sein Blick saugte sich an meiner Mitte fest. Aha, dachte ich. Ich betrachtete sein Gesicht. Er erinnerte mich an so ein Riefenstahlsches Ideal, an diese blonden Ar‐
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beitsmänner aus den Nazi‐Propagan‐dafilmen, die wenig später millionenfach in russischer Erde vermoderten. Als Siebzehnjährige war ich auf Kreta einmal auf dem Soldatenfriedhof von Maleme gewesen. Ich bekam einen Weinkrampf, als ich die bis zum Ho‐
rizont gereihten Grabsteine sah. Und die Daten: Richard Wilke, 18 Jahre. Winfried Huber, 19 Jahre. Gerhard Otto, 18 Jahre und tausendfach so weiter. Alle umgekommen am 20. und 21. Mai 1941. Und dann hunderte von Steinen ohne Daten: Unbe‐
kannter deutscher Soldat. unbekannter deutscher Soldat, unbekannter... Viel konnte von denen nicht übrig geblieben sein. Ob sie wussten, was sie ta‐
ten? Was ihnen bevorstand? Hatten sie sich ge‐
fürchtet? Ob jene, die hier lagen, ihrerseits getötet hatten? Ob sie in ihrem kurzen Leben schon ein‐
mal ein Mädchen geliebt hatten? Wie stirbt es sich als Achtzehnjähriger? Mit einer Kugel im Bauch? Mit abgerissenen Beinen? Hatten sie eine Wahl? Wer weinte um sie? Warum ließen ihre Mütter, Bräute, Schwestern sie ziehen? Das periodische Abschlachten junger Männer und deren millionen‐
faches Fehlen scheint kein nennenswertes Problem zu sein. Nach jedem Gemetzel folgte ein Baby‐
boom. Frauen waren nicht nur Kriegsbeute, son‐
100 dern auch die Produzentinnen von Kanonenfutter für die nächste Runde und warfen sich den Siegern an den Hals. Alles Vergangenheit? Immerhin trifft die moder‐
ne Kriegführung inzwischen Frauen genauso wie Männer. Vielleicht hatte es auch deshalb so lange keinen großen Krieg mehr gegeben. Hübsch war er, dieser Friedrich; ein bisschen Akne blühte auf seinem Kinn. Er hatte wohl noch nicht allzu viel Übung im Rasieren und lächelte scheu. „Hallo”, sagte ich leise. Ich bedeutete ihm, hereinzukommen und er trat die Füße ab. „Schön wohnen Sie hier“, sagte er. „Möchtest du was trinken? Kaffee, Wasser, Saft...?“ „Ein Wasser bitte.“ „Da geht’s zum Balkon. Ich bringe dir ein Glas Wasser. Lass deine Tasche doch einfach hier...“ Ich eilte in die Küche, dann mit zwei Gläsern zum Balkon. Im Flur konnte ich es nicht vermei‐
den, heimlich einen Blick in seine Tasche zu wer‐
fen. Aha. Er hatte wirklich seine Uniform mitge‐
bracht. Er hatte sich an die Balustrade gelehnt und 101
schaute immer wieder auf meinen Gürtel. „Das steht Ihnen gut“, sagte er. „Die Mädchen bei uns tragen auch weiße Röckchen.“ „Danke. Ich habe mich mal ein bisschen verklei‐
det.“ „Ich habe auch was mitgebracht. Wenn Sie wol‐
len, kann auch ich...“ „Da bin ich aber gespannt.“ Er verschwand im Bad und ich wartete auf dem Sofa auf ihn. Dann kam er herein und stellte sich in die Mitte des Zimmers. Ich stand auf, stolzierte um ihn her‐
um und musterte ihn von allen Seiten. Welch eine Figur, dachte ich. Ich blieb vor ihm stehen und legte meine Hand in seine Taille. Ich konnte nicht anders, als über die Wölbung seiner Brust zu streichen. Wenn er ein‐
atmete, kam sie mir ein bisschen entgegen, soweit es die Enge seiner Montur zuließ. Der Stoff war sehr dick und spannte sich faltenlos. Das Blau war fast ein Schwarz, darauf leuchtete eine Reihe matt‐
silberner Knöpfe. Er schloss die Augen. Ich nahm seine rechte Hand, legte sie auf meine Brust und führte seine linke in meine Mitte. Er betastete vor‐
sichtig mein Korsett. Meine Knie wurden weich. Dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und 102 kraulte seinen Haaransatz. Ich drückte mich an ihn und spürte ganz deutlich, wie da unten etwas strammstand. Dann küsste ich ihn zart auf die Lippen. Er war irritiert und unbeholfen. „Niemand wird es erfahren“, flüsterte ich. Ich umschlang seinen Oberkörper und drückte ihn. Er stöhnte leise und sein Becken zuckte. Oha, dachte ich. Ich ließ ihn los. „Ich glaube, wir sollten uns vielleicht etwas zu essen machen, was meinst du?“ „Nein danke, ich habe keinen Hunger“, sagte er. Er stand einfach nur da und schaute mich an. Sein Blick saugte sich wieder an meiner Taille fest. „Sie sind da sehr...“ „Gefällt dir das?“ Er nickte. „Was wollen wir also tun?“, fragte ich ihn. Er schwieg. Ich stellte die Musik an: Orquestra Color Tango. „Weißt du, was das ist?“, fragte ich. „Tango Argentino”, sagte er. Ich war begeistert. „Kannst du tanzen? Warst du in der Tanzschu‐
le?“ „Ja, aber da lernt man keinen Tango Argentino. 103
Aber ich habe das schon mal im Film gesehen. Sehr erotisch und elegant.“ Welch ein Horizont für einen Siebzehnjährigen, dachte ich. Ich nahm ihn in die Tanzhaltung, griff seine lin‐
ke Hand und ließ meinen Unterarm zart wie ein Flügelchen auf seine Schultern sinken. Er um‐
schlang meinen Rücken und seine Hand fasste beinahe einmal komplett um mich herum. Ich schmiegte meine Schläfe an seine Wange. So standen wir da und ich begann, mit ihm im Takt zu wiegen und dann zu laufen. Ich schob ihn im Karree und im Zickzack durch den Raum. Mein Korsett knarzte. Dann sagte ich: „Und jetzt führ mich.“ Ich spürte, wie er zitterte, und auch ich bebte. Ich griff seine Hand und ging mit ihm auf den Balkon. Wir stellten uns an die Balustrade und ich schlang meinen Arm um seine Mitte. „Hast du schon mal.....?“, fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf. Ich drehte ihn zu mir und umschlang ihn von vorne. Er stand stramm und meine Hände glitten hinab zu seinem Herzpopo. „Du wärst kein schlechtes Mädchen geworden“, sagte ich. 104 Er atmete schwer und schloss die Augen. Meine Finger wanderten zwischen seine Pobacken. Er war dafür sehr empfänglich. „Hat dich schon mal...“ Ich zögerte. „...ein Mann?“ Er schwieg und zuckte heftiger. Ich führte ihn zum Bett. Er war willenlos. Ich setzte ihn hin und öffnete seinen Koppel und die Knöpfe auf seiner Brust. Feuchte Hitze kam mir entgegen. Er war darunter nackt. Du Schlawiner, dachte ich. So unschuldig wie mein weißes Röck‐
chen mit nichts darunter. „Lass mich einfach machen”, sagte ich. Höchste Eisenbahn. Ich zog ihm die Hose herunter und di‐
rigierte ihn die Waagerechte. Rosig und glänzend bog sich der kleine Friedrich. Ich räkelte meinen Bürzel. Seine Hände wanderten zwischen meine Beine und erkundeten den Bereich, wo die Sonne niemals hinkommt. Ich floss über, aber ich kam zu spät. Heiß pulste es in meine Hand und verströmte diesen pilzig‐schwülen Duft nach Fruchtbarkeit. Wieder dachte ich ans Hohelied: „Mein Geliebter streckte die Hand durch die Luke. Da bebte ihm mein Herz entgegen. Ich stand auf, dem Geliebten zu öffnen. Da tropften meine Hände von Myrrhe.“ Ich griff nach einem Taschentuch. 105
Er nestelte an meinem knarzenden Leibchen herum. Ich drehte ihm den Rücken zu und er be‐
gann, mich aufzuschnüren. Ich legte meine Schale ab und meine Mitte fühlte sich weich und verletz‐
lich an. Wie ein Krebsweibchen, das sich gerade gehäutet hat, dachte ich. Ich erschauderte, als er mit seinen großen Händen meine Taille umfasste und dann meinen Po knetete. Ich rieb mich an ihm, küsste ihn und streichelte seine Brust. Ein blonder Flaum spross dort und ein Streifen silberner Härchen reichte bis zu seinem Bauchnabel. Erste Anflüge von Testosteron ließen ihm ein paar Muskeln wachsen. Ich fragte mich: Bin ich schwul? Lesbisch? Eine Päderastin? Eine Mutter, die ihren Sohn missbraucht? Das ist doch kein Mann, dachte ich. Ich wollte ihn beschützen, so zart war er. Ich war hier das Mädchen. Und wer beschützte mich? Nein, Friedrich, das geht nicht. Das geht über‐
haupt nicht, dachte ich. Ich setzte mich auf ihn. Meine Zunge eroberte seinen Mund; er kam noch einmal und dann ich hinterher. Zweihundert Millionen mikroskopisch kleine Friedriche und Friederikes wimmelten in 106 meinem Unterleib umher und suchten den Plane‐
ten Eizelle. Vergeblich. Kein Abnehmer da. Zwischen zerwühlten Sachen lagen wir um‐
schlungen beieinander und schwiegen. Dann stand ich auf und machte die Musik an. Charly García. Soldado de Lata, Zinnsoldat. Passte genau. Ich legte mich auf meine Beute und grub meine Nase in seine Achselhöhle. „Köstlich ist der Duft deiner Salben“, heißt es im Hohelied. Ich sog seinen moosigen Geruch in mich ein, zählte seine Rippen und griff in seine Seite. Er hat‐
te keinen Bauch, sondern eher eine Mulde zwi‐
schen den Beckenknochen. Meine Hand wanderte unter sein Kreuz und schob sich zwischen seine Hinterbacken. Er wand und räkelte sich. „Siehst du, so kommt das, wenn Mütter bei mir nicht auf ihre schönen Söhne aufpassen. Und schon ist sie dahin, die Unschuld”, flüsterte ich. „War ein schönes Vorstellungsgespräch, sag deiner Buchhandlung ab.“ Er lachte. Du hast Humor, dachte ich und küsste ihn. 107
Verflixte Überlegenheit Ich möchte für diese Friedrich‐Eskapade mildern‐
de Umstände beantragen. Ich habe den Reiz dieser jugendlichen Unentschiedenheit bereits geschil‐
dert, andererseits sollte auch das bizarre Nie‐
mandsland zwischen dem Nicht‐mehr und dem Noch‐nicht berücksichtigt werden, in dem ich mich befand: Ich war zwar kein Mädchen mehr, fühlte mich mit Ende Dreißig aber immer noch nicht so recht als Frau; ich schwankte zwischen mütterlichen Gefühlen und heißem Entzücken über Friedrichs pralles Voll‐im‐Saft‐Stehen, dazwi‐
schen, noch Mutter werden zu wollen und fast keine mehr sein zu können, nicht mehr herumex‐
perimentieren zu wollen und doch immer wieder in solche Situationen zu stolpern. Ich begehrte ihn und er ließ sich begehren, ich konnte ihn aber der Kategorie „Mann“ schlicht nicht zuordnen. Und doch war es einfach nur schön. Zumindest am Anfang. Wie ich bereits erwähnte, verdanke ich meiner Mutter ein katholisches Über‐Ich. Ich muss ihr be‐
sondere Humorlosigkeit und Unnachgiebigkeit bei der Einimpfung christlicher Tugenden attestieren, eine echte Spitzenleistung jüdischer Assimilierung. 108 Sie hatte es in mir mit einem besonders harten Bro‐
cken zu tun. Als Straßenmädchen aus gutem Hau‐
se konnte ich mich früh in Konfliktfähigkeit und pragmatischem Umgang mit Moral und Gesetz üben. Wendet man das Freudsche Modell (Freud war natürlich Jude) auf diese Dynamik an, erklärt sich vielleicht auch mein rastloser Bewegungsdrang: Mein Ich rotiert ständig zwischen den Machtblö‐
cken „Es“ und „Über‐Ich“. In meinem Fall herrscht dazwischen ein hochgerüstetes Gleichgewicht des Schreckens. Fiele das eine Herrschaftssystem weg oder wäre auch nur etwas schwächer als das ande‐
re, bräche das System Esther zusammen. Wäre meine sexuelle Energie nicht gebremst, würde ich auf der Oranienburger meinen Arsch hinhal‐
ten, und zwar unbekleidet. Ich bin meinem Über‐Ich und meiner Mama aber auch irgendwie dankbar. So eine Friedrich‐
Eskapade hätte ich ohne sie niemals derart genie‐
ßen können. Herrlich, diese Spannung aus Begier‐
de und Unschuld, aus keuscher Verpackung, die den Inhalt umso appetitlicher präsentiert, aus schuldbewusst diszipliniertem Rückstau, der sich in der Heimlichkeit umso heißer entlädt... Ich bin inzwischen sogar der Ansicht, dass die so genann‐
109
te sexuelle Befreiung die Erotik getötet hat. Ich bilde mir ein, auch die männliche Sicht auf die Erotik ziemlich gut zu verstehen, weil ich als Mädchen auf den Straßen von Buenos Aires viel‐
leicht selbst ein bisschen zu viel Männlichkeit ab‐
bekommen hatte. So gelang es mir, trotz meines heimlichen Lebens zwischen Autowracks und Bretterbuden meine Unversehrtheit zu bewahren. Ich begriff schnell, dass die Straßenjungs allesamt schüchterne Feig‐
linge waren, wenn ich die Initiative ergriff – je größer ihre Klappe, desto mehr. Ich nahm mir die Burschen immer einzeln vor, und was dann pas‐
sierte, hat keiner dem anderen je erzählt, da bin ich sicher. Esther, die Männerversteherin. Ich bin in beiden Welten zu Hause und ich brauche nicht wirklich einen Mann, der mich beschützt oder versorgt. Und dennoch wohnt da in mir das zarte Weibchen, das gern von einem starken Mann verhätschelt und behütet werden möchte, die Schenkelchen spreizt und Kinderchen gebiert. Langsam wurde es Zeit, fand ich. Meine Anatomie schrie geradezu danach. Ich machte mir Sorgen um meine Fruchtbarkeit. Ich hatte wohl ein bisschen zu wenig gegessen in 110 den letzten Monaten, so dass meine Periode aus‐
geblieben war. Aber ich genoss auch die gesteiger‐
te Energie durch kontrollierte Unterernährung und dieses Gefühl von Leichtigkeit sowie die faszinier‐
ten Blicke auf meinen spektakulären Waist‐to‐hip‐
ratio. Ich reaktivierte meine Profile bei „Parship“, „Friendscout“ und „Match.com“ und las seit Lan‐
gem mal wieder die Kontaktanzeigen in der „Zit‐
ty“. Ich mailte einigen Männern, was ich seit dem Beginn meiner Affäre mit Herbert nicht mehr ge‐
tan hatte. Einer von ihnen interessierte mich besonders: Eduard. Er war ein Künstler, der auf einem der Hausboote am Charlottenburger Tor lebte. Ganz in der Nähe des Reuterplatzes. Er war gerade aus dem Urlaub zurück. Ich fragte mich, wozu so einer wohl Urlaub braucht. Er war nett und humorvoll und doch ahnte ich schon, worauf es einmal mehr hinauslaufen würde: Bestenfalls eine Bettgeschich‐
te, die sich ziemlich schnell erledigt. Mein Elend: Die Männer, die noch „drinnen“ waren, die noch mitspielen durften, die beruflich Etablierten und Erfolgreichen, die gut Verdienen‐
den, haben fast nie Zeit, ihr Geld auch auszugeben und meist auch keine Kraft und Nerven mehr für 111
ein bisschen Kreativität, ein bisschen Verrücktheit, ein bisschen buntes Leben. Und sie sind meist in Beziehungen gebunden. Die Unangepassten sind zwar häufiger solo, dürfen aber meist nicht mehr mitspielen und krebsen mit viel zu wenig Geld und viel zu viel freier Zeit herum. Auch sie sind häufig neurotisch und impotent, wenn auch nicht wegen zu viel Stress, sondern wegen ihrer Bedeu‐
tungslosigkeit. Eduard und ich waren an einem Dienstag verab‐
redet, was nicht einfach war, denn ich musste mei‐
ne Therapiesitzung um fünf absagen und hatte nur Zeit bis um halb acht, weil ich dann meine Ge‐
sangstunde wahrnehmen wollte. Vor dem Treffen musste ich noch duschen, mich umziehen und zu‐
recht machen. Ich meditierte vor meinem Kleiderschrank. Mein Gott, was sollte ich bloß anziehen? Ich hatte einen ganzen Schrank voller „Nichts anzuziehen“. Die Nöte einer Frau. Letztlich entschied ich mich für ein hautenges Top mit Tigermuster, eine bunte Plastikkette, die mir bis zum hervorlugenden Nabel reichte, Hüft‐
jeans, Leinensneaker, Sonnenbrille. Ich wollte ein bisschen jugendlicher wirken als ich war, denn Eduard war zwei Jahre jünger als ich. Ich holte 112 mein Alltagsrad aus dem Fahrradraum (ich habe daneben auch noch ein Renn‐ und ein Reiserad) und flitzte zum Schleusenkrug. Ich sah zu, dass ich ein bisschen zu spät kam und hoffte, er wäre pünktlich. Das war immer meine Absicherung bei solchen Blind Dates (Be‐
werbungsfotos schützen nicht vor unangenehmen Überraschungen). So konnte ich den Kandidaten meist erst einmal aus der Ferne begutachten und mich notfalls dezent zurückziehen, falls er schon beim ersten Anblick durchfiel. Ich erkannte ihn sofort. Ja, die Fotos trogen nicht. Trotz lichtem Haupthaar sympathisch, um nicht zu sagen: ganz hübsch. Ich ging zu seinem Tisch. „Hallo, du bist Eduard, stimmt’s?“, sagte ich und strahlte ihn an. „Tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen. Aber ich komme gerade von der Arbeit.“ „Ja, natürlich. Es gibt ja auch noch Leute, die ar‐
beiten“, sagte er und grinste mich an. Ich schluckte, doch ich wahrte die Haltung. Dann fragte ich ihn: „Hast du Hunger? Oder wol‐
len wir ein bisschen am Kanal spazieren gehen? Es ist so ein wunderschöner Abend.“ „Gehen wir“, sagte er. 113
Ich fragte ihn aus. Er sei ledig (sagte er), habe ei‐
nen Sohn, aber keinen Kontakt zu ihm. Er sei Per‐
formancekünstler, er imitiere Leute in der Fußgän‐
gerzone, lege bei einher schlendernden Paaren den Arm um die Frau, klaue Kindern das Eis und sol‐
che Sachen. Er reise durch die Welt. Amsterdam. Barcelona. Bis Sydney sei er gekommen. Und sogar in Buenos Aires sei er gewesen. „Buenos Aires? Die Familie meines Vaters stammt von dort. Italienische Immigranten. Dann kannst du bestimmt Tango tanzen“, sagte ich. „Nein“, antwortete er. „Zumindest nicht so rich‐
tig. Ich tanze Salsa. Tango ist mir zu schwermütig, zu getragen.“ „Salsa. Aha. Warst du schon mal auf Kuba?“, fragte ich. „Ja. Zum Salsatanzen und Spanisch lernen“, sag‐
te er stolz. „Wie lange warst du denn da?“ „Drei Wochen.“ „Ich auch. Das erste Mal. Beim zweiten Mal drei Monate. Und ich war mit einem Kubaner zusam‐
men. Irgendwann habe ich so schwere Depressio‐
nen bekommen, dass ich mich wieder nach Deutschland zurück gesehnt habe. Salsa hat etwas Manisches. Oder besser gesagt: etwas Manisch‐
114 Depressives. Sozusagen die musikalische Form ei‐
ner bipolaren Störung. Meistens in Moll und dann diese hysterischen Bläser...“ Er wollte das nicht hören. Ich war dabei, ihm den Spaß an Salsa zu verderben. Ganz Kuba ist manisch depressiv. Kubaner dür‐
fen gar nichts, nicht umziehen, nicht die Arbeit wechseln, ohne Devisen und amtliche Erlaubnis noch nicht einmal im eigenen Land reisen. Aber abends lassen sie die Sau raus, tanzen Salsa bis die Sohlen qualmen. Salsa ist ein Ventil für die Unfrei‐
en. Interessant, dass dieser Tanz in Deutschland derart beliebt ist. Argentinien ist melancholisch. Vielleicht auch ein bisschen depressiv. Aber nicht manisch. Die Tragik des Lebens, der Weltschmerz wird dort nicht hysterisch überspielt, sondern mit Eleganz und Würde choreografiert. „Und Tango kann auch sehr humorvoll, fast ko‐
misch sein”, schob ich hinterher. Er mochte Tango immer noch nicht. Ein Ball traf ihn am Hintern. Eduard drehte sich herum. Auf der Wiese hinter ihm grinste ihn ein etwa sechsjähriger Blondschopf an. Eduard nahm Anlauf und verzog den Ball im hohen Bogen in den Kanal. Die Schwäne flatterten in Panik davon und der Kleine schaute ratlos hinterher. Eduard 115
zuckte mit den Schultern: „Sorry, shit happens“, sagte er. „Das war aber nicht nett von dir“, rügte ich ihn. Wir schlenderten am Zaun des Zoos vorbei. „Weißt du, was wirklich furchtbar ist?“, fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf. „Der Zoo lebt von den Eintrittsgeldern. Und be‐
sonders viele Leute kommen im Frühjahr, wegen der süßen Tierjungen. Diese Knut‐Hysterie war ja einfach irre. Knuts Tierpfleger bekam massenhaft Fanpost von Frauen Ende Dreißig, die auch so ein kleines Bärchen wollen.“ Ich wusste nicht, ob ich lachen oder heulen soll‐
te. Ich riss mich zusammen und dozierte weiter: „Doch wohin mit den Tierkindern, wenn sie groß und nicht mehr süß sind, weiß man meistens nicht. Zumal die meisten Zootiere nie lernen, wie man sich paart. Man hat keinen Platz für sie und braucht sie nicht mehr. Deshalb macht man sie tot. Damit es nächstes Jahr wieder Platz für neue Tier‐
kinder gibt.“ Mir kamen dann doch die Tränen. Ein besonders schwerer Anfall von Gluckensyndrom. Wir standen am Geländer der Fußgängerbrücke über den Landwehrkanal. Die Abendsonne tauchte alles in ein zartgoldenes Licht. 116 Ich lehnte mich mit dem Po an. Eduard stand neben mir und schaute aufs Wasser. Ich schloss die Augen. Die Sonne wärmte meinen Rücken und der laue Wind kitzelte den Flaum auf meiner Haut. Ich wusste, dass er sich vor mich gestellt hatte und sich links und rechts neben mir am Geländer fest‐
hielt, denn ich spürte seinen Atem auf meiner Wange und die Wärme seines Körpers. Küss mich, du Idiot, dachte ich. „Ich glaube, wir gehen jetzt besser“, sagte er schließlich. Ich öffnete meine Augen: Er stand so dicht vor mir, dass unsere Nasenspitzen sich be‐
rührten. Und er fügte hinzu: „Sonst mache ich noch irgendwelche Dummheiten.“ Scheiße, dachte ich. Noch so ein Verkorkster. Wir gingen zurück zum Schleusenkrug und be‐
stellten einen Teller des Tagesmenüs und zwei Bestecke. Irgendwann fragte er mich: „Machst du eigent‐
lich auch etwas Kreatives? Musik? Kunst?“ „Ich singe im Chor und tanze Tango“, sagte ich mit Überzeugung. „Ich meinte etwas Kreatives. Kreativität bedeutet definitionsgemäß, etwas zu erschaffen, das es vor‐
her noch nicht gab, nicht etwas zu reproduzieren. Standardtanz und das Absingen von fertigen Mu‐
117
sikstücken sind Reproduktion, keine Kreativität.“ „Kannst du von deiner Kreativität leben?“, kon‐
terte ich. „Komm, ich zeige dir was“, sagte er und stand auf. Wir gingen in Richtung Charlottenburger Tor und unterquerten die S‐Bahn‐Bögen. Hier hatten Berber ihre Schlafsäcke deponiert. Auf einem Ne‐
benarm des Landwehrkanals lagen die Hausboote. Hier wohnte er also und seines lag zwischen zwei Trauerweiden, direkt gegenüber dem rosa Riesen‐
schlauch des Windkanals der TU. Da war ein frei stehendes schmiedeeisernes Tor. Er hielt es mir ga‐
lant auf und ich stolzierte hindurch. Dann stieg er auf den Steg und streckte mir seine Hand entge‐
gen. Ein anständiges Mädchen wäre wahrschein‐
lich nicht einfach so mit einem Fremden aufs Boot gegangen, aber meine Neugier war stärker. „Ist das deins?“, fragte ich. Er schwieg. Ich schaute mich um: Es war ein alter Frachtkahn mit ausgebautem Laderaum. Schwäne glitten vorbei; ein Motorboot zog tuckernd eine Schleppe von Wellen hinter sich her und das Wasser klatschte an die Bordwand. Wir stiegen über eine Kombination aus Leiter und Treppe nach unten. Die Kabine atmete nauti‐
118 sche Romantik aus poliertem Messing und lackier‐
tem Mahagoni. Durch die Luken flackerten die Re‐
flexe der Sonne an der Decke. Hinter der Messe mit hölzerner Einbauküche befand sich ein Atelier mit Staffeleien und verfremdeten menschlichen Körpern aus Gips; ich fühlte mich an Karikaturen von Arno Brekers Monumentalplastiken erinnert. Dann waren da noch ein Tisch mit Plattenspielern, eine Tonanlage und eine Bar. „Mann, hier kann man ja tanzen“, rief ich begeis‐
tert. Ich griff ihn mir und schob ihn im Tango‐
schritt vor mir her. „Ich lebe, wie du siehst. Und ich habe viel Zeit. Zum Beispiel zum Nachdenken. Und zum Träu‐
men.“ „Gehört das alles dir? Ich meine, wie finanzierst du das? Hast du auch einen richtigen Beruf, womit du dein Geld verdienst?“ „Das geht schon. Anders als du denkst“, sagte er. Keine Details bitte, dachte ich. Ich fragte ihn nach der Toilette. Dort schloss ich mich ein, heulte und wusch mir das Gesicht. Berlin wimmelt von diesen Thirtyso‐
methings, die sich irgendwie durchschlagen. Die Statistik besagt, dass es erstmals in der Geschichte in Berlin mehr Arbeitsfähige gibt, die nicht von 119
Erwerbsarbeit leben, als solche, die „richtig“ Ar‐
beiten gehen. Berlin: Das Mekka der Abhänger oder Bohemiens, je nachdem, wie man sie nennen möchte. Man sieht es an der Parkplatzbelegung und der Frequentierung der Cafes und Geschäfte zur besten Arbeitszeit. Man lebt von Sozialleistun‐
gen, von ererbtem Kapital oder von Grau‐ und Schwarzarbeit beziehungsweise Illegalem. Wenn ich ehrlich sein soll, gebe ich zu, dass ich Eduard sowohl beneidete als auch fürchtete. Mich beschlich die böse Ahnung, dass die Welt, in der ich mich bewegte, möglicherweise nicht die einzig Wahre sein könnte und wahrscheinlich noch nicht einmal mehr die Beherrschende war. Dass ich meinen Lebensstil wohl maßlos überschätzte. Nein, mich selbst als kreativ zu bezeichnen, war eine anmaßende Behauptung. Ich war eine Sym‐
bolanalytikerin. Ich verarbeitete innerhalb strenger Vorgaben Informationen zu Informationen und wurde dafür erstaunlich gut bezahlt. Natürlich hätte ich damals mit der allergrößten Überzeu‐
gung erklärt, dass es nicht das Geld sei, was mich an diesen Job fesselte, dass Geld eigentlich über‐
haupt nicht wichtig sei, sondern vielmehr die sinnvolle Tätigkeit und die wohltuenden Struktu‐
ren, die soziale Einbindung durch den Beruf und 120 so weiter. „Meinst du, wir könnten zusammenpassen?“, fragte mich Eduard. Er hatte auf einer Sitzgruppe auf mich gewartet. „Also, wenn ich ehrlich sein soll: Ich glaube nicht, dass wir ein Paar werden“, antwortete ich, nachdem ich mich wieder eingekriegt hatte. Dann ging ich. Ich lief zum Schleusenkrug zu‐
rück, setzte mich aufs Rad und fuhr nach Hause. Meine Gesangsstunde hatte ich glatt vergessen. Nein, von einem solchen Vorfall ließ ich mir nicht die Laune verderben. Dafür hatte ich derlei Enttäuschungen schon zu oft erlebt. Es war Dienstagabend und ich beschloss, zur Mi‐
longa in Clärchens Ballhaus in Mitte zu gehen. Al‐
lein. Ich wollte einmal schauen, was passiert, wenn im Korsett dort auftauche. Es hatte eine Weile ge‐
dauert, bis ich mich traute, es zum ersten Mal aus‐
zuführen. Ich zog mich so ähnlich an wie Pia, die schöne Hure von der Oranienburger Straße, von der ich bereits erzählte. Auch ich hatte so eine weit ge‐
schnittene helle Nadelstreifenhose, Schnürstiefel und eine weiße Bluse. Um den Hals knotete ich mir mein rotes Tuch mit weißen Punkten und 121
flocht mir einen Zopf (meiner war bei weitem nicht so imposant wie ihrer). Über die Bluse schnürte ich mein schwarzes Leibchen. Rad fahren war in diesem Outfit nicht möglich. Das Mieder ließ nur eine kerzengerade Haltung zu und die weiten Hosenbeine hätten sich in der Kette verheddert. Also ging ich zu Fuß zum Kottbusser Tor und stieg in die U8. Ich erntete irritierte, lüs‐
terne Blicke von Menschen, von denen ich eigent‐
lich nicht angeschaut werden wollte und die ich nicht anschauen mochte. Ich stieg an der Station Weinmeisterstraße aus und lief zwei Blocks weiter bis zu Clärchens Ball‐
haus. Ich bemerkte, dass ich würdevoll und mit erheblich mehr Hüftschwung daherging. Und mir wurde heiß: Es war nicht so sehr die Temperatur, sondern ein Gefühl von erregter Peinlichkeit, mit der ich die Blicke der Passanten registrierte. Ge‐
danken schossen mir durch den Kopf: Was, wenn ich jetzt Kollegen, Freunde oder Bekannte träfe? Ganz in der Nähe der Oranienburger Straße und in diesem vieldeutigen Kleidungsstück? Kennen Sie diesen Kick, wenn Sie mit hundert Sachen über die rote Ampel brettern oder etwas anderes sehr Verbotenes und sehr Gefährliches tun? Sex auf dem Baugerüst? Im gläsernen Fahr‐
122 stuhl? Auf der Personaltoilette zur besten Arbeits‐
zeit? Bungeejumping? Fallschirmspringen ohne zu wissen, ob er sich auch öffnet? Ich trinke keinen Tropfen Alkohol, ertrage kei‐
nen Zigarettenqualm, rühre keine Drogen an. Weil ich weiß, wie gern ich mich Räuschen aller Art hingebe. Den ultimativen Rausch, die Gefahr, konnte ich mir jedoch nicht versagen. Das wäre ein bisschen, wie von der Welt zu gehen, ohne gelebt zu haben. Ich meine dieses vibrierende Gefühl höchster Lebendigkeit, dieses völlige Aufgehen im Augenblick, diese absolute Geistesgegenwart ohne eine Spur von Vernunft. Mein Vater, der Rennfah‐
rer, entstieg mehrmals qualmenden Schrotthaufen. Er verströmte dann die Verzückung von jeman‐
dem, der das Jenseits geschaut hatte und zurück‐
gekehrt war. Das scheint in den Genen zu liegen. Ich belasse es beim Radfahren, was weiß Gott ge‐
fährlich genug ist. Zumindest ist hierbei das Risiko nicht so groß, bei einem Crash andere mit ins Jen‐
seits zu nehmen. Ich atmete tief durch und marschierte durch den Vorgarten von Clärchens Ballhaus. Ich passierte die Schwingtüren und stolzierte an den Kellnern in Hemd und Fliege vorbei mitten durch den Tanz‐
saal. Die Blicke von Männern wie Frauen saugten 123
sich an meiner Mitte fest. Der Puls pochte durch meinen Körper und meine Brust bebte im Aus‐
schnitt. Ich blieb in der Nähe der Fenster stehen und stellte mich in Positur, indem ich die eine Hand in die Hosentasche steckte und mit der an‐
deren in meine Taille fasste. Auf dem einen Bein stand ich, das andere spielte ab und zu. Die Leute schauten angestrengt weg, so wie man auch von einem grauenhaft entstellten Menschen demonstrativ wegschaut, um Normalität zu simu‐
lieren. Ich wechselte die Position, um mich sichtbarer zu machen. Wieder folgten mir die Augen und ich warf einem ergrauten Berufsjugendlichen mit ge‐
streiftem T‐Shirt und Hosenträgern freundliche Blicke zu. Er schaute weg. Ich ertappte ihn dabei, wie er wieder nach mir linste. Ich lief einmal stra‐
tegisch durch den Raum und bugsierte mich vor ihn. Ich schob mich an ihn heran und nahm mit meiner Rückseite Körperkontakt auf. Er wich zu‐
rück und ich rückte nach. Dann stellte er sich ne‐
ben mich und schielte aus den Augenwinkeln im‐
mer wieder zu mir herüber. „Kannst du nur gucken?“, raunzte ich ihn an. Er wurde rot. Ich stellte mich vor ihn hin, griff seine Hand und 124 führte ihn aufs Parkett. „Alles muss man selber machen“, sagte ich, als ich ihn in die Tanzhaltung nahm. Er stolperte wie ein Anfänger herum. Was ich ihm nicht abkaufte, denn ich hatte beobachtet, wie er zuvor mit einer kleinen Dicken flotte Ochos ge‐
dreht hatte. Jetzt sollte ich ihn auch noch führen oder was? Verdammter Idiot, dachte ich. Warum nimmst du dir nicht einfach, was dir gefällt und sich dir anbie‐
tet? Diese Typen kannte ich schon, die sich in die Hose machen, sobald die Frau konkret wird. Der Generalverdacht, ein Pascha zu sein, trifft nur die ohnehin Empfindsamen. Impotenz ist zwar ein wirksamer Schutz vor Vergewaltigung, lässt aber auch eine Menge frust‐
rierter Frauen zurück, dachte ich. Ein schmierig grinsender, kahl rasierter Typ schubste mein Sensibelchen beiseite und versuch‐
te, nach mir zu greifen. Mein Knie rammte ihn dort, wo jeder Mann ein Sensibelchen ist. Er ging zu Boden – und ich nach Hause. Manchmal trifft es eben doch den Richtigen. Aber auch dafür musste ich selber sorgen. 125
Hauptsache Arbeit Es blieben noch vier Tage bis zur definitiven Ab‐
gabe der Dokumentation zum Zahnersatz. Solcher Druck plagte mich selten, aber irgendwie brauchte ich ihn auch. Er gab mir dieses gute Gefühl, wahr‐
haftig zu arbeiten, wichtig zu sein, weil jemand etwas von mir wollte und weil etwas Unangeneh‐
mes passieren würde, wenn ich den Anforderun‐
gen nicht gerecht würde. Ich liebte und brauchte meinen Job. Ich musste nicht überlegen und nicht lügen, wenn die obliga‐
torische Frage kam: „Und was machen Sie?“ „Ich bin Fachredakteurin bei ‚Geld+Finanz’, Ver‐
sicherungsexpertin”, konnte ich dann sagen. Ich wünschte mir, dass mich irgendwann je‐
mand fragte: „Sagen Sie, kann es sein, dass ich Sie schon einmal im Fernsehen gesehen habe?“ Oder noch besser: „Ach sagen Sie, Sie sind doch Frau Wiesenthal oder so ähnlich, Sie treten manchmal in den Ratgebern auf, stimmt’s?“ Doch darauf wartete ich vergeblich. Ich begriff den Grund, als ich mir in einem Medienkaufhaus eine Kamera kaufen wollte. Ich fand mich dort vor einer Wand aus Bildschirmen wieder, auf denen just in diesem Moment genau solch eine Sendung 126 lief. Verdammt noch mal, woher kenne ich die?, fragte ich mich im ersten Moment selber. Die Leute im Laden stutzten noch nicht einmal, als sie mich in natura direkt vor dieser animierten Warhol‐
Installation meiner selbst stehen sahen. Aber ich hatte richtige Arbeit. Mit Arbeitsplatz‐
beschreibung, festen Vorgängen, weisungsbefug‐
ten Vorgesetzten und einem eigenen Büro. Der Dresscode gab mir das Gefühl, dazuzugehören. Ich war voll versichert, genoss ein Bonusprogramm mit Zusatzleistungen, betrieblicher Altersvorsorge, Freifahrt mit dem öffentlichen Verkehr und einer Betriebssportgruppe. Morgens um acht antreten, abends um halb fünf nach Hause – frühestens. Feste Strukturen. Gut viertausend Euro brutto im Monat. Kein schlechtes Zeilenhonorar für ein paar News zum Versiche‐
rungsmarkt, im Schnitt etwa zwei Heftseiten pro Monat. Struktur. Das gab mir Halt und Haltung, Form. Woran erinnerte mich das? Sichtbar sein. Bewundert werden. Das ist das Privileg der medialen Elite. Ich bediente eine Mas‐
senauflage und war fast jede Woche in irgendeiner Radio‐ oder Fernsehsendung eingeladen. Ich arbeitete ziemlich viel. Zumindest konnte ich 127
sagen, dass ich mindestens fünfzig Stunden in der Woche im Büro verbrachte. Und ich war auch dann ständig in Bewegung, wenn ich nicht arbeite‐
te. Oder genauer: Wenn ich „Bildungsarbeit“, „Be‐
ziehungsarbeit“, „Gesundheitsarbeit“ und „thera‐
peutische Arbeit“ leistete. Eigentlich arbeitete ich also immer, es störten nur noch diese im Schnitt sechs Stunden unproduktiver Schlaf pro Nacht. Aber auch das konnte man ja als „Traumarbeit“ und „Erholungsarbeit“ definieren. Abzüglich Berufsarbeit blieben mir von den hunderachtundsechzig Stunden einer Woche im Schnitt einhundertfünfzehn Stunden. Einhundert‐
fünfzehn Stunden abzüglich zweiundvierzig Stun‐
den Schlafenszeit ergeben dreiundsiebzig Stunden, die sich zuletzt wie folgt aufteilten: sechs Stunden Fitnessstudio, zwei Stunden Chorsingen, sechs Stunden Tanzen, zwei Stunden Gesangsunterricht, zwei Stunden Spanischunterricht, eine Stunde Psy‐
chotherapie, zweieinhalb Stunden Rennradfahren mit der Betriebssportgruppe. Es verbleiben zwei‐
undfünfzig Stunden, die sich auf Essen bzw. Es‐
sensvorbereitung (ca. zehn Stunden, in den letzten Monaten weitgehend durch Partnersuche ersetzt), Fahrzeiten (ebenfalls ca. zehn Stunden) und Kör‐
perpflege (ca. sieben Stunden) verteilten. Der Rest 128 ging fürs Einkaufen bzw. Shoppen, Geselligkeit und Surfen im Internet (auch das meist im Dienste der Partnersuche) bzw. Lektüre drauf. Zum Glück gab es in meiner WG eine Putzfrau. Mit meiner Psychotherapie schlug ich gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Sie kostete we‐
nig Zeit und eine Menge Geld, ging vor meinem inneren Aufseher als „Arbeit“ durch und diente gleichzeitig der Erhaltung meiner Arbeitsfähigkeit, die durch den pausenlosen Zeitdruck stets gefähr‐
det war. Ich war also ganz nah dran am ultimati‐
ven Ritterschlag der Arbeitsgesellschaft: So viel zu arbeiten, dass man keine Zeit mehr hat, das ver‐
diente Geld auch auszugeben. Einst bemaß sich der soziale Status daran, wie sehr man es sich leisten konnte, nicht zu arbeiten. Arbeiten war fürs Volk und das höchste Privileg war, zu konsumieren, ohne zu arbeiten. Was man auch an der Leibesfülle der nicht Arbeitenden sah, die immer ein Statussymbol war. Heute ist Arbeit gleich Sozialprestige. Je mehr man arbeitet, desto schicker, wichtiger, attraktiver, fitter, „wertvoller“ ist man. Man sieht es an der Fi‐
gur: Der Arbeitsmensch ist dünn, je dünner desto besser, denn das signalisiert ein rasantes Arbeits‐
tempo. Wer nicht arbeitet, nur noch konsumiert 129
und auch noch dick wird, ist heute ganz unten. Ich war eindeutig solch ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft und die Gesellschaft, das sind die Arbeitenden. Doch das, was ich da produzierte, die medialen Inhalte über Versicherungen in Zeitschriften mit Massenauflage, in Radio‐ und Fernsehprogram‐
men, hätte ich niemals selber konsumiert. Ich kannte auch sonst niemanden aus meinem medial‐
elitären Dunstkreis, der auch nur in die Nähe eines Fernsehers geraten wäre oder sich jemals so etwas wie „Geld+Finanz“ gekauft oder gar gelesen hätte. Ja nun, wer kauft dann die zweihunderttausend Hefte im Monat? Wer ist die Zuschauerquote, zu wem gehören die Millionen Augen, die mir bei meinen Ausführungen über Versicherungen zu‐
schauten, die Ohren, die mir lauschten und das meist zur besten Arbeitszeit? Wer konsumiert die inflationäre Flut an neuen Zeitschriftentiteln, die die Kioske bersten lassen? Wer liest die über hun‐
dert Buchtitel, die jeden Tag allein auf den deut‐
schen Markt drängen? Wer konsumiert die Lawine aus Computerspielen, Pornos, DVDs und Downlo‐
ads aus dem Internet? Wer schaut den einund‐
sechzigsten jungen Kabelkanal, in dem ich auftre‐
ten sollte und von dem ich bis zu diesem Zeit‐
130 punkt noch niemals gehört hatte? Die demokratische Mehrheit arbeitet doch noch „richtig“, nämlich sozialversicherungspflichtig und in Vollzeit, die Nation geht doch morgens aus dem Haus, um zur Arbeit zu pendeln und fährt abends wieder nach Hause, oder? Hat nicht ein je‐
der, der etwas auf sich hält und nicht als Trottel dastehen will, stets keine Zeit? Oder zumindest zu wenig Zeit? Ja, wir arbeiten alle – bis auf ein paar bedauerli‐
che Einzelfälle. Und der Wert der Arbeit (und sei‐
en wir ehrlich: auch das Sozialprestige des Arbei‐
tenden) bemisst sich natürlich am Einkommen. So verdiente ich das Mehrfache von dem, was eine Kindergärtnerin, eine Krankenschwester oder eine Pflegekraft bekam. Oder ein Bäckergeselle, ein Klempner oder Automechaniker. War meine Ar‐
beit auch mehrfach so wertvoll, sinnvoll und wich‐
tig? Wen würde man mehr vermissen: Sie oder mich? Was wäre unangenehmer: Morgens keine Brötchen zu haben, niemanden, der einen pflegt, wenn man es braucht, oder den Rohrbruch oder das Auto repariert? Oder wenn es mal keine zwei Seiten über Versicherungen gäbe? Wie ich später erfuhr, sind das harmlose Verglei‐
che. Das richtig große Geld wird mit Geldgeschäf‐
131
ten verdient (oder besser: gemacht). Ein Bankvor‐
stand schafft ein paar Millionen im Jahr und man‐
cher Börsenhändler noch mehr als ein Bankvor‐
stand. Was genau tun diese Leute? Hundertmal so wertvolle Arbeit wie eine Kindergärtnerin. Das zukünftige Humankapital wächst ja von alleine heran. So ist eine Kindergärtnerin, die zusätzlich zum Hungerlohn Sozialhilfe braucht, um sich und ihre eigenen Kinder zu ernähren, „sozial schwach“, nicht jedoch der, der es sich leisten kann, im Por‐
sche mit hundert über die rote Ampel zu brettern. Wie sagte Herbert manchmal so schön zu unse‐
ren Berichten aus der Welt der Rentenfonds, Bau‐
sparverträge und Zusatzversicherungen für Zahn‐
ersatz? „Das ist fürs Volk.“ Wer ist das, das „Volk“? Die schwindende Masse derer, die immer schneller und mehr arbeiten? Oder die heimlich wachsenden, statistisch unsicht‐
baren Armeen, die in pausenloser Rekordjagd das Zeug konsumieren, das die Leistungsträger unter automatisierter Beschleunigung absondern? Und jetzt sollen wir, die wir noch arbeiten und mitspielen dürfen, noch länger, mehr und schnel‐
ler arbeiten und das für weniger Geld, damit in der 132 Logik der Wirtschaftsweisen mehr Arbeit entsteht. Denn wenn die notwendige Arbeit getan ist und man trotzdem weiterarbeitet, geht alles wieder ka‐
putt, wodurch wiederum Arbeit entsteht. Wir ar‐
beiten mehr, als der Planet aushält. So entstehen zahllose neue Arbeitsplätze zur Reparatur der Verwüstung, die die Arbeitswahnsinnigen zurück‐
lassen – und zur Reparatur der verschlissenen Ar‐
beitswahnsinnigen selber – und derer, die krank werden, weil sie sich in ihrer demütigenden Über‐
flüssigkeit zu Tode langweilen. Nehmt uns um Gottes Willen nicht die Arbeit weg. Konsumiert, gebt uns euer Geld und endlich Ruhe! Hört endlich auf, für Geld zu arbeiten, denn das erledigen wir für euch. Wenn ihr schon nichts zu tun habt, dann konsumiert wenigstens und lasst euch unterhalten. Findet uns toll, dann könnt ihr euch auch selber ein bisschen toll fühlen. Wir sind die Macher und die Stars. Ihr seid die Verbraucher und die Fans. Doch solche Gedanken kamen mir in meiner damaligen seligen Integration in die „Arbeitsge‐
sellschaft“ noch nicht. Ich genoss meine Medienpräsenz und wurde un‐
ruhig, wenn einmal mehr als eine Woche ohne ei‐
nen Einladung in irgendeine Sendung verstrich. 133
Ich liebte das Fernsehen, denn hier wurde richtig Show gemacht. Das lief ungefähr so ab: Wir verschickten an die wichtigen Fernsehredak‐
tionen im Voraus unsere Themenpläne. Wenn dann ein neues Heft erschienen war („Sichern Sie sich die besten Zinsen!“, „Bausparen, aber rich‐
tig!“, „So sorgen Sie vor!“, „Welche Versicherun‐
gen Sie wirklich brauchen“), kamen die Einladun‐
gen in Journale oder Ratgeber. Ich musste mir nur den Tag freihalten und brauchte mich um nichts weiter zu kümmern. Die Limousine mit Fahrer holte mich morgens oder am Vorabend von Zuhause ab und dann ging es zum Flughafen, denn ich musste nur selten Zug fahren und wenn, dann stets erster Klasse im ICE. Stan‐
dard waren Flug in der Business Class, Übernach‐
tung im Resort, Transfer mit Limousine und Fah‐
rer zum Sendehaus. Stets passierten wir den VIP‐Eingang. Ich bekam eine ID‐Karte. Dann das Briefing mit der Redakti‐
on, Abstimmung des Textes auf dem Telepromp‐
ter, Haarstyling, Maske, Garderobe. Welch ein geiles Gefühl, auf der gleichen Rück‐
bank im chauffierten Auto zu fahren und auf dem gleichen Sessel zu sitzen wie all die Mediengesich‐
ter, von denen ich im Internet immer wieder las. 134 In den Räumen der Maske und Garderobe hin‐
gen immer die Autogrammkarten aller möglichen Promis. Die Stylistinnen (manchmal waren es auch schwule Stylisten) und Garderobieren drapierten sie immer gut sichtbar um die Spiegel herum. Ich hatte auch schon dort gesessen, wo Mickey Rourke und Robbie Williams einst saßen. Ungelogen! Immer wieder beobachtete ich fasziniert, wie ich hergerichtet wurde. Das Frisieren, Pudern und Schminken, wie ich mich im Spiegel verwandelte und die Auswahl der Garderobe (meist passte die, die ich gerade trug, nicht so recht ins Bild). Ich war immer wieder platt, wenn ich sah, was sie aus mir machten. Alles Routine. Es lief immer ganz beiläufig und wie am Schnürchen ab. Normalerweise. Bis ich in ein Morgenjournal dieses einundsech‐
zigsten jungen Kabelkanals nach Köln eingeladen war (dessen Namen behalte ich aus rechtlichen Gründen für mich). Zunächst war alles wie immer. Ich wurde von einer Limousine mit Fahrer abends von der Arbeit abgeholt und nach Tegel kutschiert. Flug mit der Businessclass nach Köln‐Bonn, Übernachtung im Steigenberger, Transfer zum Studio. 135
Mitten auf der Autobahn gingen in dem schwe‐
ren Wagen (die Marke behalte ich aus rechtlichen Gründen für mich) sämtliche Lichter aus. Totalaus‐
fall des Bordcomputers. Dem Fahrer versagten Servolenkung und Bremskraftverstärker den Dienst und er schaffte es gerade eben so unter Aufbietung aller Körperkräfte, den Wagen am Rand der Piste zum Stehen zu bringen. Der Ersatz von der Fahrbereitschaft ließ auf sich warten. Er steckte im Stau. Wie ich später erfuhr, sei ein solcher Zwischen‐
fall laut Service der besagten Automarke „physika‐
lisch unmöglich“, da alle Systeme doppelt ausge‐
legt seien. Dass beide CPU´s komplett ausfallen, sei „noch niemals vorgekommen“ und „so un‐
wahrscheinlich wie ein Super‐Gau im Atomkraft‐
werk“, was ja auch noch nie vorgekommen war. Es dauerte eine ganze Weile, bis das schließlich bestellte Taxi und der Abschleppdienst eintrafen. Derweil versuchte ich, die Redaktion im Sender zu erreichen und landete immer wieder automatisch in der Zentrale, welche Nummer ich auch wählte. Die arme Telefonistin war völlig überfordert, denn sobald sie mich durchzustellen versuchte, sprach ich vollautomatisch wieder mit ihr – wie auch alle anderen Anrufer. „Tut mir leid, alle Leitungen 136 sind von Zuschauern belegt”, sagte sie hilflos. Dann hörte ich nur noch ein Besetztzeichen. Der Taxifahrer drückte auf die Tube. Es war oh‐
nehin zu spät. Aber ich wollte zumindest meiner Anwesenheitspflicht nachkommen. Wir rauschten zum Studioeingang und der Sicherheitsmann woll‐
te uns nicht einlassen. Er griff zum Handy und be‐
kam immerhin eine Verbindung zum Senderaum. Er hielt Rücksprache und dann sagte er: „Diese Sendung, von der Sie erzählen, läuft be‐
reits. Frau Wiesengrund ist gerade im Live‐
gespräch mit der Moderatorin.“ „Wie... Wiebitte?“ stotterte ich. Ich kramte nach meiner Brieftasche, zückte meinen Presseausweis, hielt ihn ihm hin und riss mir meinen Kompetenz‐
simulator von der Nase, damit er mich auf dem Foto auch erkannte. „Da, sehen Sie selbst...“ Er schaute genau hin und sagte dann: „Kommen Sie, wir klären das.“ Drinnen roch es nach neuem Fußbodenbelag und frischer Farbe. Überall Gerüste und herumlie‐
gende Kabel, Techniker in Latzhosen, die schraub‐
ten und verkabelten. Die Lampe über dem Studioeingang leuchtete. Nichts zu machen, sie waren auf Sendung. Durch das Fenster zur Sendeleitung sah ich auf den Bild‐
137
schirmen, wie sich die Moderatorin unterhielt. Dann schaltete die Kamera auf das Gegenüber um. Eine orientalisch anmutende Frau, etwas jünger als ich, sprach etwas, das ich nicht hören konnte. Dann fiel mir die Kinnlade herunter: Es wurde mein Name eingeblendet. Ich griff mir einen vor‐
beihuschenden jungen Mann. „Ich will da rein. Lassen Sie mich da rein, das da, das bin nicht ich”, stammelte ich und zeigte auf ei‐
nen der Monitore. Er schaute mich entgeistert an. Ich zog abermals meinen Presseausweis. „Hier, lesen Sie, welcher Name da steht. Und den blenden Sie gerade in diesem Gespräch mit ein und diese Frau da, das ist jemand anderes.“ Er war kurz vor einem Lachanfall. Wir gingen in die Sendeleitung. Er setzte sich an ein Steuerpult, klemmte sich ein Headset auf den Kopf und schob einen Regler nach oben. Dann sprach er auf den Monitor: „Hallo meine lieben Kolleginnen und Kollegen, hier neben mir in der Sendeleitung steht eine Frau Wiesengrund von ‚Geld+Finanz’, kennt die viel‐
leicht jemand?“ Die Moderatorin nestelte an ihrem Ohrhörer und ihre Miene gefror. 138 Ein Raunen ging durchs Haus, unterbrochen von ein paar unterdrückten Glucksern. Dann stellte er den gesendeten Ton auf den Monitor. Eine etwas ältere Zuschauerin sprach übers Tele‐
fon: „Schönen guten Tag, mein Name ist Else Rot‐
tenweiler aus Buckenhausen. Ich war neulich bei meinem Zahnarzt, denn ich brauche dringend eine neue Prothese. Und jetzt soll ich zweitausenddrei‐
hundert Euro dazuzahlen, obwohl ich doch kran‐
kenversichert bin! Ich war schon so lange nicht mehr beim Arzt und habe jetzt über vierzig Jahre in die Kasse gezahlt und bekomme doch nur sechshundertfünfzig Euro Rente.“ Moderatorin (unterbricht): „Was denken Sie, Frau, äh, (zögert) Frau Wiesengrund, über die Ein‐
schränkungen der Leistungen bei steigenden Bei‐
trägen und Zuzahlungen?“ „Frau Wiesengrund“ (in gebrochenem Deutsch): „Also, ja, ich denke, wir hier in Deutschland sind noch ganz gut dran. In Montene... also in vielen Ländern können sich die meisten Menschen über‐
haupt keine Krankenversicherung leisten. Ich den‐
ke, so wird es bald auch hier sein. Vielleicht sollte man einfach frühzeitig sein Gebiss pflegen und am besten gesund bleiben. Ich verlasse mich nicht auf die Krankenkasse und den Staat.“ 139
Die Crew im Senderaum drehte sich zu mir um und ich wollte im Boden versinken. So hätte ich das natürlich niemals ausgedrückt. Wie ich später erfuhr, handelte es sich bei meiner Vertretung um eine montenegrinische Putzfrau und manche sagten, sie habe mir nach dem Schminken ähnlich gesehen. Und da sie zufällig gerade dort war, wo ich erwartet wurde, war sie in das Sendeprozedere gestolpert. Sie fand das wohl witzig und wusste nicht so recht, wie ihr geschah. Wahrscheinlich wäre niemals etwas aufgefallen, wenn sich das verspätete Original nicht bemerkbar gemacht hätte. Tags darauf erwartete ich eine Flut von Anrufen und Beschwerdemails entsetzter Zuschauer und tausende von abbestellten Abonnements. Nichts dergleichen geschah. Stattdessen bekam ich eine Mail von der Redaktion des Satiremagazins Tita‐
nic: Ob ich denn einmal eine Glosse schreiben wol‐
le? Herbert traf die weise Entscheidung, sich still zu verhalten und einfach Gras über die Sache wach‐
sen zu lassen. Der Kuss Immer noch kaute ich an dieser verfluchten Do‐
140 kumentation. Es blieben mir noch zwei Tage bis zur Abgabe und heute Morgen sollte Friedrich bei mir als Praktikant antreten. Was ich einerseits als Lichtblick empfand, denn ich erhoffte mir ein biss‐
chen erotisches Prickeln im Büro, andererseits würde ich mich in den nächsten Tagen kaum um ihn kümmern können. Ich ging meiner Lieblingsbeschäftigung nach: dem Verdrängen. Ich lehnte mich im Türrahmen an und genoss die kühle Morgenluft, die durch mein Fenster kam (die Klimaanlage hatte ich mit einem Seitenschneider endgültig vom Netz ge‐
nommen). Mit verschränkten Armen stand ich da und dachte an gar nichts, was mir selten gelang und immer die besten Einsichten brachte. Plötzlich hörte ich ein lautes „Tschiiietschiieet‐
schiep“. Ich schaute hin und sah drei runde Spat‐
zen auf dem Fensterrahmen sitzen. Diese Viecher werden immer frecher, dachte ich. Dann hüpfte der auf der rechten Seite hin und her und machte noch einmal Krach: „Tschiiiep.“ Die beiden ande‐
ren schwirrten davon. Das war wohl Spatzen‐
alarmruf gewesen und seine Kollegen waren dar‐
auf hereingefallen. Dann linste er neugierig auf meinen Schreibtisch: Aha, mein Brötchen mit den Krümeln darum herum... 141
Ich hielt still. Und tatsächlich, er landete auf meinem Tisch, pickte alles um den Teller herum sauber und ließ ein Häufchen auf den Zahnersatz fallen. Dann startete er durch und verschwand durchs Fenster. Ich gluckste versonnen in mich hinein. Ein gluckensyndromiges Glücksgefühl floss warm durch meinen Körper. Ich schaute wieder in den Flur. Ab und zu öffne‐
te sich eine Tür und ein Kollege oder eine Kollegin kam heraus und verschwand dann in irgendeinem Raum. Vor mir spielte sich ein seltsames Gewusel ab und die Bewegungen schienen sich zu be‐
schleunigen. Dieses automatische Grüßen belustig‐
te mich. „Hallo, guten Morgen, haben Sie nichts zu tun, Frau Wiesengrund?”, hörte ich sie sagen. Alle sahen so wichtig aus. Hier kam nicht jeder rein. Alle liefen gleich herum: Die Herren mit Schlips und Hemd, die Damen in Kostüm, Bluse oder Hosenanzug. Da näherte sich jemand, der nicht so recht ins Bild passte. Er war groß und jung und schlank und er trug keinen Schlips, sondern beige Chinos und ein schwarzes T‐Shirt. Da kamen ihm Herbert ent‐
gegen und dann aus der anderen Richtung Kathrin und Striezel. Friedrich überragte sie alle um einen guten Kopf; er überstrahlte diese Arbeitsmenschen 142 einfach, indem er sich kurz zu ihnen hinabbeugte und grüßte. Er schien zwischen den Schritten einen Moment in der Luft zu schweben – weil ich ihn um seine Unschuld erleichtert hatte? Beeil dich, dachte ich, ich will jetzt nicht diesem Gespann aus Striezel und Kathrin begegnen... Dann schüttelte ich mich und rieb mir die Au‐
gen. Als die vier etwa auf derselben Höhe des Kor‐
ridors waren, sah ich, wie Kathrin Striezel an sich zog und – ihn küsste. Herbert prallte zur Seite. Hatte ich das wirklich gesehen? Oh Herbert, es steht schlecht um dich, dachte ich. Mein Verdacht traf also zu. Kathrin und Strie‐
zel hatten etwas miteinander. Ich war erleichtert, denn ich dachte, dass Kathrin Herbert durch die‐
sen symbolischen Akt sozusagen freigegeben hat‐
te. Der Gedanke an das ostentativ‐beifällige Küssen war mir auch schon gekommen. Was wäre, wenn ich Friedrich jetzt küsste und zwar so, dass auch Kathrin es sähe? Vielleicht wäre das meine Ret‐
tung... Ich betrachtete Friedrich von unten nach oben und er erwiderte meinen Augengruß. Dann lotste ich ihn in mein Zimmer und schloss die Tür hinter 143
ihm. „Ich bin furchtbar unter Zeitdruck. Leider werde ich mich in den nächsten Tagen kaum um dich kümmern können“, sagte ich. „Vielleicht kann ich Ihnen helfen?“, fragte er. „Interessierst du dich für Zahnersatz? Zusatz‐
versicherungen? Gesetzeskommentare? Wissen‐
schaftliche Dokumentation? Ich muss da durch und ich möchte, dass wenigstens du hier ein biss‐
chen Spaß hast.“ „Ich kann es mir doch zumindest mal anschauen, oder? Ich habe mal ein Schulprojekt im Staatsar‐
chiv mitgemacht. Wir haben die Schicksale von Juden im Dritten Reich recherchiert. Mit Akten und Systematik kenne ich mich schon ein bisschen aus”, sagte er. Ich erzählte ihm nicht, dass ich Jüdin sei. Schuldgefühle sind schlecht für die Potenz. Das war kein schlechter Anlass, vielleicht doch einmal mit der Arbeit zu beginnen. Wir setzten uns an meinen Schreibtisch und ich erklärte ihm Striezels Systematik, seine Vorlieben und wie sei‐
ner Meinung nach eine Dokumentation auszuse‐
hen hat. Dann zeigte ich Friedrich die Aktenstapel auf dem Boden und die Ordner auf meiner Fest‐
platte. Ich schloss ihm mein Notebook ans Netz an 144 und gab ihm einen Abschnitt, an dem er sich ver‐
suchen konnte. Dann saß er mir gegenüber am Schreibtisch und war nicht ansprechbar. Ich beobachtete, wie er ab und zu die Stirn in Falten legte, sein Blick zwi‐
schen Bildschirm und Akten hin und herwanderte, er Stapel sortierte und im Zehnfingersystem seine Eintragungen machte. Der ist nicht normal, dachte ich. Ein Siebzehnjäh‐
riger... Flink blätterte er hin und her, seine Finger tanz‐
ten über die Tastatur und ab und zu stellte er mir eine Frage: Komma oder Semikolon nach dem Er‐
scheinungsjahr? Sollen die Links als Text oder als Link formatiert sein? Aufsteigende oder abstei‐
gende Sortierung? Anderthalb Stunden später war der Stapel abge‐
arbeitet, den ich ihm gegeben hatte. Nachdem ich ihm einen weiteren hinüber geschoben hatte, schaute ich mir seine Arbeit auf dem Computer an. Viel blieb nicht zu tun. „Du lässt mir noch was übrig, ja?“, sagte ich. Er beachtete mich kein Bisschen. Bis zur Mittagspause hatte er die Hälfte des Grauens bewältigt, das mich wochenlang geplagt hatte. 145
Ich musste eingreifen. „Schluss jetzt. Komm, wir gehen was essen”, befahl ich ihm. Ich griff ihn am Arm und zerrte ihn vom Stuhl. Dann ließ ich meine Hände über seine Brust und seinen Po gleiten und küsste ihn aus seinem Ar‐
beitsrausch wach. Ich zog ihn an der Hand hinter mir her. Wir gin‐
gen zu meinem italienischen Stammbistro um die Ecke. Ich hatte das Gefühl, einen großartigen Fang gemacht zu haben. Den musste ich unbedingt gut füttern. Wir aßen Spaghetti mit Pesto und italienischen Salat. Irgendwann fragte ich ihn: „Sag mal, wo hast du das denn gelernt? Ich mei‐
ne, du machst das ziemlich professionell...“ „Wieso? Das ist doch gar nicht schwer”, sagte er. Moment mal, dachte ich. Immerhin hatte ich da‐
für studiert. Du hast doch noch nicht einmal Abi‐
tur. Und ich kriege eine ganze Menge Geld dafür, wollte ich sagen. „Wie viel verdient man denn eigentlich mit sol‐
chen Sachen?“, fragte er, als hätte er meine Gedan‐
ken gelesen. Ich zögerte. Dann sagte ich: „Schätz mal.“ Er schaute mich an: „Was wollen Sie hören? Auf wie viel ich ihren tatsächlichen Verdienst schätze 146 oder für wie viel ich es machen würde?“ Ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort hö‐
ren wollte. Dann redete er weiter: „Ich denke, Sie bekom‐
men gut viertausend brutto im Monat. Vielleicht auch ein bisschen mehr. Das ist so ein üblicher Satz für Redakteure mit Studium und ein paar Jahren Berufserfahrung. Eigentlich leicht verdientes Geld, oder?“ Ich schluckte. „Reicht das nicht locker für zwei? Ich meine, was macht man mit so viel Geld, so ganz alleine? Ich wäre mit der Hälfte zufrieden.“ Er kaute weiter. Dann legte er nach: „Wir könnten uns den Job teilen. So bleibt eine Menge Zeit zum Leben. Und spart auch noch Steu‐
ern.“ Mir fiel die Kinnlade herunter. Dann sagte ich: „Du hast doch noch nicht einmal Abitur. Ich wür‐
de niemals Teilzeit arbeiten. Was glaubst du, wie viele Kollegen sich draußen die Hacken nach so einer Stelle abrennen und unterbeschäftigt blei‐
ben?“ „Was haben Sie gegen diese Kollegen? Eigentlich wäre es fair, seinen Job mit so jemandem zu teilen. Das wäre sozusagen mehr als die Hälfte für jeden. 147
Und Sie säßen nicht mehr so ganz alleine im Bü‐
ro“, sagte er. Ich schnappte nach Luft. Vielleicht hatte ich ihm doch ein bisschen zu viel Selbstbewusstsein einge‐
flößt. Herbert kam herein. Er schaute nach uns und er sah schlecht aus. Rücksichtsvoll wie er war, setzte er sich an einen anderen Tisch. Dann öffnete sich die Tür wieder und Kathrin und Striezel traten ein. Auch sie setzten sich an einen eigenen Tisch. Etwas machte mir Sorgen. Doch ich mochte nicht darüber nachdenken. Bis zum Abend hatte Friedrich einen Job erle‐
digt, für den ich mindestens drei Tage einkalku‐
liert hatte. Den nächsten Tag nahm ich mir frei und feierte Überstunden ab. Ich hatte keine Termine, denn ich hatte die Zeit bis zur Redaktionssitzung restlos für die Dokumentation eingeplant, die Friedrich mir mal eben abgenommen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass es besser sei, mich mit ihm gut zu stellen. Mit einem Praktikanten. „Du kannst dir jetzt was wünschen“, sagte ich zu ihm. „Wir schwänzen morgen die Arbeit und ich gebe dir einen aus. Wir können einen Ausflug ma‐
chen. Schick essen gehen. Was immer du willst.“ 148 „Nein, das ist nicht nötig. Dafür bin ich doch hier, um zu arbeiten und etwas zu lernen”, ent‐
gegnete er. Lernen? Was denn bitte schön? Von mir? Ich wollte ihm das Du anbieten, aber ich war mir in‐
zwischen nicht mehr sicher, ob ich mich damit wohl gefühlt hätte. „Du kommst ganz einfach morgen früh nicht ins Büro, sondern zu mir nach Hause, OK? Und dann frühstücken wir und sehen weiter.“ „Wenn Sie meinen... Soll ich was mitbringen?“, fragte er. Ich überlegte: „Vielleicht was Hübsches zu Aus‐
ziehen?“ In der folgenden Nacht tat ich kein Auge zu. Ich fühlte mich wie ein Rennfahrer, dessen vertraute Strecke plötzlich zur Eisbahn wurde und den ein Schlittschuhläufer überholte. Der hatte noch nicht einmal Abitur! Ich begehrte dieses schöne Ge‐
wächs von einem Jüngling. Er war so unverschämt gut und führte mich vor. Ich begann, mich vor ihm zu fürchten. Unser freier Tag begann mit sattblauem Himmel. Um neun saßen wir auf dem Balkon und redeten fast nicht. Irgendwann sagte ich: „Na los, iss schon. Vorher lasse ich dich nicht gehen.“ Er weigerte 149
sich und ich wurde energisch: „Mund auf!“, befahl ich und fütterte ihn. Ich kümmerte mich auch im Bett um alles und der kleine Friedrich stand stundenlang stramm. Ich testete aus, wo seine Knöpfe waren, die ich drücken musste, und was dann passierte. Wie er das genoss, die Seiten zu wechseln... Er hatte ein‐
deutig schon Erfahrung mit Männern. Ich floss über vor Geilheit, aber ich kam nicht. Er funktio‐
nierte tadellos, aber bei mir klemmte etwas. Ich sehnte mich nach Erlösung und mühte mich ver‐
geblich. Dann standen wir zusammen nackt vor dem Spiegel und betrachteten einander. Wir schwiegen. Und da sah ich meinen Sohn neben mir stehen, den ich nie hatte. Ich schämte mich für mein Sta‐
tusbrimborium und meine Mädchenmaskerade. Er war groß, schön, jung, überlegen und doch ein Niemand. Keine Kohle, keine Karriere, niemand, mit dem ich mich sehen lassen konnte. Ich zitterte und fror, dann schluchzte ich und er drückte mich an sich wie eine Dreijährige. „Geh, bitte geh nach Hause zu deinen Eltern. Du kommst sonst in Schwierigkeiten”, heulte ich und schob ihn von mir. Ich war hier in Schwierigkeiten. 150 Als er weg war, rief ich meine Schwester Ruth in Buenos Aires an und erreichte sie nicht. Ich sprach ihr auf den Anrufbeantworter und wartete Stunde um Stunde auf einen Rückruf. Dann versuchte ich es bei Pia. Pia, zu Deutsch: Die Fromme. Haha. Lange hatte ich mich nicht get‐
raut, ihre Nummer zu wählen. Doch auch Pia mel‐
dete sich nicht. Es war erst halb neun und wahr‐
scheinlich schnürte sie sich gerade in ihre Arbeits‐
kleidung. Oder ließ sie sich schnüren? Beides wäre für mich schlimm gewesen. Meine Therapeutin schied als Notfallambulanz aus. Sitzungen außer der Reihe waren kaum mög‐
lich, außerdem lagen Welten zwischen einer ver‐
heirateten Mutter und einer alternden Singlefrau mit chronischem Gluckensyndrom. Scheiß drauf, dachte ich. In meiner heißen, tro‐
ckenen Geilheit zog ich die Strümpfe über, streifte den Minirock über meinen nackten Po, schnürte meine Stiefel und dann das Korsett. Schlüssel, Handy und Brieftasche klemmte ich unter den Ab‐
schlussgummi meiner Strümpfe. Ich dachte an das Hohelied Salomos: „Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, die Gassen und Plätze, ihn suchen, den meine Seele liebt.“ Im Treppenhaus traf ich meine Nachbarin Clara. 151
Sie trug eine Schiebermütze, ein Hemd mit hoch‐
gekrempelten Ärmeln, Knickerbocker aus Tweed und karierte Kniestrümpfe und erinnerte mich an einen der Bengel in Zilles Berliner Milieustudien. Sie blieb stehen und schaute mir nach. Dann pfiff sie durch ihre Zahnlücke und sagte: „Kann ick dir ma buchen?“ Mir war plötzlich ganz heiß. Ruhelos streunte ich am Kanalufer entlang, in voller Mädchenmaskerade, rot und weiß und schwarz. Ich lief zum Kottbusser Tor und alle glotzten. Nur ein paar junge Türken trauten sich, mir nachzurufen. „Hallo, Schwester...“ Besonders schlimm sind die Klischees, die zutreffen. Einer von ihnen stellte sich mir in den Weg und schürzte seine Lippen zu einem Kuss. Nein, so nicht, dachte ich. Ich wich aus. Immer wieder stell‐
te er sich mir in den Weg und versuchte, nach mir zu greifen. Ich packte sein Handgelenk, drehte es mit Schwung nach außen und spürte, wie seine Knochen knackten. Mit einer flotten Drehung ging er zu Boden. Dann wandte ich mich den anderen zu. „Noch jemand?“, fragte ich. Der Bursche am Bo‐
den wimmerte und umklammerte seinen Arm. Seine Brüder ergriffen die Flucht. 152 Ich winkte mehreren Taxis zu, doch keines hielt an. Also lief ich weiter in Richtung Oranienstraße. Immer wieder fuhr der gleiche blonde Moun‐
tainbiker an mir vorbei. Er schien hinter der je‐
weils nächsten Ecke auf mich zu warten. Ich wollte es wissen und drückte mich in einer Seitenstraße an eine Hauswand. Und tatsächlich: Er kam zu‐
rück und schaute, ob ich vielleicht abgebogen war. Er war ertappt und lachte verlegen. „Kann ich dir helfen?“, fragte ich. „Äh, ach nee, danke, nein...“, stammelte er und machte sich davon. „Ich suchte ihn und fand ihn nicht“, singt die Liebende im Hohelied. Ich fühlte mich wie eine Schaufensterpuppe hinter Glas. An der Oranienstraße ließ ein Taxifahrer die Scheibe der Beifahrertür heruntergleiten und rief mir zu: „Steijense ein, junge Frau, sonst holense sich noch den Tod oda wat Schlimmres.“. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, zog die Tür zu, und er setzte wieder an: „Also, icke mach Ih‐
nen jetze `n Kompliment, wa? Icke fahrse übaall hin, nur nich zur Oranienburger. Meinetwegen auch zum KitKatClub, aba nich da hin.“ Er war so ein Kreuzberger Urgestein, Typ geal‐
terter Hausbesetzer, mit Koteletten und an den Sei‐
153
ten rasiertem Schädel. Er erinnerte mich fatal an den „Taxi Driver“, gespielt von Robert de Niro, mit einer Menge klobigen Silberringen an den Fin‐
gern und einem Nietenarmband. Dann redete er weiter: „Se sind wohl nich von hier, wa? Oder hamse det Quatschen verlernt? Icke fahr jetze imma jeradeaus Richtung Spandau und Se müssen mir nüscht sajen, die Uhr läuft. Bei mir wird in bar bezahlt.“ Ich lachte. „Sie werden es nicht glauben, aber ich will wirklich zur Oranienburger.“ Er schaute mich groß an: „Also von Nahem be‐
trachtet, sind Se ja schon ne Weile volljährig. War mir nich sicher, als ickse im Vorbeifahren von hin‐
ten jesehn hab. Mein Gott, wie kann man nur so dünne sein.“ Er schaute an sich hinunter und griff in sein Bauchfleisch. Er steuerte den Wagen in die Köpenicker Straße. Am KitKatKlub warteten wir an der roten Ampel. „Kiekense ma“, sagte er und zeigte nach vorne. Vor uns stand ein Straßenkreuzer, schwarz, mit Heckflossen und Chromzierrat. Aus dem Auspuff blubberten Benzinschwaden. „Ist das ein Cadillac?“, fragte ich. „Cadillac! Mädchen, det is die russische Antwort auf Cadillac, det is ne Tschaika! Sowjetische 154 Staatskarosse, unjefähr so alt wie icke. Chruscht‐
schow hat sich eben nicht Lumpen lassen.“ Das Nummernschild begann mit „OVP“. „Komi‐
sches Kennzeichen“, sagte ich. „Wofür steht das? Ostischer Verkehrs‐Prolet?“ Er lachte. „Nee, Ostvorpommern. Da leben ent‐
weder Alkoholiker, Aussteijer oder Künstler.“ Die Ampel sprang auf Grün und die Tschaika setzte sich in Bewegung. Sie nahm die Kurve nach rechts in die Brückenstraße. Dann gab der Fahrer Gas und das Schiff entschwand mit lautem Brüllen in Richtung Alexanderplatz. Robert De Niro trat aufs Pedal und stellte dem Straßenkreuzer nach. „Det muss icke mir noch ma von Nahem ankie‐
ken“, sagte er. „Sie fahren gut. Mein Vater war Rennfahrer. Tun Sie das gerne?“ „Icke mach det seit üba zwanzig Jahren. Bin schon mehr als einmal zum Mond jefahrn. Is nich mehr so wie früa, kommt nüscht mehr bei rum. Aber icke könnt’n Buch schreiben.“ Wir fuhren an der chinesischen Botschaft vorbei, überquerten die Spree und passierten den S‐Bahn‐
bogen. „Wenn icke Ihnen erzähle, wer schon allet neben 155
mir saß, würdenses nich glooben. Macht halt doch manchmal Spaß, so wie jetze. Na, überlejenses sich. Is vielleicht noch n bisschen früh, aber icke lass mir jerne zum Bier einladen und dann erzähl icke Ihnen wat.“ Er zwinkerte mir zu. Ich schüttelte den Kopf. „Oranienburger“, sagte ich. Es war ein sommerlich warmer Abend, obwohl es noch April war. In diesem Moment hatte ich nichts gegen die Klimakatastrophe. Ich genoss den Fahrtwind und das Brummen des Diesels. Mein Fahrer schob eine CD ins Radio und es lief die Na‐
tionalhymne der DDR. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt...“ „Jefällt Ihnen det?“, fragte er. Ich kicherte und schüttelte den Kopf. Passte aber irgendwie richtig gut zum Alexanderplatz, wo einst die NVA und die Betriebskampfgruppen pa‐
radiert hatten. Die Ampel am Alex sprang auf Rot und die Tschaika bremste. Robert ordnete sich nach Links ein und das Taxi kam neben dem Schiff zum Ste‐
hen. Wir verdrehten unsere Hälse. „Viel Spaß beim Einparken. Der hat bestümmt ne eijene Ölquelle“, sagte Robert De Niro. 156 Am Steuer der Tschaika saß ein junger Mann. Typ Bombenleger. Er hatte lange, strähnige Haare und einen Dreitagebart. Auf seine Stirn hatte er ei‐
ne verspiegelte Pilotenbrille geklemmt. Er drehte die Musik auf. Es lief „Friday I’m In Love“ von The Cure und mischte sich mit dem DDR‐Propagandamarsch zu einer grausigen Ka‐
kophonie. Er schaute zu mir und sang furchtbar falsch und aus voller Kehle: „I don’t care if mon‐
day’s black, tuesday, wednesday hard to take, thursday never looking back, it’s friday I’m in love.“ Er klopfte dabei auf das Lenkrad und lachte mir zu. Bestimmt noch so ein Kreativer, dachte ich. Ich musste an Eduard denken und wurde traurig. Die Ampel sprang auf grün. Die Reifen der Tschaika quiekten und sie donnerte Richtung Ost‐
vorpommern davon. Dann bog Robert nach links ab. „Tschaika, die Möwe. Da fliegtse hin, ans Meer“, sagte De Niro. Jetzt verstand ich auch die Bedeutung des schwungvollen Chromornaments auf den Flanken des Russenschiffs. „Fahren Sie langsam”, sagte ich, als wir am Hackeschen Markt waren. 157
Wir rollten an den Huren vorbei, die am Stra‐
ßenrand herumstaksten. Alle wie immer im Kor‐
sett, mit Lackstiefeln und Gürteltaschen auf dem Hintern. Da stand Pia. Diesmal in einem roten Korsett über einem schwarzen Body und mit einem beigen Rock mit Volants, Kreolen und offenen Haaren wie ein Wasserfall. Sie wäre glatt als Flamencotänzerin durchgegangen. Ich bat Robert um die Karte seiner Taxifirma, drückte ihm ein sattes Trinkgeld in die Hand und stieg aus. „Passense jut auf sich auf”, rief er mir nach. Ich schlich mich von hinten an Pia heran. „Ach sagen Sie, woher kennen wir uns?“, sagte ich ihr über die Schulter ins Ohr. Verdutzt schaute sie mir ins Gesicht. Dann strahlte sie und drückte mit ihrer warmen Hand meinen Kopf an ihre glühende Wange. Sie drehte sich zu mir um und betrachtete mich von oben bis unten. „Ich bin deiner Empfehlung gefolgt”, sagte ich und drehte mich einmal um mich selber. Sie lachte. „Steht dir gut.“ „Vielleicht sollte ich bei Jana öfters mal zur An‐
probe kommen”, sagte ich. 158 Sie kicherte. „Hast du heute schon was vor?“, fragte ich sie. „Ich bin verabredet, ich weiß nur noch nicht, mit wem”, sagte sie. Jetzt musste ich lachen. „Wie wär’s mit mir?“ Ich sah, wie Robert de Niro in seinem Taxi lang‐
sam aus der anderen Richtung angerollt kam. Ich griff Pias Hand und zerrte sie zum Wagen. „Komm“, rief ich. „Das geht mir auf die Arbeitszeit, das kostet”, protestierte Pia. „Darüber reden wir morgen“, sagte ich. Ich saß hinten, Pia vorne neben Robert de Niro. „Ich bin heute deine Kundin“, sagte ich zu Pia. Robert de Niros Augen im Rückspiegel wurden immer größer. Robert De Niro fuhr uns zum KitKatClub. Zu‐
nächst fanden wir den Eingang nicht, denn er lag versteckt um die Ecke. Der Türsteher war damit beschäftigt, ein paar Halbstarke abzuwimmeln. Obwohl wir hinter ihnen anstanden, winkte er Pia und mich durch. Dann passierten wir eine Metall‐
tür mit einem Bullauge. Ich war zum ersten Mal in einem solchen Club und wollte wissen, was es mit der „geschlechtsbe‐
wussten Türpolitik“ und der sexuellen Praxis vor 159
Ort auf sich hat. Und: Im KitKatClub finden „Par‐
ties für zivilisierte Menschen“ statt. So steht es auf der Website. Das Erste, was uns im Inneren ins Auge sprang, war eine üppige, goldene, grinsende Buddhasta‐
tue, die eine Art Bauchtanz aufführte, wobei es sich mehr um Bauch als Tanz handelte. Ein Ange‐
stellter mit weißem Hemd hielt uns einen Stift ent‐
gegen, damit wir Mitglied im „Verein zur Pflege hedonistischer Lebenskultur“ werden. Links von uns stand ein Knäuel aus chinesischen Drachen mit Glubschaugen, aufgerissenen Mäulern und ra‐
siermesserscharfen Zähnen. Pia und ich fielen in diesem Pandämonium aus streunenden Stadtneurotikern, Lack und Latex, Ketten, Handschellen und schwarzen Klamotten durch unsere unschuldig‐adrette Mädchenoptik auf. Der wummernde Techno, der Zigaretten‐
qualm und die zuckenden Laserstrahlen verur‐
sachten mir Übelkeit. Pia stieß mich an und deutete mit dem Kinn nach rechts. Da stand ein Typ mit Ziegenbart, Stirnglatze und Glasbausteinen auf der Nase. Sein Oberkörper war nackt und sein Unterleib steckte in einer zerfetzten Damenstrumpfhose. Durch ein Loch im Schritt baumelte sein schrumpeliger 160 Schwanz. In seinen Hüftspeck schnitt sich ein schmaler Riemen ein, dessen lang überstehendes Ende über seinen Hintern hing. Ein schwules Paar mit Oberlippenbärten tausch‐
te Zungenküsse aus. Der eine von ihnen trug eine schwarze Lederhose. Durch eine große Ausspa‐
rung darin leuchteten seine käsigen Arschbacken. Unsere Wespentaillen saugten die Blicke von Männern und Frauen (und der Abstufungen da‐
zwischen) an. Doch ich konnte sie nicht erwidern. Ich besann mich auf meine Begleitung und nahm sie mit zu mir nach Hause. Als wir den Club verließen, öffnete sich die Tür eines Taxis. Robert hatte vor dem Club gewartet. „Keene Sorje, icke hab Ihnen nich aufjelauert, icke steh oft hier. Hier jibtet Kunden mit Knete”, sagte er. Wir stiegen ein und er fuhr uns zum Paul‐
Lincke‐Ufer. Oben angekommen, drückte ich hinter uns die Wohnungstür ins Schloss. Endlich Ruhe. Ich konnte nicht aufhören, Pias schweres, glän‐
zendes Haar durch meine Hände gleiten zu lassen. „Ich glaube, ich muss dringend mal wieder zum Keralogen. Meinst du, bei mir ist noch was zu ma‐
chen?“, fragte ich sie und betrachtete meinen 161
Spliss. Sie lachte. „Ich habe mir ‘ne Haarverlängerung gegönnt“, sagte sie. „Sieht ziemlich echt aus, oder?“ „Lass mir doch meine Illusionen“, beschwerte ich mich. Ich nahm ihre Hand und zog sie hinter mir her in mein Zimmer. Dann schälten wir uns gegenseitig aus unseren Sachen. Die Schnürung in Pias Rücken hatte kaum Spannung. Wir fläzten uns aufs Bett. Ich konnte ihre Mitte mit meinen Händen fast umfassen, wenn ich fest zupackte. Ich spürte den Pulsschlag darin. Sie schloss die Augen, räkelte sich und stöhnte leise. Sie streckte ihre Arme hinter ihren Kopf und ihre Rippen wanderten auf und ab. Mit ihrer prominenten Nase und ihrer zarten Taille lag sie da wie eine der Nackten auf den Ge‐
mälden von Amadeo Modigliani. „Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide, von Künstlerhand gemacht“, so zitierte ich das Hohe‐
lied Salomos. Sie schaute mich verdutzt an. Ich kniete mich neben sie, betrachtete versonnen ihren Körper und strich mit der Hand ihre Kurven entlang. Ich rezitierte weiter: „Dein Schoß ist ein rundes Becken, an Würzwein mangele es ihm 162 nicht.“ „Du bist seltsam“, sagte Pia. Ich ließ meinen Kopf in ihren Schoß sinken. Ihre rosige Auster schmeckte so gut. Nach Meer und frischem Ayran. Doch etwas fehlte. Irgendwann lagen wir einfach nur noch da, in Löffelchenposition, ich hinter ihr. Wir schwiegen und schauten mit wässrigen Augen ins fahle Mondlicht, das durchs offene Balkonfenster schien. Mein Apfelbäumchen wiegte sich im Wind. Das Geld durfte ich behalten. Ich bin wirklich seltsam, dachte ich. Ich wünsch‐
te mir einen Mann und trieb es mit einem Minder‐
jährigen und mit einer Hure. Wieder fragte ich mich: Bin ich schwul? Eine Pä‐
derastin? Lesbisch? Habe ich einen Mutterkomplex und gleichsam meinen Sohn vernascht? Wo sind sie, die Schürzenjäger und Potenzprot‐
ze? Antwort: Im Türkenghetto am Kotti. Wie viel intravenöses Testosteron und Viagra braucht es, um aus einem Intellektuellen einen Vergewaltiger zu machen? Seitdem ich im Geschäft bin, ist eine Menge pas‐
siert, dachte ich. Heutzutage ist alles leichter zu haben als das Standardprogramm. Man zieht sich danach an und geht. 163
Wir wissen ja schon alles, haben alles schon ge‐
sehen und ausprobiert. Hat ein Konditor noch Appetit auf Sahnetorte? Kriegt ein Gynäkologe noch einen hoch? „Unkraut vergeht nicht“, sagte man einst. Be‐
kommen haben wir das Artensterben. „Kinder kriegen die Leute immer“, hatte Adenauer gesagt. Bekommen haben wir den Rentennotstand. „Män‐
ner können und wollen immer“, dachte man frü‐
her einmal. Bekommen haben wir Viagra. Irgendwann schlief ich ein. Ich träumte von in‐
einander verschlungenen faltigen Greisen, von schlaffen Brüsten und zahnlosen Mündern, die Zungenküsse austauschten, von aufgepumpten Penissen, die in schlaffen Mösen herumfuhrwerk‐
ten und von wabbeligen Bäuchen, die aneinander klatschten. Am nächsten Tag saß ich erschlagen, übernäch‐
tigt und zutiefst verzweifelt in der Redaktionssit‐
zung. Dieses Mal arbeiteten wir auch samstags, denn die Zeit drängte. In seinem Eifer hatte Fried‐
rich darauf bestanden, dabei zu sein. Ich hatte mir einen Anschein von Lebendigkeit ins Gesicht geschminkt und irgendwann aufge‐
hört, die Espressi zu zählen. 164 Uns gegenüber saßen wie üblich Herbert, Kath‐
rin und Striezel. Als wir beim Zahnersatz waren, sagte Striezel: „Also, Frau Wiesengrund, soweit ich sehe, ist das eine tadellose Dokumentation. Und Sie waren diesmal gar nicht im Verzug. Das ist Ihnen be‐
stimmt nicht leicht gefallen.“ Plötzlich begann Friedrich neben mir zu reden. „Ach nein, so schwer war das gar...“ Halt den Schnabel, dachte ich. Ich kippte zu ihm hinüber und küsste ihn auf den Mund. Wie viel Kathrin auch immer wusste: Es war eine präventive Sicherheitsmaßnahme und ich hoffte, jetzt endlich auf der sicheren Seite zu sein. So ganz nebenbei hatte ich auch Friedrich zum Schweigen gebracht. Herberts Augen brachen. Kathrin und Striezel packten ihre Unterlagen zusammen und verließen wortlos den Raum. Auch ich stand auf und wollte Friedrich bei der Hand nehmen, doch er ließ es nicht zu. Herbert blieb sitzen und starrte vor sich hin. Draußen sagte Friedrich zu mir: „Frau Wiesen‐
grund, wir werden uns nicht wiedersehen.“ Dann ging er. Ich habe nie wieder von ihm ge‐
hört. 165
Leiden verboten So wie Herbert nach dieser letzten Sitzung dasaß, war mir klar, dass sein Untergang nicht aufzuhal‐
ten war. Ich wollte vor allem eines: mich selber ret‐
ten. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Kathrin‐
Striezel‐Torpedo haarscharf an mir vorbeigezischt war und ihn getroffen hatte. Ich fühlte mich wieder bedeutend sicherer als vor dieser Küsserei. Ich war sicher, dass ich auch ohne Herbert gut zurechtkommen würde. Er bat mich wieder um ein Treffen. Nein, er bet‐
telte darum. Ich fragte mich, ob es sich noch loh‐
nen würde, in ein Wrack zu investieren. Denn wenn ich eines gelernt hatte, war es dies: Wer leidet, verliert. Niemand liebt dich, wenn du schwach bist. Besonders als Mann. Ich verwies Herbert auf die Psychiatrie. Und ließ mich trotzdem zu einem weiteren Treffen breit‐
schlagen. Ich wollte mein neu gewonnenes Macht‐
gefühl ein bisschen auskosten. Er hatte wieder von Klein‐Muselkow und diesem ominösen Skandal angefangen. Ich konnte es nicht mehr hören. Wenn er sich nicht endlich zusammenreißen würde, würde ich nicht noch einmal flüchten, sondern stattdessen ihn hinauswerfen. 166 So malte ich es mir aus und es fühlte sich großar‐
tig an. Herbert machte mich in seinem Elend wütend. Ich ekelte mich vor ihm, vor seiner Schwäche und Bedürftigkeit. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er sich nur so aufführte, um mich zu ärgern, um meine Bedürfnisse als Frau zu frustrieren, um Be‐
achtung und Mitleid zu heischen, mich emotional auszubeuten. Er kotzte mich an. Er weigerte sich, seine Trümpfe auszuspielen. Das letzte Mal, dass ich ihn als Chef erlebt hatte, war dieses Gespräch nach der Redaktionssitzung, bei dem er mir eröffnete, wie er unsere Pläne zu ändern gedachte. Wenn er nur nicht so geschwitzt hätte... Jetzt verweigerte er mir mein natürliches Ge‐
burtsrecht als Frau, nämlich mich auf ihn als Mann stützen zu können. Ich fand, dass ich einen An‐
spruch darauf hatte, dass er funktionierte und zwar so, dass ich mich sicher, beschützt und be‐
gehrt fühlte. Sein Heischen nach Zuwendung durfte unter keinen Umständen belohnt werden. Sonst würde ich mir einen Tyrannen heranzüchten, der nie mehr aufhören würde, an mir zu saugen. 167
Ich fürchtete, mich an seinem Elend anzustecken. Er litt an einer scheußlichen Form von sozialem Aussatz, gehörte unter Quarantäne. Ich wollte stark und glücklich sein und unglückliche, schwa‐
che Menschen hatten in meinem Universum kei‐
nen Platz. Ich empfand, dass das Leid aus der Welt zu verschwinden hätte, notfalls indem die Leiden‐
den verschwänden. Leid ist das Problem der Lei‐
denden. Wer leidet, macht eben etwas verkehrt. Jedes Leiden erschafft man sich selber. Ein jeder ist sein eigener Gott, der sich seine Welt erschafft. Wer leidet, hat sich unbewusst, aber freiwillig da‐
für entschieden. Fazit: Herbert hatte Probleme und das war nicht mein Problem. Auch insofern lag ich voll im Trend. Das Wetter war so schön, dass ich wieder mit dem Rennrad nach Buch zum „Kleinen Löwen“ fuhr. Dann wartete ich auf der Sitzgruppe neben der Rezeption auf Herbert. Und wartete. Und war‐
tete. Die Müdigkeit überwältigte mich. Ich rollte mich wie ein Baby in den kühlen Leinenkissen des Korb‐
fauteuils zusammen. Und schlief ein. Ich träumte schwer. Ich war auf einem großen Schiff unterwegs. Es war so eine Art Supertanker, 168 ein rostiger Seelenverkäufer. An Deck flanierte ei‐
ne heitere Gesellschaft im Kreuzfahrt‐Look. Ret‐
tungsboote sah ich keine. Aber in Sichtweite ragte eine steile Felsenküste aus rotem Gestein aus dem Meer, so eine Art Helgoland. Dann hörte ich einen dumpfen Knall und das Schiff bebte. „Wir saufen ab!“ rief ich und schüttelte den einen oder ande‐
ren. Doch sie nahmen mich nicht wahr. Schließlich sprang ich ins türkisfarbene Wasser. Hinter mir das Rostrot des Schiffes, über mir der tiefblaue Himmel mit weißen Wolken, vor mir die roten Fel‐
sen und das Türkis des Meeres, unter mir die Schwärze der Tiefe. Ich hatte keine Angst mehr, schwamm, war stolz, dass ich es getan hatte. Hin‐
ter mir sprangen sie jetzt auch, sie waren hinter mir her. Ich schwamm um mein Leben. Jemand legte seine Hand auf meine Schulter und drückte mich unter Wasser. Ich schreckte auf. Es war der Portier. „Ist alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?“, sag‐
te er. Ich hätte mein Shirt auswringen können und zit‐
terte. „Neinnein, ich habe schlecht geträumt“, stam‐
melte ich. „Nehmen Sie sich ein Zimmer, wenn Sie schlafen 169
möchten“, sagte er bestimmt. Ich schaute auf die Uhr. Herbert war schon zweieinhalb Stunden über die Zeit. Ich rief ihn auf dem Handy an. Eine weibliche Stimme meldete sich. „Hallo?“ Es war Kathrin. Mein Herz blieb stehen. Ich legte auf. Eine Minute später kam der Rückruf. „Herbert“ zeigte das Display an. Es klingelte dreimal. Viermal. Ich drückte die grüne Taste, hob das Gerät ans Ohr und schwieg. „Ich habe hier die Kiste mit seinen Sachen“, sag‐
te sie. Kathrin klang, als wolle sie mir sagen, sie habe beim Einkaufen etwas vergessen. „Eigentlich sollte er noch auf Arbeit sein. Hast du eine Idee, wo er so früh hinwollte?“, fragte sie. Mir wurde heiß. „Er war nicht angegurtet. Aber er lebt noch. Ein bisschen...”, sagte sie. Ich schluckte. Mehrmals. „Wo ist es passiert?“ Meine Stimme bebte. „Auf der Dorfstraße, kurz vor Lindenberg. Was wollte er da?“, hakte sie nach. Ich japste und legte schnell auf. Ich fuhr hin. Der Berufsverkehr staute sich in 170 beiden Richtungen. Gaffer verrenkten sich die Häl‐
se. Polizisten schwenkten ihre Kellen und trieben sie zur Weiterfahrt. Ich versuchte, mich zum Wrack hindurchzu‐
drängeln. „Fahren Sie weiter!“, raunzte mich ein Polizist an. „Ich bin seine...“, schrie ich. Der Rest blieb mir im Halse stecken. Mir wurden die Knie weich. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Lassen Sie mich durch, bitte!“ bettelte ich. Der Mercedes hatte die Form einer Banane. Die Motorhaube war zusammengefaltet und Dampf zischte darunter hervor; aus dem Kühler tropfte Wasser in eine schwarze Öllache. Die Fahrertür war herausgebrochen, das Dach aufgesägt und wie der Deckel einer Sardinendose aufgeklappt. Alles war mit einem Teppich aus Glaskrümeln bedeckt. Der Airbag hing schlaff vom verbogenen Lenkrad; Blutspritzer strahlten auf dem weißen Stoff. Der Wagen war mit der Beifahrerseite an einem anderen Baum zum Stehen gekommen, den die Wucht in eine bedenkliche Schräglage versetzt hat‐
te. Der andere schräg gegenüber war der Länge nach gespalten und die Feuerwehr hatte schon mit dem Fällen begonnen. Die schwarzen Streifen auf der Fahrbahn zeichneten die Pirouette nach, die 171
der Wagen über die Fahrbahn gedreht hatte. „Nicht einfach, sich mit so einem Auto totzufah‐
ren. Geht eigentlich nur, wenn man nicht angegur‐
tet ist und nicht bremst.“ sagte ein Mann in Zivil hinter mir, der Fotos machte. „Wo haben Sie ihn hingebracht?“, fragte ich den Fotografen. „Unfallchirurgie der Charité“, sagte er. Fünfunddreißig Minuten später war ich dort. Von Herbert waren nur noch die Augen zu sehen, das Linke war total zugeschwollen, das Rechte ge‐
schlossen. Er lag im künstlichen Koma, sein ge‐
samter Schädel war bandagiert. Aus seinem Mund hing ein Plastikschlauch. Der Raum war vom Sur‐
ren und Schnaufen der Maschinen erfüllt. Kathrin und ich schwiegen, ich kann nicht sagen, wie lange. Mir schnürte es die Kehle zu und mir wurde heiß. Wir starrten ihn an. Seine Lider zuckten. Plötz‐
lich riss er die Augen auf und starrte nach oben, so dass man nur das Weiße sah. Ich japste nach Luft und Kathrin stieß einen gepressten Schrei aus. Ich rannte nach draußen und einer Ärztin in die Arme. Ich brachte kein Wort heraus und zog sie hinter mir her an sein Maschinenbett. „Das kommt vor. Auch im Koma. Nervenrefle‐
172 xe“, sagte sie. Sie schloss mit der Hand seine Au‐
gen. „Normalerweise überlebt man so etwas nicht. Aber unser Chef ist ein Künstler.“ Mir wurde schlecht. Ich musste an meinen Renn‐
radunfall denken. Ich war voriges Jahr voll gegen ein stehendes Auto gefahren und im hohen Bogen über den Lenker abgestiegen. Das Pflaster war verdammt hart. Mein Helm hatte einen langen Riss und ich eine Gehirnerschütterung. Mein Handge‐
lenk ist bis heute lädiert. Ich musste zur Beobach‐
tung fünf Tage ins Krankenhaus, denn ich hatte auf einem Auge Sehstörungen. Es macht mich schon wahnsinnig, wenn ich wegen einer Grippe einen ganzen Tag lang im Bett bleiben muss. Ich floh nach Hause und brauchte dringend Bei‐
stand. Regine stand nur im Rahmen des therapeu‐
tischen Settings zu Verfügung. Sie konnte sich je‐
derzeit entziehen, indem sie mich auf die Psychiat‐
rie verwies. Diese Option schied bei mir aus wie auch Drogen, und Psychopharmaka sind Drogen. Lieber wäre ich gestorben. Wieder rief ich meine Schwester an. Ruth war der einzige Mensch auf der Welt, dem ich mich zumuten wollte, wenn ich mich schwach fühlte. Nur bei Ruth wagte ich es, ganz und gar ehrlich zu sein. Ihr musste ich nichts vormachen, bei ihr 173
musste ich keine Maske tragen. Ruth ist meine große Schwester. Sie ist ein bisschen kleiner als ich aber sechs Jahre älter. Zwei endlose Stunden lang versuchte ich es immer wieder, bis ich sie endlich erreichte. Ich hatte sie förmlich herbeihalluziniert. Ruth ist zierlich, hat einen blondgelockten Wu‐
schelkopf und eine knabenhafte Statur. Sie wirkt erheblich jünger als fünfundvierzig und manchmal finde ich, sogar jünger als ich. Sie ist Schauspiele‐
rin. Meist tritt sie kleinen Rollen oder Werbespots auf. Einmal hat sie sogar in einem größeren Film mitgespielt. Dabei hatte man ihre Haare dunkel ge‐
färbt, damit sie zwischen all den Argentiniern nicht so heraussticht. Sehr gern wird sie als Euro‐
päerin gebucht, weil sie mitten in Berlin kein biss‐
chen auffiele. Sie sieht deutscher aus als die meis‐
ten Deutschen. Wenn sie einem die Tür zu ihrem Haus in Santelmo öffnet, trifft einen erst dieser re‐
signierte Blick aus großen Augen und dann diese Tausend‐Watt‐Strahlenkanone ihres Lächelns. Man muss sich am Türrahmen festhalten, damit es ei‐
nen nicht nach hinten umwirft. Ruth sieht so zart aus. Als Mädchen war sie im‐
mer unser „angelito“, das Engelchen. Aber Ruth ist auch gerissen und geschäftstüchtig. Auch sie über‐
lebt ohne Ernährer oder Beschützer und das gar 174 nicht mal so schlecht. Als meine Eltern und ich nach Israel emigrierten, war sie zwanzig, hatte ge‐
rade einen Argentinier geheiratet und kam deshalb nicht mit uns. Die Ehe blieb kinderlos und ist schon lange geschieden. Oft wird Ruth gefragt, warum sie keine Kinder habe. Dann sagt sie: „No se me dió.“ Will meinen: „Es hat sich nicht erge‐
ben, es wurde mir nicht gegeben.“ Ich spürte deut‐
lich, wie sehr mein Vater sich ein Enkelchen wünschte und Ruths Menopause stand sozusagen vor der Tür. Entsprechend häuften sich seine boh‐
renden Fragen, ob ich denn gesund sei und einen Freund habe und ob es etwas Ernstes sei... Immer hat Ruth mindestens zwei Standbeine. Zur Sicherheit. Sie hat schon alles mögliche ge‐
macht: Sie war Chefsekretärin bei Sharp, dann hat‐
te sie eines der ersten schicken Restaurants in Pa‐
lermo Hollywood, bevor dieser Stadtteil hip wur‐
de (bis ihr Kompagnon sie durch betrügerischen Konkurs fast ruinierte), sie war immer Schauspie‐
lerin und seit zehn Jahren praktiziert sie Iyengar‐
Yoga, was wohl auch ein Grund für ihre jugendli‐
che Erscheinung ist. Ich habe einmal aus Neugier bei ihr eine Stunde genommen. Tagelang schmerz‐
ten meine Sehnen wie nach einer Folter auf der Streckbank. Seit zwei Jahren gibt sie auch Yoga‐
175
kurse (sind ihre Kunden Masochisten?) und ver‐
mietet an internationale Gäste Zimmer in ihrem Haus im Kolonialstil mitten im historischen Stadt‐
teil Santelmo. Ruth war schon immer eine Lebenskünstlerin, so ganz anders als Esther, die Rebellin. Während meine Mutter befürchtete, ich könne als Terroristin enden, schlängelte Ruth sich immer reibungslos durchs Leben und hat mit einem Minimum an Ein‐
satz praktisch immer erreicht, was sie wollte. Au‐
toritäten, Banken und dem Staat hat sie nie ver‐
traut, was in Argentinien lebenswichtig ist. Im Winter 2001/2002 war ich bei ihr in Buenos Aires zu Besuch und durfte den argentinischen Wirtschaftscrash live miterleben, wie die Banken geschlossen wurden und der Mittelstand binnen weniger Wochen wirtschaftlich ausradiert wurde. Ich sah, wie auf den Straßen Revolten topfschla‐
gender Hausfrauen ausbrachen, die ihre Kinder nicht mehr ernähren konnten (die Männer konnten meist noch nicht einmal sich selbst ernähren). Wie diese Frauen Polizeistationen stürmten und die Staatsmacht vermöbelten. Zur Veranschaulichung stellen Sie sich bitte vor, wie es sich anfühlen würde, wenn sich Ihr Ein‐
kommen binnen weniger Monate auf ein Drittel 176 reduziert (im Schnitt, denn wahrscheinlich hätten Sie gar keines mehr), die Preise sich aber verdop‐
peln. Wenn Sie sich plötzlich nur noch von Reis und Wasser ernähren können und noch nicht ein‐
mal Strom oder Gas bezahlen können, um den Reis zu kochen. Wenn Sie sich noch nicht einmal mehr eine Busfahrkarte für 20 Cent leisten können. Ruth hat dem argentinischen Peso und den Ban‐
ken nie vertraut. Immer hielt sie ihre Ersparnisse in US‐Dollar und zwar in bar. Was sich als glän‐
zendes Geschäft erwies, als die Eins‐zu‐eins‐Parität des Peso zum Dollar zusammenbrach. Plötzlich kostete in Argentinien alles nur noch ein Drittel – sofern man in Dollars bezahlte. Damals hat Ruth sich vom Vorbesitzer, der Pleite gegangen war, für einen Witz von dreißigtausend Dollar dieses Haus im Kolonialstil gekauft: Mitten im historischen Zentrum von Santelmo, mit mauri‐
schen Fliesen, schmiedeeisernden Fenstergittern, viereinhalb Meter hohen Holzbalkendecken, höl‐
zernen Fensterläden, bunt verglasten Fenstern so‐
wie zweihundert Quadratmetern Wohnfläche. Wenn man von einem Raum in einen anderen ge‐
langen möchte, muss man den mit Ficusbäumen begrünten Patio passieren. 177
Bei der Sanierung nahm Ruth Schaufel und Kelle auch selber in die Hand. Heute hat das Domizil zwei Bäder, eine Wohnküche, drei Gästezimmer und einen Yogaraum. Ruth hat Geschmack. Sie hat mit rotem Samt be‐
zogene Sessel, Schränke aus Mahagoni und auch sonst fast alles selber restauriert. Ihr Schlafzimmer ist zum Yogaraum hin offen („Wenn ich schlafe, mache ich kein Yoga und umgekehrt“, sagt sie). Hinter dem Schlafzimmer liegt das größere der beiden Bäder, mit einem Eingang links und einem rechts vom Bett. Dieses Bad ist ein schmaler Schlauch und wenn man von der Toilette auf der linken Seite zum Waschbecken auf der Rechten ge‐
langen will, muss man durch die mit Mosaik aus‐
gelegte Duschwanne klettern. Die Wände sind nicht gefliest, sondern mit marmorartig eingefärb‐
tem, poliertem Feinzement verputzt. Sieht wirklich aus wie Marmor. Und wo immer möglich, hat Ruth antike Armaturen aus Messing und entspre‐
chende Waschbecken eingebaut. An ihr ist eine Handwerkerin oder Architektin verloren gegangen. 178 Fast immer hat sie interessanten Männerbesuch, wenn ich bei ihr bin. Aber sie hat wie ich das Ta‐
lent, die gebeutelten und schwierigen Fälle anzu‐
ziehen (wobei es in Argentinien kaum andere Männer gibt). Einmal hatte sie einen deutschen Journalisten zu Gast, sehr intelligent und char‐
mant. Und furchtbar depressiv. Er hätte gern eines ihrer Zimmer gemietet und nahm mit ihr Tango‐
stunden in ihrem Patio. Schließlich schickte sie ihn weg, wie auch den Tangolehrer, den er gebucht hatte. Dieser Carlos war einmal einer der zehn be‐
deutendsten Tanzlehrer von Argentinien; er hatte zehn Jahre lang am Broadway unterrichtet. Und lebte jetzt vom Verkauf seiner letzten Möbelstücke. In der Regel rufe ich Ruth nachts an (in Buenos Aires ist es fünf Stunden früher). Als ich sie end‐
lich erreichte, war sie gerade am Kochen; sie hatte sich ein paar Freunde eingeladen und sie bereite‐
ten in der Küche gemeinsam das Abendessen zu. Sie hob ab und wir schwiegen. Dann sagte sie: „Ach Mädchen, lass mich raten: Es ein Mann, der dir Ärger macht, stimmt’s?“ „Warum ziehe ich den Schlamassel nur derart an?“, jammerte ich. „Du kümmerst dich zu sehr um die Männer. Mach einfach, was dir Freude macht und der Rest 179
ergibt sich“, riet sie mir. Tat ich, was mir Freude machte? Selbstverständ‐
lich mache mir mein Job Freude, das sei schließlich mein Beruf, wollte ich pflichtschuldig dagegenhal‐
ten. Ruth schien nicht allzu unglücklich zu sein – trotz der ewigen Ungewissheit, die ihr Multitas‐
king zwischen Yoga, Schauspielerei und Pri‐
vathostel mit sich brachte. „Ich hoffte, dass Herbert und ich, dass wir...”, stammelte ich. „Du bist wahnsinnig. Der ist verheiratet, das hast du mir selbst erzählt. Ich habe dir damals schon gesagt, dass du die Finger von ihm lassen sollst. Arbeit und Liebe zu vermischen, das geht nie gut.“ Ich schwieg. „Und? Wie geht es ihm mit dieser Affäre? Hat es dir etwas gebracht?“, legte sie nach. Ich schluckte und begann zu schluchzen. „Sieh zu, dass du reinen Tisch machst, du fährst gerade voll an die Wand”, raunte sie. Dann heulte ich los. 180 Einbruch Panik überkam mich. Wenn Herbert nun auch we‐
gen mir so dalag? Er hatte Schuldgefühle, das wusste ich und Kathrin hatte ihm den erlösenden Schmerz der körperlichen Züchtigung verweigert, diese letzte Form der Beachtung und Zuwendung. Doch warum? Meinetwegen? Ich musste davon ausgehen, dass sie Bescheid wusste. Ich hoffte, glaubte, bangte, dass sie sich so weit von Herbert gelöst haben möge, dass ich sie nicht fürchten musste. Immer wieder dachte ich an diese de‐
monstrative Küsserei. Wie immer verdrängte ich das, was wirklich un‐
angenehm war: Die Ahnung, dass Herbert im An‐
gesicht seines Endes seiner Frau unsere Pläne ge‐
beichtet haben könnte. Dass sie nicht nur aus sei‐
nem Leben, sondern auch aus der Belegschaft von „Geld+Finanz“ verschwinden sollte. Nein, es musste einen anderen Grund geben, der ihn derart in die Verzweiflung getrieben hatte, eine weitere Leiche in seinem Keller, die gewaltig stank und die musste ich finden. Herbert war nicht nur Chefredakteur von „Geld+Finanz“, sondern auch der „Risk Control Manager“ der Reuterbank, kurz „Reuba“ genannt. 181
Das wusste ich und er hatte immer wieder davon erzählt, dass er so etwas wie der Striezel der Reu‐
terbank sei und von diesem ominösen Debakel, das er angeblich in Klein‐Muselkow verhindern musste. Einmal hatte ich Herbert gefragt, was ein „Risk Control Manager“ eigentlich so macht. Er faselte etwas von Risikokontrolle, stochastischen Model‐
len, von Kreditratings, Eigenkapitalquoten, Refi‐
nanzierung, Derivategeschäften. Wirklich interes‐
siert hat mich das damals noch nicht. Meine Welt war in Ordnung, solange aus dem Automaten Geld kam. „Was ist schlimmer: Eine Bank ausrauben oder eine gründen?“ fragte einst Bert Brecht. Doch ich bin vielleicht nicht die Richtige, um über einen zum Banker mutierten Altlinken wie Herbert ein Urteil zu fällen. Ich weiß, wie sich die Weltsicht verändert, wenn man plötzlich Geld hat. Vielleicht war seine Arbeit das Krebsgeschwür auf Herberts Seele, die Quelle seines Selbsthasses, seines Strafbedürfnisses, dessen Befriedigung ihm seine Frau und letztlich auch ich versagt hatten? Er machte diesen Job schon seit einigen Jahren und solange ich ihn kannte, ging es ihm nicht schlecht damit. Bis vor zwei Wochen. Es musste kürzlich 182 irgendetwas Dramatisches passiert sein, etwas, das sein Weltbild erschüttert, seinen Selbsthass ins Un‐
erträgliche gesteigert hatte. Da kam etwas über mich, das mich an meine Zeit der Aufsässigkeit erinnerte. Es war diese diaboli‐
sche Lust, Skandalen auf den Grund zu gehen, den Vertretern des „Schweinesystems“ auf den faulen Zahn zu fühlen. Wie lange war das zu kurz ge‐
kommen... „Für Systemkritik ist hier kein Platz“, hatte Herbert immer wieder gesagt. Nein, es war nicht nur der Wunsch, meine Schuldgefühle los zu werden, der mich auf diese Reise schickte. Die alte Lust, im Schmutz zu wüh‐
len, stieg wieder in mir hoch. Wo sollte ich anfangen? Ich hatte keine Ahnung von Banken. Sollte ich den direkten Weg gehen, einfach bei der Risikokontrolle der Reuba anrufen und sagen: Guten Tag, ich bin Journalistin und schreibe für „Geld+Finanz“, außerdem bin ich die Ex‐Geliebte eures sterbenden RCM und möchte wissen, was in Eurem Saustall vorgeht und was ihn derart in die Verzweiflung trieb und ihn an diesen Baum fahren ließ. Sagt mir, dass es an Eu‐
rem Saustall lag, damit ich kein schlechtes Gewis‐
sen mehr haben muss...? 183
Vielleicht führte ein Weg über Kathrin? Wusste sie mehr, als sie erkennen ließ? Nein, der Umgang mit ihr über das Nötigste hinaus war mir schlicht zu heiß. Ich konnte ihr nicht mehr in die Augen sehen. Ich musste an irgendwelche Kollegen von Her‐
bert herankommen, die über brauchbare Informa‐
tionen verfügten. Der erste Einfall ist oft nicht der Schlechteste, dachte ich. Und ein paar Dinge hatte ich während meiner linksradikalen Jahre gelernt: 1. Der Fisch stinkt vom Kopf her, 2. Wer Leichen im Keller hat, möchte irgendwann darüber reden und 3. Frech‐
heit siegt. So jagten wir damals alte Nazis und das mit ziemlich viel Erfolg. „Direkte Aktion“ hieß meine studentische K‐Gruppe. Wir recherchierten damals die Privat‐
adressen und Telefonnummern von Bonzen aus Politik und Wirtschaft und fühlten ihnen dann ein bisschen auf den faulen Zahn. War sehr interes‐
sant, was man schon damals sogar ohne das Inter‐
net über alle möglichen Leute herausfinden konn‐
te. Mach es nicht kompliziert, wenn es auch einfach geht, dachte ich mir. Das nahe Liegende sieht man zuletzt. Und ich wusste: Jeder hinterlässt Spuren 184 und braucht einen privaten Bereich, in dem er sich sicher fühlt und unvorsichtig sein kann: Schreibti‐
sche, Akten, Terminkalender, Adressbücher und vor allem: Der eigene Computer. Herberts Büro begann eine magische Anzie‐
hungskraft auf mich auszuüben. Am Morgen nach Herberts Crash ging ich wie immer in die Redaktion. Im Sinne der Pietät trug ich einen dunkelgrauen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Ich versuchte, besorgt dreinzublicken, wenn mir Kollegen begeg‐
neten. Kathrin war zunächst nicht zur Arbeit er‐
schienen. Verständlich, in ihrer Situation. Und mir gegenüber sehr rücksichtsvoll. Ich saß in meinem Büro und schaute aus dem Fenster. Der Verkehr auf dem Reuterplatz floss immer im Kreis herum, bunte Partikelchen gesell‐
ten sich dazu, andere verabschiedeten sich. Links davon die verspiegelte Zentrale der Reuterbank. Die Fenster sind die Augen eines Hauses, sagt man. Und warum setzt man sich eine verspiegelte Sonnenbrille auf? Weil man lichtscheu ist? Etwas zu verbergen hat? Ein schlechtes Gewissen? Sei‐
nem Gegenüber nicht in die Augen blicken kann? In der Mittagspause ging ich zur Hauptfiliale hinüber und holte mir einen aktuellen Geschäfts‐
185
bericht der Reuba. Ich schlug das Dokument auf und überflog die allgemeine Wirtschaftslage, die konjunkturelle Si‐
tuation, den Bericht des Vorstandes. Dann endlose Tabellenwerke, Bilanzen, Abschreibungen, Son‐
dervermögen, Kreditrisiken, Testate der Wirt‐
schaftsprüfer. Gruselig. Ich musste anders heran‐
gehen. Wenn ich eine neue Zeitschrift in die Hand nahm, schaute ich mir immer zuerst das Impres‐
sum an, achtete auf personelle Überschneidungen mit anderen Zeitschriften und Unternehmen bzw. Institutionen. Entsprechend war bei der Reuter‐
bank die Personalstruktur interessant. Also schau‐
te ich nach dem Vorstand und dem Vorstandsvor‐
sitzenden. Aha: Herbert saß auch im Vorstand. Ziemlich viele Namen, die mir alle nichts sagten. Doch einer sprang mir ins Auge. Banz. Der war in Herberts Erzählungen immer wieder gefallen. Der Fisch stinkt vom Kopf her, dachte ich. Wer ist hier der Chef, die Leitsau? Welcher Name steht ganz oben? Dr. Karl‐Otto Banz, Vorstandsvorsitzender der Reuterbank AG. Den musste ich mir einmal vornehmen. Frech‐
heit siegt. Bevor ich meinen „Deep Throat“, meinen Infor‐
manten, ausquetschen würde, musste ich mich 186 über diesen Herbert‐Reuba‐Banz‐Komplex schlau machen. Immer wieder lief ich an der Tür zu Herberts Bü‐
ro vorbei und konnte den Abend kaum erwarten. Die Zeit verstrich unendlich langsam. Ich vertrieb sie mir mit Recherchen für mein nächstes Thema: Die neuen Anbieter von Kfz‐Versicherungen. C&A zum Beispiel. Ich hatte mich neulich selbst davon überzeugt, dass man in einem Bekleidungskauf‐
haus sein Auto versichern kann. Aber bei Lidl und Aldi gibt es schließlich auch Handykarten. Und demnächst bestimmt auch Versicherungen und Baufinanzierungen? Gegen sechs Uhr abends schlich ich abermals durch den Korridor. Es war niemand zu sehen. Ich drückte mich eine Weile am Kaffeeautomaten her‐
um, zog mir einen Espresso und schlürfte ihn langsam in mich hinein. Dann ging ich zurück in mein Büro. Ich kramte in meiner Fahrradtasche herum, zog meinen USB‐
Stick heraus und steckte ihn in die Hosentasche. Dann trat ich aus meiner Tür und schlenderte durch den Korridor zu Herberts Büro. Ich spitzte die Ohren, aber alles war still. Einmal noch schaute ich mich kurz um. Ich er‐
tappte mich dabei, wie ich trotzdem anklopfte. 187
Ich griff die Klinke, drückte sie hinunter und die Tür war offen. Ich schlüpfte hinein und drückte die Tür so leise wie möglich hinter mir ins Schloss. Mein Herz pochte. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. Die Luft war stickig. Doch ich ließ das Fenster geschlossen, um möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Ich schaute mich um: Alles war offenbar noch so, wie Herbert es gestern zurückgelassen hatte. Es roch nach seinem Angstschweiß. Aus dem Papier‐
korb quollen die Taschentücher, mit denen er seine Stirn abgewischt hatte. Die Ledergarnitur. Der Kandinsky an der Wand (war wahrscheinlich keiner, aber auf jeden Fall moderne Kunst), die gerahmten Bilder von Kathrin und Julian auf dem Tisch... Julian saß auf Kathrins Schoß und blickte mich traurig an. Ich verspürte den Drang, den Rahmen mit der Bildseite auf den Tisch zu legen. Ich ließ es sein und schaute weg. Auf dem Schreibtisch lagen die Akten, an denen Herbert zuletzt gearbeitet hatte. Ich sah dutzende Tabellen mit tausenden von winzigen Zahlen und jede Menge Grafiken mit zackigen Kurven darauf. Erinnerte mich stark an die Statistikvorlesungen während meines Studiums. Wahrscheinlich so et‐
188 was Ähnliches wie Versicherungsmathematik, ir‐
gendetwas mit Risiken und griechischen Buchsta‐
ben. Immer wieder sprang mir dieses verdammte Al‐
pha ins Auge. Es ging um operationelle Risiken, Optionspreis‐
modelle, Optionsprämien. Diese Worte las ich, aber ich konnte nichts damit anfangen. Vorsichtig blätterte ich darin. Es waren interne Unterlagen der Reuterbank. Er hatte sie einfach so auf dem Schreibtisch liegen gelassen. Interna. Ver‐
trauliches Zeug. Warum? Hatte er überstürzt die Flucht ergriffen? Da sah ich, dass sein Monitor zwar dunkel war, aber im Standby‐Modus lief. Auch der Computer war noch eingeschaltet. Vorsichtig griff ich nach der Maus auf dem Schreibtisch. Ich tippte sie mit der Fingerspitze an und der Monitor leuchtete auf. Ich sah eine Menge geöffneter Fenster, wieder mit Tabellen und Grafi‐
ken, wie sie ausgedruckt auf dem Tisch lagen. Ich kniete mich vor den Schreibtisch, denn ich brachte es nicht fertig, mich auf Herberts Chefses‐
sel zu setzen. Überstürzte Flucht. Oder? 189
Wer war hier geflohen? Herbert? Oder vielleicht jemand anderes? War mir jemand zuvor gekommen? Und über‐
rascht worden? Deep Throat. Watergate. Enron. Ich musste drin‐
gend zur Toilette. Doch ich verkniff es mir. Das Ri‐
siko, auf dem Korridor gesehen zu werden, wollte ich nicht eingehen. Ich kramte nach meinem USB‐Stick. Der hatte immerhin ein Gigabyte Kapazität. Ich wollte so viel Material wie möglich darauf kopieren und es dann später in aller Ruhe auswerten, dieses Mi‐
nenfeld so schnell wie möglich verlassen. Was, wenn mein Vorgänger nur kurz auf dem Klo war? Was, wenn jetzt jemand hereinkam? Wenn ich schnell abhaute und der betreffenden Person di‐
rekt in die Arme liefe? Jetzt oder nie, dachte ich. Ich griff unter den Schreibtisch und steckte den USB‐Stick in den An‐
schluss. Jemand drückte die Türklinke nach unten. Mein Herz setzte aus. Ich ließ mich auf den Bo‐
den sinken und kroch so tief wie möglich in den Fußraum des Tisches. 190 Ich wollte schnaufen und presste meinen Ärmel auf Mund und Nase. Der Computer lief; der Monitor zeigte ein Bild. Jemand betrat den Raum. Ich sah beige Pumps und einen schwarzen Rock. Mein USB‐Stick steckte noch im Computer. Ich konnte ihn nicht einfach herausziehen, denn dann wäre auf dem Schirm die Meldung „Daten‐
träger entfernt“ erschienen. Ich kauerte mich in den hintersten Winkel des Fußraumes zusammen. Und versuchte, kein Ge‐
räusch von mir zu geben. Schweißtropfen rannen mir übers Gesicht. Dann konnte ich es nicht mehr einhalten. Warm breitete sich die Pfütze unter mir aus. Wenn sie sich jetzt auf Herberts Stuhl setzte, wenn sie ihre Beine unter den Tisch steckte... Sie stand vor dem Tisch und hantierte mit der Maus. Minutenlang. Dann hockte sie sich hin. Ich wollte sterben. Ich vergrub meinen Kopf zwischen meine Oberschenkel und umklammerte sie so fest ich konnte mit den Armen. Mit einem Auge blinzelte ich in ihre Richtung. Sie klickte. Und klickte. Dann sah ich, wie sie unter den Tisch griff. Sie 191
tastete in meine Richtung. Mit der anderen Hand stützte sie sich auf den Tisch. Ihr Kopf blieb über der Tischkante. Ihre Hand wanderte ein paar Zentimeter an meinem Bein vorbei hinter den Computer zu meinem USB‐Stick. Sie zog ihn heraus und steckte ihn ein. Mitsamt meinen persönlichen Daten. Dann packte sie die Papiere zusammen, schaltete den Computer aus und ging zur Tür. Ich hörte, wie sie ins Schloss fiel. Und dann das Klappern eines Schlüsselbundes. Sie steckte einen Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Ich weiß nicht, wie lange ich unter dem Schreib‐
tisch kauerte. Ich fror jetzt, hatte Durst und ekelte mich vor mir selber. Die Luft wurde knapp, so kam es mir vor. Irgendwann ließ ich mich auf die Seite fallen. Der kalte Urin auf dem Boden nässte durch mein Hosenbein. Meine Gelenke schmerzten. Ich kroch unter dem Schreibtisch hervor. Mein verkrümmter Rücken brannte wie Feuer, als ich versuchte, mich aufzurichten. Mir sackten die Beine weg und ich sank wieder auf alle Viere. Erst als Millionen Ameisen meine Unterschenkel hochkrabbelten, bemerkte ich, dass noch Leben darin war. Draußen wurde es dunkel. Bloß nicht nachden‐
192 ken, dachte ich. Bloß nicht nachdenken, bloß nicht nachdenken, bloßnichtnachdenken. So drehte sich das Mantra in meinem Kopf. Langsam verstand ich, warum Menschen in Ein‐
zelhaft wahnsinnig werden. Wie es ist, im Dunkeln eingesperrt zu sein, mit niemandem sprechen zu können, nicht zu wissen, wann man wieder raus‐
kommt. Letzteres traf in meinem Fall nicht ganz zu. Spä‐
testens morgen würde irgendwann jemand die Tür aufschließen und mich so vorfinden. Eingepisst in Herberts Büro. Ruhnke vielleicht, der Portier? Der sich seit Jah‐
ren mühte, meine Aufmerksamkeit zu erregen und den ich genauso konstant abblitzen ließ? Eine montenegrinische Putzfrau wäre auch nicht schlecht. Oder Kathrin. Ich erwog, aus dem Fenster zu springen. Doch einen Sturz aus dem zweiten Stock hätte ich wahr‐
scheinlich überlebt. Entstellt und querschnittge‐
lähmt. Immer noch war ich auf allen Vieren. Meine Knie schmerzten und ich ließ mich auf die Seite fallen. 193
So blieb ich liegen, wie eine Drogentote auf dem Bahnhofsklo. Ich malte mir aus, bei wem es wohl am pein‐
lichsten wäre, wenn er bzw. sie mich fände. Kathrin? Wenn sie es gewesen war, wusste sie ja, dass ich in der Falle saß und konnte mir jederzeit den Rest geben. Vielleicht würde sie sich an mei‐
ner nassen Hose weiden, an meiner fettigen, ver‐
schwitzten Haut, meinen strähnigen Haaren. Ruhnke? Auch nicht schlecht. Er konnte mit mir machen, was er wollte. Jede Forderung stellen. Und mich nach deren Erfüllung trotzdem hochge‐
hen lassen. Eine montenegrinische Putzfrau schied aus. Ge‐
putzt wurde nur freitags. Irgendwer würde mich finden. Bis dahin konnte ich noch viele Stunden schmoren. Ruhnke hatte hier im Haus sein Appartement. Und einen Generalschlüssel. Er war nachts eigent‐
lich immer in der Nähe und vielleicht schaute er ab und zu nach dem Rechten. Ich fand, dass es ein bisschen weniger schlimm wäre, Ruhnke möglichst bald in die Hände zu fal‐
len. Nicht ganz so schlimm, wie bis morgen früh auszuharren und mich Kathrin oder einem Kolle‐
gen zum Fraß vorzuwerfen. Ich zog mich am 194 Schreibtisch hoch, griff nach dem Telefon und wählte die Nummer der Portiersloge. Es klingelte. Minutenlang. Nichts geschah. Schlief er? Schaute er irgendwo fern? Ich schaltete das Licht an. Vielleicht geisterte Ruhnke draußen herum oder jemand machte ihn darauf aufmerksam. Ich sah mein Spiegelbild in der schwarzen Fens‐
terscheibe und erschrak. Dahinter der Kreislauf aus roten und weißen Lichtpunkten. Und die Reu‐
terbank. Im obersten Stockwerk brannte noch Licht. Ob Banz das gleiche Problem hatte wie ich? Ob auch er Herberts Büro durchsuchte? Wieder rief ich die Portiersloge an. Und legte den Hörer neben das Telefon. Es tütete. Und tüte‐
te. „Hallo?“ Jemand war am Apparat. Ich hob den Hörer an mein Ohr. Es war Ruhnke. „Im Büro von Herrn Westerborn ist jemand.“ Ich legte auf. Was sollte ich tun? Mich zur Tür blickend auf die Knie werfen? Meinen Hintern entblößen und ihm entgegenstrecken? Meine Hose war inzwischen fast wieder trocken. Ich setzte mich auf die Couch, umklammerte mei‐
ne Knie und vergrub mein Gesicht im Schoß. 195
Die Klinke wurde nach unten gedrückt. Dann das Geklapper von Schlüsseln. Ich schlotterte, schwitzte und fror zugleich. Die Tür schwang auf. „Hände auf den Kopf. Und langsam aufstehen“, befahl Ruhnke. Ich blieb sitzen und schaute zu ihm auf. „Frau Wiesengrund”, stammelte er. „Warum... Ich meine, wer hat Sie...Was machen Sie...“ Er steckte seine Pistole ein. Und setzte sich neben mich. Ich begann zu heulen und wusste selber nicht, ob das echt war oder Berechnung. Er strich mir vorsichtig die Haarsträhnen hinters Ohr. Ich erschauderte und schaute ihn entgeistert an. „Kommen Sie, ich bringe sie nach Hause“, sagte er. „Nein, ddas ist nnicht nötig”, stotterte ich. „Ein Taxi. Ich rufe Ihnen ein Taxi“, schlug er vor. „Warum rufen Sie nicht die Polizei?“, fragte ich ihn. Er schwieg und schaute mich an. Nach einer Weile sagte er: „Ich weiß es nicht.“ Er stand auf und öffnete das Fenster. Endlich Luft. 196 Dann beugte er sich zur Pfütze unter dem Schreibtisch hinab. „Darum kümmere ich mich“, versprach er. Ich begann zu schluchzen. Zum Radfahren war ich jetzt nicht mehr in der Lage. Ich wollte nach Hause und meine Schande abduschen. Sofort. Irgendwo hatte ich die Nummer von Robert De Niros Taxifirma eingesteckt. Sie erinnern sich: Das war der nette Fahrer von neulich. Ich packte alles, was ich in meinen Taschen trug, auf Herberts Tisch. Schließlich entdeckte ich sie in meinem Or‐
ganizer. Ich griff nach dem Telefon und bestellte einen Wagen zum Haus am Reuterplatz. Ruhnke begleitete mich nach unten. Das Taxi wartete bereits. Ich öffnete die Beifahrertür. „Einen wunderschönen juten Morjen, junge Frau. Paul‐Lincke‐Ufer, wa?“, so begrüßte mich: Robert De Niro. Ich nickte und stieg ein. Es roch nach Bahnhofs‐
klo und ich öffnete das Fenster. „Warn langer Tach für Sie, wie ick sehe. Habse kaum wiedererkannt“, frotzelte er weiter. Ich sank im Sitz in mich zusammen. Und hatte keine Kraft, mich zu beschweren. Er schaute mich an. „Mein Gott, Se sehn 197
würklich schlecht aus. Icke bin ja schon neujierich, aba icke fragse jetze nich, wat passiert is.“ Er setzte mich vor meiner Haustür ab. „Macht neun achtzig“, sagte er. Ich kramte nach meiner Brieftasche. Im Blazer. In den Hosentaschen. Ich suchte den Boden im Auto ab. Keine Brieftasche. Nichts. „Ich habe gerade kein Geld dabei. Ich gehe jetzt ins Haus und hole aus der Wohnung Bares.“ „Dann hätt ick jerne ihren Personalausweis“, sagte er. „Zur Sicherheit.“ „Ich habe auch keine Papiere.“ Ich schaute ihn flehend an. „Sie kriejen nen Ehrenplatz in meinem Buch.“ Er stellte den Motor ab. „Kommense“, sagte er. Er stieg aus und ich folg‐
te ihm. Ich tastete nach meinem Schlüsselbund und fand es nicht. Das Grauen stieg in mir hoch. „Es ist mir unendlich peinlich, aber...“, stammel‐
te ich. Vor meinem geistige Auge lief ein Film ab: Wie ich in Herberts Büro alles aus meinen Taschen kramte, um die Karte von Roberts Taxifirma zu finden. Ich hatte das Zeug nach dem Telefonieren auf Herberts Tisch liegen gelassen. Brieftasche. 198 Handy. Schlüsselbund. Alles. Ich begann zu schluchzen. Rotz und Tränen quollen aus mir hervor. „Einen Ehrenplatz. Versprochen. Aber Se müs‐
sen mir trotzdem sajen, wie die Jeschichte jetze weiterjeht. Bin sehr jespannt“, sagte er halb belus‐
tigt, halb verärgert. Es war halb vier. „Irjendwo hamse die Sachen ja wohl verloren oder liejenjelassen, oder hamse sich in Nüscht auf‐
jelöst?“ „W..W..Wir müssen nochmal zurückfahren. Zum Reuterplatz. Ich weiß, ich bin unmöglich, aber Sie würden mir sehr helfen.“ „Sajense nüscht. Ick weeß, die Mädchennummer. Hamse noch janz jut druff für ihr Alter.“ Er marschierte zum Auto und ich hinterher. Wir fuhren zurück. Im Haus am Reuterplatz war alles dunkel. Ich drückte die Klingel. Immer wieder. Nichts passier‐
te. Wortlos reichte De Niro mir sein Handy. Ich wählte wieder die Nummer der Portiersloge. Nach einer Weile ging im Eingangsbereich das Licht an. Ein zerknitterter Ruhnke schlurfte in Py‐
jama und Puschen auf den Eingang zu. 199
Er schloss auf. Sein grauer Haarschopf war zer‐
zaust, seine Augen verquollen. Eine Alkoholfahne kam mir entgegen. Er schaute mich schweigend an. „Meine Sachen. Ich habe meine Sachen oben im Büro liegengelassen. Auf Herberts Tisch. Meine Papiere, Brieftasche, Handy”, flüsterte ich heiser. „Ohje, Frau Wiesengrund. Ist wirklich nicht Ihr Tag heute. Und meiner auch nicht.“ Er machte kehrt und ging wieder ins Haus. Robert De Niro steckte sich eine Zigarette an. „Roochense? Manchmal braucht man det, zur Be‐
ruhijung.“ Das erste Mal in meinem Leben war ich ver‐
sucht, solch ein Angebot anzunehmen. Doch ich schüttelte den Kopf. Und schlang mei‐
ne Arme um meinen Oberkörper. Nach einer Weile kam Ruhnke zurück und drückte mir meine Sachen in die Hand. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte er schnip‐
pisch. „Danke...Herr Ruhnke“. Herr Ruhnke. So hatte ich ihn noch nie genannt. „Ach, Frau Wiesengrund. Lassenses gut sein. Gute Nacht.“ Er schloss die Tür ab und schlurfte zurück zu seinem Appartement. 200 Die Kreuzigung Ich schlich durch das dunkle Treppenhaus die vier Stockwerke nach oben und hoffte, niemandem zu begegnen. Ich schloss die Wohnungstür auf. Ein‐
mal mehr war ich froh, dass ich so gut wie immer allein war. Ich ging ins Bad und schälte mich aus meinen stinkenden Sachen. Leider musste ich das Licht einschalten und der Panoramaspiegel gab kein Pardon. Ich versuchte, meinen Anblick darin zu ignorieren. Ich war schmutzig, schmierig; ich stank. Dann stieg ich in die Dusche und drehte den Brausestrahl auf. Heiß. Sehr heiß. Ich stellte mich darunter, hockte mich hin und kauerte mich so klein es eben ging zusammen. Das Wasser prassel‐
te auf meinen Kopf und übertönte meine Gedan‐
ken. Ich stellte mir vor, wie ich alle Stöpsel in die Abflüsse stecken würde und der Raum langsam voll liefe. Ich dachte darüber nach, wie ich ver‐
schwinden könnte. Ich wollte mich auflösen und dann durch den Abfluss rauschen, zusammen mit all dem Schmutz. Das Bad füllte sich mit Dampf. Das war gut. Ich 201
wollte nichts mehr sehen. Mich selber schon gar nicht. Irgendwann griff ich nach dem Duschgel und begann, mich abzuseifen. Immer wieder. Ich weiß nicht mehr, wie oft. Bis die Flasche leer war. Ich nahm ein Handtuch und rieb mich trocken. Dann wickelte ich mich darin ein, griff meine übel riechenden Sachen mit zwei Fingern und ging durch mein Zimmer auf den Balkon. Ich hängte sie zum Auslüften auf den Trockenständer. Im Osten wurde es schon hell. Vögel sangen. Ich ließ die Balkontür offen und sank aufs Bett. Mir wurde klar, dass vielleicht nur noch zwei oder drei Stunden bis zu einem neuen Arbeitstag fehlten. Ich fühlte mich auf eine Weise schwach, die ich bisher noch nicht kannte. Dann stand ich noch einmal auf und stellte den Wecker. Es war halb sechs. Es blieben sogar nur noch anderthalb Stunden. Ich legte mich wieder hin und griff mir eines meiner Kuscheltiere. Nach Friedrichs Abgang hat‐
ten sie wieder den Weg in mein Bett gefunden. Ich umklammerte ihn, meinen Hasen, der mich begleitet, seit ich denken kann. Mein Zwerchfell zuckte. Ich musste lachen. Dann schluchzte ich. Ich wusste nicht mehr, was es 202 war. Lachen oder Heulen? Ich war eine ziemlich üble Figur und darin auch noch besonders mies. Und mimte das kleine Mädchen. Obwohl niemand da war, der das hätte süß finden können. Ein schlechter Film war das. Ein ganz beschisse‐
ner. Das Salz der Tränen juckte auf meinem Gesicht. Ich hatte Durst und schlich ins Bad. Ich wusch mein Gesicht, dann trank ich aus der hohlen Hand. Ich überlegte, was ich tun konnte. Schlafen schied aus. Sollte ich noch einmal zur Arbeit ge‐
hen? Die Frau im Büro war Kathrin gewesen. Da konnte ich fast sicher sein. Und auch wenn es nicht Kathrin gewesen war: Sie hatte meinen USB‐Stick und darauf waren auch persönliche Daten von mir. Wer auch immer ihn hatte: Sie wusste jetzt ei‐
ne ganze Menge über mich. Zum Beispiel, dass ich bereits alternative Jobs recherchiert und Stellenan‐
zeigen gesammelt sowie meine Bewerbungsunter‐
lagen zusammengetragen hatte. Aber auch wenn ich ganz schnell einen anderen Job gefunden hätte: Ich hätte auf jeden Fall ein Zeugnis von „Geld+Finanz“ mitliefern müssen. Und wenn Herbert dieses Zeugnis nicht ausstellen würde (wonach es nicht gerade aussah), würde 203
Kathrin es aller Wahrscheinlichkeit nach abfassen. Ich musste also wieder in die Redaktion, wohl oder übel, und versuchen, mich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Ich dachte an das letzte Treffen mit Herbert. „Sie schlägt mich nicht einmal mehr“, hatte er gesagt. Sehnsucht nach Strafe. Nach erlösendem Schmerz. Ich begann, ihn zu verstehen und einmal mehr begriff ich, warum eine Hinrichtung ein humanitä‐
rer Akt sein kann. Wenn ich ohne Umschweife gestände, konnte das bedeuten, dass ich Kathrin zutiefst verletzte – wenn sie wirklich noch nicht alles wusste. Oder schlimmer noch, sie würde mir vergeben, ohne dass ich etwas abbüßen oder wieder gut machen konnte – und sie konnte es sich dennoch jederzeit anders überlegen. Oder sie konnte mich in Unge‐
wissheit schmoren lassen, wenn ich mich still ver‐
hielte. Selbstmord oder Lebenslänglich also. Ein schneller Tod ist weniger schlimm als ein langsamer, dachte ich. Beim Gedanken an sowohl berufliches als auch privates Harakiri wurde mir schwindlig. Wovon sollte ich leben? Welch ein Zeugnis würde ich wohl bekommen? Mir grauste davor, dass mein mühsam zusammengestückeltes Leben auseinander fliegen würde, mir grauste vor 204 einem neuen Bewerbungsmarathon und davor, meinem Schuldgefühl nicht zu entkommen. Wenn ich wirklich keinen anderen Grund für Herberts Selbstmord fände? Wenn ich wirklich beichtete, Kathrin jedoch besser in seliger Unwissenheit be‐
lassen hätte? Es war Zeit, aufzustehen. Mein Kleiderschrank quoll über, aber warum sollte ich mir etwas Hüb‐
sches gönnen? Ein Stück Mist schön verpacken? Schließlich entschied ich mich für einen dunkel‐
braunen Rollkragenpulli und eine hellbraune Ho‐
se. Passend zum Inhalt. Ich mied die Küche. Ich hatte nicht das geringste Bedürfnis, irgendetwas zu mir zu nehmen. Ich kämmte mich schnell, putzte die Zähne und lief zum Kottbusser Tor. Ich musste die U‐Bahn nehmen, denn mein Fahrrad stand ja noch im Haus am Reuterplatz. Niemand schaute nach mir. Ich war gut getarnt, braun in braun mit braunem Tweedblazer. Ich fiel zwischen der Belegschaft der Geisterbahn kein bisschen auf. Ich dachte an mein Versteckspiel in Herberts Bü‐
ro. Beige Pumps. Schwarzer Rock. Nein, wer auch immer es war, sie würde nicht das Gleiche noch einmal anziehen. Das ließ der Dresscode nicht zu. 205
Jeden Tag etwas anderes anzuziehen gehörte ein‐
fach zum guten Ton. Ruhnke saß wie immer in seiner Pförtnerloge. Als ich die Halle betrat, sah ich seinen grauen Haarschopf über dem Rand seiner Zeitung. Er schaute über seine Lesebrille hinweg zu mir auf und fixierte mich. „Gu... Guten Morgen”, grüßte ich. Und schob schnell hinterher: „Herr Ruhnke.“ „Morgen“, sagte er und wandte sich wieder sei‐
ner Zeitung zu. Und sprach weiter: „Frau.“ Pause. „Wiesengrund.“ Mir wurde heiß. Ich fühlte mich nackt und schmutzig. Ich stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf und jeder, der mir begegnete, schaute mich seltsam und unnötig lange an. Das Haus kam mir überfüllt vor. Ständig liefen mir Leute über den Weg und glotzten. Striezel sah ich zum Glück nur von hin‐
ten. Ich hielt meinen Blick gesenkt. Nicht nur, weil ich den Augen der anderen auswich, sondern auch, weil ich nach beigen Pumps und schwarzen Röcken Ausschau hielt. Ich schlich den Korridor entlang zu meinem Zimmer. Und rieb mir die Augen: Da hinten, am 206 anderen Ende, kam Kathrin aus Herberts Zimmer. Und was trug sie? Genau. Dazu eine schwarze Bluse und einen schwarzen Blazer. Ich drückte die Tasche gegen meine Brust und ging weiter. Einen Schritt, noch einen und noch ei‐
nen. Ich wich ihr aus, als wir auf gleicher Höhe wa‐
ren. Als sie an mir vorbei war, hörte ich sie sagen: „Wo wollen Sie denn hin, Frau Wiesengrund?“ Ich war bereits näher an Herberts Büro als an meinem. Was hatte sie gesagt? „Wo wollen SIE denn hin, FRAU WIESENGRUND?“ Sie siezte mich? „Ich möchte mit Ihnen sprechen. Sofort“, sprach sie weiter, ohne anzuhalten oder nach mir zu schauen. Ich blieb stehen und schloss die Augen. Meine Schweißdrüsen nahmen die Arbeit auf und mein Atem stockte. Dann machte ich langsam kehrt und sah, dass sie in ihr Büro abgebogen war. Sie hatte die Tür offen stehen gelassen. Sie saß an ihrem Schreibtisch und blätterte in den Papieren, die sie mitgebracht hatte. Und beachtete mich nicht. 207
Irgendwann sagte sie ohne aufzublicken: „Es zieht.“ Ich wirbelte herum und schloss die Tür hinter mir. Ich blieb hinter dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch stehen. Und wartete. Nach endlosen Minuten schaute sie zu mir auf und sagte: „Himmel, sehen Sie schlecht aus. Geht es Ihnen nicht gut? Haben Sie schlecht geschla‐
fen?“ Sie sprach übermäßig artikuliert. Bei jedem Wort zuckte ich innerlich zusammen. „Ab sofort werde ich Herberts Arbeit tun und Herr Striezel wird auf meinen Posten aufrücken. Ein bisschen Stühlerücken sozusagen. Und Sie, Sie werden...“ Sie lächelte ironisch. Dann redete sie weiter: „Vieles erfährt man ja gar nicht. Ich wusste gar nicht, dass Herbert...“ Warum wird einer Kreuzigung auch noch eine Folter vorangestellt?, dachte ich und schwieg wei‐
ter. „Wir haben halt alle so unsere kleinen Geheim‐
nisse, nicht wahr, Frau Wiesengrund?“ Sie stand auf und lief hinter mir vorbei zum Fenster. Und öffnete es. Sie roch meinen Schweiß, da war ich sicher. Dann blieb sie hinter mir stehen. 208 „Was würden Sie an meiner Stelle tun, Frau Wiesengrund?“ Um ein Haar wären meine Knie weggesackt. Ich stützte mich auf die Lehne des Stuhls vor mir. Und wagte es nicht, mich zu setzen. „Würden Sie mir bitte eine Antwort geben?“, in‐
sistierte sie. „Ich... ich weiß nicht, was du... was Sie meinen”, stammelte ich. „Wissen Sie, manchmal habe ich den Eindruck, Sie wissen mehr als ich. Zum Beispiel über Her‐
bert.“ Links, rechts, so sauste mir die Peitsche um die Ohren. Ich schloss die Augen und spürte, wie sie mich fixierte. Dann schaute ich zur Seite. Sie blickte mir in die Augen. Schnell drehte ich meinen Kopf ge‐
radeaus. Ich fühlte mich an eine dieser Demüti‐
gungen beim Militär erinnert. Ich dachte an „Full Metal Jacket“, diese Szenen, in denen der Ausbil‐
der den Rekruten zur Schnecke macht. Gern hätte ich mit diesem Rekruten getauscht. „Vermissen Sie etwas?“, fragte sie mich. Sie wühlte in meinen Eingeweiden. Dann zog sie etwas hervor und hob ihren Zeigefinger vor meine Nase. Und was baumelte daran? Sie haben es erraten. 209
Ich war zur Statue erstarrt und schloss die Au‐
gen. Dann lupfte sie das Revers meines Blazers und schob den USB‐Stick in meine Innentasche. Sie setzte sich wieder. „Ich möchte eine Antwort von Ihnen, Frau Wie‐
sengrund. Und frage Sie noch einmal: Was würden Sie an meiner Stelle tun?“ Mein Schwindel war kaum auszuhalten. Im doppelten Wortsinn. Ich schwankte. Ein leiser Windhauch kam durchs Fenster und warf mich beinahe um. Ich fühlte mich taub und in Watte ge‐
packt. Die Geräusche von draußen klangen fremd‐
artig, das Verkehrsrauschen erinnerte mich an Sand, der auf Blech hinabrieselt, und das Zwit‐
schern der Vögel an Steine, die darauf nieder‐
scheppern. „Gar nicht so einfach, nicht wahr? Es ist wichtig, dass man sich in sein Gegenüber einfühlt, das se‐
hen Sie doch ganz sicher genauso? Ich verstehe Sie gut. Sehr gut sogar. Und ich denke, auch Sie ver‐
stehen mich, Frau Wiesengrund.“ Ich zuckte nur noch ganz leicht. „Ein paar Posten werden demnächst neu besetzt. Wir müssen jetzt alle flexibel sein. Auch Sie. Ver‐
stehen Sie etwas von Stochastik? Operationellen Risiken? Optionspreismodellen?“, fragte sie mich. 210 Dann fuhr sie fort: „Ich auch nicht. Herbert hatte da ein Problem, wie es scheint. Und Sie haben ein ganz besonderes, Frau Wiesengrund.“ Ich wollte weg. Raus. Sofort. Ich hatte das Ge‐
fühl, dass sie mich bei lebendigem Leibe ausweide‐
te. Nein, mit Sadisten hatte ich bisher noch keine nähere Bekanntschaft gemacht. Die ganze Zeit hatte ich gehofft, dass sie mich feuern würde. Dass ich arbeitslos und mit Karrie‐
reknick, aber irgendwie auch befreit und gereinigt aus dieser Inquisition entkommen würde. Rache wird kalt serviert. Sie war die Kaltmamsell der Ra‐
che. Kathrin fixierte mich. Ich schlug die Augen nie‐
der, dann blickte ich aus dem Fenster. Wieder einmal erwog ich, hinauszuspringen. Doch es war immer noch nur der zweite Stock. „Ich wäre ihnen dankbar, wenn Sie die Tür schließen würden“, sagte sie. Ich schaute zur Tür: Sie war geschlossen. „Von außen“, schob sie hinterher. Ich kroch in Richtung Tür. „Und schauen Sie mal in Ihr Fach und in Ihre In‐
nentasche“, rief sie mir nach. Ich drückte die Tür hinter mir ins Schloss und schlich zu meinem Büro. Als ich den Raum betrat, 211
kam er mir fremd vor. Ich wunderte mich über die Zahl der Aktenstapel auf dem Boden und die Plüschtiere, Gimmicks aus Überraschungseiern und Nippes von Weihnachtsfeiern und irgendwel‐
chen Events, die den Platz okkupierten, den ich nicht unbedingt zum Arbeiten gebraucht hatte. „Präge es dir gut ein“, sagte ich zu mir selbst. Ich brachte es nicht fertig, mich noch einmal auf meinen Stuhl zu setzen. Meine Neugier trieb mich zur Poststelle. In meinem Fach lag ein Umschlag mit meinem Namen. Den öffnete ich und zog ein mehrseitiges Papier heraus. „Kurzfristige Um‐
strukturierung“ las ich auf dem Deckblatt. Ich wusste es bereits: Kathrin übernahm Herberts Pos‐
ten. Striezel Kathrins. Und dann schaute ich nach unten: Da stand mein Name. Und daneben: „Veri‐
fikation“. Ich las es noch einmal: „Verifikation“. Esther als neuer Striezel. Ganz unten las ich: „Anmerkung: Aus Kostengründen entfällt Frau Wiesengrunds Ressort „Versicherungen“ und wird im Bereich Redaktion und Recherche von Herrn Striezel und im Bereich Präsentation von Frau Westerborn ab‐
gedeckt.“ Das konnte ich mir einrahmen und an die Wand hängen. Sozusagen ein negatives Diplom. Die Ab‐
212 wicklung meiner selbst. Nie mehr im Fernsehen auftreten. Statt dessen striezeln. Wahrscheinlich würden mich meine Kollegen fortan siezen. Und Herbert war bereits restlos entsorgt. Ruckzuck ging das also. Hinter der Umstrukturierung fand ich noch meine neue Arbeitsplatzbeschreibung und einen neuen Arbeitsvertrag. Mein Gehalt blieb immerhin gleich, also kein legitimer Kündigungsgrund für mich, bei dem ich vielleicht noch Arbeitslosengeld hätte bekommen können. Das war er also, mein letzter Tag als Redakteurin im Ressort Versicherungen von „Geld+Fi‐nanz“. Ich ging wieder in mein Büro und überlegte, ob ich noch aufräumen und meine Festplatte formatieren sollte. Was fehlte noch zur Schadensmaximierung? Ich stellte den Computer an und griff in die In‐
nentasche meines Blazers. Ich steckte den USB‐
Stick in den Port und klickte das Icon an. Kathrin hatte ganze Arbeit geleistet. Auf dem Stick hatte sie die Mailkorrespondenz zwischen Herbert und mir abgespeichert. Alle Verabredun‐
gen, alle unsere intimen Schweinereien, alle Läste‐
reien über Kollegen, Kathrin und Striezel einge‐
schlossen. 213
Gibt es eine Steigerung von „abserviert“ und „erledigt“? Ich konnte mich entscheiden: Entweder fortan striezeln. Oder ohne Job und Einkommen zusehen, wie ich klarkäme. Das bedeutete frei zu sein, aber ohne Perspektive, ohne Halt und Sicherheit, aber‐
mals unehrenhaft entlassen wie einst aus der Ar‐
mee. 214 Gott und die Götter Ich war es los, mein psychosoziales Korsett und ohne das konnte ich mich nicht mehr aufrecht hal‐
ten. Mein Rücken schmerzte; ich fühlte mich hin‐
fällig. Ich war draußen, ausgespuckt, gehörte nicht mehr dazu. So fühlt es sich wohl an, wenn einem ein Körper‐
teil abgerissen wird. Ich schaltete den Computer aus. Dann griff ich meine Fahrradtaschen und mein Blick wanderte ein letztes Mal durch mein Büro. Ich schloss die Tür hinter mir. Seltsam leicht fühlte ich mich. Ein Bauarbeiter fällt vom Gerüst. Ein Kollege ruft ihm nach: „Hast du dir weh getan?“ Antwort: „Nein, ich falle noch!“ Die Leichtigkeit des freien Falls. Der eine oder andere Kollege im Korridor tu‐
schelte. Manche schauten weg. Im Foyer machte ich mein Rad startklar. „Schon nach Hause?“, fragte mich Ruhnke. „Ja, schon nach Hause. Machen Sie’s gut.“ Ich schluckte. „Ich würde mich gern bei Ihnen revanchieren. Aber das wird schwierig“, fügte ich hinzu. 215
Er schaute mich an und sagte: „Sie werden mir fehlen.“ Alle schienen es zu wissen. Sogar er. Belämmert stand ich da. Tränen liefen mir die Wange hinunter. Welcher Tag war heute? Wie spät war es? Wo sollte ich hinfahren? Wozu? Ich nahm wie immer den Weg durch den Tier‐
garten. Es war alles noch ein wenig grüner und bunter als neulich. Noch mehr Löwenzahn, noch mehr Gänseblümchen. Ich nahm es zur Kenntnis, aber ich fühlte nichts dabei. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal werktags am späten Vormittag durch die Stadt gefahren war. Ich staunte, wie vie‐
le Leute unterwegs waren: Der Tiergarten wim‐
melte von ziemlich arbeitsfähig aussehenden Men‐
schen im besten Alter; die Lokale am Landwehr‐
kanal waren voll. Was taten diese Leute hier zur besten Arbeitszeit? Wovon lebten sie? Manche sa‐
ßen mit ihren Notebooks im Gartenlokal unter Kastanien, deren junges Laub ersten Schatten warf. Ich nahm den Fußweg am Kanal entlang und fuhr an meiner Wohnung vorbei. Ich kam zum Boulefeld und das war voller Bohemiens, die ihre Kugeln warfen. Auch das GriGri, eines der schöns‐
ten Lokale, wie ich fand, war gut besucht. Doch 216 was sollte ich da? Ich hätte absolut nichts zu mir nehmen können. Nur ein paar Häuser weiter wohnte Chipsy, mein Privatclown. Wie lange war es her, dass ich ihn zuletzt besucht hatte? Ich war ja immer ausge‐
bucht. Psychotherapie, Chor, Fitness, Gesangs‐
stunden, Babysitten, Tanzen, Radsport. Was war heute dran? Welcher Tag war heute? Ich machte kehrt und kam an der Ölberg‐Kirche vorbei. Eine Kirche. Wie oft war ich schon über die Oranienburger Straße getigert und hatte mir die große Synagoge allenfalls von Außen angeschaut? Die Huren fand ich viel interessanter. Wo gehöre ich hin? Wer bin ich? Meine Familie ist über die Welt verstreut. Diaspora. Zwar bin ich der Abstammung nach Jüdin, aber nie hatte ich ernsthaft daran gedacht, diese 613 Gebote und Verbote für ein gottgefälliges Leben zu befolgen. Solch ein Buchhaltergott ist mir nicht sympathisch. Wie auch einer, der seinen Sohn ans Kreuz nageln ließ und von seinen Gläubigen dafür Dankbarkeit verlangt. Ich will nicht, dass jemand für mich ge‐
storben ist, schon gar nicht so. Und auch der Gott einer Religion, die ihre Gläubigen zum Mord an Ungläubigen aufruft, ist für mich kein akzeptabler Chef. Ich weiß als Jüdin nur zu gut, wie gehorsam 217
das in die Tat umgesetzt wird. Töten und sterben für einen Gott? Nein danke. Dann wären da noch jede Menge andere Götter: Die des Hinduismus, heidnische Kulte, Satanismus, politische Parteien, Stars, wissenschaftliche Schulen, der Pantheon der Hexenkulte, Sex, das Geld. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Gott wohl über den Göttern der Menschen steht. Und wahr‐
scheinlich lacht er über uns und unsere Götter. Welche Form hat Gott? Kann man das Unbegreifli‐
che in eine Form pressen, die wir Menschen so dringend brauchen, weil wir uns nichts Formloses vorstellen können? Natürlich ist unser Gott immer einer von uns, sozusagen der oberste Moslem, Ju‐
de, Christ oder was auch immer. Sind Götter und Religionen mehr als der Finger, der auf das Unbe‐
greifliche zeigt? Wir beten den Finger an. Und der Finger braucht das. Was wären Götter und Religi‐
onen ohne ihre Gläubigen? Die müssen möglichst viele sein, sich möglichst schnell vermehren und die einzig wahre Lehre verbreiten, notfalls mit Gewalt. Immer mehr Seelen braucht die Religion zum Leben. Das Bild vom Hirten und der Herde traf es ir‐
gendwie genau. Die Religion als Halter der Gläu‐
bigen, die geschoren, gemolken und ab und zu ge‐
218 schlachtet werden und so den Hirten ernähren. Re‐
ligion als Freiheitsdeponie. Denn: Freie Schafe sind unglückliche Schafe. Ein Schaf braucht die Herde, Wachhunde und den Halter. Eine Religion, die be‐
freit, macht sich überflüssig. Kaum einhaltbare Ge‐
setze stellen die Sündhaftigkeit der Gläubigen si‐
cher, denn Gott hat den Menschen stets anders er‐
schaffen, als er dem Gesetz nach sein soll. Die Furcht vor Strafe und die Hoffnung, ihr durch Op‐
fer und Entsagung zu entkommen, binden die Gläubigen ans Religiöse. Bin ich religiös? Irgendwie schon. Manchmal le‐
se ich in der Bibel. Und staune immer wieder: Von Brudermord, Genozid, Vergewaltigung und Skla‐
verei bis hin zu bezaubernder Philosophie und zart‐saftiger Liebeslyrik ist darin alles enthalten. Ich liebe den Existenzialismus im Buch Kohelet und die Sinnlichkeit des Hohelieds Salomos. Die passen irgendwie nicht so recht zum Rest, den man nicht allzu schräg halten darf, damit kein Blut herausläuft. Wie fühlt sich die Hölle an? Die Verdammnis? Ewige Gottesferne? Totale Verlorenheit? Wenn ich jetzt stürbe, wohin käme ich? Was bliebe von mir? Könnte es schlimmer sein, als mein Zustand der Schande und Trennung vom Letzten, was mir 219
noch Halt gab, meiner Arbeit? Von einer Hölle in die Nächste. Was für Aussichten. Wenn es mir dreckig geht, kommen mir zwangs‐
läufig religiöse Gedanken. Wer ist schon in der Welt glücklich und religiös zugleich? Wie gläubig waren Adam und Eva? Sie mussten dem Paradies durch ihren Ungehorsam ein Ende machen. Wer erträgt das Schlaraffenland auf Dauer, wer hält es aus, keine Probleme zu haben? Fürchtet der Mensch nicht mehr als Strafe, Tod und Leiden die Langeweile? Die verwöhntesten Kinder sind zugleich die Ungezogensten. Das Paradies ist ein unhaltbarer Zustand. Und auch die Götter haben am Fortbestand des Paradieses kein Interesse – o‐
der nur insofern, als dass sie damit den Ungehor‐
sam der Menschenkindlein provozieren, der aus Säuglingen überhaupt erst handelnde, also „sün‐
digende“ Menschen macht, religiöses Menschen‐
material, das ohne Konflikt und Leiden gar nicht denkbar ist. Ist Religion ohne Leiden und Konflikt, ohne „Sünde“, Trennung der Menschen unterein‐
ander und von „Gott“ überhaupt möglich? Hätte es ohne den verbotenen Verzehr des Apfels vom „Baum der Erkenntnis“, Erkenntnis also (und ist ein Mensch ohne Erkenntnis, Forscherdrang, Nachdenken, Fragen überhaupt ein Mensch?) eine 220 Weltgeschichte, eine Bibel, einen Koran, vom Men‐
schen getrennte Götter und Religion geben kön‐
nen? Ist da oben jemand, mit dem man verhandeln kann, der zuhört, antwortet, sich erweichen lässt? Wie bekommt man einen gnädigen Gott? Ist die Schöpfung/Evolution eine Person? Ist Glaube ohne Risiken und Nebenwirkungen zu haben, ist die Verzweiflung nicht noch viel größer, wenn der Glaube nicht „funktioniert“ und einen trotzdem Leiden, Scheitern und Chaos heimsuchen? Stets ist man selber schuld, denn man hat eben nicht fest genug oder „richtig“ geglaubt. Die letzte Leine war gekappt. Ich trieb dahin. Richtungslos. Keine Perspektive, kein Ziel in Sicht. Was ist ein Mensch, so ohne alles? Was bleibt, wenn man jemandem seine Familie nimmt, seine Partei ihn ausschließt, seine Glaubensbrüder ihn verstoßen, er keine Kinder hat, keinen Partner, kei‐
ne Freunde, keine Arbeit, keine Aufgabe, kein Geld? Nichts bleibt. Der Mensch an sich: ein Nichts. Erst ein Glaube, eine Fahne, eine Partei, ei‐
ne Familie, Genossen, Kollegen, ein Beruf und Sta‐
tus machen aus einem Haufen Zellen einen Men‐
schen. Wenigstens einen Fußballverein oder einen Fanclub braucht der Mensch. Einen Star zum Be‐
221
wundern, dessen Glanz auch ein bisschen auf ihn selber fällt. Das erst macht aus einem Körper, ei‐
nem Einwegcontainer, eine Person mit Sinn, Auf‐
gabe, Zweck, Bedeutung. Identifikation. Glauben. Heimat. Identität. Ge‐
meinschaft. Ich beneidete die Menschen, die so et‐
was haben, wissen, wo sie hingehören, nicht su‐
chen und keine Fragen stellen müssen, wissen, was sie zu tun haben, deren Welt einfach und klar ist. Ich fühlte mich nackt. Leer. Verloren. Wären die Jünger des fliegenden Spaghettimonsters zur Stelle gewesen, hätten sie sich garantiert eine weitere Seele einverleiben können. In Ermangelung einer Alternative ging ich doch zu meinem Wohnhaus, stieg die Treppe hoch und schloss die Wohnungstür auf. Würde ich mir das künftig noch leisten können, so zu wohnen, auf hundertfünfzig Quadratmetern mit Südbalkon zum Landwehrkanal? Wie lange noch? Ersparnisse hatte ich praktisch keine. Viel‐
leicht noch zwei, drei Monate könnte es so weiter‐
gehen, ohne Arbeit, ohne Einkommen. Schlimmer noch war die Leere. Nicht zu wissen, warum ich morgens aufstehen, womit ich den Tag verbringen sollte. Ich legte meine Fahrradtaschen ab. Dann ging 222 ich auf den Balkon. In der prallen Sonne hing mein Hosenanzug auf dem Trockenständer. Und stank fürchterlich. Er hatte sich an den besagten Stellen hellbraun verfärbt. Er war dahin. Ich trug ihn mit den Fingerspitzen in die Küche und packte ihn in einen Müllbeutel. Den stellte ich vor die Woh‐
nungstür. Auf dem Sessel in der Ecke hatte ich meine Mäd‐
chenmaskerade drapiert. Minirock, Korsett, Gürtel, Kopftuch, Stümpfe, Oberteil, Schnürstiefel. Ich raffte alles zusammen und stopfte es mitsamt den Plüschtieren von meinem Bett in den Kleider‐
schrank. Kinderkram. Wieder dachte ich an Chipsy. Er war nicht nur ein ebenso alberner wie melancholischer, wider‐
willig alternder Clown, sondern auch Volkswirt und ein paar Jahre älter als ich. Bis vor ein paar Jahren hatte er bei der Bankgesellschaft Berlin ge‐
arbeitet. Er war sogar ein zertifizierter Hochbegab‐
ter. Wie auch ich. Ich hatte ihn bei einem Alumni‐
Treffen der Studienstiftung des Deutschen Volkes kennen gelernt. Er hatte bei der Aufdeckung des Berliner Ban‐
kenskandals im Hintergrund eine entscheidende Rolle gespielt und kurz danach den Abgang ge‐
223
macht – mit goldenem Handschlag, sagte er im‐
mer. Jetzt lebte er als Berliner Bohemien. Manchmal hielt er Vorträge über Wirtschaftsthemen, schrieb mal einen Artikel hier oder da. Und ansonsten? Grillen, Feiern, Reisen. Und scharte einen Schwarm junger Frauen um sich: Seine Quiet‐
scheentchen. Wie machte er das? Wie schmeichel‐
haft, dass er mich immer noch einlud und offenbar mit zu dieser Kategorie zählte. Wovon lebte Chipsy? Wovon lebte ein Eduard? Wovon der Bombenleger in der Tschaika? In Ost‐
vorpommern? Ich wurde das dumme Gefühl nicht los, dass da etwas an mir vorbeiging, sich ein Paralleluniver‐
sum jenseits der Medien und der Arbeitsgesell‐
schaft entfaltete, auf dessen Existenz ich nur aus Indizien schließen konnte. Offenbar gab es noch Lebensformen jenseits der Erwerbsarbeit. Immer noch hatte ich das Gefühl, zu fallen. War ich aus der Kurve geflogen? Auf jeden Fall schien sich mein Koordinatensystem rasant von mir zu entfernen. Und den Blick in den Abgrund, den ich in Flugrichtung vermutete, wagte ich noch nicht. Aber vielleicht war ich auch in ein neues Univer‐
sum unterwegs? Flog zu einer neuen Umlaufbahn 224 um ein neues Zentralgestirn? Astrophysik. Ein‐
stein. Relativitätstheorie. Chip‐sy. Chipsy war nicht nur bekennender Rolling‐Stones‐Fan und Budweiser‐Trinker, sondern auch ein großer Ver‐
ehrer von Albert Einstein. Ich konsultierte mein Handy und wählte Chipsys Nummer. Es meldete sich nur seine Voi‐
cebox. Aber zumindest würde er sehen, dass ich angerufen hatte. Ich ging zum Balkon. Vierter Stock. Diesen Sprung würde ich nicht überleben. Aber ich hatte Mitgefühl mit jenen, die unten die Sauerei beseiti‐
gen müssten. Am Ende würde noch einer meiner Nachbarn von mir erschlagen. Ich fand die meisten Selbstmörder ziemlich rücksichtslos. Sich vor einen Zug zu werfen war auch keine akzeptable Alterna‐
tive. Das hinterlässt eine besonders ekelhafte Schweinerei, verteilt über hunderte von Metern Bremsweg. Das hatte ich mal erlebt und mein Tag war gelaufen. Ich kam sechs Stunden später nach Hause als geplant. Und ich hatte einmal eine Re‐
portage über traumatisierte Lokführer gelesen. Die meisten bleiben berufsunfähig und werden chro‐
nisch depressiv. Wie wäre es mit Tabletten? Mir wurde schlecht. Ich trank ja noch nicht einmal Alkohol. Die meis‐
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ten Tablettenschlucker werden gerettet, manche fallen ins Koma. Erhängen? Oh, das wäre ein schändlicher Tod, einer kriminellen Frevlerin angemessen. Aber es konnten Tage vergehen, bis meine am Strick bau‐
melnde Leiche gefunden würde. Es war sommer‐
lich warm. Fliegen. Verwesung. Ein Bekannter von mir fand einst seinen besten Freund erhängt und aufgedunsen auf dem Dachboden. Er war ziemlich außer sich. Erschießen? Ach nein, eine Kugel aus nächster Nähe gibt eine Fontäne aus Blut und Gewebeteil‐
chen, die ein halbes Zimmer einnebelt. Und danach? Eigentlich bin ich mir sicher, dass im Lichte der Vernunft betrachtet Persönlichkeit und Identität mit dem Körper enden. Die „Seele“ beziehungsweise „Gott“ sind wohl eher formloses Bewusstsein, dass durch den Körper gefiltert in die Welt scheint und dann als Identität wahrgenom‐
men wird. Vielleicht sind wir so etwas wie Kir‐
chenfenster, durch die das reine, weiße Licht des Bewusstseins als buntes Farbenspiel in die Welt scheint. Die Sonne verändert sich überhaupt nicht, wenn das Fenster nicht mehr da ist. Vielleicht sind wir auch nur so etwas wie Schneeflocken, die sich 226 irgendwann im Ozean auflösen, woraus wieder neue Schneeflocken entstehen. Oder Radiogeräte, die ein bestimmtes Programm spielen. Ist das Ra‐
dio kaputt, sind die Programme immer noch da. Oder Instrumente. Der Musik ist es egal, ob diese oder jene Geige noch existiert. Dass man als Person weiterexistiert, nur halt oh‐
ne Körper, erscheint mir nicht plausibel. Oder flugs in einen neuen Körper schlüpft. Als was würde ich wohl wiedergeboren werden? Als Aas‐
käfer? Als Küchenschabe oder Kompostwurm? Warum sollte Gott etwas belohnen und bestra‐
fen, was zu nichts Bösem mehr in der Lage ist? Ei‐
nen Geist ohne Körper? Warum sollte ein körper‐
loses Wesen noch etwas Böses tun können? Wo‐
nach sollte es gieren? Worum kämpfen? Hat ein Geist Hunger? Sehnt ein Geist sich nach Sex? Kann er frieren? Was soll ein Geist mit Prestige, Geld und Macht anfangen? Und wenn mich die ewige Höllenstrafe erwarte‐
te, war es ohnehin zu spät. Es ist schließlich egal, ob ein Mörder einen oder mehrere Menschen um‐
bringt. Die Höchststrafe ist nicht steigerungsfähig. Ein Massenmörder kann auch mehrfaches Lebens‐
länglich nur einmal abbüßen; ein von Gott Ver‐
dammter nur einmal ewig in der Hölle schmoren. 227
Moralkeulen, Strafandrohung und Vergeltung erreichen immer die Falschen, nämlich jene, die sowieso schon ein Gewissen samt Schuldgefühlen sowie Mitgefühl haben. Aber die sind gerade nicht gefährlich. Die Gefährlichen, die Gewissen‐ und Gefühllosen, erreicht man mit der Moralkeule na‐
turgemäß nicht. Ich musste feststellen: Diese ganzen religiösen Überlegungen brachten mich nicht weiter. Es gab keinen Gott, für den ich mich hätte entscheiden können und weder dieses noch ein künftiges Le‐
ben erschien mir attraktiv. Hatte ich überhaupt gelebt? Irgendeinen kon‐
struktiven Beitrag geleistet? Noch nicht einmal ei‐
nen Partner hatte ich, geschweige denn ein Kind. Ich hatte immer nur nach Vorgaben gelebt; hatte mich leben lassen. Und ich konnte absolut nicht sagen, ob das für oder gegen das Weiterleben sprach. Wer würde mich vermissen? Niemand brauchte mich wirklich. Irgendwann würde meine Thera‐
peutin eine Abschlussrechnung für die ausgefalle‐
nen Stunden schicken. Meine Eltern und meine Schwester würden zur Beerdigung kommen. Nach ein paar Jahren würde niemand mehr an mich denken. Letztlich wäre es gleichgültig, ob ich je‐
228 mals gelebt hätte oder nicht. So ist es bei den al‐
lermeisten Menschen. Nur die Masse zählt, der Einzelne ist ersetzbar, austauschbar. Die Funktion schafft sich den Funktionsträger. Tausende andere hätten meinen Job ebenso gut tun können. Eigentlich ein guter Zeitpunkt zum Verschwin‐
den, wenn es niemandem besonders weh täte. Und ein unendlich trauriger. Ungeliebt, einsam und unbemerkt sterben, sterben, ohne gelebt zu haben? Diese Überlegungen eisiger Verlorenheit brach‐
ten irgendwie auch ein seltsames Gefühl der Be‐
freiung mit sich. Befreiung durch Selbstaufgabe. Mein Handy fiepte. Eine SMS kam herein. Sie war von Chipsy. „Heute 19 Uhr – 50 Jahre Wir Wunderkinder – Medchenabend. Kommste auch? Mir fehlt nur noch eins in meiner QE‐Sammlung.“ Medchenabend? Mädchenabend – Medienabend. QE, das waren die Quietscheentchen. Ach, wie tat das gut. Immer noch war ich eins in seinen Augen. Chipsy veranstaltete nicht nur Grillabende auf seinem Balkon, sondern auch seine berühmten „Medchenabende“. Dabei zeigte er Filme, bevor‐
zugt Klassiker und „Wir Wunderkinder“ war of‐
fenbar so einer, der dieses Jahr genau 50 Jahre alt wurde – wie die Tschaika des Bombenlegers. 229
Wir Wunderkinder Sollte ich dort hingehen, zu Chipsys „Medchena‐
bend“? Mir kamen seine Parties immer wie das Programm eines Verliererclubs vor oder sagen wir lieber: wie ein Unterhaltungsprogramm für Früh‐
rentner. Mir grauste vor den kommenden Stunden, Ta‐
gen, Monaten. Ich konnte nur noch langsam und schleppend denken und es fiel mir schwer, mir auch nur ein Morgen vorzustellen. Eigentlich war ich im Moment ganz gern allein, zumindest wollte ich keine wissenden Blicke spü‐
ren. Andererseits fürchtete ich, das Alleinsein könne niemals enden. Chipsy hatte mich in den vergangenen Monaten wiederholt eingeladen, aber mein dicht gepacktes Programm ließ für so etwas keinen Raum. Er schien ziemlich viel Fernsehen zu schauen und war immer bestens über meine Auftritte infor‐
miert. Ihm würde es mit als Erstem auffallen, dass es damit vorbei war. Es war also ziemlich egal, ob er jetzt gleich oder später bemerkte, dass ich drau‐
ßen war. Es war erst kurz nach Mittag und ich musste ir‐
gendetwas unternehmen, um nicht völlig abzu‐
230 stürzen. Also rief ich Chipsy an. „Sag mal, wann geht er denn los, dein ‚Medche‐
nabend’?“, fragte ich ihn. „Naja, ich denke, die ersten Leute kommen wohl so ab sieben”, antwortete er. Mein Gott, es waren noch sechs Stunden bis da‐
hin. „Musst du das irgendwie vorbereiten? Ich könn‐
te dir vielleicht helfen, ein bisschen einkaufen oder so“, schlug ich vor. „Wie, du musst nicht arbeiten? Hast du Urlaub?“ Ich schluckte. Urlaub. Ohne Ende, dachte ich. Die Pause dauerte ziemlich lange. Dann sagte Chipsy: „Komm einfach vorbei. Du hast einiges zu erzählen, scheint mir. Und du bist der Stargast heute Abend, versprochen.“ „Mir ist echt nicht nach Späßen zumute“, sagte ich. Ich ging die paar hundert Meter bis zu Chipsys Adresse zu Fuß. Die Haustür stand offen und das Gartenlokal vorm Haus war gut gefüllt. Auch er wohnte im vierten Stock. Das Treppenhaus war speckig und die Stufen ausgetreten. Vor seiner Wohnungstür mit floralen Schnitzereien aus Ma‐
hagoni stapelten sich Kartons und Altpapier. Ich betätigte den Anklopfer aus Messing mit Jugend‐
231
stildekor. Eigentlich war es ein Klingelknopf in der Form eines Anklopfers. Drinnen rappelte es. Dann hörte ich Schritte. „Hallo, wer da?“, rief Chipsy von drinnen. „Ich bin’s, Esther“, gab ich zurück. Schlüsselgeklapper. Ich zuckte zusammen. Ein Schweißausbruch, von Schlüsselgeklapper. Er ent‐
riegelte mindestens vier Schlösser, so kam es mir vor. Die Tür öffnete sich, soweit es die Sicherungsket‐
te zuließ und Chipsy reichte mir durch den Spalt eine geöffnete Flasche Budweiser nach draußen. Ich wollte kein Bier, nahm es aber trotzdem ent‐
gegen. Die Tür schwang auf. Chipsy stand in Flipflops, Boxershorts, Basket‐
ball‐Top und mit einem Stirnband auf dem Kraus‐
kopf vor mir. Sein zerfurchtes Gesicht war unra‐
siert und er setzte seine randlose Brille auf. Dann schaute er an mir hinab und wieder in mein Gesicht. „Mein Gott“, sagte er. Und dann: „Du siehst furchtbar aus. Bist du krank?“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf den Boden und sprach: „Füße abtreten!“ Ich gehorchte. Dann griff er mich am Oberarm 232 und zog mich nach drinnen. Er führte mich in die Küche und zeigte auf einen morschen Korbsessel. „Hinsetzen“, befahl er. Er prostete mir zu und ich nahm einen höflichen Schluck aus der Flasche. Alkohol. Der erste Trop‐
fen seit Jahren. Mein Magen krampfte sich zusammen. „Ich kann das nicht. Ich vertrage kein Bier, das weißt du doch”, stammelte ich. „Saft? Kaffee? Espresso?“, fragte Chipsy. „Einen Kaffee“, sagte ich. Er warf die Maschine an. Er ging in sein Wohnzimmer und stellte die Mu‐
sik an. „Friday I’m in Love“ von The Cure. Da fiel mir ein: Es war Freitag. Meine Therapiesitzung lief gerade. Und ich war nicht da. Achtzig Euro futsch. „Friday I’m in Love“: Wieder dachte ich an den Bombenleger in der Tschaika. Wie der wohl lebte? Ich schaute mich um: Die ganze Wohnung schien mit einer Sammlung der Sonderangebote von Lidl und Aldi der letzten Jahre gefüllt zu sein. Auf und in den Schränken und Regalen hatten sich zahllose Konserven, Flaschen und Schachteln abgelagert, ich sah Küchenmaschinen und einen Zimmer‐
springbrunnen. In den Ecken stapelten sich Ver‐
kaufsprospekte, leere Gemüsekartons, volle und 233
leere Budweiser‐Kästen. An der Wand hingen ein Einstein‐Poster und ein Werbeplakat für Budweiser mit einem lässig ange‐
lehnten bauchfreien Girl mit einer Bierflasche in der Hand. Chipsy machte sich an den Abwasch, der sich in der Spüle stapelte. „Eigentlich wollte ich dich fragen, was die Kar‐
riere und die Liebe so machen. Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Ich habe dich kaum wiedererkannt. Du siehst echt fertig aus, wenn ich so direkt sein darf. Was ist passiert?“ „Ich bin draußen“, sagte ich leise. „Wie, draußen? Du warst doch neulich erst im Fernsehen.“ „Das war das letzte Mal, wie es aussieht“, flüs‐
terte ich. Der Kaffee war durchgelaufen. Er griff die Tasse und hielt sie mir hin. Dann prostete er mir mit sei‐
nem Bier zu und sprach feierlich: „Willkommen im Club, Frau Wiesengrund.“ Ich putzte meine Nase und wischte mir die Au‐
gen ab. Dann sagte ich: „Ich habe keine Ahnung, wie es jetzt weiter‐
geht.“ 234 „Ein neuer Anfang. Das ist großartig! Freiheit, jede Menge verfluchte, beschissene Freiheit! Welch eine Herausforderung!“, rief er und lachte diabo‐
lisch. Dann fragte er: „Hast du dir wenigstens eine ordentliche Abfindung abgegriffen?“ „Vergiss es. Ich hab es voll versiebt. Mein Chef ist an einen Baum gefahren. Hoffentlich nicht, weil ich mit ihm Schluss gemacht habe.“ „Westerborn? Du hattest was mit ihm? Und er hat sich aus Liebeskummer das Licht ausgebla‐
sen?“ „Oh Gott, ich will es nicht hoffen. Er liegt im Koma und ich muss herausfinden, warum er das getan hat. Sonst werde ich noch verrückt. Ich habe in seinem Büro herumgeschnüffelt und seine Alte hat mich dabei erwischt.“ Chipsy schaute mich mit offenem Mund an. Ich machte dem Schweigen ein Ende: „Du hast doch bei der Bankgesellschaft gearbeitet und hat‐
test irgendwie mit dem Bankenskandal zu tun. Herbert hatte immer was von einer Riesensauerei bei der Reuterbank gefaselt. Und er hatte eine Menge Akten zu operationellen Risiken auf seinem Tisch.“ „Banken sind eine Riesensauerei, wenn ich das mal so zusammenfassen darf. Und die Banker sel‐
235
ber sind vielleicht das größte operationelle Risiko“, sagte Chipsy. „Warum arbeitest du nicht mehr als Banker?“ „Ach weißt du, ich lebe ganz gut von meiner Stilllegungsprämie. Null Arbeitszeit bei vollen Be‐
zügen sozusagen. Das sollte man mal mit den gan‐
zen anderen Sesselpupsern machen. Unser Land würde aufatmen. Ich habe damals ein bisschen nachgeholfen, damit der Laden hochgeht und ein paar wichtige Leute mit ihm. Ich war so ‘ne Art kleiner Deep Throat, falls dir das was sagt.“ Deep Throat war der Informant im Watergate‐
Skandal, der Präsident Nixon zu Fall brachte. Das Geschirr klapperte im Spülbecken. „Apropos Watergate: Ich habe ein paar VIP‐
Karten fürs Watergate heute Nacht. direkt vom DJ. Komm doch mit, wird bestimmt lustig“, bot er mir an. „Mir ist echt nicht nach Feiern zumute“, sagte ich. „Abwarten. Du wolltest mir von dieser Riesen‐
sauerei erzählen.“ „Herbert saß auch im Vorstand der Reuterbank. Er war Risk Control Manager. “, sagte ich. Ich um‐
klammerte meinen Oberkörper und dachte laut: 236 „Scheiße, ich rede von ihm schon in der Vergan‐
genheit.“ Chipsy ließ den nassen Schwamm ins Spülbe‐
cken plumpsen. „Kannst du das nochmal wiederholen? Zum Mitschneiden?“, fragte Chipsy und hielt die Hand ans Ohr, um besser zu hören. „Herbert hat ein krasses Problem, zumindest hat er immer von dieser Sauerei gefaselt“, legte ich nach. Chipsy wurde hektisch. „Mehr Details bitte. Kann ich dir noch was anbieten? Du solltest was essen, du bist ja total abgemagert. Ich backe jetzt einen Herbert, äh, einen Hermann. Der Teig ist schon fertig.“ Er schob eine Backform in den hei‐
ßen Gasofen und sagte: „Komm, wir setzen uns auf den Balkon.“ Ich folgte ihm. Sein Balkon war noch viel schöner als meiner. Mit schmiedeeisernem Gitter im schwungvollen Jugendstildesign. Man schaute auf das Gartenlokal hinunter und Dampfer schipperten auf dem Kanal vorbei. In die Erde der Blumenkästen hatte er bun‐
te Windräder gesteckt. Am Geländer hing eine Sa‐
tellitenschüssel. Chipsy klappte zwei Liegestühle auf. 237
Als ich mich hineingefläzt hatte, bemerkte ich, wie müde ich war. Chipsy ging nach drinnen und kam mit einer riesigen Tröte wieder, wie sie Fuß‐
ballfans im Stadion zum Krachmachen benutzen. „Wir machen jetzt ein Spiel“, sagte Chipsy. „Freie Assoziation. Für jeden Treffer gibt’s hundert Punkte. Du fängst an.“ „Womit denn?“, fragte ich. „Das erste Wort, das dir einfällt.“ Ich überlegte. „Nicht nachdenken. Einfach sagen. Schnell“, drängte er. „Westerborn“, sagte ich. Chipsy nahm die Tröte und hupte. „Hundert Punkte. ‚Geld+Finanz’“, sagte Chip‐sy. „Sauerei“, sagte ich. Chipsy trötete doppelt. „Zweihundert. Risiko‐
kontrolle“, sagte er. „Reuterbank“, sagte ich. Dreimaliges Tröten. „Vorstand“, sagte Chipsy. „Banz“, sagte ich. Chipsy stutzte. Dann sprang er im Dreieck, wie irre in alle Richtungen trötend. Und rief dabei: „Tausend Punkte. Banz, Banz, Banz, K.O. Banz...“ Und dann sagte er: „Los, weiter, das erste Wort, das dir einfällt. Na?“ 238 Ich traute mich nicht. Dann sagte ich leise: „Klein...“ „Looosss, sag es.“ „Klein‐Mu...“ Chipsys Augen wurden immer größer. Er bewegte die Lippen synchron zu den meinen: „Klein‐MU‐SEL‐KOW“ Chipsy rannte nach drinnen. „Komme gleich wieder, ich muss aufs Klo.“ Er kehrte zurück, in der Hand ein Handtuch, mit dem er sich das Gesicht trockenrieb. „Das ist Wahnsinn. Total irre. Kennst du „Mat‐
rix“?“, fragte er mich. „Die rote oder die blaue Pil‐
le?“ Natürlich kannte ich „Matrix“. Die rote Pille führt dich ins Land der schockierenden Wahrheit hinter der Realität – ohne Wiederkehr. Mit der blauen bleibst du in der so genannte Realität und wirst dich an nichts erinnern. „Du bist doch Journalistin. Und jetzt bist du frei. Da kocht eine echt heiße Story”, raunte er. „Klein‐
Muselkow. Total irre. Was weißt du darüber?“ „Nicht viel, das ist so ein Kaff in Ostvorpom‐
mern und Herbert und Banz haben da ein Haus”, antwortete ich. Dann fragte er mich: „Kennst du K.O. Banz?“ 239
„Nein. Aber Herbert hatte ihn immer wieder er‐
wähnt und ich würde ihn gern mal interviewen. Herbert hatte da irgendeinen bösen Verdacht und inzwischen nehme ich ihn ernst. Ich finde, man sollte da mal nachhaken. Wieso eigentlich ‚K.O. Banz?’“, fragte ich. „Karl‐Otto. Den kenne ich noch aus Studienzei‐
ten. Eigentlich war er es, der die Bankgesellschaft hat hochgehen lassen. Ich war nur der Dummy, der den Kopf hingehalten hat. Banz hat geblickt, was bei den Banken läuft. Die meisten Vorstände haben keine Ahnung davon, was ihre Händler und Controller tun. Und verstehen ihre eigenen Bilan‐
zen nicht. Ich frage mich, wie Banz das aushält, Bescheid zu wissen und trotzdem weiterzuma‐
chen.“ Chipsy ging zum Computer. „Was tust du?“, fragte ich. „Nicht verzagen, Google fragen“, sagte Chipsy und tippte auf der Tastatur herum. Chipsy griff das Telefon und tippte eine Num‐
mer ein. Dann reichte er es mir. Es meldete sich die Pressestelle der Reuterbank. Mein Name sei Wiesengrund und ich sei Finanz‐
journalistin, arbeite unter anderem für „Geld+Finanz“ und bitte um einen Interviewter‐
240 min mit Dr. Banz, sagte ich. Es sei dringend. Au‐
ßerdem habe mir Herbert Westerborn vor seinem tragischen Unfall einige Interessante Fakten über das Risikomanagement der Reuba erzählt und darüber wolle ich gern mit Dr. Banz sprechen. Die Frau am Telefon nahm mich aus der Leitung. Dann sagte sie: „Ich verbinde Sie mit Dr. Banz.“ „Guten Tag Frau Wiesengrund. Was kann ich für Sie tun?“, begrüßte er mich. Er sprach langsam und in abgrundtiefem Bass. Ich war platt. So schnell ging das. „Bestell einen schönen Gruß von mir“, flüsterte Chipsy mir zu. „Herr Westerborn hatte einen schweren Unfall. Ich recherchiere die Hintergründe und hätte da ein paar Fragen zu seiner Tätigkeit bei der Reuter‐
bank“, sagte ich. „Übrigens soll ich Ihnen einen schönen Gruß von Robert Metz bestellen. Der steht gerade neben mir.“ „Metz... Sie kennen sich?“ Dann schien er einen Moment lang nachzudenken. „Ich denke, wir soll‐
ten uns einmal live unterhalten. Möglichst bald“, sagte Banz. „Haben Sie morgen Zeit, so gegen Mit‐
tag?“ „Sie arbeiten samstags?“, staunte ich. „Manchmal gibt es Wichtigeres als die Arbeit. 241
Ich bin morgen sowieso im Büro”, sagte er. Wir machten einen Termin um halb eins aus – in Dr. Banz’ Büro in der Zentrale der Reuterbank. Als ich aufgelegt hatte, schaute Chipsy mich an und fragte: „Und? Was sagt er?“ „Er hat mich zu sich bestellt. Morgen Mittag“, sagte ich verdattert. Chipsy klatschte und rief: „Der Beginn einer journalistischen Karriere, und zwar einer richti‐
gen!“ Dann drehte er die Musik auf: „Just Like Heaven“ von The Cure. Er eilte er in die Küche und kam mit einer Sekt‐
pulle und zwei Gläsern wieder. Er ließ den Korken im hohen Bogen ins Freie knallen und schenkte uns ein. „Nein, ich trinke keinen Alkohol, das weißt du doch“, sagte ich. „Quatsch nicht, trink. Heute beginnt ein neues Leben für dich. Du warst doch sowieso unglück‐
lich mit deinem Job. Bei deinem Sündenregister ist diese Abstinenzlerei einfach lächerlich.“ Er proste‐
te mir zu. Ich hatte Durst und schüttete den kalten Sekt in mich hinein. Auch Chipsy trank und schenkte uns nach. Dreieinhalb Cure‐Songs später hatten wir die 242 Flasche gekillt. Die Wärme stieg mir in den Kopf; alles fühlte sich weich und wattig an. Ich rülpste und atmete schwer. „Himmel, der Herbert, äh, Hermann“, rief Chipsy und stürzte in die Küche. Er riss den Back‐
ofen auf. Rauchschwaden füllten den Raum. Er griff zwei Topflappen und stürzte den verkohlten Kuchen auf ein Küchenbrett. Ich schwankte, ließ mich in den Liegestuhl plumpsen und gähnte lang und breit. Mein Kopf kippte zur Seite und ich dämmerte weg. Ich sah mich im Liegestuhl auf der Seite liegen; wie ein Säugling hatte ich mich zusammengerollt. Meine Augen waren geschlossen. Von oben schau‐
te ich auf Chipsys Balkon hinab. Dann sah ich mich im Traum hinter einem Vor‐
hang warten. Auf der Bühne rief eine Frau: „Es ist uns eine ganz besondere Freude, dass Frau Di Sanzo Wiesengrund heute Abend bei uns ist und aus ihrem Bestseller ‚Alphacrash‘ lesen wird. Ich begrüße jetzt ganz herzlich heute Abend hier bei uns Frau Di Sanzo Wiesengrund.“ Ich trat vor den Vorhang. Rechts stand das Red‐
nerpult der Moderatorin und in der Mitte der Bühne ein Sessel mit einem Tischchen daneben. Darauf ein Buch und Mineralwasser, alles in glei‐
243
ßendes Scheinwerferlicht getaucht. Ich war ge‐
blendet und konnte nur die Konturen der Zu‐
schauer in den ersten Reihen erkennen. Ich befand mich in einer Universitätsaula mit Empore und mindestens tausend Sitzplätzen. Beifall brandete auf. Minutenlang. Ich setzte mich und nahm das Buch bedächtig in die Hand. Das Klatschen verebbte. Ich schlug es auf und be‐
gann zu lesen: „Ich sah mich im Traum hinter einem Vorhang warten. Auf der Bühne rief eine Frau: ‚Es ist uns eine ganz besondere Freude, dass Frau Di Sanzo Wiesengrund heute Abend bei uns ist und aus ih‐
rem Bestseller ‚Alphacrash’ lesen wird. Ich begrü‐
ße jetzt ganz herzlich heute Abend hier bei uns Frau Di Sanzo Wiesengrund...’ Ich trat vor den Vorhang und rechts stand das Rednerpult der Moderatorin und in der Mitte der Bühne ein Sessel mit einem Tischchen daneben. Darauf ein Buch und Mineralwasser, alles in glei‐
ßendes Scheinwerferlicht getaucht. Ich war ge‐
blendet und konnte nur die Konturen der Zu‐
schauer in den ersten Reihen erkennen. Ich befand mich in einer Universitätsaula mit Empore und mindestens tausend Sitzplätzen. 244 Beifall brandete auf. Minutenlang. Ich setzte mich und nahm das Buch bedächtig zur Hand. Das Klatschen verebbte. Ich schlug es auf und begann zu lesen: Ich sah mich im Traum hinter einem Vorhang warten. Auf der Bühne rief eine Frau: ‚Es ist uns eine ganz besondere Freude, dass Frau Di Sanzo...“ Ich schreckte auf. Ich schaute auf mich selber hinab, aus mir hinaus und in mich selber hinein. Wer ist das, dieses „Ich“? Bin ich sozusagen mehr als Eine? Und wo und wann befinden sich diese Ichs in Zeit und Raum? Ob Einstein auch darüber nachgedacht hatte? Ich hatte keine Kraft, aufzustehen. Da war noch Sekt in den Gläsern. Ich griff neben mich, kippte beide in mich hinein, drehte mich auf die andere Seite und nickte wieder ein. Die Lesung war vorbei. Donnernder Applaus. Dann drängte das Publikum auf die Bühne, dazwi‐
schen Reporter und Fotografen. Ein Blitzlichtge‐
witter brach los. Mikrofone wurden mir entgegen‐
gestreckt. „Warum sind sie Single, Frau Wiesen‐
grund?“, fragten sie mich. „Warum haben sie noch keine Kinder?“ „Wie stellen sie sich ihren Traum‐
partner vor?“ „Wie viel Zeit bleibt ihnen noch?“ Die Leute drängten immer näher an mich heran 245
und hielten mir ihre Exemplare von „Alphacrash“ entgegen. Ich signierte hastig, schrieb Widmungen, so schnell ich konnte, aber es wurden immer mehr. Ich wollte aufstehen, doch sie erdrückten mich, nahmen mir den Atem. Ich war ganz und gar al‐
lein – mitten im Gedränge. Mein Magen krampfte sich zusammen; der Sekt kam hoch. Ich zog mich an der Balustrade in die Senkrechte und hätte mich um ein Haar auf die Gäste im Gartenlokal erbrochen. Ich machte kehrt und taumelte zur Balkontür. Chipsy hatte die Gar‐
dine zugezogen. Ich schlüpfte hindurch und duck‐
te mich unter dem gleißenden Lichtkegel des Vi‐
deobeamers hindurch. Ich schaffte es nicht bis zur Kloschüssel, sondern entleerte mich ins Waschbecken. Der Sekt floss körperwarm ab. Mein leerer Magen krampfte wei‐
ter; ich würgte und hustete. Chipsy stand hinter mir und klopfte mir auf den Rücken. Wortlos reichte er mir ein Glas Wasser. Abwechselnd schnappte ich nach Luft, trank und übergab mich wieder. Chipsy schenkte immer wieder nach. Erst das vierte Glas blieb drin. „Das war ja ein Horrortrip eben“, wunderte ich mich. „Naja, Abstinenzler reagieren schon mal psy‐
246 chedelisch, wenn sie am Ende doch umfallen“, amüsierte sich Chipsy. Ich schlich ins Wohnzimmer und ließ mich aufs Sofa fallen. „Darf ich vorstellen? Esther Di Sanzo Wiesen‐
grund. Ihres Zeichens ehemalige Versicherungs‐
tante und bekannt aus Funk und Fernsehen”, sagte Chipsy. Dann deutete er nach links und sprach weiter: „Frau Wiesengrund, zu ihrer Rechten sitzt Birgit, von Beruf Erbin und Fahrerin eines BMW‐Cabrios mit sooo breiten Reifen.“ Er deutete die Reifenbrei‐
te mit den Händen an. Ich schaute nach rechts: Neben mir grinste eine große Blonde mit Löwen‐
mähne und streckte mir ihre Hand entgegen, die ich verdattert schüttelte. „Und das ist Malena. Ihres Zeichens hauptberuf‐
liche Praktikantin in der Filmbranche und kolum‐
bianischer Abstammung.“ Ich drehte mich auf die andere Seite und eine kleine Brünette schüttelte meine Hand. „Frau Wiesengrund ist gerade ein wenig unpäss‐
lich. Man erkennt sie kaum wieder, aber sie ist es wirklich”, spottete Chipsy. Ich war zu schwach, um etwas zu sagen. Im Raum saßen noch ein paar andere Menschen, die 247
ich im Gegenlicht der Projektion an der Wand nur schemenhaft erkennen konnte. Chipsy startete „Wir Wunderkinder“. Hans Bö‐
ckel, der Aufrichtige, hat weder im Kaiserreich als Schüler noch als Doktor der Philosophie bei den Nazis besonderen Erfolg. Er verliert seinen Job als Redakteur, als die Faschisten die Medien gleich‐
schalten. Sein Freund Bruno Tiches ist da sehr viel flexibler: Er ist als kaisertreuer Schüler wie auch als Schieber während der Hyperinflation glei‐
chermaßen wendig. Er beginnt eine Banklehre beim Bankhaus Stein (einem jüdischen natürlich) und macht direkt danach als Nazibonze Karriere. Nach dem Krieg hält er sich als Schwarzmarkt‐
händler schadlos und steigt zum Industrieboss auf. Doch auch Hans nimmt am Wirtschaftswunder teil und macht endlich Redaktionskarriere. Er entlarvt Tiches in einem Artikel als alten Nazi und Tiches versucht, Böckel um seinen Job zu bringen, indem er Böckels Zeitung die Werbeinserate zu entziehen droht. Böckel lässt sich nicht einschüchtern: Frau und Sohn stehen hinter ihm. Garniert wird die Story mit Kabaretteinlagen von Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller: „Was kostet die Welt? Geld. Viiiiel Geld. 248 Armer Staat bittet um ‘ne milde Gabe, denn die Panzer für die Landser und Patronen und Kanonen kosten Geld...“ und „Jetzt kommt das Wirtschaftswunder, jetzt kommt das Wirtschaftswunder, es gibt im Laden Karbonaden und auch Räucher‐
flunder. Der deutsche Bauch erholt sich auch und wird schon sehr viel runder, jetzt schmeckt das Eisbein in Aspik, ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg...“ Ich lachte Tränen und rieb mir die Augen, als ich sah, wie die überaus leckere Kirsten (gespielt von Johanna von Koczian, damals Mitte zwanzig) den smarten Hans (gespielt von Hansjörg Felmy, eben‐
falls Mitte zwanzig) umgarnt. Auf einer Fa‐
schingsparty mit Kabarett („Adolf, nun sei doch mal vernünftig, ... ein Tapezierer wird niemals Führer.“) lässt sich das Teufelchen Kirsten auf Hans’ Schoß plumpsen, der seinen Kummer über das Ende seiner Zeitungskarriere im Alkohol er‐
tränkt. Hans beschwert sich: „Man setzt sich nicht bei 249
fremden Herren auf den Schoß!“ Kirsten: „Warum nicht, wenn darauf Platz ist?“ Die Szene endet, als Nazischläger das Lokal stürmen und den Laden zu Kleinholz verarbeiten. Kirsten duckt sich unter den umherfliegenden Möbeln und Gläsern weg und flüchtet sich hinter den Tresen. Hans muss einen Hilfsjob im Buchhandel an‐
nehmen. Kirsten betritt den Laden und Hans kommt mit einem Stapel verstaubter Bücher aus dem Keller gekrochen. Auf halbem Weg nach oben bleibt er mit offenem Mund stehen: Kirsten steht im feschen 30er‐Jahre Kostüm vor ihm. Kirsten: „Ich hatte dich viel größer in Erinne‐
rung.“ Hans: „Man hat mich ganz schön kleingekriegt.“ Kirsten: „Das macht überhaupt nichts. Große Männer sind heutzutage nicht gefragt.“ Sie packt mit an und hilft Hans bei der Arbeit. Dann entführt sie ihn in ihre Heimat Dänemark. Hans fühlt sich ihrer unwürdig: „Aber ich bin doch niemand. Ich habe doch nichts.“ Kirsten: „Du bist sehr viel, wenn du mein Mann bist.“ Unfassbar, dachte ich. Ob es so etwas wirklich einmal gegeben hatte? 250 Eines Morgens weckt Kirsten Hans: „Aufstehen, Heiraten!“ Hans, noch im Pyjama, setzt sich schon mal den Zylinder auf. Beim Verlassen der Kirche steht die Dorfpolizei Spalier. Und Kirsten flüstert ihrem Mann zu: „Die habe ich aufstellen lassen. Wegen Fluchtge‐
fahr.“ Ich stand auf und ging auf den Balkon. Um zu heulen. Das alles war so schön anzusehen und tat doch so weh. Zauber, Liebe, Charisma: Eine Bot‐
schaft aus der Vergangenheit. Die bunten Windrädchen rotierten. Der Verkehr rauschte über die Kanalbrücke. Es wurde Abend. Ein dumpfes Grollen hallte nach oben. Ich schau‐
te hinunter auf die Straße. Ein schwarzer Straßen‐
kreuzer stieß aus einer viel zu kurzen Parklücke. Der Wagen wendete und entfernte sich in Rich‐
tung Kanalbrücke. Es war die Tschaika von neu‐
lich. Der Fahrer gab Gas und das Schiff ent‐
schwand in Richtung Görlitzer Park. Wie klein doch die Welt ist, dachte ich. Chipsy drehte die Musik auf. Björk: Big Time Sensuality. Er trat von hinten neben mich und stellte sich zu mir ans Geländer. 251
„Hast du geheult?“, fragte er mich. „Nur zu dei‐
ner Information: Das hier ist lustig, wir feiern eine Party.“ Ich schaute ihn an und schwieg. Ich überlegte, warum er wohl die Quietscheentchen so anzog. Er nahm nichts und niemanden Ernst, sich selber ein‐
geschlossen. Ich blickte in sein alterndes Gesicht, das da aus seinem Sportdress schaute und fragte mich, ob es eher komisch oder tragisch war, wie er auf ein vorakademisches Niveau regredierte und durch seine Jagd auf Sonderangebote den schwä‐
bischen Spartrieb und den Konsumwahn parodier‐
te. Tat er das bewusst? Oder konnte er gar nicht anders? Ich musste an Kontaktanzeigen denken: „Ich, weiblich, attraktiv, suche ihn, der mich zum La‐
chen bringt und für alles zu haben ist, was zu zweit mehr Spaß macht.“ Chipsy brachte sie immerhin zum Lachen, die Quietscheentchen. Aber ich konnte ihn mir beim besten Willen nicht mit einer Frau im Bett vorstel‐
len. Angeblich hatte er eine Freundin. Aber die hatte noch niemand zu Gesicht bekommen. Mir grauste bei dem Gedanken, jetzt nach Hause zurück zu müssen und in der leeren WG vor mich hinzuschmoren. 252 „Chipsy, ich will heute nicht nach Hause. Ich ge‐
he dort vor die Hunde”, sagte ich. „Was soll das heißen?“, staunte er. „Kann ich hier bei dir schlafen? Auf dem Sofa oder so? Nur heute.“ Er raufte sich die Haare und stammelte: „Ja, also, weißt du, ich bin da ein bisschen trau‐
matisiert. Gerade eben ist mein Dauergast wieder abgereist. Ich weiß schon gar nicht mehr, ob das hier noch meine Wohnung ist.“ „Dauergast? Welcher Dauergast?“, fragte ich. „Der Junior von Banz. Der wohnt nämlich in Klein‐MU‐SEL‐KOW, aber eigentlich mit Haupt‐
sitz in Berlin, bei mir. Oder ich bei ihm?“ Mir fiel die Kinnlade herunter. Aha, Berliner Filz, dachte ich. „Er pennt immer in der Kammer neben der Kü‐
che. Meinetwegen kannst du da übernachten. Aber vorher solltest du noch mit ins Watergate kommen und mit uns deine große Zukunft als Enthüllungs‐
journalistin feiern. Eigentlich hatte ich die VIP‐
Karte für Victor reservieren lassen, aber der ist mit seiner Tschaika vorhin an den Arsch der Welt ab‐
gerauscht.“ „Das war seine Tschaika, die da unten eben ge‐
rade...?“, staunte ich. 253
Chipsy nickte. Mit dem hätte ich mich gern mal über seinen Va‐
ter unterhalten, dachte ich. „Nein, ich werde nicht mitkommen. Ich bin echt am Ende“, sagte ich. „Das sind VIP‐Karten, du weißt nicht, was dir entgeht“, sagte Chipsy. Ich schüttelte den Kopf. „Na dann gute Nacht“, spottete er und zeigte mir die Kammer. Es passte genau eine Matratze hinein. Ein kleines Fenster stand zum Hof hin of‐
fen. Es war ein kuscheliges Nest mit zerwühltem Bettzeug und Batiktüchern an der Wand. „Ich bin hundemüde. Ist das O.K., wenn ich mich einfach so, wie ich bin, schlafen lege?“, fragte ich. „Klar, wenn es dich nicht stört, dass Victor schon in den Sachen gepennt hat...“ Es war mir egal. Ich fühlte mich in dem winzigen Kabuff seltsam geborgen. Es war meiner Größe angemessen. Ich hatte das Gefühl, erheblich ge‐
schrumpft zu sein. Ich zog meine Sachen aus und kuschelte mich ins Bett. Ein leichter Geruch nach frischem Männer‐
schweiß stieg mir in die Nase. Es tat gut, an einem Ort zu schlafen, wo mich 254 nichts an meine alte Existenz erinnerte. Ich sank in einen schwarzen Abgrund und erwachte erst elf Stunden später – diesmal ohne den Hauch einer Ahnung, ob ich etwas geträumt hatte. Es war schon zehn Uhr. Ich schlich durch Chipsys Wohnung. Überall standen Bierflaschen und Teller mit Essensresten herum. Vom Geruch wurde mir schlecht. Ich öffnete das Küchenfenster, dann ging ich ins Wohnzimmer und sah Chipsy durch die Flügeltür im Nebenraum in seinem Bett liegen. Er schnarchte. Ich hatte seit über einer Woche nichts Festes mehr zu mir genommen und verspürte keinen Hunger, sondern Unruhe und Tatendrang. Ich trank zwei Gläser Saft und machte mir einen Kaffee. Dann schrieb ich auf einen Zettel in Groß‐
buchstaben „DANKE“ und legte ihn auf den Kü‐
chentisch. Ich schloss die Wohnungstür auf. Das Geklapper verursachte mir eine Gänsehaut. Es blieben noch zwei Stunden bis zum Treffen mit Banz. Ich lief nach Hause, zum Duschen und Umziehen. 255
K.O. Banz Als ich mich nackt im Spiegel des Badezimmers meiner Wohnung sah, verstand ich Chipsys Schre‐
cken. Meine Beckenknochen stachen durch die Haut und meine Rippen traten hervor. Mein Ge‐
sicht war noch kantiger geworden, mein Busen praktisch nicht mehr vorhanden. Dennoch fühlte ich mich nicht mehr schwach. Indem ich meine Neugier spürte, wusste ich, dass ich noch lebte. Ich war aufgekratzt und gespannt auf diesen K.O. Banz. Mit Banken hatte ich bisher nur an der Oberflä‐
che zu tun gehabt: am Schalter, am Automaten und beim Online‐Banking. Als Argentinierin hat‐
ten sie für mich jedoch irgendwie etwas Verdäch‐
tiges. Ich zog mich an, schwang mich aufs Fahrrad und fuhr zu diesem Klotz mit dreizehn Stockwer‐
ken – soweit ich sie hinter der braun verspiegelten Fassade zählen konnte. Ich nahm den Umweg über die Südseite des Platzes, um der Redaktion von „Geld+Finanz“ nicht zu nahe zu kommen, fuhr über den Kundenparkplatz zum Hintereingang, wie Banz es mir erklärt hatte und klingelte. Durch einen Lautsprecher meldete sich jemand: 256 „Ja bitte?“ „Mein Name ist Wiesengrund. Ich habe einen Termin mit Dr. Banz“, sagte ich. Ein Uniformierter kam herbei und betätigte sei‐
nen Transponder. Ich schob mich durch die mäch‐
tige Drehtür. Im Forum hätte ein Fußballfeld Platz gehabt. Um die Säulen aus poliertem Granit herum standen Sitzgruppen aus weißem Leder. An der Wand des Lichthofes mit Glasdach rauschte ein künstlicher Wasserfall über ein Wandrelief hinab. Ich schritt auf die Portiersloge zu. Der Wachha‐
bende in dunkelgrauem Dreiteiler war sauber ra‐
siert, akkurat gescheitelt und trug eine rote Sei‐
denkrawatte. Hinter ihm befand sich eine Wand mit einem Dutzend Überwachungsmonitoren. Ich hatte es befürchtet: Er wollte meinen Presse‐
ausweis sehen. Den hatte ich zu Hause liegen ge‐
lassen. „Fragen Sie doch Dr. Banz selbst, er wird ihnen den Termin bestätigen“, drängte ich. Er griff zum Telefon. „Hier ist eine Frau Wiesen‐
grund. Sie habe einen Termin, sagt sie...in Ord‐
nung.“ Er legte auf und bat mich um meinen Personal‐
ausweis. Dann drückte er einen Knopf. Wenig spä‐
257
ter erschien ein weiterer Sicherheitsmann, der mich an einen amerikanischen Sheriff erinnerte. Mit Schlagstock. „Kommen Sie bitte. Ich begleite Sie nach oben“, sagte er. Wir glitten mit dem Fahrstuhl in den dreizehn‐
ten Stock. Ich hatte das Gefühl, in einem Spiegel‐
kabinett zu stehen. Tausend über Eck reflektierte Bilder von vorne, von der Seite, von hinten. Ich schaute nach oben: Auch da hing ein Spiegel. Ein Fahrstuhl für Klaustrophobiker und Narzissten, dachte ich. Die Fahrstuhltür öffnete sich zu einem weiteren Forum. Es war nur wenig kleiner als das hinter dem Eingang. Wieder sah ich Sitzgruppen aus weißem Leder und polierten Granit an den Wän‐
den und sank in einen marineblauen Plüschfußbo‐
den ein. Die Halogenstrahler an der Decke warfen darauf gleißend helle Flecken. Es herrschte absolu‐
te Stille. Der Wachmann übergab mich Dr. Banz’ Sekretärin, einer adretten Mittdreißigerin. Auch kein ganz junges Mädchen mehr, dachte ich. Verdient bestimmt mehr als ich und ist wahr‐
scheinlich von Affären abgesehen auch Single. Ir‐
gendwie sah sie danach aus. Vielleicht hatte sie etwas mit ... ihm? Sie führte mich zu einer wuchti‐
258 gen Holztür, geleitete mich hinein und sagte: „Herr Doktor, hier ist Frau Wiesengrund.“ Sie verließ den Raum und schloss die Tür hinter mir. Bis zu seinem Schreibtisch waren es ungefähr zehn Meter. Zwei der Wände des Raumes bestan‐
den komplett aus Panoramafenstern. An den holz‐
vertäfelten Wänden hingen moderne Gemälde. Ei‐
ne ausladende Sitzgruppe, wieder aus weißem Le‐
der, nahm fast ein Viertel des Raumes ein. Daneben stand ein Aquarium mit dem mehrfachen Volumen einer Badewanne. Lautlos näherte ich mich der Gestalt im Gegen‐
licht. Dr. Banz stand mit dem Rücken zu mir und schaute nach draußen. Er war kaum größer als ich, ein hagerer, graumelierter Herr mit akkuratem Haarschnitt. Er trug ein weißes Hemd mit hochge‐
krempelten Ärmeln und eine Weste mit einem sil‐
bergrauen Seidenrücken. Aha, ein Silberrücken, dachte ich. Er genoss von seinem Büro aus einen weiten Ausblick auf den Reuterplatz, die Straße des 17. Juni, das Charlottenburger Tor und den Tiergar‐
ten. In der Ferne glänzte die „Goldelse“ auf der Siegessäule. 259
Er drehte sich zu mir um und schaute mich über seine Lesebrille hinweg aus wässrig blauen Augen an. Ich fragte mich, wie er die zerfurchte Land‐
schaft seines Gesichtes so sauber rasierte, ohne sich dabei zu schneiden. Sein Hemdkragen war für sei‐
nen faltigen Hals zu weit und die weinrote Sei‐
denkrawatte locker gebunden. „Was kann ich für Sie tun?“, brummte er. „Vielen Dank, dass Sie so schnell Zeit für mich hatten. Wird hier jeden Samstag gearbeitet?“, wunderte ich mich. „Wir haben die BaFin im Haus. Kommt manch‐
mal vor. Sozusagen Revision. Aber ich fürchte, sie sind mit der falschen Frage hergekommen.“ „Wen meinen Sie mit ‚sie’?“, fragte ich. „Manchmal habe ich das Gefühl, wir alle stellen die falschen Fragen. Und wundern uns, dass wir sinnlose Antworten bekommen”, sagte er und fi‐
xierte mich. „Ich recherchiere die Hintergründe des Selbst‐
mordversuchs von Herbert Westerborn. Ist das auch so eine falsche Frage?“, hakte ich nach. „Wahrscheinlich schon. Woher wissen Sie, dass es ein Selbstmord war?“ Er hauchte seine Brille an. „Er ist ohne erkennbaren Grund ungebremst an einen Baum gefahren. Er war nicht angegurtet. Das 260 Auto ließ sich ohne angelegten Gurt gar nicht star‐
ten. Er muss ihn also während der Fahrt gelöst ha‐
ben.“ Dann stutzte ich: „Sagten Sie Selbstmord?“ „Er ist gestern morgen verstorben. Die Beerdi‐
gung findet übrigens nächsten Montag um zehn Uhr auf dem Friedhof Steglitz statt.“ Banz putzte seine Brille. Ich schluckte. Meine Knie wurden weich. „Sie kannten ihn gut?“, fragte er mich. Ich schwieg. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und seine Brille auf die Nase. Dann sprach er weiter: „Auf jeden Fall kannten Sie ihn nicht auf die gleiche Weise wie ich und bei weitem nicht so lang, Frau Wiesengrund.“ Verdammt, dachte ich. Wie viel wusste er? „Warum setzen Sie sich nicht?“, fragte er mich. Ich ließ mich nun doch in den Sessel vor mir sin‐
ken. „Warum hat er das getan?“, wollte ich wissen. „Berufliches oder privates Interesse?“, fragte er. „Wenn Sie auf der Suche nach einer großen Story sind, kommen Sie an mir nicht vorbei.“ Seine Mundwinkel wanderten nach oben. Eine üble Mischung aus Scham und Zorn stieg in 261
mir auf. Ich konnte nicht mehr klar denken. Dann setzte er wieder an: „Sie haben ein gravie‐
rendes Problem, Frau Wiesengrund. Und Sie sind ehrgeizig. Aber es ist nicht nur der Ehrgeiz, der Sie hierher führt.“ Er stand auf, ging zu seinem Aquarium und füt‐
terte die Fische. Währenddessen redete er weiter: „Sie und ich, wir wollen herausfinden, warum Herbert das getan hat und wir beide hoffen, dass nicht wir daran schuld sind.“ Dann kam er wieder zurück und setzte sich. „Sie sehen nicht gut aus, Frau Wiesengrund.“ Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. „Ich vermute, wir sehen uns auf der Beerdigung am Montag?“, legte er nach. Ich schloss die Augen und atmete schwer. Dann sprang ich auf und rannte nach draußen. Die Sekretärin schaute mir verdutzt nach, und ich hämmerte auf den Fahrstuhlknopf. „So wird das nichts“, sagte sie und zog ein Schlüsselbund hervor. Das Geklapper zog mir die Haut ab. Sie steckte einen Schlüssel in das Schloss unter dem Knopf und drehte ihn um. Die Fahrstuhltür glitt zur Seite. Spiegel. Überall Spiegel. Ich prallte zurück. Dann schloss ich die 262 Augen und betrat die Kabine. Unten angekommen eilte ich durchs Foyer und rannte gegen die Dreh‐
tür, die kein bisschen nachgab. Wieder kam je‐
mand von hinten herbei: Der Portier. Auch er zog ein Schlüsselbund und öffnete mit dem Transpon‐
der die Tür. Mir blieb einmal mehr nichts erspart. Ich schwankte nach draußen und suchte an der Säule vor dem Eingang Halt. „Brauchen Sie Hilfe?“, fragte er mich. Ich winkte ab. Ich dachte angestrengt darüber nach, wo ich mich gerade befand. Diesen Ort kannte ich nicht. Ich war noch nie hier gewesen. Und warum war ich hier? Wo war ich zuvor gewesen? Wohin sollte ich gehen? Vor mir sah ich den fast leeren Parkplatz der Reuterbank. Da war eine Tiefgarageneinfahrt, eine Rampe mit einem finsteren Loch und einem Roll‐
gitter davor. Vor mir lag diese scheinbar endlose Fläche, ge‐
pflastert mit Waschbetonsteinen, ein paar dürre Bäumchen darauf. Über mir die verspiegelte Fas‐
sade, die den Himmel reflektierte. Das Blau und Weiß mischte sich darin zu einem Graubraun in verschiedenen Abstufungen. 263
Der Verkehr kreiste auf dem Reuterplatz. Ein an‐ und abschwellendes Rauschen und als ich meine Augen schloss, dachte ich an Meer, an Wellen und Brandung. Ich hörte ein Surren und Rattern. Ich blickte zur Tiefgarageneinfahrt. Ein Lichtsignal blinkte. Eine dunkle Limousine glitt mit Fauchen die Rampe nach oben. Dann entschwand sie im Kreisverkehr. Das war bestimmt Banz, dachte ich. Wie so einer wohl lebt? In einer Grunewaldvilla vielleicht? Wie fühlt es sich an, Vorstandsvorsitzender einer Bank zu sein? Wie viel verdient so einer wohl? Eine Mil‐
lion? Zwei? Was er wohl tat, wenn er nicht arbeite‐
te? Golf spielen? Segeln? Mit wem war er verheira‐
tet? Ein Silberrücken. Das war kein Alpha‐Plus‐
Mann, das war Alpha‐Doppelplus. Oberklasse. Auf jeden Fall wusste er erheblich mehr als ich über Herbert und die Hintergründe. Er wirkte be‐
herrscht und kalt, obwohl er Herbert sehr nahe ge‐
standen haben musste. Warum gab er sich mit mir ab? Mit mir, einem Würstchen? Einem magersüchtigen noch dazu? Ich sah furchtbar aus, das hatte man mir in letzter Zeit schon oft genug gesagt. Herbert war tot. Wer hatte ihn dazu getrieben? 264 Ich? Banz? Beide zugleich? Die Umstände? Ich hatte das Gefühl, eine Spur der Verwüstung hinter mir herzuziehen. Taugte ich zu irgendetwas außer Zerstörung? Hatte ich in meinem Leben je etwas Sinnvolles getan, irgendeinen Beitrag geleis‐
tet, der wirklich etwas mit mir zu tun hatte? Meine Position in der Redaktion war ersatzlos gestrichen und der Laden würde genauso weiter‐
laufen wie zuvor. Auch Herbert war lückenlos ersetzt worden. Es würde sicher eine Menge Nachrufe und Todesan‐
zeigen auf ihn geben. Aber würde sein Tod ir‐
gendetwas verändern? Auf jede Führungsposition kommen Dutzende, die nur darauf warten, sie einzunehmen. Kathrin war ansatzlos nachgerückt. An wie viele Menschen würde man sich nach ein paar Jahren noch erin‐
nern? Wie vielen wurden Denkmäler gesetzt, nach wie vielen werden Straßen benannt? Nach einem von hunderttausend, von zweihunderttausend? Wie viele Beethovens, Einsteins und Picassos lau‐
fen gerade auf der Welt herum, von denen man niemals hören wird? War das meine Welt? Gehörte ich dazu? Was be‐
rechtigte mich, an dem ganzen Zauber teilzuneh‐
men? Raum zu beanspruchen? Zuzuschauen? All 265
die Waren und Informationen zu konsumieren, zu denen ich nicht das Mindeste beigetragen hatte? Weil ich eine Bürokratin gewesen war, die Vorga‐
ben erfüllte und Routinen vollzogen hatte, eine Symbolanalytikerin, die gelernt hatte, wie man In‐
formationen in Informationen umwandelt? Wie man Buchstabenbrei und Worthülsen fabriziert? Es war Samstagnachmittag. Herberts Beerdigung sollte erst am Montagmorgen stattfinden. Vor mir lag endlose Leere. Ich fühlte mich wie nach einer Weltraumbestattung. Man hatte mich ins All ge‐
schossen. Die Weite der Straße des 17. Juni schüchterte mich ein. Alles kam mir gewaltig und erhaben vor, Furcht einflößend. Mir kam zu Bewusstsein, dass diese Stadt einstmals von Zigtausenden von Men‐
schen in Handarbeit erbaut worden war. Die Kanä‐
le und Baugruben waren mit dem Spaten ausge‐
hoben worden, jeder Ziegelstein auf dem Rücken nach oben getragen und von Hand vermauert worden. Dachte noch jemand an diese Menschen, an ihre Schinderei? An jene, die die Stadt nach dem Krieg wieder aufgebaut hatten, wiederum fast nur in Handarbeit? Wer arbeitete heute noch? Hatte ich jemals gear‐
beitet? Ich hatte Zeit verbracht und es war sicher 266 auch manchmal anstrengend. Aber war das Ar‐
beit? Brauchte mich irgendjemand? Ein Bäcker, der Brötchen bäckt, arbeitet. Ein Klempner wohl auch. Wie auch ein Arzt und eine Krankenschwester. Aber so jemand wie ich? Er‐
kennt man Arbeit daran, dass man dafür Geld be‐
kommt? Ich fuhr durch dieses Häusermeer, Wege, die ich schon hundert Mal gefahren war und doch musste ich immer wieder überlegen, wo ich war, wie ich weiterfahren musste. Ständig fragte ich mich, wo ich eigentlich hinfuhr. Als ich meine Wohnung betrat, sah ich, dass der Anrufbeantworter blinkte. Regine, meine Psycho‐
therapeutin hatte angerufen. Ich habe unentschul‐
digt die letzten drei Sitzungen nicht wahrgenom‐
men und solle mich melden, sagte sie. Neben der Küche gab es eine Kammer. Wie bei Chipsy. Wir hatten darin Kartons und Wäsche‐
ständer gelagert. Und eine Matratze. Die legte ich auf den Boden. Dann holte ich mein Bettzeug. Und eine Wolldecke. Mit der verhängte ich das Fenster. Ich schloss mich ein. Es war still und dunkel. Wie lange würde es dauern, bis ich verhungert wäre? Bis Montag würde es garantiert noch rei‐
chen. Leider, dachte ich. 267
Wie lange würde es dauern, bis man mich ver‐
missen würde? Bis der Leichengeruch nach außen dränge? In Großstädten dauert es ja manchmal Jahre, bis ein Toter in seiner Wohnung gefunden wird. Das wollte ich noch nicht einmal meinen Mitbe‐
wohnern zumuten. Die Aussicht, einsam und unbemerkt zu versie‐
chen, fand ich noch schlimmer, als die Aussicht, weiterzuleben. Das Beklemmende versperrte mir den Ausweg aus dem Unerträglichen. Ein ziemlich beschissener Grund, am Leben zu bleiben. Ich schloss die Augen und vergrub mein Gesicht unter dem Kopfkissen. Ich fühlte mich eklig. Bestimmt roch ich aus dem Mund. Es wurde schwarz in mir. Ein bleierner Helm drückte mich nieder. Wem konnte ich mich zumuten? Wen sollte das Los meines Anblicks treffen? Chipsy? Der musste lustig sein und dabei wollte ich ihn nicht stören. Meine Schwester? Sie hatte gesagt, was zu sagen war. Pia? Was hatte sie mit meinem Schlamassel zu schaffen? Konnte sie etwas dafür? Regine viel‐
leicht. Immerhin bezahlte ich sie. Pia, die Hure, hatte ich nicht bezahlen müssen. Es war Samstag. Ein Treffen am Wochenende 268 gab das therapeutische Setting nicht her. Die Ter‐
mine mussten eingehalten werden. Ich schloss die Augen und rollte mich wie ein Embryo zusammen. Wieder sah ich von oben, wie ich da lag, dann das Haus, in dem ich wohnte und den Landwehrkanal, den Potsdamer Platz und den Hauptbahnhof, das Regierungsviertel. Vor Jahren hatte ich immer wieder über diese Baustelle der „Neuen Mitte“ Berlins gestaunt. Tausende Men‐
schen und Maschinen wimmelten darin herum und ein Jeder wusste, was er zu tun hatte. Diese Stadt kommt mir vor wie ein titanisches Lebewe‐
sen aus Zellen und Organen, mit einem Nerven‐
system und Adern; Blutkörperchen durchströmen es. Und ich, was war ich? Eine Krebszelle? Dieser Stadtorganismus hat ein Gehirn und Nervenzellen, die planen, steuern, Entscheidungen fällen. Füh‐
rungskräfte, Architekten, Stars, Politiker, Künstler. Jene, die zumindest kurzfristig eine Lücke hinter‐
lassen, wenn sie ausfallen. Die allermeisten sind restlos austauschbar, Konsumenten, Zuschauer, Ausführende, Manövriermasse, Verbrauchsmate‐
rial. Ich schreckte auf. Mein Handy zwitscherte. Ich kramte es unter dem Kleiderhaufen auf dem Boden hervor. 269
„Herbert“ zeigte das Display an. Mein Herz setz‐
te aus. Ich rieb meine Augen. Immer noch: „Herbert.“ Ich drückte auf die grüne Taste. Und hob es ans Ohr. „Hallo? Frau Wiesengrund?“ Es war Banz. „Wie... Woher...”, stammelte ich. „Ich mache mir Sorgen. Ich war vorhin grob zu Ihnen. Ich hätte Sie nicht alleine auf die Straße las‐
sen dürfen“, sagte er. Ich schwieg. „Sind Sie allein?“, fragte er mich. „Ja, es ist besser so“, flüsterte ich. „Haben Sie jemanden, zu dem Sie gehen kön‐
nen?“ Ich überlegte. Eigentlich blieb nur Regine. Aber jetzt, am Wochenende? „Ja“, log ich. „Ich habe Herberts Handy immer bei mir. Ich nehme einstweilen seine Anrufe an. Wenn Sie Hil‐
fe brauchen, rufen Sie mich an”, sagte Banz. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. „Versprechen Sie mir das? Ich möchte Sie spätes‐
tens am Montag sehen“, sagte er. Montag. Zur Beerdigung also. Ich legte auf. 270 Warum tat er das? Was wollte er von mir? Hatte ich das geträumt? Warum interessierte er sich für mich? 271
Der Spatz Ich hielt es nicht mehr aus. Ich rief Regine, meine Therapeutin, an, sprach auf ihren Anrufbeantwor‐
ter und bat um eine Extrasitzung. Und wartete auf einen Rückruf. Doch es war zwecklos. Wochenende. Also fuhr ich hin. Ihre Praxis war im gleichen Haus wie ihre Wohnung. Sie würde mich dafür hassen, aber das war ein Notfall. Wenn sie nicht helfen konnte, wenn ich sie wirklich brauchte, konnte ich mir den ganzen The‐
rapiezirkus sparen. Sie war zu Hause. Widerwillig öffnete sie mir. Wir setzten uns ins Therapiezimmer. „Sie sehen schlecht aus. Sie gehören in die Kli‐
nik“, sagte sie. „Ich bin schuldig geworden und was immer ich tue, ich mache mich weiter schuldig. Ich schäme mich, fühle mich eklig, schmutzig”, schluchzte ich. „Wollen Sie beichten? Ich bin keine Priesterin”, sagte sie. Das folgende Schweigen dauerte lange, sehr lan‐
ge. Ich wartete darauf, dass sie mich fragte, was denn genau vorgefallen sei und was es wohl be‐
deute. Vergeblich. 272 Irgendwann sagte ich: „Ich möchte sterben. Und zwar schnell.“ „Das ist bestimmt kein Ausweg“, antwortete sie. „Woher wissen Sie das?“ „Sind Sie nicht gläubig? Kein bisschen?“ „Ich dachte, Sie sind keine Priesterin.“ „Nein, bin ich nicht. Aber man darf die Hoff‐
nung nicht aufgeben. Das Leben geht immer wei‐
ter.“ „Es kann grausam sein, dieses Leben. Und ich finde den Gedanken tröstlich, dass es irgendwann zu Ende ist.“ „Vielleicht kann ich Ihren Blick ein bisschen wei‐
ten. Meistens sieht man eben doch nicht alles, vie‐
les ist doch anders, als man denkt.“ „Alles was ich sehe, ist so gewaltig und erstaun‐
lich. Diese Stadt schüchtert mich ein. Ich fühle mich winzig und erbärmlich, ich gehöre nicht da‐
zu, das ist nicht meine Welt. Ich habe noch nie et‐
was Gutes getan. Die anderen sind so genial, all die Künstler und Architekten... Ich habe noch nie etwas erschaffen, sondern immer nur reproduziert. Niemand braucht mich. Ich verdiene es nicht, hier zu sein.“ „Es ist furchtbar, wenn der Ehrgeiz einen über‐
fällt. Man geizt dann mit der Ehre. Man kann sich 273
nicht mehr identifizieren, will alles selber machen und können. Das ist Depression, Versündigungs‐
wahn. Gekränktes Ego. Die Welt braucht die We‐
nigen, die kreativ sind und die Vielen, die konsu‐
mieren und sich damit identifizieren. Es können nicht alle schöpferisch und berühmt sein.“ Sie schwieg eine Weile. „Dass Sie über Größe und Genialität staunen können, adelt Sie, aber Ihr Ehrgeiz zerquetscht Sie. Staunen Sie, verehren Sie und indem Sie das tun, sind Sie Teil des Bestaunten. Ein wenig Glanz fällt dann auch auf Sie. Größe entsteht erst durch jene, die sie als Größe erkennen. Sie wollen selber groß sein. Sie nehmen sich zu wichtig, Frau Wiesen‐
grund.“ „Ich soll mich also mit Sachen identifizieren, auf Dinge Stolz sein, zu denen ich nicht das Mindeste beigetragen habe? Ich bin Deutschland? Argenti‐
nien? Israel? Papst? Einstein? Che Guevara? Goe‐
the? Weltmeister? Ich bringe das einfach nicht fer‐
tig, die Bildzeitung zu lesen und mich dabei gut zu fühlen. Wir sind Papst...“ Ich lachte bitter. Dann jammerte ich weiter: „Ich bin unfruchtbar, in jeder Hinsicht. Ich tauge noch nicht einmal zum Muttertier, zu absolut gar nichts außer zum Kon‐
sumieren. Ich hasse mich.“ 274 „Genau. Ihr Ego ist zutiefst gekränkt. Sie schä‐
men sich für Dinge, die Sie nicht getan hätten, wenn Sie sich nicht so sehr von Ihrem Ehrgeiz und Ihrer Begierde versklaven ließen.“ „Aber wofür lebt man denn sonst? Wenn man keine Träume hat und sie nicht verwirklicht?“ „Man sollte nicht über Leichen gehen. Manchmal ist es besser, die Dinge einfach anzunehmen, wie sie sind. Auch wenn sie einem nicht gefallen. Ken‐
nen Sie Eckhart Tolle?“ „Das ist doch so ein Erleuchtungsguru. Der sagt bestimmt, man solle einfach nicht mehr begehren, was man nicht haben kann, man solle fürs Leiden dankbar sein und dass es nicht so wehtut, wenn man sich nicht wehrt und so weiter. Entspannen Sie sich ganz im Hier und Jetzt, urteilen Sie nicht, stellen Sie das Denken ein, kurz: werden Sie zur Amöbe, dann tut es nicht mehr weh. Es ist eben die Frage, ob man bekommt, was man will oder wol‐
len muss, was man bekommt...“ „Spotten Sie nur, das Leiden wird auch Sie zur Einsicht bringen. Eckhart Tolle war ganz unten. Sein Ego wurde zerstört. Und er nutzt diese Be‐
freiung, um anderen bei der Befreiung vom Ego zu helfen“, sagte Regine. „Und? Ist er immer noch ganz unten? Er ist ein 275
ziemlicher Star, wie es scheint. Der hat gut reden. Natürlich kann der dicke Buddha auf dem Berg den Hungernden im Tal sagen, dass das Dicksein ungesund ist und die Aussicht hier oben gar nicht so besonders toll und dass sie sich die Mühe des Aufstiegs sparen und mit dem zufrieden sein sol‐
len, was sie haben. So bleibt der Buddha dick und oben. Die besten Sklaven sind die Bedürfnislosen, die Allerbesten jene, die ihr Sklavendasein lieben. Ich kenne dieses Gerede: Sie bilden sich ihren Hunger halt nur ein, alles Illusion, und da sie un‐
ersättlich gierig sind, werden sie auch niemals satt werden. Es satt haben oder satt sein ist eben ein großer Unterschied. Bekommt man was man will oder muss man wollen, was man bekommt? Und Sie, auch Sie haben gut Reden. Sie haben einen Mann, Kinder, einen Beruf. Sie sind wichtig.“ „Sie sollten sich nicht mit anderen vergleichen. Oder wollen Sie leiden, Frau Wiesengrund?“, frag‐
te sie mich. Mir wurde schlecht. „Ihrem Ego wäre es demnach egal, wenn Sie all das verlieren, was Sie haben? Was bliebe dann von Ihnen übrig, ohne Mann, ohne Kinder, ohne Be‐
ruf?“ Ich begann, sie zu hassen. „Das alles ist mir letztlich geschenkt worden und ich kann es natürlich auch wieder verlieren. Dann 276 wäre ich aber immer noch die, die ich bin. Es wäre die Hölle, wenn ich von der Außenwelt abhängig wäre.“ „Ach so, Sie brauchen das alles nicht? Wie ginge es Ihnen an meiner Stelle?“ Ich harrte einer Antwort. Doch es kam keine. „Ich weiß nur: Ich will so nicht weiterleben. Und wenn ich mich ergebe und gar nichts tue, bleibe ich bestimmt ganz unten. Niemand hilft mir, wenn ich es nicht selber tue.“ „Tun ist nicht immer eine Lösung. Manches lässt man besser. Und das Gute ergibt sich. Wenn Sie sich doch helfen ließen...“ „Ist Ihnen alles von alleine zugefallen?“ „Es ist schade, dass Sie an nichts und niemanden glauben. Sie überfordern sich. Es tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht helfen, solange Sie nicht einse‐
hen, dass das Problem in Ihnen selber liegt.“ Ich schluckte. „Ich schicke Ihnen eine Abschlussrechnung. Wenn Sie irgendwann wieder bereit sind, unsere Vereinbarungen einzuhalten und an sich zu arbei‐
ten, können wir uns wieder unterhalten. Ich wün‐
sche Ihnen alles Gute, Frau Wiesengrund.“ Sie stand auf, griff meinen Arm und setzte mich vor die Tür. 277
Meine Therapeutin hatte die Spülung betätigt. Ich rauschte in die Tiefe. Den Rest des Wochenendes verbrachte ich im Niemandsland zwischen Leben und Tod. Ich exis‐
tierte rein physisch weiter. Mein Körper hielt mich gefangen. In der finsteren Kammer dämmerte ich vor mich hin. Ab und zu kroch ich zur Toilette und trank einen Schluck Wasser. Verdursten geht schnell, ist aber sehr, sehr unangenehm. Um ein Haar hätte ich Herberts Beerdigung ver‐
gessen. Irgendwann schaute ich auf die Uhr: Es war Montag und schon halb zehn. Sollte ich dort hin‐
fahren? Banz wäre auch dort und sicher waren auch alle Anderen gespannt, ob ich auftauchte. Konnte ich bei meiner eigenen Hinrichtung fehlen, ich, die Delinquentin, die Hauptperson? Meine Schande war noch steigerungsfähig, indem ich mich feige entzog und Herbert die letzte Ehre verweigerte. Ich fürchtete und schämte mich. Aber schlimmer wäre es gewesen, zu kneifen. Ich schaute in den Spiegel und erschrak. Meine geröteten Augen schauten in ein verquollenes Ge‐
sicht; das Haar hing in fettigen Strähnen herunter. Wie innen, so außen, dachte ich. Mein Gefühl für Pietät zwang mich unter die Dusche. Dann 278 schlüpfte ich in schwarze Sachen und fuhr zum Friedhof Steglitz. Auf einer Infotafel waren der Beerdigungstermin und die Grabstelle angegeben. Ich orientierte mich nach dem Lageplan. Der Frühling war voll ausgebrochen; die Natur strotzte vor Leben. Vögel sangen, überall spross das frische Grün und blühten Blumen. Ein merkwürdiger Ort und Zeitpunkt für eine Totenfeier. Ich eilte im Laufschritt, dann wurde ich langsamer. Dort hinten sah ich sie stehen, die Trauergesellschaft. Wie einen schwarzen Block. Sie standen um das Grab herum. Der Sarg war schon in die Grube gelassen worden. Langsam kam ich näher. Ich schlich, suchte Deckung und fand keine. Da sah ich Kathrin und Banz. Neben‐
einander. Und Julian. Er klammerte sich an das Bein seiner Mutter, die ihm die Hand auf den Kopf gelegt hatte. Er hatte die Finger seiner anderen Hand in den Mund gesteckt. Mein Herz brach. Ich hatte ihm seinen Vater ge‐
nommen. Dann schaute er zu mir und zupfte am Mantel seiner Mutter. Die schaute zu ihm und Julian zeig‐
te auf mich. Und da sah sie mich. Ich zuckte zu‐
sammen. 279
Sie rief mich. Laut. „Frau Wiesengrund, da sind Sie ja! Wir haben auf Sie gewartet! Kommen Sie und sagen Sie ein paar Worte.“ Etwa fünfzig Köpfe drehten sich zu mir, hundert Augen schauten mich an. Ich schloss die Augen und schnappte nach Luft. Ich öffnete sie wieder und sie glotzten mich immer noch an. Ich wünschte, die Erde täte sich unter mir auf. Und dann rannte ich. Ich wusste nicht wohin. Die Grabsteine flitzten vorbei, frische Gräber mit Blumen und alte. Ich stolperte und fiel der Länge nach hin. Ich schluchzte und krümmte mich auf dem Boden zu‐
sammen. Ein Schatten kam über mich. Ich sah eine Kör‐
perkontur im Gegenlicht. Jemand kniete sich ne‐
ben mich. Es war Banz. Sein faltiges Gesicht war völlig still. Er blickte mir in die Augen und legte dann seine Stirn in Fal‐
ten. Tränen rannen seine Wangen hinab. Er half mir auf. Ich drückte mich an ihn und er hielt mich fest umschlungen. Ich schluchzte hem‐
mungslos und er streichelte mein Haar. 280 So standen wir da. Lange, sehr lange. Dann sah ich, wie Striezel, Ruhnke, Chipsy und all die ande‐
ren an uns vorbeizogen. Manche schauten verstoh‐
len nach uns. Auch Kathrins und mein Blick trafen sich. Ich zuckte zusammen. Und ein junger Mann mit langen Haaren lief an uns vorbei. Er ähnelte fa‐
tal dem Bombenleger aus der Tschaika. Ich hielt mich an Banz fest. Als alle vorbei waren, sagte Banz: „Kommen Sie.“ Ich hakte mich bei ihm ein und wir gingen zum Ausgang. Als wir draußen waren, sagte er: „Sie sind kein schlechter Mensch. Zumindest nicht schlechter als ich. Sie haben viele gute Seiten an sich. Ich möchte, dass es Ihnen gut geht.“ Ich schaute ihn an. „Warum? Ich habe das nicht verdient, dass Sie so...”, flüsterte ich. „Wer bekommt schon, was er verdient?“, sagte er. „Sie brauchen Erholung. Ich übrigens auch. Ich möchte, dass Sie Urlaub machen. In unserem Haus in Klein‐Muselkow ist es ruhig und schön. Ich möchte, dass Sie dort hinfahren. Schaffen Sie das allein?“ „Nein, das kann ich nicht annehmen”, stammelte ich. 281
„Doch. Ich möchte es so. Ich komme in den nächsten Tagen nach. Ich gebe Ihnen jetzt den Schlüssel. Die Wegbeschreibung finden sie im In‐
ternet. Es ist das alte Schulhaus am See”, insistierte er. Er zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und ich bekam weiche Knie. Dann nahm er einen Schlüssel davon ab, drückte ihn mir in die Hand und schloss sie darum herum. Ich fror und zitterte. „Ich werde Sie in diesem Zustand nicht allein auf die Straße lassen“, sagte er. Wir gingen zum Ausgang und Banz telefonierte kurz mit dem Handy. Zwei Minuten später kam eine Limousine her‐
angerollt. Es war die Gleiche wie vom Parkplatz der Reuterbank. „Steigen Sie ein, wir fahren Sie nach Hause oder wohin Sie auch immer wollen.“ Er öffnete mir die Tür zum Wagenfond. „Bitte.“ „Mein... Ich bin mit meinem...”, stammelte ich. Banz beugte sich zu mir herüber: „Seien Sie ver‐
nünftig“, sagte er. Ich gehorchte und stieg ein. Der Rahmen des Fensters fasste Panzerglas, dick wie ein Taschen‐
buch. Mit einem satten „Plopp!“ schloss sich der rol‐
282 lende Geldschrank. Der Motor und die Klimaanla‐
ge säuselten. Ich fror. Das helle Leder roch süß und aromatisch. Banz setzte sich neben mich und mit Fauchen setz‐
te sich der Luxuspanzer in Bewegung. „Warten Sie, da, da neben dem Eingang”, flehte ich und griff den Fahrer an die Schulter, der zu mir nach hinten schaute. „Mein Fahrrad. Ich bin mit dem Rad hergekom‐
men.“ Er hielt an. „Ralf, passt das in den Kofferraum?“, fragte Banz. Ralf schnaufte, legte den Rückwärtsgang ein und wendete. Ich stieg mit ihm aus und wir bugsierten mein Rad ins Wagenheck. Ich löste den Schnell‐
spanner und baute das Vorderrad aus; so passte es gut hinein. Wieder eingestiegen, fragte der Fahrer: „Wo fah‐
ren wir hin?“ Banz schaute mich an. „W...Wohin? Also, ich weiß nicht”, stotterte ich. „Sollen wir zu Ihnen nach Hause fahren?“, fragte Banz. Ich schaute ihn entgeistert an. „Wir fahren die Dame erst einmal zu sich nach 283
Hause, Ralf. Paul‐Lincke‐Ufer 35.“ Paul‐Lincke‐Ufer? 35? Moment mal, dachte ich. Ich staunte: „Woher wissen Sie...“ „Manchmal weiß man mehr, als einem lieb ist“, sagte er, ohne mich dabei anzuschauen. Mir wurde heiß. Hinter dem Panzerglas glitt die Außenwelt vorbei. Wir schwiegen. Eine halbe Stunde später hielt der Wagen vor meiner Haustür. „Hier wohnen Sie also. Schöne Gegend, hier am Kanal”, sagte Banz. „Ich will nicht nach Hause“, sagte ich. „Wohin dann?“ „Ich weiß nicht.“ „Sie sind wirklich durcheinander. Was halten Sie davon, wenn wir uns in irgendein nettes Lokal set‐
zen? Ist ja sehr schön hier am Ufer.“ Ich fröstelte wieder und schlang meine Arme um mich herum. Der Fahrer hielt an und half mir, das Fahrrad auszuladen. Ich stellte es im Hauseingang ab. „Kommen Sie, ich lade Sie ein. Wo wollen wir hingehen?“, fragte Banz durch das offene Fenster. „Ein paar Blocks weiter gibt es ein schönes Gar‐
tenlokal”, sagte ich. „Na dann”, sagte Banz. 284 Wir rollten zum GriGri. Der Fahrer zirkelte das Schiff in eine Parklücke um die Ecke. Beim Aus‐
steigen sah ich, dass er unter seinem linken Arm einen Holster mit einer Pistole trug. Er zog sein Ja‐
ckett über. Banz und ich setzten uns an einen Tisch unter einer Kastanie. Der Fahrer nahm an einem Tisch daneben Platz. Die Gäste beäugten uns, manche tuschelten. „Was möchten Sie trinken? Sie sollten auch was essen, Sie sind ja total abgemagert”, sagte Banz. „Danke, ich habe keinen Hunger“, sagte ich. „Ich nehme ein großes Wasser.“ „Nun zieren Sie sich mal nicht so.“ Er deutete auf den Nachbartisch: „Das Tagesmenü sieht gut aus.“ Banz bestellte ein großes Wasser, das Tagesme‐
nü, zweimal Besteck und für sich ein Weißbier. Ich stand neben mir. Alles fühlte sich seltsam wattig an. War das ein Film? Immer wieder musste ich auf das Wurzelwerk der mächtigen Kastanie schauen, die uns Schatten spendete. Dort schwirrten ein paar Spatzen herum und badeten im Sand. Ein Jungvogel mit einem di‐
cken Schnabelwulst bettelte heiser. Er hüpfte hin‐
ter den Altvögeln her und zitterte dabei mit den 285
Flügeln. Immer wieder kamen die Eltern herbei ge‐
flogen und stopften ihm Insekten und Würmer in den Schnabel. Dicht daneben saß noch ein junger Spatz, klein und schwach. Er bewegte sich kaum und blinzelte nur ab und zu mit den Augen. Keiner der Vögel kümmerte sich um ihn. Komisch, dachte ich. Bei uns läuft das ganz an‐
ders, als bei euch. Wer bei uns bettelt, wird nicht gefüttert, sondern verlassen. „Haben Sie Kinder?“, fragte ich Banz, der ebenfalls die Vögel beobachtet hatte. Ich wollte wissen, ob es stimmte, was Chipsy mir erzählt hat‐
te. „Ja. Ich habe einen erwachsenen Sohn”, sagte er. Dann schob er hinterher: „Es wäre schade, wenn Sie niemals Kinder hätten. Sie haben gute Anla‐
gen.“ Anlagen. Welch ein Wort aus dem Munde eines Bankers, dachte ich. „Woher wissen Sie das alles?“, fragte ich ihn. „Ich habe eine enge Verbindung zur Familie Westerborn“, sagte er. „Und Frau Westerborn braucht zur Zeit einigen Beistand, wie Sie sich vor‐
stellen können. Wir sehen uns oft und sprechen viel miteinander.“ 286 Hatte Herbert ihr also wirklich alles erzählt? „Wenn Sie Kathrin so gut kennen, warum hassen Sie mich dann nicht?“, staunte ich. „Sie haben das gleiche Problem wie ich, Frau Wiesengrund. Schuld macht solidarisch.“ Er lach‐
te. „Was wollen Sie von mir?“, fragte ich ihn. „Herbert hatte einiges mit Ihnen vor“, sagte Banz. „Hören Sie auf, bitte.“ Ich kämpfte mit den Trä‐
nen. Die Bedienung brachte unsere Bestellung. Banz reichte mir eines der Bestecke. „Kommen Sie, essen Sie etwas.“ Ich nahm das Wasser und trank es in einem ein‐
zigen Zug leer. Dann pickte ich ein wenig in den Bratkartoffeln und dem Hering herum. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Spatzen‐
küken lassen, das da unten apathisch herumsaß. „Er wird sterben“, sagte ich. „Sie wären eine prima Mutter“, sagte er. Ich stand auf und hockte mich neben den kleinen Vogel. Die anderen waren davongeschwirrt. Er bewegte sich nicht und blinzelte nur. Vorsichtig berührte ich ihn mit dem Zeigefinger und er räkel‐
te sich ein wenig. Dann setzte ich ihn vorsichtig in 287
meine hohle Hand. Wie weich und leicht er ist, dachte ich. Ich betrachtete das winzige Häufchen Leben auf meiner Handfläche. „Er wird sterben, wenn ich ihn nicht füttere”, sagte ich wieder. „Sie werden sterben, wenn Sie nicht bald etwas essen“, konterte Banz. Ich zog seinen Teller zu mir herüber und schau‐
felte das Essen in mich hinein. Dann nahm ich den kleinen Vogel wieder vorsichtig in die Hand, stand auf und rannte im Laufschritt nach Hause. „Nicht sterben, bitte“, sagte ich immer wieder zu ihm. Oben in meiner Wohnung angekommen, bau‐
te ich ihm aus einem Paar Socken ein kleines Nest und setzte ihn hinein. Dann überlegte ich, was so ein kleiner Spatz wohl isst. Würmer? Insekten? Ich rannte in die Küche und zupfte vom Klebestreifen am Fenster ein paar Flie‐
gen herunter. Es tat mir leid, ihnen die Beine aus‐
zureißen. Dann lief ich ins Bad und zog eine Pinzette aus dem Maniküreset. Mit der hielt ich meinen Schütz‐
ling eine Fliege hin. Er blinzelte nur. „Los, mach den Schnabel auf“, sagte ich. 288 Er weigerte sich. Ich klopfte vorsichtig auf sein Fresswerkzeug. Wieder nichts. „Magst du keine Fliegen?“, fragte ich ihn. Er blinzelte nur. Ich überlegte. Mir fiel ein, dass ich kürzlich vom Kinderbauernhof im Görlitzer Park Ziegenmist für mein Apfelbäumchen geholt hatte. Der lag jetzt im Kübel auf dem Balkon und zog die Fliegen an. Ich ging hin und wühlte darin herum. Tatsäch‐
lich wimmelten die Mistknödel von weißen Ma‐
den. Mir wurde schlecht. Ich rannte zum Bad und ü‐
bergab mich im hohen Bogen. Ich fühlte mich erleichtert und eilte wieder zum Balkon, pickte einige Maden mit der Pinzette aus dem Mist und legte sie in meine hohle Hand. Ob ich mein Karma noch weiter versaute, indem ich meine künftigen Artgenossen an einen Vogel verfütterte? Gab es da noch etwas zu versauen? Was war wichtiger, das Leben eines Spatzen oder das dieser Maden? Dann lief ich wieder zu meinem Küken. „Guck mal hier, was ganz Feines“, sagte ich zu ihm. Und hielt ihm eine Made an den Schnabel. Er blinzelte wieder und schnappte sie sich. 289
Ich weinte vor Glück. Und schob gleich die Nächste hinterher. Er schlang und würgte eine nach der anderen hinunter. Mehrmals eilte ich zum Ziegenmist und besorgte Nachschub. Ich staunte, wie viel in den Winzling hineinpasste. Irgendwann nahm er nichts mehr an und räkelte sich zufrieden in seinem Nest. Ich holte eine Briefwaage und setzte ihn darauf. Er wog genau 12,3 Gramm. Dann schiss er mir einen kleinen warmen Hau‐
fen auf die Hand. Am nächsten Tag begann er zu betteln, indem er heiser schimpfte und mit den Flügelchen zitterte. Und er schiss schön brav immer erst dann, nach‐
dem er ein aus dem Nest geklettert war. Irgend‐
wann gab ich es auf, die Häufchen wegzuwischen. Ich ließ sie einfach eintrocknen, kratzte sie dann mit einem Messer vom Tisch und füllte sie in den Kübel des Apfelbäumchens. Vollständiges Recyc‐
ling sozusagen. Dann waren die Maden im Kübel alle; ich fuhr immer wieder zum Kinderbauernhof und klaubte frisches Spatzenfutter aus dem Misthaufen. Auch ich hatte wieder Appetit. Indem ich den Vogel immer bei mir trug (ich steckte ihn samt sei‐
nem Nest in meine Umhängetasche), ging ich auf 290 Nahrungssuche und klapperte die Bistros und Re‐
staurants in meiner Gegend ab. Ich genehmigte mir einen vegetarischen Döner, Falafel, indisches Gemüsecurry. Nach jeder Mahlzeit erbrach ich mich. Immer wieder schaute ich in meine Tasche. Der Kleine schaute mich aus glänzenden Knopfaugen an und räkelte sich. Als ich ihn zwei Tage später erneut auf die Waa‐
ge setzte, hatte er 2,3 Gramm zugenommen. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Ge‐
fühl, etwas Sinnvolles zu tun. Und war auf eine Weise glücklich, die ich bisher nicht kannte. Klarer Fall: Ich hatte einen Vogel. 291
Am Arsch der Welt Mein Handy zwitscherte. Wo hatte ich es hinge‐
legt? Ich ging dem Geräusch entgegen und suchte vergeblich. Dann kehrte wieder Stille ein. Wenig später fand ich es. Es lag in der anderen Richtung, mitten auf meinem Schreibtisch. Doch das Display zeigte keinen Anruf an. Hatte ich Halluzinationen? Es zwitscherte erneut. Doch auf dem Display tat sich nichts. Moment mal, dachte ich. Ich drehte mich um und sah: Meinen Vogel. Er saß auf der Gardinenstange und zwitscherte eine perfekte Imitation des Klin‐
geltons. Und ich hatte gedacht, nur Papageien können das. Später las ich auf Wikipedia, dass Spatzen sogar die Alarmrufe von Nahrungskon‐
kurrenten nachahmen, um diese loszuwerden. Wenig später hörte ich wieder Gezwitscher. Ich schaute aufs Display: Diesmal zeigte es „Herbert“ an und ich hob das Handy ans Ohr. „Wie geht es Ihnen?“, fragte Banz. „Der Kleine hat schon zugenommen”, flötete ich. Eigentlich war es mehr ein Zwitschern. Ich stutzte und räusperte mich. „Er bettelt wieder und macht mein Handy 292 nach“, schob ich freudig erregt hinterher. „Aha. Also deutlich besser, wie ich höre“, sagte Banz. „Wo sind Sie?“, wollte er wissen. „Immer noch in Berlin“, sagte ich. „Und wann fahren Sie in den Urlaub? Sie kön‐
nen den Kleinen doch einfach mitnehmen. Da gibt es eine Menge Kollegen für ihn.“ „Gibt es dort auch Mist?“ „Mist? Wieso Mist?“, wunderte sich Banz. „Der Kleine frisst am liebsten Maden“, sagte ich. „Mist? Jede Menge. Kuhmist, Pferdemist, Schafsmist”, sagte Banz. Ich überlegte. Was sollte ich noch in Berlin? Banz begann mich zu interessieren. Und er irritierte mich. Ein Alphatier, aber irgendwie auch fürsorg‐
lich. Eine seltsame Mischung, dachte ich. Ich war gespannt auf ein paar Tage mit ihm. „Ich fahre morgen nach Klein‐Muselkow. Ist Ih‐
nen das recht?“, fragte ich. „Haben Sie noch den Schlüssel?“ Ich schaute nach. „Ja“, sagte ich. „Sie fahren am besten mit der Bahn bis nach Anklam, falls Sie kein Auto haben. Und dann sind es noch etwa zwanzig Kilometer Richtung Wol‐
gast. Schauen Sie auf einer Karte oder bei Google nach”, erklärte er und dass im Haus eigentlich al‐
293
les vorhanden sei, Bettwäsche, Handtücher und so weiter. Im Kühlschrank und im Wandschrank ne‐
ben der Eingangstür seien noch ein paar Vorräte. Außerdem gebe es im Dorf frisches Brot, Eier und Gemüse und im Hafenstädtchen Brasan fünf Ki‐
lometer entfernt außerdem zwei Läden, wo ich einkaufen könne. Die Nachbarn unterm Dach würden mir gern alles erklären und zeigen. „Genießen Sie die Ruhe. Die Gegend ist wunder‐
schön und interessant”, sagte er und dann wünschte er mir eine gute Reise. Ich hoffte, dass der Pool, in den ich da sprang, auch Wasser enthielt. Ich startete GoogleEarth und gab „Klein‐
Muselkow“ in die Suchmaske ein. Die Rakete star‐
tete. Ich stieg bis ins Weltall auf und sah Berlin aus der Satellitenperspektive. Dann flog ich nach Nor‐
den fast bis nach Usedom. Die Landschaft flitzte vorbei, dann ein rasanter Sturzflug. „Klein‐
Muselkow“ wurde auf dem Luftbild angezeigt. Ich sah gelbe Rapsfelder und Alleen. Und himmel‐
blaue Seen, die sich wie Amöben in die Landschaft schmiegten. Ihre Zellmembran bestand aus einem Saum sattgrüner Bäume. Da waren winzige Hau‐
fen aus Häusern in der Landschaft verteilt. Und tatsächlich: In Klein‐Muselkow gab es ein Haus 294 ganz nah am See. Ich ließ mir die Straßenkarte der Gegend aus‐
drucken. Und den Fahrplan mit der Zugverbin‐
dung nach Anklam. Dann packte ich meine Fahr‐
radtaschen. In die Umhängetasche steckte ich den Vogel samt Sockennest und einer Dose voller Ma‐
den. Hatte ich etwas vergessen? Ich ging zum Klei‐
derschrank und da lagen sie noch, die hineinge‐
stopften Stofftiere und meine Mädchenmaskerade. Vielleicht könnte ich es doch noch einmal brau‐
chen, das Korsett. Ich rollte es zusammen und packte es mit ein. Sind Sie schon einmal nach Anklam gefahren? Ich meine nach Anklam, nicht nach Usedom? Ziemlich unwahrscheinlich. Der Zug fuhr im finsteren Verlies des Berliner Hauptbahnhofs ab und war fast leer. Ich hatte reichlich Auswahl und setzte mich auf einen Fens‐
terplatz mit Tisch auf dem Oberdeck des Wagens. Dann zogen die Häuser und Landschaften an mir vorbei. Es folgten die Bahnhöfe von Prenzlau, Pa‐
sewalk, Ducherow. Kleinstädte, von denen ich nie zuvor gehört hatte und in denen kaum jemand ein‐ oder ausstieg. Ich packte meine Karte aus und stu‐
dierte den Weg von Anklam nach Klein‐
295
Muselkow. Ganz in der Nähe lagen Usedom und die Peene, Wälder und Seen. Eine lange, schnurge‐
rade Straße begann kurz hinter Anklam und führte fast bis zu meinem Ziel. Kein Problem, ein paar Feld‐ und Waldwege würde ich nehmen, ein paar Mal abbiegen und schon wäre ich dort. Dachte ich. Irgendwann setzte sich ein ungepflegter Betrun‐
kener mit Bierflasche auf den Platz mir gegenüber. Von seiner Fahne wurde mir schlecht. Ich überleg‐
te, ob ich aufstehen und mich woanders hinsetzen sollte. Er schaute mich aus seinen glasigen blauen Augen derart treudoof an, dass ich es nicht übers Herz brachte. Ich packte meine Umhängetasche auf den Tisch vor mir und nahm den Vogel heraus. Er sollte auch etwas von der Landschaft sehen und begann sofort zu betteln. Die Augen meines Gegenübers wurden immer größer. Schwankend lehnte er sich nach vorne, um genauer hinschauen zu können. Ich nahm die Dose und stopfte dem Kleinen eine Made nach der anderen in den Schnabel. „Det iss ja n’ richtjer Vogel”, lallte der Betrunke‐
ne. Da spreizte der Spatz seine Flügel und begann zu flattern. Er hob zu einem Hopser ab und 296 plumpste auf den Boden. „Dit is ja wie bei Liljenthal. Dea is ooch ab‐
jestürzt”, sagte mein Gegenüber. „Wer?“, fragte ich. „Der Fliejer. Dea kommt nämlich ooch aus Anklam, so wie meene Alte”, sagte er stolz. Aha. Ein großer Sohn der Stadt Anklam. Ich beugte mich zu meinem Vogel hinab. Er flat‐
terte und versuchte es immer wieder; nach vier Versuchen landete er schließlich auf dem Tisch. Ich war mächtig stolz auf ihn. Ich schaute auf die Uhr: Bald mussten wir in Anklam halten. Ich griff nach dem Kleinen, um ihn wieder in die Tasche zu setzen. Doch er schimpfte und entschlüpfte mir. „Du kannst doch nicht hierbleiben“, sagte ich zu ihm. Ich lockte ihn mit einer Made auf meine Hand und setzte ihn auf meine Schulter. Er wird mich bald verlassen, dachte ich. Er war eben gar nicht mehr so klein und würde sich ande‐
ren Spatzen anschließen und nicht mehr wieder‐
kommen. Oder war er eine Sie? Ich hatte keine Ahnung. Irgendwann würde er oder sie sich ein Weibchen oder ein Männchen suchen und ein Nest bauen. Zusammen mit dem Lilienthal‐Fan stiegen wir in 297
Anklam aus. Der Bahnhof bestand aus genau ei‐
nem Bahnsteig. Auf dem Parkplatz davor stand ein einziges Taxi; der Fahrer schlief. Während ich mit dem Rad durch die Stadt fuhr, blieb mein Spatz schön brav auf meiner Schulter sitzen und streckte den Schnabel in den Wind. Ab und zu spreizte er die Flügel und flatterte. Dann hob er kurz ab und setzte sich wieder auf mich. Als er andere Spatzen tschilpen hörte, musste auch er Krach machen. Manchmal hörte er sich an wie das Gezwitscher meines Handys. Gleich gegenüber vom Marktplatz befand sich vor dem „Lilienthal‐Center“ das Lilienthal‐
Denkmal in Form eines Flügels, darauf stand das Zitat: „Die Macht des Verstandes wird auch im Fluge dich tragen!“ Wohin? Nach Anklam etwa? Das „Lilienthal‐Center“ war das Resultat eines überdehnten Budgets auf einem viel zu großen Grundstück und bestand aus gelbem Klinker und Alu‐Fensterelementen. Aus der Hälfte der Ge‐
schäfte gähnte mich Leere an. Anklam ist eine Hansestadt (Wussten Sie das?) und befindet sich in farbenfroher Selbstauflösung mit Geranien in Blumenkübeln und bunten DDR‐
Kittelschürzen, die vor einem vietnamesischen Bil‐
ligladen im Wind flattern. Ich sah dutzendweise 298 leere Fenster. Die verbliebenen Menschen scheinen den frei gewordenen Raum durch Korpulenz fül‐
len zu wollen. Ich orientierte mich nach der Karte, passierte ei‐
ne gewaltige Kirchenruine und nahm die Fußgän‐
gerbrücke über die Peene. Auf der anderen Seite des Flusses fuhr ich an verwaisten Bierlokalen und dem Stumpf einer Windmühle vorbei, dann durch eine Unterführung unter den Bahngleisen. Nach‐
dem ich einmal nach rechts abgebogen war, ging es geradeaus durch Orte mit eigentümlichen Na‐
men wie Relzow und Murchin. Immerhin: Zu‐
nächst war die Allee von einem Radweg begleitet. Irgendwann kam ich durch einen schier endlo‐
sen Wald. Einen Radweg gab es dort nicht mehr und ich musste auf der Straße fahren. Dass hier ge‐
rast wurde, war mir schon am liebevollen Baum‐
schmuck aufgefallen: Kerzen, Blumen und so wei‐
ter. Immer wieder rauschten Kolonnen von Autos an mir vorbei. Eine davon zog sich besonders in die Länge. Ich fuhr schön brav ganz rechts auf dem weißen Begrenzungsstreifen und traute meinen Augen nicht: Auf meiner Seite kamen mir hastig blinkende Scheinwerfer entgegen. Der Fahrer hatte offenbar eine eilige letzte Ver‐
299
abredung. Dann hörte ich hinter mir das Quiet‐
schen von Reifen und auch der Geisterfahrer bremste, so dass es qualmte. Ein Hupkonzert setz‐
te ein. Ich rettete mich, indem ich in den Straßen‐
graben rauschte. Unten angekommen, stand ich bis zu den Knien im schlammigen Wasser. Mein Vogel war neben mir im Gras gelandet. Ich setzte ihn auf meine Schulter, rappelte mich hoch, watete an Land und zog mein Rad aus dem Was‐
ser. Dann kletterte ich die Böschung nach oben. Ich schüttete das Wasser aus meinen Klickpedal‐
schuhen und packte den Kleinen sicherheitshalber in meine Umhängetasche. Ich bekam das Gefühl, dass es keine kluge Ent‐
scheidung gewesen war, Banz’ Einladung gefolgt zu sein. Doch zur Umkehr war es zu spät und Kneifen war meine Sache nicht. Diesen Banz muss‐
te ich mir genauer anschauen. Wie lebte ein Banker in einem Kuhdorf? Schon bald musste ich die Landstraße verlassen und nach links in den Wald abbiegen, um keinen Umweg zu fahren. Nur wo? Die Karte erwies sich als unbrauchbar, denn es gab viel mehr Abzwei‐
gungen, als eingezeichnet waren. Ich kam an einer Sandgrube vorbei. Hier ir‐
300 gendwo musste es sein. Eine Piste mit tiefen Fahr‐
spuren führte in den Wald. Die Richtung stimmte ungefähr. Irgendwann endete der Wald und vor mir tat sich eine weite Dünenlandschaft auf. Ich stapfte durch den Sand; die Räder meines Fahrra‐
des versanken darin. Immer wieder kreuzten und gabelten sich die Sandpisten und die Wege änderten die Richtung. Manchmal verschwanden die Fahrspuren völlig im Gras. Ich lief an Waldrändern entlang, dann kam ich zu Viehweiden mit Elektrozäunen und Ent‐
wässerungskanälen, die mich zu Umwegen zwan‐
gen. Ich erreichte ein verlassenes Dorf. Dachsparren ragten wie Gerippe in den Himmel, aus leeren Fensteröffnungen quoll Gebüsch. Von manchen Häusern waren nur die Kellersockel übrig und schwarze Löcher gähnten im Boden. Obstbäume und Gebüsch waren zu einem unpassierbaren Di‐
ckicht ineinander gewuchert. Ich lief einmal um diese Wüstung herum und stellte fest, dass ich in einer Sackgasse gelandet war, die von einem Kanal und einem Elektrozaun begrenzt wurde. Was sollte ich tun? Den ganzen Weg zurücklaufen? Dann wüsste ich immer noch nicht, wie ich nach Klein‐Muselkow käme. 301
Mir blieb nichts anderes übrig, als querfeldein über die hügelige Weide zu marschieren. Ich hiev‐
te mein Rad samt Gepäck über den Zaun. So vor‐
sichtig ich auch war: Ich berührte mit der Innensei‐
te des Oberschenkels den Draht. Es fühlte sich an wie ein Peitschenhieb. Ich stapfte dahin. Der Boden wurde immer wei‐
cher, immer tiefer versackte ich im schwarzen Mo‐
rast. So weit ich schauen konnte, sah ich paarige Hufabdrücke. Zunächst dachte ich, aus der Ferne käme ein Gewitter herangerollt. Ich drehte mich um und sah, wie etwa zwei Dutzend Rinder auf mich zu trabten. Sie wurden langsamer, als sie tief im Schlamm einsanken. Meine Klickpedalschuhe schmatzten jedes Mal, wenn ich sie aus dem Matsch zog. Die Viecher kamen immer näher, schnaubten und wiegten mit den Köpfen, die kleine Horn‐
stummel trugen. Sie stellten sich im Kreis um mich herum auf und glotzten mich an. Ihre rosigen Nüs‐
tern tropften. Zum ersten Mal sah ich Jungbullen. Ich rief „Huh!“ und fuchtelte mit den Armen. Sie stoben davon. Ich stakste voran, so schnell ich konnte. Die Rin‐
der folgten mir erneut und meine Versuche, sie zu 302 verscheuchen, wurden immer wirkungsloser. Irgendwann hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen und rannte um mein Leben. Mit Schwung wuchtete ich Fahrrad und Gepäck über einen weiteren Elektrozaun und holte mir wieder einen Stromschlag, als ich auf die andere Seite hechtete. Meine Verfolger drängten sich zusammen, glotz‐
ten und sabberten. Ein Witz mit drei Worten: „Esther in Ostvor‐
pommern.“ Ich stapfte querfeldein ins nächste Dorf. Dort traf ich an einem Bushäuschen vier picklige Jungs in Jogginghosen, Turnschuhen und mit Bierflaschen in den Händen. Sie stellen sich um mich herum auf, glotzend, Kaugummi kauend. Ich schaute genau hin: Trugen vielleicht auch sie Hornstummel auf dem Kopf? „W..W..wo geht’s denn hier nach Klein‐
Muselkow?“, fragte ich schließlich. Sie kauten und schmatzten. Dann wandten sich zwei von ihnen einander zu. „Nach Klein‐Muselkow willse“, sagte der Eine. Der Andere schüttelte den Kopf. Sie betrachteten mich von oben bis unten. Mit meinen verschlammten Schuhen und in meinem 303
grellbunten, verschwitzten High‐Tech‐Radlerdress stand ich vor ihnen. Dann ging der Größte von ihnen zu meinem Fahrrad, das ich ans Bushäuschen gelehnt hatte. Er nahm Anlauf und trat mit Wucht gegen mein Vor‐
derrad. Beim ersten Mal federte es in die alte Form zurück. „Heee, Moment mal“, brüllte ich. Die anderen stellten sich mit verschränkten Ar‐
men vor mich und spielten mit ihren Springmes‐
sern. Dann nahm er ein zweites Mal Anlauf, diesmal ein paar Schritte mehr. Es knallte und die Felge splitterte. Die Vier schlenderten davon. Ab und zu kicher‐
ten sie. Einer von ihnen drehte sich noch einmal nach mir um und grinste. Ich griff nach meinem Handy und wollte mich bei Banz beschweren. Doch es gab keinen Emp‐
fang. Ich klemmte mein demoliertes Rad unter den Arm und schleifte es hinter mir her. Wie weit mochte es noch sein bis nach Klein‐Muselkow? Fünf Kilometer? Zehn? Auf jeden Fall würde ich nicht noch einmal nach dem Weg fragen. 304 Ich humpelte die Landstraße dahin. Dann rauschte von hinten ein Opel Kadett heran. Er überholte mich und hielt dann an. Auch ich blieb stehen. Eine Entführung? Der Wagen kam mit Jaulen im Rückwärtsgang auf mich zugeschossen. Sollte ich alles hinwerfen und querfeldein das Weite suchen? Mit meinen Klickpedalschuhen wäre ich nicht weit gekommen. Das Auto hielt neben mir. Eine Scheibe wurde heruntergekurbelt und eines der Pickelgesichter von vorhin grinste mich an. „Haste’n Problem?“, fragte er. Ich brachte kein Wort heraus. Er stieg aus und öffnete die Heckklappe. Ich stutzte. „Willste mit den Klamotten acht Kilometer loo‐
fen?“, fragte er mich. Dann nahm er mir mein Rad aus der Hand und lud es ein. Das zerstörte Vor‐
derrad schaute heraus und er verzurrte die Heck‐
klappe mit einem Gummiband. Er hielt mir die Beifahrertür auf und klappte den Sitz nach vorne. „War nich nett von uns, vorhin”, sagte er und machte eine einladende Handbewegung. Ich schaute hinein. Am Steuer saß der Banause, der mein Rad demoliert hatte. 305
Ein blutroter Schleier senkte sich vor meinen Augen. „Wie bitte?“, brüllte ich. „Ich soll da einsteigen und dann fahrt ihr mit mir in den Wald? Für wie blöd haltet ihr mich?“ Nette Eingeborene. Erst hauen sie dir aufs Maul und dann helfen sie dir auf, dachte ich. Es wurde langsam Nacht. Ich überlegte, was schlimmer wäre: Acht Kilometer mit einem un‐
brauchbaren Rad und Gepäck durch die Dunkel‐
heit zu humpeln oder das Risiko einzugehen? Ich musste mir ein bisschen Respekt verschaffen. Er hatte zwar ein Messer, aber zumindest würde ich mir die beiden nacheinander vornehmen kön‐
nen. „Gib mir deine Hand“, sagte ich zu dem Bur‐
schen. „Wieso?“, fragte er. „Dann könnt ihr euch überlegen, ob ihr mich nach Klein‐Muselkow oder in den Wald fahrt.“ Er weigerte sich. „Na los, was ist? Hast du Schiss?“, fuhr ich ihn an. „Brauchste Hilfe?“, rief der Fahrer von drinnen. Noch immer kein Messer. Ich griff die Hand meines freundlichen Helfers, verdrehte sie, bis es knackte und trat ihm die Knie weg. Er sackte zu 306 Boden und blieb auf dem Bauch liegen. Dann stemmte ich ihm das Knie ins Kreuz, bis er wim‐
merte, zerrte den Gürtel aus seiner Hose und zurr‐
te damit seine Hände auf dem Rücken zusammen. Ich stieg von ihm herunter und schob ihn auf die Rückbank. Dann setzte ich mich neben den Vanda‐
len am Steuer und drückte mit der Daumenspitze auf den K.O.‐Punkt in seiner Halsbeuge. Er krümmte sich und japste. „Nach Klein‐Muselkow, und keine Dummheiten“, sagte ich. Er legte vorsichtig den Gang ein und kurbelte am Lenkrad vom Format einer Frisbee‐Scheibe. Ein SS‐Tattoo auf seinem Unterarm blitzte hervor. „Wo haste det jelernt? Is det Wing‐Tsun?“, fragte er mich. Was sollte ich sagen? Dass ich in der israelischen Armee eine Nahkampfausbildung durchlaufen hatte? „Biste eene von denen?“, hörte ich den Burschen auf der Rückbank fragen. „Von denen? Wen meinst du?“, fragte ich zu‐
rück. „Na von den Muselkowern.“ „Ich mache nur Urlaub. Wenn man mich lässt“, antwortete ich. 307
Dann legte der Fahrer eine Kassette ein und in‐
fernalisches Getöse brach los. Ich drehte es leiser. „Jefällt dir wohl nich?“, fragte der Nazi. „Radi‐
kahl is dit, deutsche Musik!“ „Pattpatt, pattpatt, pattpatt“ machten die Reifen, als wir über Betonplattenwege fuhren. Dann pas‐
sierten wir eine Allee mit riesigen Kastanien, Kopfsteinpflaster und so tief ausgefahrenen Spu‐
ren, dass der Nazi nur Schritttempo fuhr. Ich verstand warum, als der Boden seines tiefer geleg‐
ten Vehikels schließlich doch mit Krachen aufsetz‐
te. Von da an röhrte der Auspuff. „Schitt“, fluchte der SS‐Mann. Wir bogen auf ei‐
ne asphaltierte Straße ein, die zwischen sattgelb blühenden Rapsfeldern durchführte. Die schwere Süße ihres Duftes nahm mir den Atem. Er fuhr Sla‐
lom, um den Schlaglöchern auszuweichen und wir hoben auf den Bodenwellen beinahe ab. Wir pas‐
sierten einen kleinen Wald und ein Seeufer und fuhren steil bergauf. Ich sah ein paar Häuser links und rechts, dann hielten wir an einer Wendeschlei‐
fe mit einem Bushäuschen. „Klein‐Muselkow“, sagte der Fahrer. „Ach übrigens, natürlich habe ich mir deine Nummer gemerkt”, sagte ich beiläufig. „Meinetwegen geh zur Polizei. Die jehören näm‐
308 lich zu uns. Wir sind hier in Deutschland und nicht in diesem Judenstaat BRD”, gab der SS‐Mann zu‐
rück. „Judenstaat?“, giftete ich. Er setzte einen Gesichtsausdruck von Mitleid und Besserwisserei auf. Dann stellte er den Motor aus, zog den Zündschlüssel ab und lud das Fahr‐
radwrack aus. Ich stieg aus und das Röhren des Auspuffs entfernte sich. Ich versuchte, mich zu orientieren: Dort unten am See musste Banz’ Haus sein. Mit weichen Knien schleppte ich meine Sachen über die Straße und dann in die Einfahrt eines Gartengrundstücks. Doch das Haus hatte kein Reetdach. Ich machte kehrt und versuchte es auf dem Grundstück daneben. Ein schmaler Kiesweg führte zwischen Sträuchern und Beeten steil nach unten. Und da sah ich es: das Haus am See. Die geschwungene Gaube im Dachgeschoss war schwach erleuchtet. Dort musste die Wohnung der Nachbarn sein, von denen Banz erzählt hatte. Es war zappenduster und ich ertastete die Stufen einer krummen Trep‐
pe. Willkommen in Ostvorpommern. Wo es keinen Handyempfang und keine Beleuchtung gibt, wird man wohl so begrüßt, dachte ich. 309
Wo war der Eingang? Da waren Fenster und ir‐
gendwann erfühlte ich eine Klinke. Ich lehnte mein Fahrradwrack an die Mauer, kramte nach dem Schlüssel und suchte das Schlüsselloch. Er passte. Dann schwang die Tür auf und ich tastete nach ei‐
nem Lichtschalter. Ich fand mich in einem Windfang wieder und streifte meine verschlammten Schuhe ab. Die Tü‐
ren waren aus abgebeiztem, wurmstichigem Holz. Ich gelangte in eine Wohnküche. Da gab es einen runden Holztisch mit Korbstühlen und ein Schlaf‐
sofa mit Leinenbezug. Von IKEA, es war das Glei‐
che wie bei mir zuhause. Ich sah viel rohes Holz, Lehmputz und einen Dielenfußboden. Mitten im Raum befand sich ein zimmerhoher Kaminofen und auf der Fensterbank stand ein fünfarmiger Kerzenleuchter. Ich ließ mein Gepäck auf den Bo‐
den fallen und sank in einen der Korbsessel. Dann griff ich in meine Tasche und setzte den Vogel auf den Tisch. Er döste und blinzelte kurz. Ich nahm auch sein Sockennest heraus, legte es auf die Fens‐
terbank und setzte ihn hinein. Dann zündete ich die Kerzen an. Das hier war also Banz’ Feriendomizil. Er war eindeutig schizophren, so eine Art Jekyll und Hy‐
de. Ob er auch hier mit seiner gepanzerten Limou‐
310 sine vorfuhr und mit Weste und Seidenschlips he‐
rumlief? Und besonders ordentlich war er auch nicht. Er? Er war doch in Berlin. Da standen noch die Reste eines Frühstücks auf dem Tisch. Ein vollgekrümel‐
ter Teller, eine Müslischale und ein Becher mit ei‐
nem kalten Schluck Kaffee. Ich stand auf und ging zum Kühlschrank. Und der war gut gefüllt. Kein Zweifel. Hier wohnte jemand. Nur wer? Hatte ein Einbrecher es sich gemütlich gemacht? Ein Einbrecher mit Schlüssel? Ich griff mir den Leuchter und ging in den Raum nebenan: Das war das Schlafzimmer. Ich suchte den Lichtschalter und fand ihn nicht. Die Dielen knarrten. Im Schein der Kerzen sah ich ein Him‐
melbett mit einem Baldachin aus weißem Taft und einem Berg von kariertem Bettzeug darauf, einen Spiegel, einen Bauernschrank, einen Sekretär und bodenlange Leinenvorhänge. In der Ecke stand ei‐
ne antike, schwarze Schneiderbüste mit Atombu‐
sen, ausladenden Hüften und einer unglaublich dünnen Taille. Sie trug einen seidenen Unterrock mit Volants. Ein Fenster stand offen. Das Licht fiel auch auf ein rahmenloses, quadra‐
tisches Gemälde an der Wand. Es war etwa einen 311
Meter auf einen Meter groß und zeigte eine Frau, die masturbierte und dabei von einer gesichtslosen Menge begafft wurde, die eine endlose Schlucht aus Wolkenkratzern ausfüllte. Der Horizont schien in eine rot glühende Tiefe zu stürzen. Einer der Wolkenkratzer ragte wie ein Phallus in die Höhe und bog sich bedenklich zur Seite. Er war von ei‐
ner Pyramide bekrönt. Links daneben ein riesiger griechischer Portikus, der aussah, wie die New Yorker Börse, am rechten Rand des Bildes ein Wol‐
kenkratzer, an dessen Spitze ein fünfzackiger Stern in einem Kreis strahlte. Ich erschauderte. Wer malte denn so etwas? Banz etwa? Ein weiterer Hinweis auf Schizophre‐
nie, ein heimliches Doppelleben? Ich sehnte mich nach Schlaf. Wie einladend, die‐
ses Bett, dachte ich. Eingeladen war ich ja, denn Banz hatte mir den Schlüssel gegeben. Ich schlurfte zurück durch die Wohnküche ins winzige Bad, schälte mich aus meinen verschwitzten Sachen und nahm eine hei‐
ße Dusche. Dann griff ich mir ein Handtuch, wi‐
ckelte mich darin ein und legte meine Sachen zum Einweichen in die Duschwanne. Ich löschte die Kerzen, griff mir eine der Decken von dem Haufen auf dem Bett und kuschelte mich hinein. Es roch 312 nach Männerschweiß. Es war der gleiche Geruch wie in Chipsys Kammer, so schien mir. Ich lauschte. Ab und zu rauschte das Laub der Bäume. Eine Maus fiepte. Dann war da wieder diese samtene, atmende Stille. Atmete da jemand? Ich schloss die Augen. Und versank in bodenlo‐
ser Schwärze. Wissen Sie, was ein „Samadhi‐Tank“ ist? Da le‐
gen sich Erleuchtung Suchende hinein, um ein künstliches Nirwana zu erleben. Man schwimmt darin in einer körperwarmen Salzlake und es ist absolut still und finster. Das muss sich ungefähr so anfühlen wie meine erste Nacht in Klein‐
Muselkow. Doch dann sank ich nicht weiter. Da war etwas. Jemand fing mich auf, umfasste mich. 313
Der Bombenleger Ich schlug die Augen auf. Eine Hand, groß wie ein Klodeckel, lag auf meinem Bauch. Ich schrie und sprang aus dem Bett. Panisch suchte ich nach dem Schalter der Nachttischlampe. Beim Einschalten riss ich sie vom Beistelltisch. Keuchend und splitternackt stand ich da. Und aufgerichtet im Bett saß: Der Bombenleger aus der Tschaika. Unrasiert, mit langen blonden Strähnen und nur mit Shorts bekleidet. Wie Tentakeln schlangen sich die Asso‐
ziationen durch mein Hirn: Das war er also, der Sohn von Banz. Er betrachtete mich von oben bis unten und sein Blick blieb an meiner Mitte hängen. Dann sagte er: „Man legt sich nicht zu fremden Herren ins Bett! Schon gar nicht mit derart spitzen Knochen!“ Wo hatte ich das schon mal gehört? Man legt sich nicht zu fremden Herren... Nein, man setzt sich nicht zu fremden Herren auf den Schoß! So musste es lauten. „Warum nicht, wenn darin Platz ist?“, so sprach ich den Text weiter. Er lachte und fragte: „Ach, du kennst ‚Wir Wun‐
derkinder’?“ 314 „Wir sind uns neulich bei Chipsy schon mal be‐
gegnet, aber du warst so schnell verschwunden“, sagte ich. „Und was machen wir jetzt?“, fragte er und schaute mich an. Er kniff die Augenbrauen zu‐
sammen. Auf seiner Stirn bildete sich ein Falten‐
muster; es war fast das Gleiche wie bei Banz, als er mir auf dem Friedhof ins Gesicht schaute. Ich umklammerte meinen Oberkörper und fror. „Ich heiße übrigens Victor.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und wie‐
der scannte er mich von oben bis unten ab. Mir wurde schwindlig. Ich griff mir schnell das Badetuch vom Bett und wickelte mich darin ein. „Und jetzt? Was machen wir jetzt?“, fragte ich schließlich. Ich wurde ungeduldig. „Also ich lege mich jetzt in dieses wundervolle Bett. Und du, mach was du willst“, sagte ich, kuschelte mich un‐
ter die Decke und drehte mich auf die Seite, mit dem Rücken zu ihm. Vorsichtig legte er sich wie‐
der hin. „Mir ist kalt“, sagte ich, griff seine Hand und zog sie an meine Brust. „Meine Güte, du bist ja total verhungert“, flüs‐
terte er mir ins Ohr. Wir nahmen die Löffelchenposition ein. Ich 315
schmiegte mich vollflächig an ihn. Er war warm und roch gut. Ich fragte mich, wozu es eigentlich Deo gibt. Ich rieb meinen Po an seinen Leisten. Doch da tat sich nichts. „Hast du eine Freundin?“, fragte ich ihn schließ‐
lich. „Warum willst du das wissen? Normalerweise lande ich nicht mit Frauen im Bett, deren Namen ich noch nicht einmal kenne.“ Ich drehte mich zu ihm um. „Entschuldige. Ich heiße Esther.“ „Das ist ein jüdischer Name“, stellte er fest. „Ich bin Jüdin.“ „Dann pass auf, wem du das hier erzählst. Du befindest dich hier in einer national befreiten Zo‐
ne.“ „Danke für den Tipp. Ich hatte schon das Ver‐
gnügen mit diesen Typen.“ Ich schaute ihm in seine seltsam blauen Augen. Nein, sie waren eher grün, es war so eine Art dunkles Türkis. „Sag mal, dieses Bild da an der Wand, wer hat das gemalt?“, fragte ich ihn. „Ist von mir“, antwortete er. „Schon ein bisschen unheimlich, dieser umkip‐
316 pende Wolkenkratzer und dieser Abgrund. Und ziemlich pervers, diese Frau da, die sich dabei zu‐
schauen lässt.“ „Das ist eine Vision, die ich vor über zehn Jahren hatte. Ist von der Realität längst eingeholt worden. Kennst du Annie Sprinkle? Oder Lady Bitch Ray? Oder diese MTV‐Moderatorin, wie hieß die doch gleich? Die schreibt gerade an einem Buch über blumenkohlartige Hämorrhoiden, Analfissuren und den Geschmack von eingetrocknetem Sper‐
ma.“ Ich hielt ihm den Mund zu. Nach einer Weile fragte ich ihn: „Woran denkst du?“ „Warum willst du das wissen? Du bist doch mit meinem Vater verabredet. Warum hast du dich wieder zu mir gelegt?“, fragte er. Ich schwieg. „Gefalle ich dir nicht?“, fragte ich ihn. „Willst du vögeln? Egal mit wem?“, legte er nach. Ich sprang auf, raffte das Bettzeug und das Bade‐
tuch zusammen und stürmte hinaus. Ich knallte die Tür hinter mir zu und warf mich auf die Couch. Dann heulte ich das Kissen voll. Bis ich irgend‐
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wann einschlief. Ich träumte saftiges, handfestes Zeug. Ersparen Sie sich die Details, es sei denn, Sie haben ein aufregendes Sexleben. Kaffeeduft weckte mich am nächsten Morgen. Victor stand am Herd und rührte in einem Topf. Er war immer noch nur mit Shorts bekleidet. Von hin‐
ten beobachtete ich ihn. Ich sah, wie seine Schul‐
terblätter und Rippen unter der Haut arbeiteten. Ein ideales Objekt für anatomische Studien, dachte ich. Woran erinnerte er mich? Die ganze Zeit wartete ich darauf, dass er die Arme in die Waagerechte hob und die Beine spreizte. Wie ein Hampelmann oder genauer: Wie der wilde Mann auf Leonardo da Vincis Zeichnung über die Quadratur des Krei‐
ses und die menschlichen Proportionen. Der trägt übrigens keine Shorts. Langsam stand ich auf und hüllte mich wieder ins Badetuch. Er drehte sich um und lächelte mich an. Wieder runzelte er dabei die Stirn. „Guten Morgen“, begrüßte er mich, als sei nichts geschehen. Er hatte sich rasiert und die Haare ge‐
waschen; sie fielen in blonden Wellen auf seine Schultern. Er sah aus wie ein Engel. Vorher hatte er mir besser gefallen. „Morgen“, gab ich zurück und kramte ein paar 318 Sachen aus meiner Fahrradtasche. „Bist du eigentlich magersüchtig oder hast du Bandwürmer oder sowas? Ich hole mir nicht gern blaue Flecken”, sagte er. „Was gibt’s denn zu Essen?“, wollte ich wissen. „Haferschleim. Mit Wasser gekocht. Und dann reibe ich dir noch einen Apfel.“ Damit hatte mich mein Vater immer gefüttert, wenn ich als Kind eine Darmgrippe hatte. Der Spatz saß auf der Stuhllehne; unter ihm auf dem Boden lagen ein paar Häufchen. Victor deute‐
te mit dem Löffel auf ihn: „Und der Vogel da? Ich hab mir fast in die Hose gemacht, als er mir im Tiefflug entgegenkam. Außerdem scheißt er hier alles voll.“ Er füllte den dampfenden Brei in eine Schüssel und raspelte einen halben Apfel darüber. Dann stellte er sie mir auf den Tisch und daneben ein Glas Tee, schwarz und ungesüßt. „Langsam essen. Löffelchen für Löffelchen. So‐
bald der Magen sich meldet, hörst du auf“, in‐
struierte er mich. Ich schlüpfte ins Bad und dort in frische Unter‐
wäsche. Dann setzte ich mich in den Korbsessel. Der Spatz schwirrte auf den Tisch, hüpfte darauf umher und pickte die Krümel auf. 319
Victor mampfte seine dick mit Käse belegten Brötchen und schüttete becherweise den Kaffee in sich hinein. „Na los, iss“, sagte er mit vollem Mund zu mir und fuchtelte mit dem Messer. „Wo lässt du das alles nur? Kotzt du das alles wieder aus?“, gab ich zurück. Mampfend antwortete er: „Nahrungsmittel wer‐
den von mir oral entsorgt. Restlos.“ Dann gehorchte ich und löffelte nach ausgiebi‐
gem Pusten die Pampe. Der Spatz kam herbeigeflattert und setzte sich auf meine Schulter. Er schimpfte heiser und zitter‐
te mit den Flügeln. „Du bist doch kein Küken mehr“, sagte ich zu ihm. Er ließ nicht locker und schließlich bot ich ihm auf dem Löffel ein bisschen von dem Brei an. Er pickte ihn gierig auf. „Das muss der Willi sehen. Der sammelt Vögel, wie andere Briefmarken. Lebende, keine ausge‐
stopften. Mandarinenten, Seidenhühner, Pfirsich‐
köpfchen, Truthähne und so weiter. Wo hast du den denn her?“ „Gefunden. Wäre fast verhungert. So kann ich endlich mein Gluckensyndrom ausleben”, sagte ich. 320 „Hast du keine Kinder?“, fragte mich Victor. Ich ließ den Löffel in die Schüssel fallen. Dann schloss ich die Augen. Er legte nach: „Wie alt bist du eigentlich?“ Es fühlte sich an wie eine Ohrfeige. Ich schaute ihn an und sagte: „Schätz mal.“ Dann wartete ich auf die Urteilsverkündung. „Auf jeden Fall bist du ein paar Jahre älter als ich. Ende dreißig, würde ich sagen.“ Ich schwieg. Der laue Wind kam durchs offene Fenster, draußen tschilpten Spatzen und schwirr‐
ten davon. Eine getigerte Katze sprang aufs Fens‐
terbrett. Victor stand auf und öffnete ihr die Woh‐
nungstür. Mit senkrecht aufgestelltem Schwanz stolzierte das Tier in die Wohnung und setzte sich vor dem Kühlschrank hin. Victor füllte ein Schäl‐
chen mit Milch und stellte es ihm hin. Der Zwerg‐
tiger stürzte sich darauf. „Das ist übrigens Sushi. Seit er im Geschäft ist, gibt’s im Ort nur noch getigerte Kätzchen.“ Sushi ging zum Türpfosten, drehte ihm sein Hin‐
terteil zu und sein aufgestellter Schwanz zitterte. Er versprühte einen feinen Nebel und es stank nach Raubtier. Von Nahem sah ich dass seine Oh‐
ren geschlitzt waren; seine Nase war blutig, ein Auge zugeschwollen. Fellbüschel fehlten und an 321
manchen Stellen sah man seine Haut. Ein Kater. Und ganz sicher nicht kastriert. Das Tier fixierte mich. Und da begriff ich, dass er meinen Vogel meinte. „Wenn dein Sushi näher kommt, drehe ich ihm den Hals um“, drohte ich. Victor lachte und sagte: „Falls du Kinder hast, bist du eine klasse Mutter.“ Hör auf, bitte, dachte ich. Dann streckte Victor mir seine Unterarme entge‐
gen. Sie waren mit feuerroten Kratzern übersät. „Sushi hat mich gut erzogen. Man sollte warten, bis er von alleine geht. Wahrscheinlich ist er weit und breit der Einzige, der mit seiner Männlichkeit kein Problem hat.“ „Und du, hast du ein Problem mit deiner Männ‐
lichkeit?“, wollte ich wissen. „Warum interessiert dich das? Du bist doch mit meinem Vater verabredet.“ „Eigentlich möchte ich nur ein bisschen Urlaub machen“, erklärte ich. „Urlaub. Aha. Wovon denn?“ Ich schluckte. Dann sagte ich: „Wovon macht man wohl Urlaub?“ „Keine Ahnung. Bist du vielleicht so ein Mensch, der noch arbeitet?“, fragte er. 322 Was war denn das für eine Frage? Wusste etwa auch er Bescheid? „Bist du schon satt?“ Er deutete wieder mit dem Messer auf die Schale mit dem Haferschleim. Ich nickte. „Wenn du so weitermachst, bist du in ein paar Wochen verhungert. Wir werden dich wieder ein bisschen aufpäppeln.“ Er stand auf. „Komm, es ist herrliches Wetter draußen. Du weißt ja noch gar nicht, wo du hier gelandet bist. Ein bisschen Bewegung an der fri‐
schen Landluft wird dir gut tun. Dann kriegt das Stadtkind Farbe und gesunden Appetit.“ Er ging ins Schlafzimmer und kam ein paar Mi‐
nuten später wieder heraus. Bekleidet mit einem zerknitterten Hemd und einer verwaschenen Jeans. Dann schnürte er sich seine Wanderstiefel. Ich schaute mich um. Sushi saß immer noch in der Mitte der Wohnküche und beobachtete mich und den Vogel auf meiner Schulter. Ab und zu leckte er sich die Schnauze. Ich überlegte. Ich musste den Spatzen auswil‐
dern, sonst würde er noch zum Haustier. Anderer‐
seits schmerzte mich der Gedanke, dass mein Kind‐Ersatz mich verlassen würde. Wenn er hier aber mit Sushi alleine bliebe, würde ich allenfalls 323
noch ein paar Federn auflesen können. „Was ist?“, fragte Victor. „Barfuss und in Un‐
terwäsche würde ich an deiner Stelle nicht drau‐
ßen herumlaufen.“ „Wie wird man diesen Kater wieder los?“, fragte ich. „Keine Ahnung. Vielleicht findest du es ja her‐
aus.“ Langsam ging ich zur Tür und dann nach drau‐
ßen. Sushi folgte uns. Victor warf die Tür hinter uns ins Schloss. Auf dem Dach und in den Büschen tschilpten die Spatzen in heller Aufregung. „Na los, flieg zu deinen Kollegen“, sagte ich zu ihm. Doch er blieb auf meiner Schulter sitzen. Ich nahm ihn in die Hand und streichelte ihn noch einmal. Dann warf ich ihn in die Luft. „Flieg! Fliiiieeeeg!“, schrie ich. Er blieb einen Moment flatternd in der Luft ste‐
hen und ließ sich dann herabfallen. Sushi sprang ihm mit ausgefahrenen Krallen entgegen. Ich er‐
wischte den Kater am Schwanz. Er schrie wie ein cholerischer Säugling, drehte und wandte sich mit giftigem Fauchen und entglitt mir schließlich. Er preschte um die Hausecke herum davon; der Kies spritzte mir bis ins Gesicht. 324 Der Spatz saß auf dem Fensterbrett und schaute mich an. „Du blödes Vieh“, sagte ich. „Ich kann doch nicht ewig auf dich aufpassen.“ Er blinzelte nur und plusterte sich auf. „Los, flieg zu deinen Kollegen”, flehte ich ihn an. Victor kam zu mir nach draußen. „Das war ja ‘ne filmreife Nummer“, sagte er. Auch ich zog mich an. Wanderstiefel hatte ich nicht, sondern nur Leinensneaker. Victor ging vor‐
aus, blieb vor dem Haus an meinem Fahrradwrack stehen und betrachtete es. „Reizende Begrüßung. Ist das hier so üblich?“, fragte ich. „Sieht ganz nach den Jungs von der braunen Front aus“, sagte er stirnrunzelnd. „Ist mir auch schon passiert.“ „SS‐Tattoos sind hier richtig schick, scheint mir.“ „Ziemlich verantwortungslos, ein Stadtmädchen hier alleine herumlaufen zu lassen, noch dazu ein jüdisches...” Das sollte wohl komisch sein. „Los, komm!“, rief Victor, rannte um die Ecke davon und in federnden Sprüngen die Böschung zum See hinab. Ich stolperte hinterher und wäre beinahe nicht mehr vor dem Wasser zum Stehen gekommen. Er fing mich auf. Der Griff seiner seh‐
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nigen Arme war hart wie ein Schraubstock. Ich umklammerte seinen Nacken und drückte meine glühende Wange an seine. Das war ein bisschen wie beim Tango, wenn ein Tänzer mich mit Schwung aus einem zackigen Voleo holt. Er stellte mich wieder auf die Füße und ging weiter. „Wo willst du hin?“, rief ich ihm hinterher. „Wir besuchen die Gräfin und den Gasmann. Und Ilona.“ „Die Gräfin? Den Gasmann? Ilona?“, wunderte ich mich und lief ihm nach. Ich ließ mich von diesem Kindskopf wie ein kleines dummes Mädchen herumführen. Aber ir‐
gendwie gefiel mir das auch. Ich fühlte mich wie‐
der lebendig. Wir kamen an einem dicken Angler mit rosig glänzenden Backen vorbei. Er hatte sein Zelt auf‐
gebaut, saß regungslos am Ufer und paffte eine di‐
cke Zigarre. Victor blieb stehen und ging noch einmal zu ihm zurück. Sie tuschelten irgendetwas. Dann grinsten sie mich an. Ich folgte Victor zwischen den Bäumen ein Stück die Uferböschung hinauf. Wir kamen zu einem Plateau, das mit Efeu bewachsen war. Darauf stand ein großer Findling, vor dem zwei rechtecki‐
326 ge Sandsteinplatten auf dem Boden lagen. Die Linke war verschoben und in der Mitte durch‐
gebrochen. „Sind das Gräber?“, fragte ich Victor. Er ging in die Hocke und wischte das Moos von der zerbrochenen Platte. Buchstaben wurden sichtbar. „Kannst du das lesen?“, fragte er mich. Ich musste genau hinschauen und las: „Ilse Olga Georgina Körting, geb. Gräfin Baudissin“. Ich er‐
kannte auch die Jahreszahlen: Geboren 1900, ge‐
storben 1920. „Mein Gott, die war ja noch ganz jung“, sagte ich. „Hat sich erschossen. Man sieht noch den Schat‐
ten des Blutflecks auf den Dielen im Gutshaus“, sagte Victor. Er kratzte das Moos von der anderen Grabplatte. Dann las ich wieder: „Wilhelm... das nächste Wort kann ich nicht lesen... Bismarck? Komischer Name... Wilhelm wie auch immer Vic‐
tor Körting“. Geboren 1870, gestorben 1921. „Der Gasmann. Sehr reich ist der gewesen. Er besaß das Patent auf die Erzeugung von Stadtgas. Ist aus Kummer kurz nach ihr gestorben “, erklärte Victor. 327
„Könnte glatt ihr Vater gewesen sein”, sagte ich. „Mein Vater ist dreißig Jahre älter als ich“, gab Victor zurück. „Körting hat die siebzehnjährige Gräfin geheiratet und von Berlin nach Klein‐
Muselkow verschleppt. Hier ist sie zugrunde ge‐
gangen. Man sagt, sie sei von einem jungen Be‐
diensteten schwanger gewesen und habe sich dann erschossen.“ Es gruselte mich. Siebzehn. So alt wie Friedrich. Immerhin war ich nur zweiundzwanzig Jahre älter als er. „Warum ist die Grabplatte verschoben und zerbrochen?“, fragte ich. „Grabräuber. Wahrscheinlich dachten die, dass eine Gräfin mit Juwelen begraben wird“, erklärte Victor. „Das Medaillon mit dem Hochzeitsbild ha‐
ben sie mitgehen lassen.“ Er deutete auf den Find‐
ling, in den eine ovale Aussparung eingemeißelt war. „Komm, vielleicht sehen wir ja irgendwo die weiße Frau.“ Victor nahm mich an der Hand und zog mich hinter sich her. Wir gingen weiter am Ufer entlang. „Die weiße Frau? Wer ist das?“, wollte ich wis‐
sen. „Es gibt Leute, die schwören, dass sie am See ei‐
ne weiße Frau gesehen haben. Angeblich ist das 328 die Seele der Gräfin, die bis heute herumgeistert. Mir ist sie noch nicht begegnet. Ilona gibt’s aber wirklich.“ „Ilona? Wer ist denn das schon wieder?“ Nach einer Weile kamen wir zu einer Wiese am Ufer. Victor dirigierte mich an eine Stelle, von der aus ich die Lichtung gut überschauen konnte. „Bin gespannt, ob du sie entdeckst“, flüsterte er mir ins Ohr. Dann stellte er sich hinter mich. Seine warmen Hände kneteten meine Taille. Ich er‐
schauderte und räkelte mich. Der See lag glatt wie ein Spiegel da. Mücken tanzten über dem Wasser. Ab und zu sprang ein Fisch und schnappte sich eine von ihnen. Das jun‐
ge Laub der Bäume rauschte. Der Reflex der Sonne auf der Wasseroberfläche blendete mich. Mein Blick blieb am mächtigen Stamm einer Buche hän‐
gen. Ich ging näher heran und sah Buchstaben mit einem Herz darum herum. Es musste Jahrzehnte her gewesen sein, dass sie jemand hineingeritzt hatte. Und dann las ich: „Ilona.“ „Und wer ist das?“, wollte ich wissen. „Keine Ahnung. Das war lange vor meiner Zeit. Aber hier fühle ich mich nie allein.“ Victor streifte blitzartig seine Sachen vom Kör‐
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per. Splitternackt rannte er zum Ufer und sprang ins Wasser. Er schwamm ein paar kräftige Züge auf den See hinaus. „Los, komm, das Wasser ist herrlich”, rief er mir zu. Ich bin keine gute Schwimmerin. Aber auch kein Feigling. Schließlich tat ich es doch. Ich zog mich aus, steckte einen Fuß ins Wasser und zuckte zu‐
rück. „Wie hältst du das aus?“, brüllte ich. „Los, komm, sonst hole ich dich“, schrie er. Ich watete hinein. Er kam auf mich zu ge‐
schwommen und schlug mit solcher Wucht aufs Wasser, dass mich die Fontäne voll traf und in Schockstarre versetzte. Ich quiekte und verlor auf dem sumpfigen Grund das Gleichgewicht. Der Länge nach fiel ich ins Wasser. Ich wimmerte vor Kälte. „Los, schwimm dich warm“, rief Victor mir zu. Ich kam nicht weit. „Ich kann nicht“, jammerte ich. „Ich habe einen Krampf im Fuß.“ Es fühlte sich an, als stünde mein Bein unter Strom. Er schwamm herbei. „Halt dich an mir fest“, sag‐
te Victor und drehte mir den Rücken zu. Ich um‐
klammerte seine Schultern und er zog mich hinter 330 sich her ans Ufer. Dann nahm er mich Huckepack und versank dabei fast bis zu den Knien im Schlamm. So schwankten wir ans Ufer. Er setzte mich im Gras ab und begann, meinen Fuß zu mas‐
sieren. Ich biss mir auf die Lippen und schlotterte. Victor nahm sein Hemd und seine Hose und rieb mich trocken. Er breitete unsere Sachen auf dem Gras aus und dann legten wir uns nebeneinander darauf in die Sonne. Nackt schmiegten wir uns aneinander. „Sind wir hier eigentlich allein?“, fragte ich ihn. „Keine Ahnung. Siehst du jemanden?“ „Nein.“ „Na also.“ „Vielleicht beobachtet uns jemand, den wir nicht sehen können.“ „Und diese Schamhaftigkeit soll ich dir abkau‐
fen?“ „Wenn jemand zuschaut, kickt es doch erst rich‐
tig.“ Er lachte. Ich schaute an ihm hinunter. „Ich glaube, Sushi ist wirklich der Einzige, der... Steh auf, du liegst auf meinen Klamotten.“ Dann zog ich mich an und ging den Weg zurück, den wir gekommen waren. „Hast du ein Problem damit, wenn ein Mann 331
mal nicht zur Verfügung steht?“, rief Victor mir nach. Auch er schlüpfte in seine Sachen und holte mich von hinten ein. Er griff mich am Arm, drehte mich um und sagte: „Die Führung ist noch nicht zu Ende. Da geht’s lang.“ Wir umrundeten den See und stiegen auf der anderen Seite die Uferböschung hinauf. Meine Sneaker fanden auf dem schmierigen Boden kei‐
nen Halt; wieder musste ich mich an ihm festhal‐
ten. Als der Wald endete, kamen wir zu einem freien Platz, auf dem ein paar Mauerreste standen und eine Menge rostige Maschinen. Ich sah tiefe Fahr‐
spuren im Schlamm. Rings herum standen Häuser jeden Alters: Vom ruinösen Bau aus Natursteinen bis hin zum hellblau und rot leuchtenden Bunga‐
low aus dem Katalog. Kinder spielten Fußball und ein großer, schwarzer Hund rannte uns mit ge‐
fletschten Zähnen entgegen, bis er von seiner Lauf‐
leine wie von einem Gummiband zurückgeholt wurde. Victor deutete nach rechts und sagte: „Und hier der Ort des Schreckens. Das Guts‐
haus.“ Der Putz in DDR‐Braungrau war schon zur Hälf‐
te von der Fassade gefallen; darunter kam das Zie‐
332 gelmauerwerk zum Vorschein. Die Fenster waren so morsch, dass ich mich fragte, ob einem beim Öffnen die Scheiben auf den Fuss fallen würden. „Du willst mir bestimmt den gräflichen Blutfleck zeigen. Ist der eigentlich blau?“ „Du glaubst mir die Story wohl nicht?“ „Aber ja doch. Ist mir aber alles irgendwie zu morbide“, winkte ich ab. „Es ist noch früh. Wir könnten einen Ausflug machen“, sagte er. „Wohin denn?“, wollte ich wissen. Er nahm mich bei der Hand. Wir liefen zu einer Stallanlage von der Größe eines Flugzeughangars. „Hier wurden bis zur Wende dreitausend Schweine gemästet, fünfzig pro Einwohner. Man nannte Klein‐Muselkow auch das Schweinedorf. Der Boden ist bis heute mit Gülle verseucht“, er‐
zählte Victor. Dann blieben wir stehen. Victor schob ein riesi‐
ges Rolltor beiseite. Ich folgte ihm in die Halle da‐
hinter. Als ich mich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah ich einen Traktor, Anhänger und Land‐
maschinen. Victor ging bis in die hinterste Ecke. Da stand etwas Großes, Schwarzes, Glänzendes. Die Tschaika. Victor schloss die Fahrertür auf. Dann entriegelte 333
er die Haube, steckte den Kopf in den Motorraum und manipulierte darin herum. Dann ließ er die Haube zufallen, stieg ein, pumpte ein paar Mal mit dem Fuß und drehte den Zündschlüssel. Die Rück‐
lichter blinkten und der Anlasser jaulte, dann hämmerte der Motor los. Eine aromatische Benzin‐
schwade hüllte mich ein. Victor gab ein wenig Gas und die Halle füllte sich mit sonorem Brummen. „Steig ein“, rief Victor. Ich versank in einem Viersitzer von einem Sofa und ließ die Tür von der Dicke eines Schlauchbootes mit satten Ploppen zu‐
fallen. Victor schob einen Hebel am Lenkrad nach oben. Ein Ruck ging durch das Gefährt und wir setzten uns rückwärts in Bewegung, dem Licht entgegen, das durch das Rolltor fiel. Als wir draußen waren, stieg er aus und schob das Tor zu. Wieder einge‐
stiegen, tätschelte er das Armaturenbrett und sag‐
te: „Das ist Jonathan. Ist mir zugeflogen.“ „Aha, die Möwe Jonathan. Tschaika heißt Mö‐
we“, sagte ich stolz. So hat ein jeder seinen Vogel, dachte ich. Victor schaute mich an: „Oha, eine Fachfrau.“ „Nee, die Tochter eines Rennfahrers. Mit Benzin‐
schwaden bin ich groß geworden.“ Das Lenkrad war elfenbeinfarben, hatte in der 334 Mitte einen chromglänzenden Ring und berührte fast Victors Oberschenkel. Chrom blitzte mir auch von Knöpfen, Hebeln und Schaltern entgegen. Das Armaturenbrett war in kyrillischen Buchstaben be‐
schriftet. Victor schaltete den Hebel am Lenkrad in die andere Richtung. Wieder ruckte es und wir rollten durchs Dorf. Wir rollten durchs Dorf. Kinder liefen uns nach und Augenpaare folgten uns. Dann hielt er wieder an, lief zum Haus am See und kam ein paar Minuten später mit seiner Pilo‐
tenbrille auf der Stirn, meinem Fahrrad unterm Arm und einer Sporttasche zurück. Er lud beides in den Kofferraum und stieg wieder ein. „Was tust du? Wo fahren wir hin?“, fragte ich ihn. „Wir drehen eine Runde über Usedom. Unter‐
wegs kommen wir bei einem Fahrradgeschäft vor‐
bei. Die sollen das in Ordnung bringen, damit wir mal zusammen ausreiten können“, erklärte er. Dann schaukelten wir im Russenschiff dahin. Heiße Motorenluft aus dem Fußraum kam mir entgegen und Benzingeruch betörte mich. Victor nickte heftig und seine Pilotenbrille plumpste ihm von der Stirn auf die Nase. Ich musste lachen, 335
rückte an ihn heran und legte meine Füße auf das Armaturenbrett. Er lenkte mit links und umarmte mich mit rechts. Wie praktisch, so ein Auto mit So‐
fa, dachte ich. 336 Schweine Wir rauschten unter dem frischen Grün der Kasta‐
nienallee durch, wo der SS‐Mann mit seinem Opel Kadett aufgesetzt hatte. Wie ein Dampfer pflügte die Tschaika die Bodenwellen unter; vom Kopf‐
steinpflaster bekam ich nur das Reifengeräusch mit. Wir rollten über einen Plattenweg, pattpatt pattpatt, dann bogen wir auf eine Landstraße ein, die von Obstbäumen und Bauernhäusern gesäumt war. In den engen Kurven zwitscherten die Reifen. Es folgte eine kilometerlange, schnurgerade Stre‐
cke. Victor gab Gas, der Motor brüllte los und ich versank im Sofa. Der Fahrtwind donnerte durchs Fenster. Die Tachonadel kletterte immer weiter: 120, 130, 140. Die Allee erschien mir plötzlich höl‐
lisch eng und die Bäume, flitzten so nah vorbei, dass ich nicht wagte, mein Gesicht in den Fahrt‐
wind zu strecken. „Fahr nicht so schnell“, rief ich. „Sonst bekommt man von den Blumen und Kerzen am Straßenrand nichts mit.“ Victor lachte. „Jonathan wiegt zweieinhalb Ton‐
nen. Putzt alles weg, was im Weg ist.“ Ich sah die Reflexe über die Verspiegelung seiner Pilotenbrille huschen. Ich nahm sie ihm von der 337
Nase und setzte sie mir selber auf. „Damit du bes‐
ser siehst, wo du hinfährst. Hast du ‘ne private Öl‐
quelle oder so? Verbraucht bestimmt dreißig Li‐
ter.“ „Kommt hin“, sagte er. Wir ließen Ortschaften mit Ruinen und einer Menge Leerstand hinter uns, darunter die Reste einer Scheune, deren Dachsparren wie die Rippen eines Saurierskelettes in den Himmel ragten. Dann rollten wir eine steile Serpentine hinab und die Aussicht auf eine kleine Stadt tat sich auf. Am Ho‐
rizont sah ich Hafenkräne und einen Kirchturm aus Backstein. „Wolgast“, las ich auf dem Orts‐
schild. Wir schlichen in Ampelstaus dahin, passierten Aldi‐ und Lidl‐Märkte und parkten schließlich vor einem Fahrradgeschäft. Victor lud mein Rad aus, brachte es hinein und kam einige Minuten später wieder heraus. „Übermorgen holen wir es wieder ab“, sagte er. Ich genoss es, mich bedienen zu lassen. Wir durchquerten die Stadt. Schließlich zirkelte Victor den Riesenvogel in einer schmalen Gasse mit Kopfsteinpflaster in eine Parklücke. Eigentlich waren es zwei Parklücken hintereinander. Er hatte lange danach gesucht. 338 „Komm, wir holen was zu essen“, sagte er. Wir stiegen aus und überquerten die Straße. Dann blieb ich stehen: „Das ist nicht dein Ernst“, sagte ich. Victor betrat eine im Original konservierte DDR‐
Gaststätte namens „Schnitzelmax“. Es war so fins‐
ter, dass ich die Brille abnahm. Es roch nach Brat‐
fett, kaltem Zigarettenqualm und Auslegeware aus Leuna, die Tapeten waren nikotingelb, die Tische und Stühle bestanden aus Pressspan und Metall‐
rohr. Spielautomaten blinkten, im Dunst erahnte ich ein paar runzelige Gestalten, die sich an Bier‐
gläsern festhielten und uns anstarrten. „Hier gibt’s das meiste Schwein fürs Geld“, sagte Victor. Wir verließen das Lokal mit zwei Einweg‐
Alutabletts mit Bergen von fettigen Pommes, pa‐
nierten Fleischlappen und zwei Gurkenscheiben, so dünn, dass man hindurchschauen konnte. Ich hatte auf einer eigenen Portion bestanden. Victor hatte noch versucht, mich zur Vernunft zu bringen, ohne Erfolg. Er switchte ständig zwischen Kinder‐ und Eltern‐Ich hin und her. Wie wär’s mal mit Erwachsenen‐Ich?, wollte ich ihn fragen. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass auch ich in ein vor‐
pubertäres Stadium regredierte. 339
Es roch so gut. Ich erinnerte mich nicht mehr, wann ich zuletzt einen solchen Raubtierappetit ge‐
habt hatte. Alles an mir gierte nach Grillfleisch, Fett und Kohlenhydraten. Ich nahm das Schnitzel in beide Hände, tauchte es in die braune Soße, faltete es in der Mitte zu‐
sammen und biss mit einer Mischung aus Wollust und Gier hinein. „Wehe, du kotzt mir das Auto voll. Lass das Fenster auf, dann musst du dich nur hinausleh‐
nen“, sagte Victor, der mit links lenkte und sich mit rechts die Pommes in den Mund schob. Wir rollten an eine Tankstelle. „Jetzt steigen die Shell‐Aktien“, sagte ich. „Ach, das sind doch Witwen‐und‐Waisen‐
papiere. Geld macht man ganz anders“, sagte Vic‐
tor. Er stieg aus, zog die Zapfpistole und ließ es lau‐
fen. Ich schaute auf die Tankuhr: 50 Liter, 60, 80. Bei 147 Litern Super Plus und 222 Euro stoppte die Automatik. Als Victor wieder am Steuer saß, mampfte auch er sein Schnitzel. Dann ließ er den Motor an und ich sagte: „Weißt du was? Wir sind schöne Schweine. Wir vertilgen hier einen Artgenossen und verballern 340 einen halben Tanker Benzin.“ „Ja, richtige Schweinekannibalen sind wir. Und die Ökos sollen Sprit sparen, dann kann ich länger Tschaika fahren. Ohne Kat. Außerdem fressen die Vegetarier meinem Essen das Essen weg.” Er lach‐
te diabolisch. Ich gestehe: Manchmal hatten mich schon früher Fressanfälle überkommen, bei denen kiloweise Gummibärchen sowie ungezählte McDonald’s‐
Menüs draufgegangen waren. Aber an derart in‐
fantilen Hedonismus erinnere ich mich nicht. Ich genoss ihn in vollen Zügen und schämte mich nur ein ganz klein wenig. „Sag mal...”, fragte ich. „Was?“, gab er zurück. „Darf ich, ich meine, darf ich auch mal...“ „...fahren?“, fragte er. Ich nickte. Er stieg aus, ging ums Auto herum und öffnete die Beifahrertür. „Rutsch rüber“, sagte er. Ich quiekte vor Wonne. Dann umfasste ich das geriffelte Lenkrad, das breiter war als meine Schul‐
tern. „Bist du schon mal mit Automatik gefahren?“, fragte mich Victor. Ich schüttelte den Kopf. Er erklärte mir, dass das 341
dritte Pedal links keineswegs die Kupplung, son‐
dern die Feststellbremse sei, dass ich beim Anhal‐
ten die Bremse getreten halten soll, weil der Wa‐
gen sonst weiterrollt und was die Schaltpositionen des rechten Hebels neben dem Lenkrad bedeuten. Ich entriegelte die Feststellbremse, schaltete in die Fahrfunktion und nahm den Fuß vom mittle‐
ren Pedal. Der Wagen rollte langsam an. Die Len‐
kung hatte eine halbe Umdrehung Spiel, so schien es mir. Ich zirkelte den Wagen unsicher von der Tankstelle auf die Straße und hatte das Gefühl, mindestens zwei Fahrspuren zu brauchen. Victor schob eine Kassette ins Autoradio: Rez von Underworld. Das elektronische Mantra, sim‐
pel variiert und mit treibendem Beat versetzte mich in eine Art Trance. Ich musste an das musika‐
lische Ufo in „Unheimliche Begegnungen der Drit‐
ten Art“ denken. Victor dirigierte mich durch die Altstadt in Richtung Hafen. Dann rollten wir hin‐
über nach Usedom – über die größte Klappbrücke Europas, wie Victor mir erklärte. Ich kramte die Sonnenbrille aus meiner Brustta‐
sche. Victor klopfte mir auf die Finger und nahm sie mir aus der Hand. „Du Ferkel, ich mag keine Fettfinger auf meiner RayBan“, schimpfte er und setzte sie sich selber auf. 342 Es folgte eine Schnellstraße und ich trat das Gas‐
pedal bis zum Boden durch. Das Auto erzitterte und orchestrales Donnern füllte meine Ohren. Ich musste an Wagner denken und hatte das Gefühl, einen Kampfjet zu starten. Stoisch räkelte sich Victor neben mir auf dem So‐
fa. Die Tachonadel kletterte auf 140, 150, 160 und blieb bei knapp 170 zitternd stehen. „Das waren mindestens zehn Liter Sprit, die du gerade durch den Auspuff gejagt hast. Außerdem wird hier manchmal geblitzt“, brüllte Victor gegen das Getöse an. Ein Ortsschild kam rasend schnell näher und ich trat aufs Bremspedal. Der Wagen drängte auf die Gegenfahrbahn. Ruckartig lenkte ich gegen und Jonathan schlingerte wie besoffen. Ich sah das Weiße in den aufgerissenen Augen der Entgegenkommenden, dann entfernte sich hinter uns das Hupkonzert. „Zieht beim Bremsen ein bisschen schief. Vergaß ich zu sagen“, sagte Victor nur. Die Hitze aus dem Fußraum nahm mir fast den Atem. Es stank nach Gummi und verbrannten Bremsbelägen. „Kann man die Heizung auch ausschalten?“, fragte ich und wischte mir mit der Hand den Schweiß aus dem Gesicht. 343
„Das ist der Motor“, antwortete Victor. „Wir sind gleich da.“ „Zinnowitz“ stand auf einem Ortsschild. Dann krochen wir im Stau dahin. Wir waren nur einen Wimpernschlag vom Rennfahrertod entfernt gewesen und dieses seltsame Glück durchströmte mich. So musste sich mein Vater gefühlt haben, wenn er einen Crash überlebt hatte. „Hattest du Angst, gerade eben?“, fragte ich Vic‐
tor. „Nein. Schnell zu sterben ist nicht das Schlimms‐
te, was einem passieren kann. Viel schlimmer ist, nicht gelebt zu haben. Und ich fühle mich gerade sehr lebendig“, antwortete er. Er nahm die Brille ab und unsere Blicke trafen sich. Es war klar, dass wir einander hatten begeg‐
nen müssen. „Das Schöne an Klein‐Muselkow ist, dass es im Windschatten des Tourismus liegt. Im Sommer ist manchmal ganz Usedom zugestaut, von Wolgast bis Anklam stehen dann die Autos, fünfundreißig Kilometer lang. Das hier ist im Vergleich dazu noch gar nichts“, erklärte Victor. „Was interessiert dich mehr: Shopping und Kurpromenade oder ei‐
ne kleine Zeitreise?“, fragte er mich. „Eine Zeitreise?“, fragte ich. Die Autos standen 344 Stoßstange an Stoßstange. Dann dirigierte Victor mich von der Hauptstraße in den Kurpark. Die Buchen standen so dicht, dass es mir vorkam, als passierten wir einen dunkelgrünen Vorhang. Kies knirschte unter den Reifen. Ich parkte den Wagen vor einem tempelartigen Portikus, der links und rechts von Gebäudeflügeln flankiert wurde. Die Anlage hatte das Format eines Flughafenterminals und der Baustil erinnerte mich an die Berliner Volksbühne. „KULTURHAUS“ stand über den Säulen. Das „L“ hing schief und war kurz vor dem Absturz. Auf dem Dach und den Mauervorsprüngen wuchsen junge Bäume. Die Fenster waren eingeworfen, das Gemäuer von DDR‐typischem Graubraun. Wir zwängten uns durch einen eher symbolisch gemeinten Bauzaun. Dann stiegen wir über die ris‐
sige Freitreppe nach oben. „Den roten Teppich und das Fernsehteam der Aktuellen Kamera musst du dir noch dazu den‐
ken“, sagte Victor und grinste mich an. Wir betraten durch eine ausgehängte Schwingtür eine Art Kathedrale. Es war ziemlich dunkel und roch modrig. Das Parkett war zu einer welligen Landschaft aufgequollen. An der Decke hing das Gerippe eines Kronleuchters. Schwarze Vögel nis‐
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teten auf den Mauervorsprüngen und entflogen durch die zerstörten Fenster. Glasscherben knirschten unter unseren Füßen; immer wieder stolperte ich über Abfall und Bau‐
schutt. Wir schlichen zu einer weiteren herrschaft‐
lichen Treppe, stiegen nach oben und gelangten in einen Theatersaal. Fast alle Sitze waren entfernt, einige lagen noch lose herum. Victor stand neben mir und fragte: „Vergangenheit oder Zukunft?“ Er nahm mich bei der Hand und wir bestiegen die Bühne. „Dieser Bau entstand zwischen 1954 und 56, damals konnte man sich so etwas noch leisten“, erklärte er. „Das Theater von Zinnowitz befindet sich heute in einer Blechbüchse und heißt auch so. Ein Kaff wie Klein‐Muselkow hatte bis zur Wende eine Kindertagesstätte, ein Kino, eine Kneipe, ei‐
nen Jugendclub, einen Laden und regelmäßigen Busverkehr. Ist heute alles nicht mehr bezahlbar. Und: Wie lange läuft eine Tschaika? Wie lange ein Golf?“ Dann sang er falsch, aber dafür um so lauter: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zu‐
gewandt, lasst uns ihm zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland!“ 346 War der Sozialismus der 50er Jahre solch eine erbärmliche Mangelveranstaltung, wie es heute gern dargestellt wird? Immer wieder erschauderte ich vor der megalomanen Stalingotik, wenn ich in Berlin die Karl‐Marx‐Allee entlang fuhr. In Gedanken fragte ich mich: Ist das hier Ver‐
gangenheit oder Zukunft? Wie ewig ist das, was wir für normal halten? Könnte es in einigen Jahr‐
zehnten im Bundestag und der New Yorker Börse genauso aussehen? Wir kletterten auf der Rückseite des Gebäudes ins Freie und schlugen uns durchs Gebüsch zum Auto durch. An blitzblanken Villen, Oberklasselimousinen und Cabrios vorbei durchquerten wir das Seebad, bis die Straße endete und als sandiger Waldweg weiterführte. „Ab jetzt fahre besser ich, hier bleibt man leicht stecken“, sagte Victor. Wir tauschten die Plätze. „Wo fahren wir hin?“, fragte ich ihn. „Zu meinem Privatstrand. Liegt ein bisschen au‐
ßerhalb.“ An einem Campingplatz vorbei schaukelten wir immer weiter in den Wald. Victor bog nach links ab und stellte den Wagen in einem Dünental ab. Er zog seine Schuhe aus und ich tat es ihm nach. 347
Dann stapften wir durch den wattig weichen Sand zum Strand. Bis auf ein paar Sonnenanbeter in der Ferne wa‐
ren wir völlig allein. „Entkleiden Sie sich bitte”, rief Victor und tat ei‐
nen großen Schritt nach vorn. „.jetzt!“ Er deutete auf ein Schild mit der Auf‐
schrift „FKK‐Strand, Hunde verboten“. Er schälte sich aus seinen Sachen und warf sie von sich. Dann stürzte er sich in die Wellen. Jetzt wusste ich, an wen er mich erinnerte: Chipsy. Die gehen sich mit ihren Albernheiten si‐
cher furchtbar auf die Nerven, dachte ich. Chipsy hatte ja bereits eine Victor‐Phobie. Ich setzte mich in den warmen Sand, ließ mich nach hinten fallen und beobachtete, wie die Wol‐
ken vorbeizogen. Dann schloss ich die Augen und ließ mich vom Rauschen der Wellen hypnotisieren. Dass ich eingeschlafen sein musste, bemerkte ich, als ich die Augen wieder auftat und mich in der Tschaika wiederfand. Ich dachte daran, wie Tarzan die schlafende Jane auf starken Armen in sein Baumhaus trägt. Ich lag auf der Sitzbank, die zu einer Liegefläche umgeklappt war. Die Beifah‐
rertür stand offen. Draußen im Sand saß Victor im Schneidersitz auf einer großen karierten Decke, 348 vor ihm ein Gaskocher mit einem Topf darauf, in dem er herumrührte. Ich stieg aus und setzte mich zu ihm. „Was gibt’s denn?“, fragte ich ihn. „Haferschleim.“ „Davon nehme ich bestimmt nicht zu.“ „Wir werden uns steigern“, sagte er. „Tarzan hat wohl immer alles dabei?“ „Mein gesamter Haushalt passt in dieses Auto. Mehr besitze ich nicht“, antwortete er. „Du hast keine Wohnung?“ „Nein. Ich verbringe viel Zeit im Ferienhaus. Oft bin ich auch in Berlin.“ „Bei Chipsy?“ „Genau.“ „Wie erträgt ein Witzbold einen Witzbold?“ Victor schwieg. „Und was arbeitest du?“, bohrte ich weiter. „Arbeiten? Dafür habe ich keine Zeit. Ich schaue ja noch nicht mal fern.“ „Aha. Und was machst Du die ganze Zeit?“ „Geld. Und dann gebe ich es aus.“ „Wie bitte? Du machst Geld? Druckst du die Scheine selbst?“ Ich lachte. „Sozusagen.“ „Blödsinn.“ 349
„Irgendwer muss das Geld ja machen, oder?“ „Soso. Angenommen, du machst die Kohle ein‐
fach so, was ich nicht glaube: Was tust du sonst?“ „Ich mache Urlaub.“ „Wovon denn?“ „Das ist es, was ich tue.“ „Immer? Jahrein, jahraus?“ „Ich bin der Moneyman. Geldmacher. Dauerur‐
lauber. Frührentner. Hochleistungsschläfer. Priva‐
tier. Edelpenner. Luxusberber. Tschaikafahrer. Nenne mich, wie du willst.“ „Ist das auf Dauer nicht langweilig?“ „Arbeiten ist also unterhaltsam? So viel Urlaub muss man erst einmal aushalten.“ Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich atme‐
te tief durch und fragte ihn weiter aus: „Hast du keinen Beruf gelernt?“ „Doch. Geldmachen.“ „Das ist kein Beruf.“ „Ist Banker ein Beruf?“ „Banker machen doch kein Geld. Die verleihen welches.“ „Das auch. Aber nicht nur. Woher, glaubst du, kommt das Geld? Wie entsteht das Geld?“ Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Aber es interessierte mich auch nicht. Noch nicht. 350 „Du bist ein Gammler, ein Abhänger”, sagte ich. „Da man mich nicht arbeiten lässt, lasse ich eben arbeiten. Mich ausbeuten zu lassen und Opfer zu sein, liegt mir nicht. Indem ich Geld mache, habe ich mehr Zeit, Geld auszugeben.“ Mir wurde übel. „Tust du eigentlich auch ir‐
gendwas Sinnvolles?“, wollte ich wissen. „Für das, was ich anbieten könnte, nämlich Frei‐
heit, gibt es keine Abnehmer. Ein einfaches, erfüll‐
tes Leben ohne Probleme ist eben nicht gefragt. Die Leute wollen Geld. Also mache ich welches und kaufe dafür ein. Sie wollen sich ausbeuten lassen. Was wären sie ohne ihre Probleme? Probleme sor‐
gen für Unterhaltung und Beschäftigung. Am meisten fürchten die Leute die Langeweile. Nimm ihnen ihre Probleme und sie wissen nicht mehr, wozu sie da sind. Sie werden dich dafür zum Teu‐
fel jagen.“ Ein Zyniker. Ein Größenwahnsinniger noch da‐
zu. Und wahrscheinlich auch noch kriminell. Mein Magen stülpte sich um. Der Brei aus Pommes und Schnitzel ergoss sich in den Sand. Wortlos reichte er mir eine Flasche Mineralwas‐
ser. Nachdem ich den Mund ausgespült und ge‐
trunken hatte, hielt er mir den Topf und einen Löf‐
fel hin und sagte: „Iss, aber schön langsam. Das 351
beruhigt den Magen.“ Es wurde Abend und langsam kalt. Ich saß auf der Decke und schaute Victor dabei zu, wie er im Wald Holz sammelte und ein Lagerfeuer anzünde‐
te. „Dein Vater und du, ihr seid euch sehr ähnlich“, sagte ich irgendwann. „Irgendwie seid ihr schizo‐
phren und fürsorgliche Zyniker. Ihr habt Stil und Sinn für Romantik. Aber habt ihr auch Sex?“ „Natürlich kann man immer mit irgendjeman‐
dem Sex haben. Solange man nicht wählerisch ist“, sagte Victor. Eine peinliche Pause entstand. „An der Erziehung kann die Ähnlichkeit nicht liegen. Ich habe meinen Vater erst vor drei Jahren kennen gelernt.“ „Wieso das denn?“ „Meine Mutter hat sich von K.O. getrennt, als sie mit mir schwanger war. Sie war damals mit einem Jordanier in Scheinehe verheiratet und der Mei‐
nung, K.O. sei ein Weichei und ein Jammerlappen. Kurz nach meiner Geburt hat sie ihren Sandkasten‐
freund geheiratet und der hat mich vom Jordanier adoptiert.“ „Adoptiert? Von dem? Aber der ist doch gar nicht dein Vater“, staunte ich. „De jure schon. Ich bin ein Kuckuckskind, das in 352 einer bestehenden Ehe gezeugt wurde. In diesem Fall ist die biologische Abstammung irrelevant und juristisch betrachtet der Ehemann automatisch der Vater. Der Jordanier hat natürlich in die Adop‐
tion eingewilligt, denn er hatte bereits die Aufent‐
haltserlaubnis erreicht und wollte so schnell wie möglich aus allem raus. Mein Vater, ich meine K.O., hatte keinerlei Rechtsbeziehung zu mir. Ich habe meine Adoption durch K.O. veranlasst. Demnächst werden die Papiere umgeschrieben. Dann heiße ich nicht mehr Draxler, sondern Banz. Der Sohn hat also seinen Vater adoptiert.“ „Verrückt... Hat K.O. sich vorher nicht um dich gekümmert?“ „Er hat es versucht. Aber der Sandkastenfreund meiner Mutter ist ein echter Kotzbrocken und hat‐
te natürlich kein Interesse daran, einen Zweitvater in der Familie zu haben. Dann kamen noch drei Halbgeschwister hinterher. K.O. hat sich da raus‐
gehalten. Er war völlig rechtlos und kämpft nur, wenn er gewinnen kann.“ „Wann hast du es erfahren?“ „Ich wusste schon mit vier oder fünf Jahren Be‐
scheid. Aber ich habe mich erst mit Anfang zwan‐
zig getraut, nachzuforschen und mich für meinen biologischen Vater zu interessieren. Ich habe mich 353
in meiner neuen Familie immer fremd gefühlt, wollte aber meinen Stiefvater nicht vor den Kopf stoßen. Er verstand da überhaupt keinen Spaß. Erst, als er mich von zu Hause rausgeworfen hat, habe ich K.O. gesucht.“ „Er hat dich rausgeworfen? Warum denn?“ „Ich konnte mich für keinen Beruf entscheiden und habe mehrere Studien geschmissen. Ich habe nach dreizehn Jahren Schule keine Apparate mehr ertragen. Ich wollte keine Krämerseele und kein Angestellter werden wie mein De‐Jure‐Vater.“ Ich hatte einmal gelesen, dass Söhne, die unter „Vaterentbehrung“ leiden, im Inneren alberne, verantwortungslose Knaben bleiben. Das nennt man Peter‐Pan‐Syndrom oder so ähnlich. Wie viele Männer werden noch erwachsen? Wie viele kön‐
nen ihren Söhnen ein Vater sein? Vielleicht müssen Männer auch gar nicht mehr erwachsen werden, zunehmend entbehrlich wie sie sind. Ihre Väter und Großväter hatten meist nicht viel Zeit für Ihre Söhne, denn sie haben stattdessen den Sozialstaat und die Maschinen gebaut. Wer braucht jetzt noch Schwerarbeiter, Jäger, Beschützer und Versorger? Kriegt ein überflüssiger Mann noch einen hoch? Nicht einmal dazu sind sie noch nütze... Immerhin hatte ich im Gegensatz zu diesem Victor schon 354 richtig gearbeitet und fühlte mich in diesem Mo‐
ment sehr erwachsen. „Was ist so schlimm daran, wenn man Angestell‐
ter ist? Ich bin... ich war Angestellte”, sagte ich. „Du warst? Warum bist du es nicht mehr?“ „Ich war zu neugierig.“ „Siehst du, man darf keine Fragen stellen, wenn man Teil eines Apparates ist. Man muss funktio‐
nieren, wegschauen und das Maul halten. Das liegt mir nicht.“ Ich schwieg und schluckte. Nach einer Weile bohrte ich weiter: „Wie war das, als du und Banz euch das erste Mal begegnet seid?“ „Unheimlich. Mir war schlagartig klar, dass da schon immer ein Band zwischen uns war. Wir ha‐
ben uns in den Armen gelegen und geheult wie Schlosshunde.“ Victor stand auf und ging zum Strand. Ich folgte ihm. Dann stand er am Wasser und ich hinter ihm. Die Wellen unterspülten unsere Füße, sodass sie tiefer und tiefer im Sand versanken. Die Sonne ging gerade unter und schickte uns die letzten Strahlen. „Es gibt keinen Platz für mich“, sagte Victor. „Ich war mein ganzes Leben auf der Suche. Als Kind wollte ich immer eine andere Mutter, weil ich 355
das Gefühl hatte, dass sie mir etwas vorenthält. Mein Stiefvater war zwar vorhanden, aber was ei‐
ne Beziehung ist, habe ich zum ersten Mal bei K.O. erfahren. Aber er ist sich selbst so fremd. Er macht diesen Job seit über dreißig Jahren. Aber das ist er nicht, verstehst du? Er hat dreißig Jahre lang ge‐
wartet.“ „Worauf hat er gewartet?“ „Darauf, dass alles zusammenkommt. Wir sind ganz nah dran.“ „Wovon redest du?“, fragte ich. „Ich möchte endlich ankommen, einmal irgend‐
wo bleiben. Hier zum Beispiel. Wurzeln schlagen. Einfach leben. Aber ich finde keine Ruhe, denn die Menschen wollen leiden. Das Leiden muss so grauenhaft werden, bis diese Welt in Stücke geht. Es gibt keinen leichten Ausweg, fürchte ich.“ Er umklammerte seinen Oberkörper. Dann rede‐
te er weiter: „Ich will mich ums Geld nicht mehr kümmern. Aber es frisst diese Welt, dieses Geld. Wie ein gie‐
riger Schlund, der alles in sich hineinsaugt. Die Menschen, die Beziehungen, diesen ganzen Plane‐
ten. Ein schwarzes Loch. Alles verliert seinen Wert und bekommt dafür einen Preis. Menschliche Be‐
ziehungen werden durch Zahlungen ersetzt.“ 356 „Das ist mir alles zu pathetisch. Wenn du Geld machen kannst, wie du sagst, oder zumindest dein Vater so reich ist, warum macht ihr euch dann nicht einfach ein schönes Leben? Das ist doch Un‐
sinn, dieses schicksalsschwere Gefasel. Es ist, wie es ist. Auch ich wollte mal die Revolution und dass die Welt eine Bessere wird “, sagte ich. „Wir sind nicht die Herren des Schicksals. Es passiert einfach. Und das, was da auf uns zu‐
kommt, können wir nur beschleunigen. Wenn man es nicht aufhalten kann, kann man es nur stoßen, damit schneller fällt, was fallen muss. Das ist wie beim asiatischen Kampfsport. Je schneller es pas‐
siert, desto geringer der Schaden“, raunte Victor. „Banz und Draxler in schicksalhafter Mission “, spottete ich. Es schmatzte. Victor zog seine Füße aus dem Sand und drehte sich zu mir um. „Ich kann nicht mehr. Ich habe die Schnauze voll. Mir steht es bis hier.“ Er hob seine Hand auf Höhe seiner Nase. Ich musste an Herbert denken. „Was ist?“, fragte Victor, als ich die Stirn in Fal‐
ten legte und den Blick unsicher schweifen ließ. „Du kanntest Herbert?“, fragte ich ihn. „Na klar. Das Ferienhaus gehörte ja auch ihm. Er 357
war wirklich nicht zu beneiden. Einen elenden Scheißjob hatte er. Aber jetzt hat er Ruhe“, sagte Victor. Wir schwiegen. Dann redet er weiter: „Die Reuba zu überwachen war für Herbert ungefähr so, als wolle er als Heils‐
armee auf der Reeperbahn Ordnung schaffen. Wo‐
bei die Heilsarmee vom Berufsverband der Zuhäl‐
ter bezahlt wird. Nichts für schwache Nerven und Herbert wollte zu allem Überfluss auch noch ein guter Mensch sein, die Welt retten. Er hat mich be‐
kniet, ich solle ihm helfen. Ich, ein Edelpenner oh‐
ne Ausbildung!“ „Helfen? Du?“, wunderte ich mich. „Immerhin hatte ich Einblicke hinter die Kulis‐
sen, die ihm verschlossen blieben. Ich habe genau ein Jahr lang für die Reuba gearbeitet, bis ich die Sauferei meiner Kollegen nicht mehr ausgehalten habe. Das war ein Job, den mir mein Vater besorgt hatte. Ich bin Hacker und war in der Systemadmi‐
nistration der Reuba tätig. Ich war sozusagen Pan‐
zerknacker und angestellt beim Schlüsseldienst. Irgendwann war es mir zu blöd, jeden morgen in ein Büro zu dackeln, wenn ich auch online Geld machen kann. Ich habe dann angefangen, Verbes‐
serungsvorschläge zu machen, bis ich mit golde‐
358 nem Handschlag gegangen wurde. Herbert hoffte, ich könne ihm helfen, das Unheil aufzuhalten. Oder zumindest meinen Vater dafür gewinnen“, erklärte Victor. Ich bildete mir ein, dass mir ein Geruch von Fäulnis in die Nase stieg. Wieder kamen mir Visi‐
onen von journalistischem Ruhm. Deep Throat, Enron, Watergate... Warum erzählte er mir das? „Du stehst mit einem Bein im Knast“, sagte ich. „Diese Geldmacherei ist hundert Prozent legal. Alles wird ordentlich bilanziert, geprüft und tes‐
tiert.“ Ich erschauderte. „Dein Vater hat Herbert gut gekannt“, sagte ich. „Allerdings. Und dann kam es zwischen den beiden zum Showdown oder so was Ähnlichem. Herbert wollte, dass ich K.O. dazu bringe, das Un‐
vermeidliche aufzuhalten. Herberts Kopf war der Erste, der nach dem Desaster gerollt wäre.“ Ich war erleichtert. Also hatte Herbert sich doch nicht meinetwegen umgebracht. Dann schaute Victor mich an: „Was hattest du mit Herbert zu schaffen?“ Ich wurde rot, schluckte und räusperte mich. Dann sagte ich: „Er war mein Chef.“ „Aha, dein Chef. Da du offensichtlich keine Ban‐
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kerin bist, arbeitest du also bei dieser überaus nützlichen Sparerpostille. Wären ein paar Einbli‐
cke ins Bankgeschäft nicht ein Thema für ‚Geld+Finanz’? Ihr seid doch Verbraucherschüt‐
zer.“ Victor lachte diabolisch und fragte: „Warum beschäftigt Herbert dich so sehr?“ Mir kamen die Tränen. „Da war noch mehr, stimmt’s? In Herberts Ehe hat es ja mächtig gekracht.“ Ich wich Victors Augen aus und sagte: „Auch mich hat er um Hilfe angebettelt. Er wollte, dass ich mit ihm herkomme. Warum, weiß ich nicht. Er meinte, er müsse hier ein Desaster aufhalten und das könne er nur mit mir.“ „Und? Warum hast du ihm nicht geholfen?“, bohrte Victor nach. „Ich habe seinen Anblick nicht mehr ertragen. Er war nur noch ein Häufchen Elend. Mir wurde schlecht, wenn ich ihn sah. Außerdem hätte ich hierher kommen müssen.“ Mir wurde heiß. „Vielleicht brauchte er einfach nur ein bisschen Trost und Beistand? Vielleicht hättest du meinen Vater überzeugen können?“, sagte Victor. Ich schwieg. 360 „Und? Warum bist du jetzt hier?“, hakte er nach. Ich schämte mich. Weil dein Vater ein Alpha‐
Doppelplus‐Mann und kein Jammerlappen wie Herbert ist, wollte ich sagen und konnte es nicht. Victor ging wieder in Richtung Auto. Es wurde kalt. Ein scharfer Wind kam auf und peitschte den Sand gegen meine Beine. „Warte“, rief ich ihm nach. Ich holte ihn ein, griff ihn am Arm und er wirbelte zu mir herum. „Ich will wissen, was da vor sich geht in dieser Reuba“, sagte ich. „Was ist dir lieber? Dein Frieden und dein Welt‐
bild? Oder eine Wahrheit, die dir keiner glaubt? Eine, die keinen interessiert, weil alle schon Be‐
scheid zu wissen glauben, eine Sauerei, die so rie‐
sig und offensichtlich ist, dass sie keiner mehr sieht?“ „Ich kriege es sowieso heraus“, sagte ich trotzig. „Genieß deinen Urlaub. Und dann geh wieder arbeiten. Es muss ja auch noch solche Leute ge‐
ben“, spottete er. „Du solltest dir endlich einen Job suchen. Bringt dich wieder auf die Erde zurück und auf andere Gedanken“, hielt ich dagegen. „Ich werde dir zeigen, wo die Erde ist, du Stadt‐
kind! Ich habe nichts anderes gelernt, als Geld zu 361
machen und selber zu denken. Ich bin gefährlich. Keiner würde mich einstellen. Außerdem kann ich es nicht verantworten, anderen kostbare Arbeit wegzunehmen.“ Ich musste mit Banz sprechen. Gegenrecherche. War das wahr, was Victor da vom Geldmachen fa‐
selte? Stand er unter Drogen? Hatte er Wahnvor‐
stellungen? Eine sprudelnde Phantasie? Ich suchte mein Handy, doch das hatte ich im Haus gelassen. „Ich muss telefonieren“, sagte ich zu ihm. „Wozu?“ „Beruflich. Es ist wichtig. Fahren wir.“ „Immer auf Arbeit, nicht wahr?“ „Du kannst von mir aus Urlaub machen, bis du grau bist.“ „Du machst alles kaputt“, sagte er. Dann packte er die Sachen ins Auto, klappte die Sitzbank hoch und setzte sich ans Steuer. Als wir wieder auf der befestigten Straße waren, hielt er an. „Rutsch rü‐
ber, ich habe keine Lust, zu fahren“, sagte er. Ich steuerte den Wagen durch die Nacht. Victor schob eine Kassette ins Uralt‐Autoradio. Es lief „Girl“ von Beck. Ab und zu gab er die Richtung an, in die ich abbiegen musste. Er beobachtete mich. „Du siehst schön aus, wenn du so ange‐
strahlt wirst. Das Leben könnte so einfach sein. 362 Und so schön“, sagte er. Ich schaute auf den hell erleuchteten Tachome‐
ter, dann Victor ins Gesicht. „ Wenn ich so ange‐
strahlt werde... Danke für das Kompliment.“ Victor schreckte auf und brüllte: „Achtung, jetzt scharf rechts!“ Ich trat auf die Bremse und wäre fast an der Ab‐
zweigung nach Klein‐Muselkow vorbeigerauscht. Ich lenkte die Tschaika in eine rabiate Kurve, doch sie schlitterte auf dem herumliegenden Kies gera‐
deaus weiter. Dann landeten wir im Straßengra‐
ben. Im Radio lief immer noch Beck: „Everybody’s Gotta Learn Sometime“ und der Motor blubberte vor sich hin. Meine Oberlippe blutete. „Scheiße“, sagte ich. Ich legte den Rückwärts‐
gang ein, doch die Hinterräder drehten durch. Es stank nach heißem Gummi. Victor stieg aus und schaute unter den Wagen. „Wir sitzen fest. Alleine kommen wir hier nicht weg“, stellte er fest. Ich ließ meinen Kopf auf das Lenkrad sinken und schloss die Augen. Victor warf die Beifahrertür zu und lief in die Dunkelheit davon. Ich rief ihm nach: „Wo willst du hin?“ 363
„Nach Klein Muselkow. Da gibt’s einen Trak‐
tor.“ „Und ich? Soll ich hier alleine rumsitzen?“ „Mach, was du willst“, rief er. Ich zog den Schlüssel ab und stieg aus. Dann lief ich ihm hinterher. „Tut mir leid. Aber du wolltest, dass ich fahre“, sagte ich zu ihm. „Das hilft uns nicht weiter. Hoffentlich ist noch jemand wach“, gab er zurück. Es war kalt und neblig. Victor gab ein mörderi‐
sches Tempo vor. Dunkle Schatten huschten über die Straße. „Warum rennst du so?“, fragte ich ihn. „Bist du schon mal mit einer führenden Bache aneinandergeraten?“ „Mit einer ... was?“ „Mit einem Wildschwein, weiblich und mit klei‐
nen Wildschweinchen. Die sind furchtbar süß und man nennt sie Frischlinge. Manche haben so eine Begegnung nicht überlebt“, sagte er. Immer wieder hatte ich gelesen, dass die Schwarzkittel Berlin nach und nach erobern, aber ich hatte noch nie ein lebendiges Wildschwein ge‐
sehen und kam mir dämlich vor. Wie ein Stadtkind eben. 364 Etwa eine halbe Stunde später hatten wir den Ort erreicht. Unterm Dach des Ferienhauses brann‐
te noch Licht. Doris und Max haben bestimmt ein Festnetz‐Telefon, dachte ich. „Kann ich irgendwie helfen?“, fragte ich Victor. „Nein. Geh arbeiten. Ich suche jetzt jemanden, der den Wagen wieder flottmacht.“ „Du machst alles kaputt“, so hallten mir Victors Worte immer wieder durch den Kopf. Ich fühlte mich schuldig und schlich zum Haus am See. Man sollte hier nie ohne Taschenlampe aus dem Haus gehen, dachte ich, als ich wieder durch die Dun‐
kelheit stolperte. 365
Die Schnecke Ein wenig Licht fiel durch das Fenster oberhalb der Tür. Das erleichterte mir die Orientierung in der Finsternis. Ich fand keine Klingel und so klopfte ich an, aber es tat sich nichts. Ich drückte die Klin‐
ke nach unten und öffnete die Tür einen Spalt breit. „Hallo? Jemand da?“, rief ich. Keine Antwort. Ich kletterte die Stiege nach oben ins Dachge‐
schoss und betrat eine spärlich beleuchtete Wohn‐
küche. Sie wirkte wie ein Museum aus Bauernmö‐
beln und Geschirr aller Epochen, das sämtliche Ablageflächen belegte – abwechselnd mit Zei‐
tungsstapeln, Konserven und Flaschen. Auf dem Tisch standen die Reste einer warmen Mahlzeit. Es sah nach Familie aus. Ich fühlte mich unbehaglich, wie ein Eindringling. Eine merkwürdige Gegend ist das, wo es außen kein Licht und keine Klingeln gibt und man die Haustüren nicht abschließt, dachte ich. Die Tür zum Badezimmer öffnete sich und heraus kam ein Backfisch im Bademantel und mit einem Handtuchturban auf dem Kopf. „Hallo, Entschuldigung, dass ich hier so reinge‐
platzt bin, aber ich habe keine Klingel gefunden und die Tür stand offen. Habt ihr mich nicht rufen 366 hören?“, fragte ich. Die junge Dame schaute mich kurz an, mar‐
schierte schnurstracks durch die Küche und ver‐
schwand auf der anderen Seite in einem Zimmer. „Ich wollte fragen, ob ich hier mal das Tele‐
fon...”, rief ich ihr hinterher. Gut, dann klappere ich eben alle Zimmer ab, bis ich einen normalen Menschen finde, dachte ich. Und klopfte an der erstbesten Tür neben mir. „Ja?“, tönte es von drinnen. Ich ging hinein. Es war eine Mischung aus Schlafzimmer und Büro. Auf dem Boden saß eine Art Waldschrat mit Rau‐
schebart und wild wuchernden Strähnen auf dem Kopf. Er hielt seine Arme in die Luft gestreckt und darum herum wickelte eine Frau Mitte vierzig Wolle auf. Ihre Bewegungen und ihre Mimik hat‐
ten etwas Ruckartiges, Nervöses. Beide schauten mich entgeistert an. „Mahlzeit!“, sagte der Waldschrat zu mir. „Entschuldigen Sie, aber ich habe keine Klingel gefunden und die Tür stand offen. Hier gibt es keinen Handyempfang, darf ich bei Ihnen mal tele‐
fonieren?“, wiederholte ich. Die Frau wickelte weiter. „Telefon steht draußen“, sagte sie. „Danke.“ Ich schloss die Tür und suchte den 367
Apparat. Ich entdeckte das Anschlusskabel und folgte ihm zwischen Ablagerungen aus Geschirr und Papierstapeln. Ich wählte Herberts Nummer und hoffte, dass Banz das Handy bei sich trug. Er hob tatsächlich ab. „Wie gefällt es Ihnen? Erholen Sie sich gut?“, fragte er mich. „Ein richtiger Abenteuerurlaub ist das. Voller Überraschungen”, spottete ich. „Und Ihr Sohn ist irgendwie ein wenig seltsam...“ „Victor? Ach, er ist im Ferienhaus? Das wusste ich gar nicht”, antwortete Banz. „Er faselt dauernd davon, dass er Geld macht und dass da was ganz Großes auf uns zukommt.“ „Ach, das hat er Ihnen schon erzählt?“ „Ist das wahr, das mit dem Geldmachen? Geht das so einfach?“ „Naja, es gibt da so verschiedene Wege...“ „Und dieses Desaster, von dem Herbert erzähl‐
te?“ „Ist unterwegs.“ „Können Sie mir mehr darüber erzählen?“ „Aber gerne doch. Die Frage ist, ob Ihnen je‐
mand glaubt, wenn Sie darüber schreiben. Ist au‐
ßerdem alles kein Geheimnis; interessiert aber niemanden.“ 368 „Wann sehen wir uns?“ „Ich kann hier vorerst noch nicht weg. Wir ha‐
ben immer noch die BaFin im Haus. Aber sie sind auf der falschen Spur.“ „Wen meinen Sie mit ‚sie’? Wer ist auf der fal‐
schen Spur?“, fragte ich ihn. „Sie, ich meine Sie jetzt als Anrede, Sie sind je‐
denfalls auf der Richtigen. Und? Wissen Sie be‐
reits, warum Herbert...?”, fragte Banz. Mir platzte der Kragen. „Sie sind ein beschissener Reiseveranstalter. Sie schicken mich eine Gegend, wo es noch nicht ein‐
mal Handyempfang oder Außenbeleuchtung gibt, ins Land der Rindviecher und Neonazis, die mich verfolgen und mein Rad demolieren, das gebuchte Appartement ist von einem Irren belegt und diese Herbert‐Gruselstory verfolgt mich bis hierher. Wenn Sie nicht sofort hierher kommen und das al‐
les in Ordnung bringen, komme ich nach Berlin und dann werde ich Ihnen und Ihrer Reuba auf den faulen Zahn fühlen. Das stinkt ja bis hierher!“, schimpfte ich. Banz lachte. Ich hörte durchs Telefon, wie er sich den Schenkel klopfte. „Sie gefallen mir immer bes‐
ser“, sagte er. Ich knallte den Hörer auf die Gabel und schnauf‐
369
te. Dann raufte ich mir die Haare. Mein ganzer Körper kribbelte. Verflucht nochmal, wo war ich hier nur hingeraten? Ich hing zwischen zwei Kö‐
dern und wusste nicht, wo ich zuschnappen sollte. An wessen Leine würde ich baumeln? Durchs Fenster sah ich, wie ein Traktor in Rich‐
tung Tschaika vorbeifuhr. „Du machst alles ka‐
putt”, diese Worte hörte ich immer wieder. Ich schlich nach unten, schloss die Tür zur Fe‐
rienwohnung auf, und zündete die Kerzen auf dem fünfarmigen Leuchter an. Damit lief ich durch die Wohnung. Fünffache Schatten wanderten um‐
her. Alles war in warmes Licht getaucht. Ich ging ins Schlafzimmer. Ein kuscheliges Liebesnest ist das, wie romantisch, so ein Himmelbett, dachte ich. Und dann betrachtete ich wieder dieses Bild an der Wand, die masturbierende Frau, das gaf‐
fende Publikum und diesen Phallus von Wolken‐
kratzer. Ich ließ meine Hand über die Kurven der Schneiderpuppe gleiten. Da reichte ich nicht heran, noch nicht mal im Korsett. Ich kramte es aus mei‐
nem Gepäck hervor und legte es ihr an. Die Schnü‐
rung klaffte oben und unten stark auseinander. Ich stellte den Leuchter auf den Boden und zog mich aus. Dann stellte ich mich vor den Spiegel 370 und betrachtete mich. Definitiv: Ich musste wieder etwas auf die Rippen bekommen. Vielleicht käme auch meine Periode wieder in Gang, dachte ich. Ich kuschelte mich ins Bett und schlief ein. Das Geklapper von Geschirr weckte mich am nächsten Morgen. Durch die Tür sah ich, wie Vic‐
tor den Frühstückstisch deckte. Ich traute mich nicht, aufzustehen, schämte mich, hatte ein schlechtes Gewissen. Schließlich zog ich mich doch an und schlich zu ihm. Er saß bereits am Tisch und mampfte gekoch‐
te Eier, Käse, Schinken und Müsli. „Ich habe dir gestern Nacht noch ein bisschen beim Schlafen zugeschaut”, sagte er. „Ach, mehr kannst du mit mir wohl nicht anfan‐
gen?“, platzte ich heraus. „Was hast du denn erwartet? Nun setz dich schon“, sagte er mit vollem Mund. „Was ist mit dem Auto?“, fragte ich. „Fährt noch. Das bekommt man wieder hin. Kos‐
tet nur Geld, also egal“, sagte er. Ich setzte mich. „War ja ein schönes Arrangement von dir, ges‐
tern Abend im Schlafzimmer. Kerzenlicht, im Bett eine nackte Esther und dann dieses schicke Teil da auf der Figur. Trägst du das auch mal?“ 371
„Manchmal schon.“ „Ist das so ’ne Art Arbeitskleidung?“ Er grinste mich an. „Nicht nur Huren tragen so etwas, falls du dar‐
auf anspielst.“ „Wär ja auch viel zu schade. Passt gut zu einer Fruchtbarkeitsgöttin. Und zum Unterrock der Grä‐
fin.“ Der Rock an der Puppe gehörte der Gräfin? Mich gruselte. Fruchtbarkeitsgöttin? Wen meinte er? Ich presste meine Oberschenkel zusammen. Und dann schoss mir das Wort „Kind“ durch den Kopf: Ver‐
dammt, der Vogel! Den hatte ich völlig vergessen. Ich rannte nach draußen. Und fand auf dem Bo‐
den ein paar Federn und einen ausgerissenen Flü‐
gel. Ich sackte auf die Knie, nahm die Überreste vorsichtig in die Hand und schlich zu einem frisch gepflanzten Apfelbäumchen. Ich grub eine kleine Mulde in den losen Sand und griff in einen Haufen Katzendreck. Ich begann, Katzen zu hassen. Dann versuchte ich es im Blumenbeet daneben und begrub die Überreste meines Spatzen. Victor stand hinter mir. Ich drehte mich zu ihm um und er nahm mich in den Arm. „Ich wäre keine besonders gute Mutter“, sagte 372 ich und heulte. Dieser Typ machte mich fertig. Eigentlich warte‐
te ich auf Banz und wollte ein richtiges Kind von einem richtigen Mann. Stattdessen weinte ich um einen Spatzen und ließ mich von einem Kindskopf mit allen Leckereien mästen, die der Landstrich hergab. Er servierte mir Suppe aus den Fischen, die der Angler von neulich aus dem See gezogen hatte. Es gab Brot aus dem Dorfbackofen, Eier von den Hühnern, die im Garten herumliefen, Wild‐
schweinschinken und Wurst von Schafen und Schweinen vom Biohof, Mus und Marmelade von Äpfeln, Birnen und Mirabellen von den Alleen am Straßenrand, Bratkartoffeln mit Zwiebeln aus dem Garten, selbst gemachtes Sauerkraut mit fiesen kleinen Blutwürstchen, die einfach göttlich schmeckten. Ich versackte in einer Art ländlichem Delirium aus seit Langem mal wieder durchschlafenen Nächten im Himmelbett, Wanderungen zu Hügel‐
gräbern, Ruinen und tausendjährigen Bäumen, am Strand verbummelten Tagen und Nächten in der Tschaika an den Klippen der Steilküsten. Ich wuss‐
te nicht mehr, welcher Wochentag es war, ge‐
schweige denn das Datum. Ich bemerkte meine to‐
373
tale Medienabstinenz noch nicht einmal. Warum tat er das alles, rührte mich im Bett aber nicht an? Los, mach mir ein Kind, aber schnell, forderte mein Körper. Du bist jung, wa‐
rum zum Teufel kriegst du keinen hoch? „Der Typ ist ein Nichtsnutz, ein Abhänger, ein Niemand“, so herrschte die Stimme in meinem Kopf mich an. „Mach Karriere und greif dir auf dem Weg nach oben den Alphamann ab, den du verdienst!“ Dann hielt ich es nicht mehr aus. Victor lag be‐
reits im Bett. Ich zog mich aus, nahm das Korsett von der Schneiderpuppe und legte es mir an. Dann stellte ich mich in den Raum und befahl Victor: „ICH bin hier die Fruchtbarkeitsgöttin. Los, schnür mich ein, bevor es nicht mehr zugeht, so wie du mich mästest.“ Er schaute mich entgeistert an. „Gefalle ich dir immer noch nicht? Meinst du, du kriegst immer noch blaue Flecken?“, wollte ich wissen. „Und ich? Gefalle ich dir? Oder hältst du es ein‐
fach nicht mehr aus? Du stehst doch auf meinen Vater. Der ist jemand, hat einen richtigen Beruf, kann von sich behaupten, dass er arbeitet. Ihr passt gut zusammen“, sagte er leise. Und dann kaum 374 hörbar: „Ich, ich bin doch niemand.“ Aha, schon wieder ein Auszug aus „Wir Wun‐
derkinder“. Mein Text wäre jetzt gewesen: „Du bist sehr viel, wenn du mein Mann bist!“ Bevor ich den Mund aufmachen konnte, fiel mir die Stimme in meinem Kopf ins Wort: „Ein Jammerlappen! Kindskopf! Abhänger!“, dröhnte sie. Ich schnürte mich selber. Mein Körper platzte vor Geilheit. Ich sank in die Knie und griff mir zwischen die Schenkel. Fehlte nur noch, dass mir Tausende zuschauten, wie auf dem Bild. Mein Körper kroch zum Bett und legte sich zu ihm. Und wieder hörte ich sie: „Geh arbeiten! Du bist wahnsinnig, wenn du seinetwegen deine Karriere sausen lässt!“ Meine Hände schoben Victors Bettdecke beiseite. Sie griffen nach seinem Schwanz, der ein bisschen hart war, mein Mund wanderte zu seiner Spitze und es roch nach Sperma, eindeutig. Ich schaute auf: Da lag ein Taschentuch. Und das war feucht und verströmte diesen pilzigen Geruch. Ich schrie und schlug ihn ins Gesicht. Dann warf ich ihn mit Fußtritten aus dem Bett. Er verdrückte sich schweigend nach nebenan aufs Sofa. 375
Ich riss mir das Korsett vom Körper und heulte mich in den Schlaf. Am nächsten Morgen war Vic‐
tor weg. Ich suchte ihn, doch fand ihn nicht. Ich streifte umher und wieder dachte ich an das Hohe‐
lied. Ich fand ihn schließlich auf einer Baustelle. Es war ein Anbau an ein kleines Bauernhaus – das von Max, wie ich später erfuhr. Victor schaufelte mit nacktem Oberkörper Sand und Zement in einen Betonmischer. Dann kippte er den Inhalt der Trommel in eine Schubkarre, fuhr die wabbelige Ladung zu einem eingeschalten Fundamentstreifen und kippte sie hinein. Immer wieder. Er beachtete mich nicht. Die Muskeln arbeiteten unter seiner Haut, die Adern quollen aus seinen Armen hervor und er schwitzte wie ein Tier. „Ist das Arbeit?“, fragte er mich irgendwann. „Wie viel bekommst du dafür?“, fragte ich ihn. „Garnichts. Außer vielleicht die Freundschaft von Max. Ich kann mir das leisten.“ Dann stellte er die Schubkarre hin und sagte: „Ich mache dir einen Vorschlag. Du tust jetzt mal meine Arbeit und ich im Gegenzug dafür deine. Was hältst du davon?“ Mir wurde schwindlig. Victor kippte eine neue 376 Ladung Beton in die Karre und wartete. Ich packte an und versuchte, sie anzuheben. Doch nichts bewegte sich. Dann nahm ich all mei‐
ne Kraft zusammen und wuchtete sie hoch. Ich schwankte und der Beton schwappte über den Rand. Ich hatte das Gefühl, im Boden zu ver‐
sinken. Ich setzte einen Fuß vor den Anderen und schob. Doch nichts passierte. Ich schob noch fester. Dann setzte sich das Gefährt mit einem Ruck in Bewegung und das Gefälle zog mich in Richtung Baustelle hinab. Ich stolperte hinterher und plumpste mitsamt der Karre in die Schalung voller flüssigem Beton. „Mahlzeit!“, sagte Max, der daneben stand und seine Kippe in den Beton schnippte. Victor half mir aus der Grube. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus und weichte meine Sa‐
chen in einem Eimer mit Wasser ein. Victor spritz‐
te mich mit einem Wasserschlauch ab, ging ins Haus und kam nach einer Weile mit einer specki‐
gen Tarnfleckhose, einem löchrigen Karohemd und ausgelatschten Bundeswehrstiefeln wieder. Die zog ich an. Ich kam mir vor, wie eine Vogel‐
scheuche und stolperte in den viel zu großen Kno‐
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belbechern herum. Dann teilten wir uns die Arbeit: Ich schaufelte Sand und Zement und er schob die Karre. Der Schweiß floss in Strömen und wir tranken Wasser aus dem Schlauch. Immer wieder wummerten dumpfe Bässe zu uns herüber. Sie kamen von diesem Opel Kadett, der an der Bushaltestelle wartete. Den kannte ich schon. Darin saßen die Jungs vom Begrüßungsko‐
mitee. „Haben die nichts zu tun?“, fragte ich Victor. „Die könnten doch auch helfen.“ „Nee, die warten auf die Mädels“, sagte er. „Ir‐
gendwann hauen die auch wieder ab, wenn keine Weiber kommen.“ „Und diese Langhaarigen, die hier immer durchs Dorf laufen? Sind das Hippies?“ „Das sind keine Hippies. Das ist die Familie“, klärte Victor mich auf. „Die Familie? Welche Familie?“ „Denen gehören hier ein paar Häuser. Sie sind so eine Art Wahlverwandtschaft oder Sippe.“ „Du würdest gut dazu passen, so wie du aus‐
siehst“, sagte ich. „Warum lebst du nicht bei ih‐
nen?“ „Die wollen keinen einsamen Wolf in ihrem 378 Stall. Wäre ich eine schöne junge Frau, sähe das anders aus. Du hättest vielleicht gerade noch Chancen. Wenn du ihnen dein Alter nicht auf die Nase bindest.“ Ich schwieg und fragte mich, ob das schon wie‐
der so ein Kompliment war. Diese Freaks interessierten mich. Und ich fühlte mich irgendwie von ihnen beobachtet. Am Abend waren meine Hände voller aufge‐
platzter Blasen, ich hatte Sonnenbrand und meine Arme und mein Rücken schmerzten. Ich schaffte es gerade noch, mir die Staubschicht abzuduschen. Victor bekochte mich. Ich weiß nur noch, dass es viel war und ich schaufelte es in mich hinein. Dann fiel ich ins Bett. Mein Denken stand still und mein geschundener Körper zog mich in die samt‐
schwarze Tiefe hinab. Während ich es am nächsten Morgen vor Schmerzen kaum aus dem Bett schaffte, hatte Vic‐
tor bereits mein Fahrrad aus der Werkstatt abge‐
holt und das Frühstück vorbereitet. „Und? Wie fühlst du dich? Es gibt Leute, die fah‐
ren mit dem Auto ins Fitnessstudio, sind aber zu faul, im Garten ihre eigenen Äpfel aufzuheben und beklagen sich, dass die Äpfel aus Neuseeland aus dem Supermarkt und der Sprit zu teuer sind. Mein 379
Fitnessstudio hat zwei Räder. Heute reiten wir aus“, sagte er. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie ich mich fühlte. In meinem Unterleib rumorte es. Mein Fahrrad war wieder wie neu. Victor holte aus dem Schuppen im Garten ein DDR‐Rad ohne Gangschaltung, Marke „Diamant“. Dann fuhren wir über Alleen und Sandpisten, vorbei an Rin‐
derweiden und durch Wälder. Immer wieder war‐
tete Victor auf mich, weil meine Rennbereifung ständig im Sand und Morast stecken blieb. „Wir sind da“, sagte er nach einer Weile. Wir verließen den Wald und vor uns lag ein sanftes Tal, das sich zum Meer hin öffnete. Unten standen ein paar Häuser mit Reetdach und einer riesigen Dorflinde in der Mitte; in der Ferne sah man ein Ufer mit dichtem Schilfbewuchs und Bootsstege mit Fischerkähnen. Wir gingen den Abhang ins Tal hinab und kamen zu einem gur‐
gelnden Bach, der durch eine sattgrüne Wiese mit Nestern aus gelben und blauen Blumen floss. Ich schaute mich um: Keine Jungbullen zu sehen. „Das ist ein Traum“, sagte ich. „Kein Traum. Das ist ein Wiesengrund. Und zwar der zweitschönste auf der Welt”, antwortete Victor. 380 „Und wer ist der Schönste?“, fragte ich ihn, schaute ihn an und klimperte mit den Wimpern. Victor lachte und ließ sein Fahrrad hinfallen. Dann packte er meine Fahrradtasche aus und drapierte eine karierte Wolldecke und das Picknick auf die Wiese: Brot, Käse, Wurst, eine Thermoskanne mit Kräutertee, Rhabarberkuchen. Ich sank neben ihm zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Dann schaute ich in den Himmel und sah die Wolkenschiffe vorbeiziehen. Die Bie‐
nen summten und das Gluckern des Baches mach‐
te mich schläfrig. Ich blickte zu Seite: Victor lag mit aufgestütztem Kopf neben mir und betrachtete mich. Er hatte sich wieder einen Bart wachsen las‐
sen. Wir schwiegen. Ich betastete mit meinen Fingern sein Gesicht, fühlte die Falten auf seiner Stirn und schloss die Augen. Dann spürte ich seinen warmen Atem auf meiner Wange. „Wir könnten ein Paar sein, Kinder haben“, flüs‐
terte er mir ins Ohr. Er legte einen Finger auf mei‐
nen Arm und ich schaute nach: Träge, weich und schleimig kroch eine Schnecke darauf entlang. „So wirst du einmal enden“, bellte die Stimme 381
durch meinen Kopf. „Nein“, sagte ich. „Ich werde wieder nach Berlin fahren und arbeiten gehen.“ „Bist du das? Du klingst so seltsam”, sagte Vic‐
tor. Ich sprang auf. Feuchtigkeit drang durch den Schritt meiner Hose. Es war Blut. Monatsblut. Das Ziehen zwischen meinen Beinen machte mich wahnsinnig. „Ich muss nach Hause, sofort“, stammelte ich. Im Stehen trat ich in die Pedale, während der erste Ausfluss seit fast einem Jahr meine Beine hinab rann. Mein Körper triumphierte, während die Stimme in meinem Kopf immer wieder rief: „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ Victor holte mich ein; er hatte das Picknick zu‐
sammengerafft und die Fahrradtasche an seinen Gepäckträger gehängt. Kurz vor Klein Muselkow überholte uns ein Traktor, der einen alten japani‐
schen Kombi mit einem verbeulten Kotflügel hin‐
ter sich her zog. Die Heckklappe dieses Wagens stand offen; im Laderaum lag ein totes Wild‐
schwein. Als wir wieder im Ferienhaus waren, besorgte Victor mir bei Doris Slipeinlagen, während ich mich duschte und umzog. 382 „Heute Abend gibt es Wildschwein, so richtig am Lagerfeuer, wie bei Asterix und Obelix“, er‐
zählte er mir durch die Badezimmertür und reichte mir die Binden nach drinnen. „Das Auto vorhin am Abschleppseil war übrigens das von Doris und Max. Die Nachbarsjungs haben damit eine Spritz‐
tour über den Acker gemacht und Wildschweine gejagt. Eins haben sie angefahren und sind dann in einem Graben gelandet. Dann haben sie sich zu Fuß davongemacht und das arme Tier einge‐
klemmt zurückgelassen. Bis der Jäger kam und es erschossen hat.“ Es war das erste Wildschwein, das ich in natura zu Gesicht bekam – wenn auch tot. Die Haut hing bereits aufgespannt in der Sonne und der Jäger war dabei, den Kadaver zu zerlegen. Der Kopf war abgetrennt und die Augen ohne Lider glotzten mich an. In einer Zinkwanne lagen Darmschlin‐
gen, das Herz, die Leber, Lunge Magen. Der Dorf‐
backofen wurde bereits vorgeheizt. Ein anderer di‐
cker Mann mit einem grauen, buschigen Pferde‐
schwanz schmierte die von den Knochen geschäl‐
ten dunkelroten Fleischbatzen mit Marinade ein und legte sie in großen Brätern ab. Am Abend saßen die Dörfler ums Lagerfeuer herum und verschlangen mit bloßen Fingern die 383
dampfenden Fleischbrocken. Man hörte nur ein gefräßiges Schmatzen und Schnaufen. Mit archai‐
scher Lust grub ich meine Zähne ins braunrote Fleisch und schlang auch das glasige Fett mit Ge‐
nuss hinunter. Dazu gab es Rotwein und selbst ge‐
brannten Schnaps. Victor und ich schafften es auf allen Vieren wie‐
der nach Hause und fanden uns mit zum Platzen vollen Schweinefleischbäuchen auf dem Bett wie‐
der, unfähig zu weiteren Bewegungen. Es war das erste Mal, dass ich ihn schnarchen hörte. „Du stinkst nach Wildschwein und Alkohol. Du denkst nur noch ans Ficken, Fressen und Kinder‐
werfen”, so bellte es durch meinen Kopf. Banz. Ich musste Banz anrufen. Ich ließ mich aus dem Bett fallen und kroch wie ferngesteuert aus dem Haus und dann die Treppe zu Doris und Max nach oben. Es war still und dunkel. Ich griff das Telefon und wählte Herberts Nummer. „Ich muss Sie treffen, es ist dringend“, flehte ich, nachdem Banz abgehoben hatte. „Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?“, fragte er. Es war mir egal. „Ich werde nicht mehr nach Klein Muselkow kommen. Hier kocht was hoch und das wird sich bald entladen“, sagte Banz. 384 Entmietet Das Schweinefleisch und der Alkohol drängten nach oben. Den Weg nach unten in die Ferienwoh‐
nung hätte ich nicht mehr geschafft und so entleer‐
te ich mich ins Klo von Doris und Max. Hinterher war mir noch übler. Ich ekelte mich vor dem, was ich erbrochen hatte und hätte gern auch den restlichen Inhalt meines Körpers ausge‐
kotzt. Oder noch besser mich selber als Ganzes mit hinuntergespült. Ich war außer mir. Ich musste nach Berlin. So schnell wie möglich. In diesem Kaff würde ich als voll gefressenes, schneckenartiges Muttertier en‐
den. Bekleidet mit einer DDR‐Kittelschürze, wie ich sie bei den vietnamesischen Billigläden gese‐
hen hatte. Ob die noch hergestellt wurden? Waren das Restbestände des VEB Plaste und Elaste Schkopau? Mit lila Blümchen auf grünem Grund oder doch lieber in Rot und Türkis? Ich trommelte an die Tür des Zimmers, in dem ich zuletzt Doris und Max beim Wolleaufwickeln getroffen hatte. Sie öffnete sich und ein zerknitter‐
ter Max schaute mich an. „Mahlzeit!“, grunzte er. „Ich muss so schnell wie möglich nach Berlin. 385
Das ist ein Notfall“, sagte ich. „Der nächste Zug fährt erst morgen früh“, brummte er und machte bereits wieder in Rich‐
tung Bett kehrt. „Es ist doch schon halb vier“, wandte ich ein. „Halb vier? Du hast vielleicht Nerven“, schimpf‐
te er. „Außerdem ist das Auto beim Wildschwein‐
jagen demoliert worden. Ich muss das erst richten. Aber nicht jetzt.“ „Ich helfe dir dabei“, flehte ich. „Bitte, es ist dringend.“ „Warum fährt Victor dich nicht zum Bahnhof?“, fragte Max. „Äh, ja, also, das geht nicht.“ „Warum nicht? Der hat doch seine Tschaika.“ „Die ist kaputt“, übertrieb ich. „Was ist denn so dringend?“, fragte er. „Ich muss nach Berlin, weil...“ Ich zögerte. ...meine Aufseherin mich zur Arbeit peitscht. Ich muss eine große Story schreiben über diesen Wahnsinnigen da unten und diesen Banz und die‐
sen Saustall Reuba. So schoss es mir durch den Kopf. „Eine familiäre Angelegenheit, sozusagen“, sagte ich. Immerhin ging es um Vater und Sohn. Das ist ja auch Familie, wenn auch nicht die meine. 386 Max fixierte mich. „Was ist denn da los?“, rief Doris von drinnen. „Nu komm schon wieder ins Bett.“ „Bitte”, jammerte ich. „Ein Notfall“, rief Max nach drinnen. Er zog sich seine Hosen und seine Fellweste über, stieg in sei‐
ne Gummistiefel, griff eine Taschenlampe und dann stapften wir durch die Dunkelheit zur Bau‐
stelle, auf der ich mit Victor Beton gemischt hatte. Da stand Max’ und Doris’ Auto. Der rechte vor‐
dere Kotflügel war eingedrückt und schleifte am Reifen. „Wenn wir uns beeilen, kriegen wir das rechtzei‐
tig hin. Der erste Zug fährt um kurz nach fünf“, sagte Max. Er stellte einen Baustrahler auf und rammte vor dem Auto mit dem Vorschlaghammer einen Pflock in den Boden. Dann holte er einen Flaschenzug und hakte ihn zwischen Pflock und Kotflügel ein, leierte an der Kurbel und zog das Blech so weit in Form, dass der Wagen wieder fuhr. Ich holte mein Rad und meine Sachen. Ich schlich in der Wohnung umher, um Victor nicht aufzuwecken. Er schnarchte immer noch. „Der Wagen zieht schief“, sagte Max, als wir auf der Landstraße nach Anklam waren. Und nach ei‐
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ner Weile: „Guck mal nach hinten.“ Ich drehte meinen Kopf und sah im Schein der aufgehenden Sonne hinter dem Auto eine Schlep‐
pe aus Dampfwolken. „Der Kühler leckt. Weit kommen wir damit nicht mehr“, erklärte Max. Er fuhr immer langsamer. Dann hielt er an. „Muss ein bisschen abkühlen. Sonst gibt’s einen Kolbenfresser und dann kannst du die letzten Ki‐
lometer mit deinen Klamotten laufen.“ Er öffnete die Motorhaube. „Hast du was zu trinken dabei?“, fragte er mich. Ich kramte meine Wasserflasche hervor und reichte sie ihm. Er füllte den Inhalt in den Kühler. Wir fuhren um fünf Uhr sechs auf dem Bahn‐
hofsvorplatz vor, der Zug kam um fünf Uhr sie‐
ben. Ich schaffte es nicht mehr, einen Fahrschein zu kaufen, rannte mit dem Gepäck und dem Fahr‐
rad dem einfahrenden Zug entgegen und wuchtete alles hinein. Ich wollte Max noch aus dem Fenster zuwinken, aber er hatte schon kehrt gemacht und war vom Bahnsteig verschwunden. Die einzigen Leute in diesem Zug waren ich, der Lokführer und der Schaffner, so schien mir. Als er mich kontrollierte, erklärte ich ihm wortreich, wa‐
rum ich es nicht mehr geschafft habe, einen Fahr‐
388 schein zu kaufen. Er nannte den Fahrpreis und ich erschrak. „Warum ist das denn so teuer? Letztes Mal habe ich viel weniger bezahlt“, wunderte ich mich. „Letztes Mal? Das muss vor über einem Monat gewesen sein. Preiserhöhung. Seien Sie froh, dass ich von Ihnen nicht 100 Euro kassiere“, sagte er. Ich war also mindestens einen Monat lang in Klein‐Muselkow gewesen? Um Himmels Willen, dachte ich. Wann würde Victor mich vermissen? Ob er schon nach mir suchte? Er würde mich nicht errei‐
chen, er wusste ja noch nicht einmal meinen Nach‐
namen. Aber Banz wusste fast alles über mich. Auf jeden Fall mehr, als mir lieb war. Vielleicht sogar mehr als ich selber. Ich musste mir diesen Banz vornehmen. Mein Handy war tot. Ich hatte den Akku immer noch nicht aufgeladen. Also sah ich zu, dass ich so schnell wie möglich nach Hause kam. Mir grauste vor meiner Mailbox und meinem Briefkasten. Ein seltsames Kribbeln kam über mich, als der Zug nach Berlin einfuhr. Es steigerte sich zu einem Zustand wunder Gereiztheit, als ich im Untergeschoss des Hauptbahnhofes ausstieg. Ich hatte das Gefühl, dass dieses Raumschiff aus 389
Stahl und Glas jeden Moment über mir einstürzen würde. Ich rang nach Luft. Die menschlichen Aus‐
dünstungen und Zivilisationsgerüche raubten mir den Atem. Ein wüstes Sausen und Brummen lag mir in den Ohren und immer wieder verlor ich die Orientierung. Ich duckte mich jedes Mal, wenn ein Flugzeug am Himmel auftauchte oder ein Auto vorbeirauschte. Es stank nach Hundescheiße und nach U‐Bahn. Kennen Sie diesen süßlichen Brodem aus Schweiß und Fürzen, Gummi, Schmieröl und Elektrizität, der aus den U‐Bahn‐Schächten auf‐
steigt? „Reiß dich zusammen“, bellte es immer wieder durch meinen Kopf. Ich überlegte angestrengt, was ich als Nächstes zu tun hatte. Zu Hause öffnete ich als Erstes den Briefkasten und die Post quoll mir entgegen. Ich schloss die Wohnungstür auf und lief gegen eine Wand aus abgestandener Luft. Ich rannte in mein Zimmer und riss die Balkontür auf. Mein Ap‐
felbäumchen war vertrocknet. Dann eilte ich in die Küche. Es roch nach vergo‐
renem Abfall. Ich öffnete das Fenster, um Durch‐
zug zu schaffen, schaute in den Kühlschrank und blickte in ein Biotop aus Maden und Schimmel. Ich warf die Tür wieder zu. 390 Es waren auch eine Menge Briefe für Rico und Steffen in der Post. Ich schaute in die Zimmer mei‐
ner Mitbewohner hinein und rieb mir die Augen: gähnende Leere. Sie waren ausgezogen. Zuerst öffnete ich zwei Briefe von „Geld+Fi‐
nanz“: eine Abmahnung wegen unerlaubten Fern‐
bleibens von der Arbeit und die fristlose Kündi‐
gung. Die Abschlussrechnung meiner Therapeutin belief sich auf eintausendvierhundertfünfzig Euro einschließlich fast achtzig Euro Mahngebühr und Verzugszinsen. Dann war da noch eine Kündigung des Mietver‐
trages und eine Forderung über Miete und Neben‐
kosten der letzten sechs Monate: gut sechstausend Euro einschließlich Mahngebühr und Verzugszin‐
sen. Ich las es noch einmal. Und noch einmal. Ich wollte mein Konto checken, doch es war kein Strom in der Leitung. Ich probierte alle Lichtschal‐
ter: kein Strom, nirgends. Ich musste aufs Klo. Indem ich die Tür öffnete, prallte ich gegen faulige Kanalluft, die aus den eingetrockneten Abflüssen kam. Ich drehte die Hähne auf: Es gab auch kein Wasser. Die Klospü‐
lung funktionierte. Zum letzten Mal, denn dann war der Wasserkasten leer und blieb es auch. Wie‐
391
der nahm ich den Brief der Hausverwaltung zur Hand. Da wir alle drei Hauptmieter waren, haftete jeder einzelne von uns gesamtschuldnerisch. Aha. Es blieb also an mir hängen. War da vielleicht noch eine Postkarte von der Copacabana oder aus Südafrika? Hallo, Du Zu‐
rückgebliebene, wir lassen uns hier die Sonne auf den Arsch brennen und finden es supernett von dir, dass Du unsere Rechnungen übernimmst. Vie‐
le liebe Grüße, Rico und Steffen... Ich addierte: Tausendfünfhundert für die Thera‐
peutin, Sechstausend für die Hausverwaltung. Kein Gehalt mehr, fast keine Ersparnisse und Ar‐
beitslosengeld würde ich aufgrund der „schuld‐
haften Verletzung meiner vertraglichen Verpflich‐
tungen als Arbeitnehmer“ nicht bekommen. Dann fand ich zwischen der Post noch einen handgeschriebenen Zettel: „Habe Eure Post ange‐
nommen. Euer Briefkasten war voll. Gruß, Clara“ Ich klingelte bei Clara, meiner lesbischen Nach‐
barin. Zufällig war sie zu Hause. Diesmal trug sie keine Knickerbocker und keine Schiebermütze, sondern einen rosa Pyjama. Sie hatte sich den Schädel rasiert und Augenbrauen und Lippen ge‐
pierct. „Ach, wieder da?“, fragte sie mich erstaunt. 392 „Weißt du, wo Rico und Steffen sind?“, fragte ich sie. „Keine Ahnung. Ich habe sie vor ein paar Wo‐
chen ausziehen sehen. Ich hatte ein paar Mal ver‐
sucht, dich zu erreichen, aber dein Handy war tot“, sagte sie. „Der Briefträger war so nett, eure Post bei mir abzugeben.“ Sie ging in ihre Wohnung und reichte mir ein di‐
ckes Briefbündel. „Ist alles OK?“, fragte sie mich. Ich schaute sie entgeistert an. Da war auch noch ein Brief der Vattenfall. Ich wusste schon, was drin stand. Nochmal knapp tausend Euro einschließlich Kündigung des Ver‐
trages. Dann öffnete ich noch die Kündigung des DSL‐Anschlusses mit einer Rechnung von weite‐
ren dreihundert Euro. Achttausendachthundert Euro. Sonst noch was? Mir wurde schwindlig. Und das alles innerhalb von vier? Fünf? Oder wie vielen Wochen? Ich checkte noch einmal das Datum der einzel‐
nen Schreiben: Mai, Juni, dann Juli. Ich war An‐
fang Mai nach Klein‐Muselkow gereist und folg‐
lich musste ich mehr als zwei Monate dort gewe‐
sen sein. Vielleicht sogar drei. Ich griff mein Note‐
393
book und ging hinunter zum Cafe am Ufer. Dort gab es WLAN; ich musste das Datum, meine Mails und Konten checken. Ich schaute in meine Brieftasche: Ich hatte noch genau zweiundzwanzig Euro in bar und in der Schublade im Schreibtisch noch einmal zweihun‐
dertachtzig Dollar, rund zweihundert Euro also. Unten setzte ich mich ins Cafe, um meinen Rech‐
ner an einer Steckdose anzuschließen. Dann loggte ich mich ein und erstarrte: Heute war der dritte August. Ich sprang auf und griff mir die erste beste Ta‐
geszeitung. Tatsächlich: Sie war vom dritten Au‐
gust. Ich hätte geschätzt, dass ich höchstens drei Wochen in Victors Mastbetrieb verbracht hatte. Was hatte dieser Typ aus mir gemacht? Eine... Schnecke? Ich hatte über zweitausend unbeantwortete Mails in meiner Box und mein Konto war schon mit zweitausend Euro in der geduldeten Überzie‐
hung zu dreiundzwanzig Prozent Zinsen. Als ers‐
tes kündigte ich die Mietüberweisung auf Ricos Konto. Dieses Geld werde ich nie wieder sehen, da war ich sicher. Natürlich waren auch alle anderen Daueraufträge weitergelaufen: Fitnessstudio, Abonnements, Handy. Und kein Gehalt mehr. Wie 394 lange reichten zweihundertzweiundzwanzig Euro? Wo sollte ich wohnen? In einer gekündigten Woh‐
nung ohne Strom und Wasser? Ich musste Banz treffen. Immerhin hatte er mir das alles eingebrockt, mich in Klein‐Muselkow hingehalten und von seinem Sohn mästen lassen. Ich musste so schnell wie möglich Geld verdienen und das konnte ich eigentlich nur als freie Journa‐
listin. Ich musste mir diesen Saustall Reuba genau‐
er anschauen, herausfinden, worum es bei diesem Finanzdebakel ging, von dem Herbert, Banz und Victor gefaselt hatten. Und was es mit dieser omi‐
nösen Geldmacherei auf sich hatte. Aber ich brauchte erst einmal ganz schnell ein bisschen Bares, eine Bleibe, Strom, ein Bad und In‐
ternet. Bares. Woher? Jetzt, sofort? Der Geldautomat würde mir nichts geben. Sollte ich mich ins Korsett schnüren und auf der Oranienburger Pia Konkur‐
renz machen? Banz anpumpen? Er war schließlich Banker. Ich hoffte auf sein schlechtes Gewissen. Ich wählte einmal mehr Herberts Nummer. Und hoffte, dass Banz sich meldete. Es klingelte. Und klingelte. Doch niemand hob ab. 395
Vielleicht wäre Chipsy eine kurzfristige Lösung, wenn er mich in seiner Kammer ein paar Tage nächtigen ließe. „Ja, also, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll“, druckste er am Telefon herum, als ich ihn um seine Gastfreundschaft bat. „Ich bin ziemlich mit den Nerven fertig und meine Wohnung ist ein einziger Saustall. Die Kammer ist bis oben hin mit Akten und Kartons zugestapelt. Ich versuche gerade, auf‐
zuräumen, aber je länger ich aufräume, desto schneller vermehrt sich das Zeug. Nach Victors Dauerbesuch brauche ich Ruhe. Für ein paar Tage kannst du gut im Eastern Comfort unterkommen, kennst du das?“ Er erklärte mir, das sei ein schwimmendes Hostel direkt neben der Ober‐
baumbrücke. Ich nahm mein Gepäck und fuhr dort hin. Als ich über den Steg aufs Schiff ging, musste ich an Eduard und sein Hausboot denken. Welch eine Lage am Spreeufer mit Blick auf die Oberbaum‐
brücke. Und in der Messe gab es W‐LAN. Ich checkte ein und mietete mir die billigste Lö‐
sung: Ein Bett in einer Viererkajüte für zwanzig Euro pro Nacht. Frühstück gab es für fünf Euro extra. Primitiv, aber teuer dachte ich. Ich teilte mir das Kabuff mit einem Japaner, einem Afrikaner 396 und einer Kanadierin. Schließlich ging Banz ans Telefon und sagte, dass es im Bankgeschäft gerade ziemlich rund ge‐
he, außerdem sei er in einer Besprechung. Ich fiel ihm ins Wort: „Ich muss mit Ihnen reden. Sofort.“ „Nanu, so eilig? Nach so langer Zeit in Klein‐
Muselkow? So schlimm kann es ja nicht gewesen sein, oder?“, spottete er. Ich machte den Mund auf und zu und wusste nicht, was ich sagen sollte. Banz schwieg eine Weile und sagte dann, dass er mich anrufen werde, sobald er ein wenig Zeit ha‐
be. Dann legte er auf. Ich saß in der Klemme und das hatte er schon mitbekommen. Ich kalkulierte: Zweihundertzwei‐
undzwanzig Euro reichten gerade mal für ein paar Tage. Danach konnte ich zum Sozialamt gehen. Oder Passanten anschnorren. Oder mich doch auf der Oranienburger hinstellen. Ich packte mein Notebook aus und überlegte. Ich musste die Zeit irgendwie nutzen, mich auf das Gespräch mit Banz vorbereiten. Über Banken und Geld wusste ich nur das, was man halt so weiß: dass Banken Geld verleihen und Zinsen kassieren und irgendwie rumzocken und auch mal krachen 397
gehen. Ich überlegte, welche Begriffe ich bei Google eingeben konnte. Ich dachte an das Wort „BaFin“, das ich immer wieder von Banz und Herbert ge‐
hört hatte und das für „Bundesanstalt für Finanz‐
dienstleistungsaufsicht“ steht. Ich landete auf der Website www.bafin.de. Und da las ich: „Die BaFin ist im öffentlichen Interesse tätig. Ihr Hauptziel ist es, ein funktionsfähiges, stabiles und integres deutsches Finanzsystem zu gewährleisten. Bankkunden, Versicherte und Anleger sollen dem Finanzsystem vertrauen können.“ Wir „sollen“ also dem Finanzsystem vertrauen. Und, werte BaFin, können wir das? Das erinnerte mich stark an die Values unseres Verlages. Auch „Geld+Finanz“ „soll“ Bankkunden, Versicherte und Anleger schützen. Sie „sollen“ auch uns vertrauen. Ich folgte den Links mit dem Wort „Banken“. Und landete beim „Risikomana‐
gement“. Herberts täglich Brot, das ihm schlecht bekommen war. Wieder einmal vergaß ich die Zeit. Ich versackte in einem Delirium aus finanztechnischem Kau‐
derwelsch und Abkürzungen, Verordnungen, Pa‐
ragraphen und Gesetzen. 398 Da gibt es eine „SolvV“, das steht für „Solvabili‐
tätsverordnung“, eine „MaRisk“, das sind die „Mindestanforderungen an das Risikomanage‐
ment“ und neben „Adressrisiken“ auch „Markt‐
preisrisiken“ und „operationelle Risiken“, die mit irgendwelchen Modellen „gemessen“ und „ge‐
wichtet“ werden, wonach das Eigenkapital be‐
rechnet wird, mit dem diese Geschäftsrisiken „un‐
terlegt“ werden müssen. Ich las mich durch Rund‐
schreiben und Durchführungsverordnungen zum Themen wie „Loss Data Collection Excercise“ und „Industrieaktion AMA – Operationelle Risiken“. Gab es da auch einen Hinweis auf Risiken und Nebenwirkungen der Risikokontrolle? Migräne? Morbus bürokratius? Suizidalität? Ich hatte nicht bemerkt, dass es inzwischen Nacht geworden war und sank über meinem No‐
tebook zusammen. Ich schreckte auf, als mich je‐
mand an der Schulter anstieß. Es war der Mann von der Rezeption, der mir sagte, dass nunmehr geschlossen sei und ich bitte mein Bett aufsuchen solle. Meine Kabinengenossen schnarchten; ich fühlte mich in diesem Stockbett wie in einer Sardinen‐
büchse und es war heiß und stickig. Ich dämmerte weg. Und fand mich in einer win‐
399
zigen, stockfinsteren Zelle wieder. Auf mir und neben mir lagen Kabel und Schläuche und ich ver‐
suchte verzweifelt, sie wieder an meinen Körper anzuschließen. Ich nestelte an dem Interface an meinem Kopf. Mein Liebeskonto war bis zum An‐
schlag überzogen, ich war im Ranking abgestürzt und die Große Mutter hatte mir die Solidarge‐
meinschaft gekündigt. Eine Klappe öffnete sich; ich fiel in einen Müllschlucker und schlitterte ab‐
wärts. Dann plumpste ich auf eine Deponie von menschlichen Körpern in verschiedenen Stadien der Verwesung. Die Sonne blendete mich. Ich war schlaff und käsig wie eine Schnecke. Ich versuchte mich aufzurichten und schaffte es nur bis zur Ho‐
cke. Ich sah, dass ich am Fuß einer braun verspie‐
gelten Pyramide gelandet war, die bis zu den Wol‐
ken reichte. Doch diese Pyramide stand Kopf; sie balancierte auf ihrer Spitze und ich wartete darauf, dass sie auf die Seite kippte und mich und den Leichenhaufen unter sich begrub... Ich wachte schweißgebadet auf und konnte nicht mehr einschlafen. Am nächsten Morgen machte ich mich trotz meiner Erschöpfung wieder an die Arbeit. Ich las und las. Drei Tage lang. Oder waren es vier? Und verstand immer weniger. Irgendwann schmerzten 400 meine Augen und mein Kopf qualmte. Wieder war es der Mann vom Empfang, der mich aufschrecken ließ: Das Frühstücksbuffet sei jetzt geschlossen. Mein Kaffee war kalt und ich hatte keines der Brötchen angerührt. Ich gab auf Wikipedia das Stichwort „operatio‐
nelle Risiken“ ein. Und da las ich: „Einer der spektakulärsten Fälle von operatio‐
nellem Risiko ist der Fall Nick Leeson, der als Händler für die Barings Bank tätig war“ ... und die Hausbank Ihrer Majestät zum Krachen brachte. Schaden: zwölf Milliarden Pfund. Keine schlechte Performance für einen Einzelnen. Ich dachte an Watergate. Enron. Barings. Reuba? Ich las weiter: „Der AMA (Advanced Measurement Approach) lässt den Kreditinstituten einen großen Spielraum, ihre operationellen Risiken anhand eigener Mess‐
verfahren zu ermitteln. In nahezu keiner Bank ist eine ausreichend lange Datenhistorie vorhanden, die es erlauben würde, allein damit eine Messung operationeller Risiken durchzuführen.“ Da wird also etwas gemessen, wofür es offenbar keine Erfahrungswerte gibt. Und dann können die Banken sogar ihre eigenen Messverfahren basteln und das Ganze dann irgendwie „gewichten“. Wie 401
„misst“ man den Risikofaktor „Mensch“? Welche „Gewichtung“ hatte ein Nick Leeson in der Risi‐
kokontrolle von Barings? Da war er wieder, dieser Geruch nach Fäulnis. Mein Handy klingelte. Es war Banz. Er habe ge‐
rade ein wenig Zeit. Bloß nichts anmerken lassen, dachte ich. Doch ich hielt es nicht mehr aus und rauschte so schnell ich konnte quer durch die Stadt zur Reuterbank. 402 Das Paket Die Fahrstühle waren defekt und ich stieg zusam‐
men mit einem Wachmann die dreizehn Stock‐
werke nach oben. Der Uniformierte schleppte schwer an seinem Bierbauch und ich musste im‐
mer wieder auf ihn warten. Je weiter wir aufstie‐
gen, desto unruhiger wurde es. Schlipsträger und Kostümträgerinnen rannten mit Notebooks und Aktenordnern herum, knallten Türen und führten mit ihren Headsets scheinbar Selbstgespräche. Dann erreichten wir die Chefetage. Die Sekretä‐
rin erkannte mich und wieder versank ich im Tep‐
pichboden, der auch das letzte Geräusch schluckte. Wie damals stand Banz mit dem Rücken zu mir am Fenster. Und schaute hinaus. Langsam kam ich näher. Er drehte sich zu mir um, setzte sich und auch ich nahm Platz. „Wie geht es Ihnen, Frau Wiesengrund? Sie se‐
hen nicht sehr erholt aus. Aber Victors Essen hat Ihnen geschmeckt, wie man sieht.“ Ich bellte los: „Sie sind nicht nur ein beschissener Reiseveranstalter, sondern haben auch noch einen miserablen Humor. Sie haben mich in die Scheiße geritten und reiten mich immer weiter rein. Mir steht das Wasser bis hier und bevor ich untergehe, 403
nehme ich Sie und ihren Saustall hier mit, verlas‐
sen Sie sich darauf. Der Gestank hier ist ja nicht auszuhalten!“ Banz lachte. „Ach, Frau Wiesengrund. Sie glau‐
ben also, dass Sie ein Problem haben? Seien Sie froh, denn Sie sind schon ganz unten und haben den Absturz überlebt.“ „Und Sie, werden Sie den Absturz überleben?“, giftete ich. „Ich freue mich auf meinen Ruhestand. Ende des Monats bin ich zweiundsechzig und aus allem draußen. Sie hingegen müssen es bis zur Rente noch eine ganze Weile aushalten. Wenn es dann noch eine Rente geben wird.“ „Warum machen Sie mein Leben kaputt?“, schrie ich. „Wenn es doch nur so schön einfach wäre. Wenn doch immer einer schuld wäre... Ich schlage Ihnen einen Handel vor: Sie sagen mir, was Sie wissen und ich sage Ihnen, was ich weiß. Ich bin sicher: Gemeinsam kommen wir weiter.“ Ich schaute ihm in die Augen. Er wich nicht aus, sondern lächelte. „Gut. Sie fangen an“, sagte ich. „Ich weiß alles über Sie, Frau Wiesengrund. Wir kennen ihre Neurosen, Ihre Schuhgröße, Ihren 404 Mailverkehr, Ihre Telefongespräche, Ihren sexuel‐
len Horizont und Ihren Kontostand. Ich weiß, was Sie wann und wo bezahlt haben, wo Sie sich auf‐
gehalten haben. Wir alle hinterlassen eine Daten‐
spur wenn wir bezahlen, telefonieren, verreisen, im Netz surfen. Schon allein über Google kann man ein komplettes Psychogramm erstellen. Victor ist ein hervorragender Hacker und Sie sind genau die Person, die wir brauchen.“ Oh mein Gott, dachte ich. Ich fühlte mich nackt. Banz redete weiter: „Es stinkt zum Himmel, das haben Sie richtig er‐
kannt. Im Bankensystem tickt eine Zeitbombe und die haben wir gelegt. Es wird keine Reformen ge‐
ben. Der Laden fault von innen her weg. Aber niemand versteht, was vor sich geht. Fast nie‐
mand. Sie werden das ändern.“ „Ich? Wieso ich? Ich habe mir die Seiten der Ba‐
Fin durchgelesen und bin dabei regelrecht verblö‐
det, ich eigne mich nicht für diesen Mist. Ich habe mich jahrelang bis zum Erbrechen mit Bürokraten herumgeschlagen und kann nicht mehr, mein Kopf schwirrt von Durchführungsverordnungen und Rundschreiben, von Gesetzen und Risikomodel‐
len.“ „Und? Haben Sie etwas verstanden?“ 405
„Nein. Oder nur so viel: Man versucht etwas zu messen und zu schätzen, wofür es keine Erfah‐
rungswerte gibt. Und die Banken können sich ihre Modelle zur Risikokontrolle sogar selber basteln.“ „Donnerwetter, das begreift vielleicht gerade mal einer von tausend Bankern. Und was hat Vic‐
tor Ihnen erzählt?“, fragte Banz. „Er behauptet, er könne Geld machen. Einfach so. Und das auch noch legal.“ „Und, glauben sie das?“ „Ehrlich gesagt: Nein. Wäre das so einfach, dann hätten wir schon längst eine Hyperinflation.“ „Wann waren Sie zuletzt einkaufen?“, fragte mich Banz. Das war schon Monate her. „Die Lebensmittelpreise sind in den letzten Mo‐
naten um dreißig Prozent gestiegen, der Ölpreis hat sich in den letzten Jahren verzwölffacht, die Preise anderer Rohstoffe vervielfacht. Die Geld‐
menge explodiert und keiner kann es verhindern, denn sonst geht die Wirtschaft den Bach runter. Die Banken drehen der Wirtschaft den Geldhahn zu, wenn die Zentralbank ihnen nicht jede noch so miserable Forderung zu Geld macht. Die Banken brauchen die Wirtschaft nicht mehr. Sie machen das Geld ohne den Umweg über die Wirtschaft 406 durch Luftbuchungen untereinander. Wozu also Leuten, die arbeiten, Kredite geben? Das sind Pea‐
nuts und macht nur Arbeit.“ „Die BaFin kontrolliert doch die Banken. Wenn eine Bank Mist baut, geht sie pleite. Und die Zent‐
ralbank kontrolliert die Geldmenge und die Infla‐
tion. Außerdem leben Banken doch davon, dass sie Kredite vergeben und dafür Zinsen kassieren“, entgegnete ich. „Das hat bis zuletzt fast jeder geglaubt. Und nur deshalb hat es funktioniert: Die einen haben das Geld gemacht und die anderen haben dafür gear‐
beitet. Immer mehr Leute entdecken aber, wie sie sich bedienen können – legal und ohne zu arbei‐
ten. Das große Geldmachen hat begonnen. Die Ba‐
fin kann immer nur reagieren, hastet den immer neuen Teufeleien der Banken hinterher. Die Bafin sucht bei uns seit Wochen, was sie nicht finden kann, weil man nur finden kann, was man schon kennt, wovon man eine Vorstellung hat. Seit Mo‐
naten suchen sie, alles liegt offen vor ihnen und sie sehen nichts.“ Banz ging zum Aquarium und fütterte die Fi‐
sche. Dabei redete er weiter: „Immer neue ‚Finanzinstrumente’ und ‚Innova‐
tionen’ werden ausgeheckt, Verbriefungen, struk‐
407
turierte Derivate und so weiter, für die es keine Er‐
fahrungswerte gibt und die so komplex sind, dass es auch keine Modelle zur Risikokontrolle gibt. Die basteln wir uns nach Gutdünken selber. Und die Zentralbank kann nicht zulassen, dass wirklich große Banken Pleite gehen, denn dann gehen die Sparer und die anderen Banken sowie die Wirt‐
schaft gleich mit krachen, weil es neue Kredite nur von den Geschäftsbanken gibt. Auch die Reuba wird nicht krachen. Wir sind zu groß. Wir werden den Beweis führen. Wir schaffen den Super‐GAU mit Ankündigung, der den ganzen Apparat ad ab‐
surdum führt. Nur so wird sich etwas ändern. Ein Ende mit Schrecken, aber wenigstens kein Schre‐
cken ohne Ende.“ Banz schaute mich aus seinen Wasseraugen an: „‚Wenn die Leute verstünden, wie das Bankensys‐
tem funktioniert, hätten wir die Revolution noch vor morgen früh.’ Das hat Henry Ford kurz vor der Weltwirtschaftskrise 1929 gesagt, und was damals lief, war im Vergleich zu heute ein Kinder‐
geburtstag.“ Enron. Watergate. Barings. Reuba? Wenn das kein Presseknüller war. Banz erzählte weiter: „Noch wird Ihnen niemand glauben, wenn Sie 408 darüber schreiben. Wenn Sie schreiben, wie ein‐
fach es ist, hält man Sie für unqualifiziert, wenn Sie qualifiziert darüber schreiben, versteht Sie keiner. Deshalb funktioniert es noch, deshalb hält sich der Volksglaube an die Dagobert‐Duck‐Banken; die meisten Leute glauben tatsächlich noch, dass in Banken Geld gespeichert wird und dass das Geld irgendwie noch mit Gold zu tun hat und dass Ban‐
ken immer nur vorhandenes Geld weiterverleihen. Die Geldmacherei wird durch einen monströsen Apparat aus Regularien und Institutionen ver‐
schleiert, der auf die meisten Menschen wie ein mysteriöser Zauber wirkt, von dem sie sich ein‐
schüchtern lassen. Niemand will sehen, dass es einfach ist. Keiner will sich diesen ganzen Para‐
graphenirrsinn antun. Jeder sucht sein Heil in sei‐
nem Spezialgebiet, in seiner seligen Beschränkt‐
heit. Aber hinter dem Schleier ist es einfach. Wir brauchen jemanden, der das an die Presse bringt und zwar exakt zum richtigen Zeitpunkt. Sie wer‐
den das für uns tun.“ Mir wurde heiß. Ich dachte an Herbert. Er hatte Bescheid ge‐
wusst, aber niemand hatte ihm geglaubt. Ich be‐
kam eine Ahnung davon, wie sich das wohl ange‐
fühlt hatte. 409
Ich war aber auch erleichtert. „Sie haben Herbert auf dem Gewissen”, sagte ich zu Banz. „Ich habe alles offengelegt. Niemand glaubt es, bevor es soweit ist. Ich könnte das Unvermeidliche nicht aufhalten, selbst wenn ich wollte. Ich kann es nur beschleunigen. Je eher es passiert, desto gerin‐
ger der Schaden. Herbert war einer der wenigen, die es begriffen hatten. Doch er hätte die Verant‐
wortung dafür tragen müssen, ohne etwas ändern zu können. Er war am Ende, aber Sie hätten ihm noch helfen können.“ Ich starrte vor mich hin. „Wofür leben Sie? Karriere? Geld? Macht? Damit war er fertig. Er wollte Sie, Frau Wiesengrund. Noch nicht einmal sein Kind wäre ihm geblieben. Sie waren alles, was er noch hatte.“ Ich schwieg. Eisige Stille füllte den Raum und Banz fixierte mich. „Ich sehe, Sie verstehen. Sie sind intelligent, Frau Wiesengrund. Ein bisschen emotional und unbe‐
herrscht vielleicht, aber sehr intelligent.“ Dieser Banz schaute mich wieder so an wie da‐
mals auf dem Friedhof. Banz und ich, wir waren längst Komplizen. Und ich wollte es wissen. Alles. „Erzählen Sie mir, was 410 Sie vorhaben. Was ist das für ein GAU, von dem Sie da reden?“ Banz sah zufrieden aus. „Sehen Sie, gemeinsam kommen wir weiter“, sagte er. „Was wissen Sie über Optionspreismodelle, Risikokontrolle und Stochastik?“, fragte er mich. „Ich habe eine Menge darüber gelesen und weiß, dass Herbert damit zu tun hatte. Aber wirklich verstanden habe ich nur, dass eine Option so eine Art Wette auf eine Kursentwicklung ist.“ „Auch das ist alles eigentlich sehr einfach, wenn man die Formeln und das Fachchinesisch weg‐
lässt“, sagte Banz. „Kommen Sie, wir machen ei‐
nen kleinen Rundgang durchs Haus.“ Wir verließen die stille Kühle der Chefetage und stiegen hinab in die Abgründe des Bankgeschäfts. Zunächst zeigte mir Banz die elfte und zwölfte Etage mit den Korridoren und Büros der Risiko‐
kontrolle und der internen Revision, die immer noch von diesen wichtig aussehenden Leuten wimmelten. „Die meisten hier sind damit beschäftigt, die an‐
deren zu kontrollieren, wobei keiner mehr ver‐
steht, was sein Kollege nebenan tut. Das nennt man Ausschaltung von Interessenkonflikten. Die CIA funktioniert übrigens genauso, nämlich durch 411
Spezialisierung und gegenseitiges Misstrauen“, sagte Banz. „Das hier war übrigens Herberts Bü‐
ro.“ Ich schaute hinein. Dort saß ein junger Bursche, höchstens Ende zwanzig. „Das ist Herr Folkerts, unser neuer RCM“, sagte Banz. Der Junge schaute mich treudoof an und reichte mir die Hand. „Wie‐
sen...se...n...grund...warum...“, stammelte ich. „Weiß der überhaupt...?”, sagte ich zu Banz, als wir wieder im Korridor waren und deutete mit dem Daumen nach hinten. „Er hält sich an das, was er auf der Uni gelernt hat. Er verdient sechsstellig und schläft ansonsten den Schlaf der Gerechten – oder vielmehr der Ah‐
nungslosen“, sagte Banz. „Noch“, legte er einen Augenblick später nach. Wir stiegen weiter hinab. Es wurde wärmer und lauter. Banz öffnete mir die Tür zu Großraumbü‐
ros mit Reihen von Tischen und Monitoren und Telefonen darauf, besetzt mit einem Gewimmel aus ziemlich gleich aussehenden jungen Männern mit gegelten Haaren, Hosenträgern und Schlipsen. Banz warf die Tür wieder ins Schloss, um nicht gegen das Gebrüll anschreien zu müssen. „Das sind die Handelsräume. Für Zinsen, Schweinebäu‐
che, Dollar gegen Euro, Orangensaft, Aktien und 412 so weiter”, sagte er. „Schweinebäuche?“, staunte ich. „Inzwischen gibt es sogar Optionen auf Strom und Telefonminuten. Wir zocken ein bisschen her‐
um und basteln uns immer raffinierte Handelssys‐
teme.“ Ein Stockwerk tiefer sagte Banz: „Willkommen in der Raketentechnik.“ „Für ein Raketenlabor ist es hier recht ruhig.“ „Aber hier wird richtig Kohle gemacht. Hier werden die Innovationen und strukturierten Fi‐
nanzprodukte entwickelt und an den Markt gege‐
ben. Verbriefungen, Optionen, Optionsscheine, Zertifikate und so weiter.“ „Sie wollten mir erzählen, welche Teufelei hier gerade ausgeheckt wird, um diesen GAU zu ver‐
anstalten.“ Ich dachte, Banz würde mich zum Schweigen bringen. Doch die Leute, die das an den Handelstischen nebenan gehört haben mussten, schauten noch nicht einmal nach uns. „Es nennt sich EOD, Emission on Demand. Das ist so ähnlich wie Books on Demand. Nur dass wir Optionen ohne festgesetztes Volumen begeben, eben ganz nach Nachfrage.“ „Und was ist daran so schlimm?“, fragte ich. „Es sind Call‐Optionen auf den Kurs der Reuter‐
413
bank selber und zwar ohne Gegenemission.“ „Ja und?“ „Wer Call‐Optionen verkauft, wettet auf den Kursverfall des zugrunde liegenden Wertes, der Käufer der Option hingegen auf den Anstieg.“ „Die Reuterbank wettet also auf ihren eigenen Niedergang?“ „Genau. Das ist nichts Ungewöhnliches. Fast alle Banken begeben auch Calls auf den eigenen Kurs. Aber sie begeben zugleich Put‐Optionen im glei‐
chen Volumen, wetten also auch auf den Anstieg des Kurses. So gleicht sich das Risiko aus. Die Bank verdient aber trotzdem an den Spesen und am Zeitwertverfall, wie auch immer der Kurs sich entwickelt. Wir begeben aber nur Call‐Optionen auf die Reuba‐Aktie. Und das EOD, also unbe‐
grenzt. Noch steigt die Reuba‐Aktie und mit jedem Cent Kursanstieg entstehen Gewinne von ein paar Millionen Euro für die Halter der Calls. Im Mo‐
ment sind wir bei etwa sechs Milliarden Euro, die spätestens am vierten September, dem Tag der Fäl‐
ligkeit ausgezahlt werden müssen. In den Bilanzen werden jedoch nur die Einnahmen aus dem Ver‐
kauf sichtbar. Bis jetzt eine gute Milliarde – gegen‐
über sechs Milliarden, die aber noch nicht einmal als nachrangige Forderung gelten und deshalb auf 414 dem Schirm der BaFin nicht auftauchen. Alles liegt offen vor ihnen und sie sehen es nicht.“ „Und woher nehmen Sie die fünf Milliarden am vierten September?“, fragte ich. „Dieses Geld existiert nicht und wahrscheinlich ist es bis dahin erheblich mehr. Das ist der Zeit‐
zünder. Und damit möglichst viele pünktlich da‐
von erfahren, werden Sie davon berichten, Frau Wiesengrund. Sie werden den Crash ankündigen und deshalb wird es krachen und man wird Sie für Ihre prophetische Gabe feiern.“ „Und die Reuba? Was wird aus der?“ „Die ist zu groß, um unterzugehen. Die Europäi‐
sche Zentralbank wird am Ende unsere Rechnung mit Geld aus dem Nichts bezahlen. Das nennt man auch ein free lunch, ein spendiertes Mittagessen. Die Insider wissen Bescheid und müssen nur ent‐
sprechende Wetten eingehen. Und schon sind sie reich. Pünktlich, legal und ohne Risiko.“ „Unglaublich. Und Sie glauben, das funktio‐
niert? Ich meine, wie blöd sind die BaFin und die Zentralbank denn?“ „Nicht blöd. Die sind nur gierig oder halt Spezia‐
listen. Die Gierigen verdienen sich dabei eine gol‐
dene Nase und die Spezialisten sehen es nicht. Das ist übrigens nur eine von vielen Varianten, Geld zu 415
machen. Banken tun so, als verdienten sie ihr Geld. Dabei machen sie es einfach und sorgen dafür, dass die anderen dafür arbeiten und kassieren auch noch Zinsen und Gebühren. Inzwischen ma‐
chen die Banken das Geld ohne den Umweg über die Wirtschaft, indem sie mit Geld aus dem Nichts Werte aufkaufen, diese beleihen und windige For‐
derungen und papierlose „Papiere“ ohne Gegen‐
wert erzeugen, die sie wiederum beleihen, wobei neue Forderungen und Papiere entstehen. Und die Zentralbank macht diesen Müll dann unbegrenzt zu echtem Geld, für das man richtig einkaufen kann.“ Ich schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, doch Banz war schneller und haute es mir noch einmal um die Ohren. „Ob Sie es glauben oder nicht: Jede Bank kann Werte mit Geld aus dem Nichts einkaufen und diese dann auch noch beleihen. Sie verlängert ein‐
fach ihre Bilanz und bucht auf der Habenseite den gekauften Wert und auf der Sollseite das Guthaben für den Verkäufer und kann dann bei der Zentral‐
bank nach Bedarf Bargeld abfordern. Elegant, nicht wahr? Und buchhalterisch völlig korrekt.“ Mir wurde schwindlig. „Das ist ein bisschen so wie mit Gott und den 416 Kirchen: Die Zentralbank tut so, als sei sie Gott und habe die Banken und die Wirtschaft unter Kontrolle, indem sie deren Lebenssaft, das Geld, ganz nach Bedarf erschafft. Und die Geschäftsban‐
ken sind so etwas wie die Kirchen oder kleinere Götter, die sich zwischen die gläubigen Arbeiten‐
den und Gott, pardon, die Zentralbank stellen und für den Zugang zum beliebig aus dem Nichts schöpfbaren Kreditgeld auch noch Tribut, nämlich Zins fordern. So ist ein Kreditgespräch immer auch eine Beichte und ein Bekenntnis des Kreditkunden zum Glauben an den Markt und die Gewährung des Kredits die Erteilung des Segens durch die Priester, pardon, Banker. Und der Schuldner hat fortan den Gottesdienst, pardon, Schuldendienst zu leisten. Und wenn man schön brav gearbeitet und gezahlt und gespart hat, darf man hoffen, viel‐
leicht irgendwann einen Erlös zu erzielen, gar Er‐
lösung aus dem Hamsterrad zu finden, indem man „ausgesorgt“ hat und von den Zinsen leben kann. Es soll ja auch noch Leute geben, die Lotto spie‐
len... Zumindest als Normalsterblicher, das heißt Arbeitender, soll man die Sklavenmoral glauben, damit man dem Geld, das die Götter aus dem Nichts zaubern, hinterherrennt. Die Spielregeln sind eben nicht für alle gleich.“ Banz schaute mich 417
an und lächelte. „Und die Bankentürme sind die modernen Ka‐
thedralen...“, schob ich hinterher und hielt mich an einem Türpfosten fest. Ich musste an meinen Traum von der Pyramide denken. Und an meine philosophischen Betrachtungen über Gott und die Götter. Ist der Kapitalismus eine Art Religion? Was sind Religionen und Banken? Parasiten? Banz telefonierte und ein Wachmann erschien. „Begleiten Sie die Dame nach draußen“, sagte Banz. „Ich muss wieder nach oben und noch ein bisschen predigen und Liturgie feiern. Sie hören von mir. Ihnen noch einen schönen Tag, Frau Wie‐
sengrund.“ Als ich draußen auf dem Reuterplatz entlang‐
fuhr, schwirrte mein Kopf. Einmal mehr fragte ich mich, ob das alles wirklich passierte. Und mein Zwerchfell zuckte. Ich war gerade aus der Zentrale des Kapitalismus gekommen, wo im Computer je‐
den Tag die Milliarden erzeugt werden und war immer noch pleite. Ich kam vielleicht noch auf zehn Euro Kleingeld, wenn ich alles zusammen‐
kratzte. Ob Banz wirklich alles über mich wusste? Dass ich völlig pleite war? Hatte er seine Finger auch bei meiner Entmietung im Spiel gehabt? Hatte ich ihm 418 das alles zu verdanken? Herberts Niedergang und Tod, meine Kündigung, diese verlorenen drei Mo‐
nate in Klein‐Muselkow? Und war diese Zeitbom‐
be nur Sterbehilfe, die Abrissbirne für ein marodes System? Einen Crash auf Termin ankündigen und dann kracht es wirklich... Das war schon eine for‐
midable Story. Aber wie sollte ich bis dahin über die Runden kommen? So lange konnte ich unmög‐
lich auf dem Eastern Comfort hausen. Ich schaltete mein Handy ein. Und eine SMS kam herein: „Habe ein Paket für Dich angenom‐
men. Gruß Clara“. Ich rief sie an und sie sagte, sie sei gerade zu Hause und ich könne es gleich abho‐
len. Ein Paket? Für mich? Ich fuhr zum Paul‐Lincke‐
Ufer und klingelte bei Clara. Sie wuchtete es von der Kommode in ihrem Flur und reichte es mir nach draußen; die Muskelpake‐
te ihrer Arme arbeiteten. Nahm sie Hormone? Machte sie Bodybuilding? Es war so ein gelber Postkarton und ich ging in die Knie. Was war da drin? Pflastersteine? Ich schloss meine Wohnung auf und ließ das Pa‐
ket in meinem Zimmer auf den Boden plumpsen, so dass der Fußboden wippte. Ich betrachtete es von allen Seiten. Es war von Hand beschriftet. Der 419
Absender war ein gewisser „V. Draxler“. Woher wusste er meine Adresse? Sein Vater und er hatten sich offenbar nicht zum ersten Mal über mich kurzgeschlossen. Es schien randvoll mit irgendetwas gefüllt zu sein. Eine Bombe vielleicht? Dann hätte er es be‐
stimmt nicht mit seinem Absender verschickt. Oder jemand anderes hatte es unter seinem Ab‐
sender aufgegeben. Also vielleicht doch eine Bom‐
be? Ich hielt mein Ohr daran. Doch ich hörte nichts. Kein Ticken. Wahrscheinlich würde sie beim Öff‐
nen hochgehen. Und wenn schon, dachte ich. Das wäre wenigstens ein schneller Tod. Mir tat es nur um meine Nachbarn leid. Wumm! Und das Haus wäre ein paar Stockwerke niedriger. Ich griff eine Schere und durchtrennte die Klebe‐
streifen. Dann klappte ich den Deckel auf und o‐
benauf lag ein Blatt Papier, auf dem mit Hand ge‐
schrieben stand: „Tu’s nicht. V.“ Ich las es noch einmal. „Tu’s nicht. V.“ Was, bitte, sollte ich nicht tun? Ich legte den Zettel beiseite und traute meinen Augen nicht. 420 Der Karton war mit Papierbündeln ausgefüllt, die von Banderolen zusammengehalten wurden. Diese Blöcke bestanden aus gleich aussehenden Papierstücken. Die waren grün bedruckt und sa‐
hen aus wie Hundert‐Euro‐Scheine. Ich nahm ein solches Bündel in die Hand. Es wa‐
ren Hunderter. Druckfrische Hunderter mit fort‐
laufenden Nummern. Auf der Banderole stand: „5000 Euro in fünfzig Noten zu hundert Euro“ und darunter „Deutsche Bundesbank“. Sie waren ma‐
kellos und blütenrein und rochen nach Druckerei. Fünftausend Euro. Pro Bündel. Und der ganze Karton war voll davon. Ich packte sie aus. Noch eins und noch eins und noch eins. Ich begann zu zählen und machte Stapel zu je zehn Bündeln. Ir‐
gendwann hatte ich zwanzig solcher Stapel bei mir im Zimmer auf dem Boden liegen. Ich strengte meinen Kopf an. Zwanzig Stapel zu zehn Bündeln mit je fünfzig Hundertern... Oh mein Gott. Zwanzig mal zehn mal fünfzig macht genau zehntausend... zehntausend mal hundert... Eine. Million. Euro. Druckfrisch und in bar. 421
Was...? Wieso...? Warum...? Victor, was soll das? Bist du verrückt? Natürlich ist er das. Aber doch nicht so... „Tu’s nicht“. Was, bitte, sollte ich nicht tun? Eine Million Euro. Ich kalkulierte: Ich hatte knapp fünfzigtausend im Jahr verdient. Brutto. Netto waren das gut fünfundzwanzigtausend. Vor mir lag so viel Geld, wie ich in vierzig Jah‐
ren verdient hätte. Das Einkommen eines ganzen Berufslebens lag da auf dem Boden herum. Viel‐
leicht fünfzehn Kilo Papier für ein ganzes Leben. Ich war nicht nur pleite, sondern auch mit rund zehntausend Euro in den Miesen. Und da lag eine Million vor mir herum. Waren die Scheine echt? Geklaut? Erpressung? Drogenhandel? Druckfrische Scheine mit fortlaufenden Num‐
mern wären das Dümmste, was ein Gauner in die Hand nehmen könnte. „Tu’s nicht“. Nicht anfassen? Nicht der Versu‐
chung erliegen? Angenommen, er schenkte es mir: Ich müsste nie mehr arbeiten. Ich wollte aber arbeiten. Nein, ich arbeitete nicht so sehr fürs Geld. Das Geld war ein angenehmer Nebeneffekt. Ich nahm Geld an, um meine Exis‐
422 tenz zu finanzieren. Gearbeitet hätte ich auch, wenn ich kein Geld gebraucht hätte. Ob er wirklich Geld „machen“ konnte? Einen Moment lang dachte ich daran, Banz an‐
zurufen. Er musste wissen, wie man Victor errei‐
chen konnte. Oder er hatte zumindest die Nummer von Doris und Max. Aber Banz wusste schon viel zuviel über mich. Vielleicht wusste er aber noch nicht alles über seinen Sohn und was dieser so trieb. Vielleicht waren sich die beiden doch nicht so einig, wie es schien. Falls Banz doch nicht alles wusste, sollte es erst einmal dabei bleiben. Ich musste mit Victor sprechen. Persönlich. Was zum Teufel macht man mit einer Million in bar? Verschenken? Verjuxen und verballern? Sie sich klauen lassen? Ich fühlte mich zunehmend unbehaglich; dieser Haufen Mammon musste erst einmal zwischengelagert werden, bevor er unter meinen Prinzipien allzu viel Verwüstung anrichten konnte. Sicherungsverwahrung. Ich packte die Million wieder in den Karton, schleppte das Paket zur Bank und war gespannt, ob sie dieses Geld an‐
nehmen würden. „Guten Tag, ich möchte eine Million einzahlen“, sagte ich, als ich an der Reihe war. Die Bankangestellte schaute mich mit einer Mi‐
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schung aus Erstaunen und Misstrauen an. Ich musste mich ausweisen, dann füllte ich die Schub‐
lade am Schalter wieder und wieder mit den Bün‐
deln. Die Kassiererin war fassungslos und schaute sich mehrmals nach der Kamera um, die an der Decke hing. Sie riss die Banderolen auf, die nach und nach den Boden bedeckten. Die Zählmaschine schluckte die Bündel anstandslos; die Scheine wa‐
ren also echt. Die Leute hinter mir in der Schlange reckten die Hälse und tuschelten. Dann schaute ich auf den Kontostand: neunhundertvierundachtzig‐
tausenddreihundertacht Euro und dreiundsiebzig Cent. Eines der Bündel hatte ich zur Erinnerung zurückbehalten, knickte es in der Mitte und stopfte es in meine Hosentasche. Portokasse. Das hatte ich also schon mal getan. Aber ich hat‐
te nicht das Gefühl, dass dieses Geld meines sei; ich hatte es nicht verdient. Dann fuhr ich wieder zum Eastern Comfort, zahlte in Bar, holte meine Sachen und nahm den nächsten Zug nach Anklam. Die Fahrkarte kostete schon wieder zehn Euro mehr als beim letzten Mal. 424 Artgerechte Haltung Diesmal wollte ich den richtigen Abzweig von der Landstraße nach Klein‐Muselkow nehmen. Und fand mich einmal mehr verirrt im Wald wieder. Gott sei Dank hörte ich irgendwann ein Auto. Ich lief dem Geräusch entgegen und auf dem Wald‐
weg kam mir ein japanischer Kombi entgegen. Mit einem verbeulten Kühler. Es war Max. Er hielt an. „Mahlzeit!“, rief er mir durch das offene Fenster entgegen. „Na junge Frau, wo wollen Sie denn hin? Lassen Sie mich raten.“ Der Wagen war mit Baugerät und Zementsäcken zugestaut. Auch Max war mit einem grauen Staub‐
schleier überzogen. Er stieg aus und quetschte mein Fahrrad samt Gepäck in den Laderaum. Die Heckklappe musste offen bleiben. Dann räumte er zwei der Zementsäcke vom Bei‐
fahrersitz in den Fußraum. Ein rasselnder Husten schüttelte Max. „Den hier musst du auf den Schoß nehmen. Ist aber nicht mehr weit“, sagte er und reichte mir ei‐
nen Sack. Ich ging in die Knie, so schwer war er. „Auch eine?“ Max hielt mir eine Schachtel Ziga‐
retten hin; ich lehnte dankend ab. 425
So schaukelten wir nach Klein‐Muselkow. Der Unterboden des Wagens schrammte immer wieder über Wurzeln und Bodenwellen. Schon wieder half mir jemand aus der Patsche, den ich zuvor in Schwierigkeiten gebracht hatte. Ich musste an Ruhnke und den Taxi Driver denken. Als ich am Ferienhaus ankam, saß Victor auf der Bank neben der Eingangstür und schlürfte Tee. Er schien auf mich gewartet zu haben. „Ich muss mit dir reden“, sagte ich. „Ja, wir haben einiges zu besprechen. Aber zu‐
erst müssen wir eine Einladung wahrnehmen“, sagte er. „Eine Einladung?“, fragte ich. „Bei der Familie. Und heute Abend zum Kon‐
zert.“ Ich schaute ihn ungläubig an. „Komm einfach mit und schau es dir an“, sagte er. Wir liefen einmal quer durch den Ort. „Klein‐Muselkow war vor zehn Jahren praktisch ausgestorben. Man wollte das Dorf schon unter‐
pflügen. Dann kam die Familie. Und seitdem ist das hier die einzige Gemeinde weit und breit, die wieder wächst – trotz achtzig Prozent Arbeitslo‐
sen“, erzählte Victor. 426 „Achtzig Prozent?“, staunte ich. „Mit den Nachbarorten zusammen hat Klein‐
Muselkow 200 arbeitsfähige Einwohner. Davon gehen 40 einer Erwerbstätigkeit nach. Zur DDR‐
Zeiten hatte die LPG hier 300 Beschäftigte, heute sind es 25.“ „Und was machen diese Arbeitslosen den gan‐
zen Tag lang?“, fragte ich. „Leben zum Beispiel. Fritz baut ein Haus nach dem anderen. Sigi, der Angler, der uns die Fische bringt, ist auch arbeitslos. Und hat nie Zeit. Er hat ein Haus, einen Garten und pflegt seine Mutter. Willi ist auch arbeitslos. Er hat seinen Vogelpark und seine Pflegekinder.“ Ich dachte nicht daran, mich dieser Lebensart anzuschließen. Ich war aus einem anderen Grund hier. „Und wann reden wir über dieses Paket?“, drängte ich. „Jetzt nicht“, sagte er. Ich folgte Victor in einen Garten, wo hinter einem Dahlienbeet eine riesige Kaffeetafel aufgebaut war. Darum herum tobte das Leben. Ich fühlte mich an Brueghels Gemälde „Die Bauernhochzeit“ erinnert. Über dem Szenario schwebte ein Kran mit einem Ausleger. Daran hing ein Sitz mit einem Kamera‐
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mann darauf. Ein anderer lief mit einer Steadicam um den Tisch herum. Tonmänner hielten sich mit Mikrofonangeln und Kopfhörern im Hintergrund. „Ist das echt oder gespielt? Kommen wir jetzt ins Fernsehen?“, staunte ich. „Nee, ins Kino. Die drehen hier gerade einen Dokumentarfilm. ‚Am Arsch der Welt’ oder so ähnlich heißt der“, erklärte er. In der Mitte der Tafel saß ein Riese mit buschi‐
gen schwarzen Augenbrauen und einer Mähne schwarzgrauer Haare. Sein Gesicht war kantig und seine Haut lederartig. So ungefähr musste Sitting Bull ausgesehen haben. Links und rechts von ihm saß je eine elfenhafte Frau. Die beiden ähnelten einander stark, nur dass sie verschiedenen Genera‐
tionen anzugehören schienen. „Sag mal, sind das Mutter und Tochter links und rechts von dem Häuptling da?“, fragte ich Victor. „Genau. Er lebt übrigens mit beiden zusam‐
men.“ Ein Alphatier, und was für eines, dachte ich. „Er hält sich Mutter und Tochter als Frauen? Ist er am Ende der Vater der Jüngeren?“ „Nein. Der Vater der jungen Frau lebt jetzt mit der Ex‐Gattin des Häuptlings zusammen. Irgend‐
wann sind die hier alle kreuz und quer verwandt“, 428 sagte Victor. Da fiel mir auf, dass unter den Tischen eine Menge Kinder herumkrochen und einige der Frau‐
en schwanger waren. Sie waren langhaarig und trugen wallende Kleider. Auch die Männer hatten lange Haare. Kurz zuvor hatte ich gelesen, dass im Zoo die Nachzucht von Orang‐Utans geglückt sei und dass diese Primaten sich nur in einer intakten Gruppe und bei artgerechter Haltung fortpflanzen. Intakte Gruppe. Artgerechte Haltung. Wenn es so etwas auch für den Menschen gab, dann musste es so ähnlich aussehen wie dieses Szenario. „Das sind übrigens fast alles Musiker. Heute A‐
bend veranstalten sie ein Konzert“, sagte Victor. Auch noch Musiker. Ich musste an die Kelly‐
Family denken. Der Indianer richtete sich zum Format einer Schrankwand auf und begrüßte Victor mit einer Umarmung. Und dann stellte Victor mich vor: „Das hier ist übrigens Esther.“ Der Häuptling streckte mir seine Pranke entge‐
gen. Sein Griff war erstaunlich weich. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört“, sagte er in bayeri‐
schem Tonfall. 429
Es gruselte mich. Schon wieder einer, der alles über mich wusste? „Nur Gutes natürlich“, schob er hinterher und lachte. „Setzt euch“, sagte er und machte eine raumgreifende Handbewegung. Man reichte uns Teller und Tassen, schenkte uns Kaffee ein und schaufelte uns Pflaumen‐ und Kä‐
sekuchen auf die Teller. „Weißt du, wem wir das zu verdanken haben?“, flüsterte Victor mir ins Ohr. Ich schüttelte den Kopf. „Bis vor kurzem war ich Luft für sie. Einfach ir‐
relevant. Doch seit du aufgetaucht bist, hat sich das geändert“, tuschelte er. „Wieso? Was hat das mit mir zu tun?“ „Wie wirkt das alles hier auf dich?“, fragte Vic‐
tor. „Ich weiß nicht. Irgendwie schon ein bisschen...”, ich suchte nach einem passenden Wort. „Archa‐
isch?“ Victor tätschelte mir lobend auf den Oberschen‐
kel und flüsterte weiter. „Die nennen sich Familie. Aber ich würde eher sagen, das ist so eine jung‐
steinzeitliche Sippe oder eine Art Stamm. Erstaun‐
lich, dass es so was noch gibt. Oder vielmehr: wie‐
der gibt.“ 430 „Ich weiß aber immer noch nicht, warum du jetzt so geehrt wirst“, sagte ich. „In der Gegend geht das Gerücht, du seiest eine berühmte Schauspielerin oder so. Und dass wir ein Paar seien.“ „Ich, eine Schauspielerin? Und wie kommen die darauf, dass du und ich, dass wir...“ Die sahen nicht so aus, als ob sie Fernsehen gu‐
cken. Dass wir für ein Paar gehalten wurden, scho‐
ckierte mich. Victor tuschelte weiter: „Hier kommt keiner so einfach rein. Da gibt’s eine klare Rangordnung: Schöne junge Frauen sind immer willkommen, na‐
türlich nur allein. Akzeptabel sind auch noch Paa‐
re. Männliche Singles sind jedoch immer suspekt. Die hält man auf Abstand. Außer sie schwängern eine der Frauen hier.“ Das Resultat dieser Politik kroch unter den Ti‐
schen herum und saß auf den Schößen der Eltern. Jetzt fiel mir der deutliche Frauenüberschuss auf. „Und sie sind sozusagen Kollegen von dir: Sie machen mehrere Esoterikzeitschriften und kennen eine Menge Leute aus der Medienbranche. Daher auch das Filmteam. Der Regisseur ist ein alter Spe‐
zi des Chefs. Der Chef sitzt übrigens in fast allen 431
Vereinen hier im Vorstand, ist Geschäftsführer der Medienfirma, Gemeinderat und demnächst wahr‐
scheinlich auch Bürgermeister“, erklärte Victor. Und der hatte uns eingeladen. Zeitschriften machten sie. Und sie dachten, dass ich eine Schau‐
spielerin sei. Wie meine Schwester. Schmeichel‐
haft. „Meinst du, wir sollten sie aufklären?“, fragte Victor. Das hätte alles kaputt gemacht. Das war wirklich ein filmreifes Szenario und wir saßen mittendrin; man fütterte und bediente uns. Ich fand diese Menschen schön; sie sahen zufrieden aus. Der Häuptling schien alles zusammenzuhalten. Ein Zentralgestirn eben. Er strahlte Ruhe und Zuver‐
sicht aus. Eine Familie. Ein Nest. Wurzeln schla‐
gen. Victor legte seine Hand auf meinen Ober‐
schenkel. Ich schauderte. Sie war warm und ein wenig feucht. Ich spürte, dass er mich anschaute. Überhaupt schaute man mich hier ständig an. Auch der Häuptling warf mir immer wieder freundliche Blicke zu. „Tu’s nicht! Du wirst als Muttertier enden, als Landei und Hausfrau. Du hast eine Medienkarrie‐
re vor dir, die Chance deines Lebens! Und das Geld kommt dann von ganz alleine. Vergiss die 432 Million, für dich ist viel mehr drin! Geschenktes Geld ist ein Dreck!“, so bellte es durch meinen Kopf. Sie schauten weg und Victors Hand ließ mich los. Ich hatte mich wieder eingekriegt. Alles total archaisch, ein albernes, antiquiertes Spektakel. To‐
tal beschränkt, diese Frauen. Ich war Kosmopoli‐
tin, eine Medienfigur; ich war zu Großem berufen. Das hier war mir alles zu eng. Nach dem Kaffeetrinken machte die Sippe sich zu einer Wiese am Seeufer auf, wo bereits eigen‐
tümliche Instrumente aufgestellt waren. Ich sah Trommeln auf hohen Stelzen, die mittels einer ge‐
spannten Saite gespielt werden. Der Indianer schlug auch Gongs vom Format eines Garagento‐
res und die ältere der beiden Elfenfrauen spielte eine Art Monocord. Die Jüngere führte zum Schnarren und Sirren in der Luft eine Art Ein‐
Frau‐Ballett auf, indem sie in einem hauchzarten schwarz glänzenden Ganzkörperkondom zwi‐
schen den Musikern herumhüpfte. Ihr straff auf dem Hinterkopf gebundener Pferdeschwanz wipp‐
te dabei durch die Luft. Darum herum und dar‐
über hinweg schwebten die Kameras und die Mik‐
rofone und das Publikum saß im Gras und lausch‐
te. 433
„Ich wusste gar nicht, dass es hier so viele Fein‐
geister gibt“, flüsterte ich Victor ins Ohr. „Sie nennen sich Kulturell‐Kreative. In Greifs‐
wald gibt es sogar eine Waldorfschule, da schicken sie ihre Kinder hin. Aber am liebsten würden sie sie selber zu Hause unterrichten“, tuschelte er zu‐
rück. Plötzlich drehten sich alle um. Ich erkannte sie sofort: Es waren die Jungs von der Bushaltestelle, die mich so nett begrüßt hatten. Sie fuhren mit laut heulendem Motor im Dorf auf und ab und be‐
schallten uns mit ihrem Faschogetöse. Unbeirrt brachten die Künstler ihr Programm zu Ende, ob‐
wohl man davon nichts mehr hörte. „Irgendwie doch kein lupenreines Idyll“, sagte ich. Als wir mit dem Fahrrad nach Klein‐Muselkow zurückfuhren, wurde es bereits dunkel. Die Luft war von Brummen und Rauschen erfüllt und dann tauchten über einer Kuppe in den wogenden Raps‐
feldern gleißende Lichter auf. „Sind das UFOs?“, fragte ich Victor. „Nein, Spritzenwagen“, antwortete er. Als wir näher kamen, sah ich eine Staffel von hochbeinigen Traktoren, die Tankwagen hinter sich herzogen und mit breiten Auslegern einen 434 feinen Nebel versprühten. „Die tun das ja sogar nachts“, staunte ich. „Schichtbetrieb. Mit Flutlicht geht das“, sagte Victor. Als wir zuhause ankamen hatte ich Halsschmer‐
zen und mein Kopf war kurz vor dem Platzen. „Ich glaube, ich werde krank“, sagte ich. „Das geht vorbei. Ist völlig unbedenklich, sagt die Industrie“, klärte mich Victor auf und lachte bitter. Ich schaute ihn entsetzt an. „Jedes Jahr das Gleiche“, sagte er und hustete. „Aber es ist schon sehr viel ruhiger als früher.“ „Ruhiger? Wieso?“, fragte ich. „Als die Familie hier neu war, haben sie ange‐
fangen, Gemüse und Kräuter anzubauen. Aber das Gift verteilt sich natürlich auch auf die ökologisch bewirtschafteten Felder. Eines Morgens waren die Kräuter alle bleich. Sie haben gegen die LPG eine Kampagne gefahren, so richtig mit Presse und Fernsehen. Und Strafanzeige erstattet. Dann ging der Gegenterror los: Steine kamen durch die Fens‐
ter geflogen, die Spritzenfahrer haben demonst‐
riert und die Nazis haben ab und zu einen Gut‐
menschen vermöbelt. Heute hat sich die Familie ans Gift und die LPG an die Familie gewöhnt“, er‐
435
zählte Victor. Also ist das Landleben noch nicht einmal beson‐
ders gesund, dachte ich. Langsam fühlte ich mich wirklich wie zuhause. Ich kam ins Fernsehen und hier lief ein Programm wie in Berlin‐Neukölln: Vandalismus, verwahrloste Jugendliche, verfein‐
dete Lager. All das konnte ich beobachten, wenn ich vom Balkon meiner entmieteten Wohnung aus auf die andere Seite des Landwehrkanals schaute. Nur eines fehlte noch: Drogen. Die ganze Nacht lang tat ich kein Auge zu. Es sprengte meinen Schädel, wobei ich nicht wusste, ob es an meinen Gedanken und/oder am Gift lag. Als wir am nächsten Tag frühstückten, fragte ich Victor: „Warum hast du mir dieses Paket geschickt? Und was meinst Du mit ‚Tu’s nicht’?“ „Das, was du jetzt nicht mehr nötig hast“, sagte er mit vollem Mund. „Und was habe ich deiner Meinung nach nicht mehr nötig?“ „Dich zu verkaufen. Für Geld Dinge zu tun, die du nicht tätest, wenn du genug davon hättest.“ „Da fällt mir im Moment aber gar nichts ein. Ers‐
tens tue ich zurzeit viel zu wenig, zweitens tue ich das, was ich tue, nicht für Geld. Das Geld ist nur 436 ein angenehmer Nebeneffekt. Drittens: Ich will et‐
was bewegen. Ich will, dass man mich hört, dass man liest, was ich schreibe. Ich will Feedback, Be‐
deutung, Anerkennung.“ „Und du meinst, du kannst nur etwas bewegen und Anerkennung bekommen, wenn du im Me‐
dienzirkus mitspielst?“ „Das ist alles, was ich gelernt habe.“ „Und das willst du den Rest deines Lebens tun? Warst du jemals glücklich damit?“ Ich schluckte. Und überlegte. Dann sagte ich: „Dein Papa hat mir eine echt heiße Story erzählt. Damit kann ich ganz groß rauskommen.“ „Und dann? Was machst du, wenn du ganz groß rausgekommen bist?“ Man wird mich hofieren. Man wird mich filmen und interviewen, man wird mich einladen, ich werde Angebote von großen Zeitschriften und Magazinen bekommen. Bücher schreiben. Ich wer‐
de berühmt sein, noch öfter im Fernsehen sein als bisher. Mit wichtigen Leuten verkehren, endlich den Alpha‐Plus‐Mann finden, den ich verdiene... All das wollte ich sagen, doch es war mir peinlich. „Du willst vielleicht nicht so sehr das Geld, aber du willst Karriere, Macht, Prestige. Und läufst di‐
rekt in die Sackgasse. Ihr Alphamädchen ver‐
437
drängt beim Aufstieg die Alpha‐Plus‐Männchen, die ihr Euch als Partner wünscht. Ihr treibt sie bis zum Zusammenbruch vor euch her. Und auch Al‐
pha‐Minus und Betamädchen wollen Alpha‐Plus‐
Männchen, die immer seltener werden. Je weiter oben ihr seid, desto einsamer wird es für euch.“ Ich stutzte. Victor hatte in Worte gefasst, was mir in den ersten stillen Momenten, die er in mein Le‐
ben brachte, diffus zu dämmern begann. Ich holte aus: „Geld macht noch keinen Alpha‐
mann. Und DU bist ganz bestimmt keiner. Keine Ahnung, woher du so pervers viel Geld hast, dass du mal eben so eine Million verschenkst. Auf jeden Fall hast du es nicht mit ordentlicher Arbeit ver‐
dient. Irgendwie Geld machen zählt nicht. Das ist unsportlich“, haute ich ihm um die Ohren. Doch er duckte sich noch nicht einmal. „Aha. Und du hattest dein Geld also verdient? Und mein Vater verdient seine fünf Millionen im Jahr? Und all die anderen Sesselpupser auch, die uns abkassieren und gängeln? Wer arbeitet eigent‐
lich noch in diesem Land? Die, die viel verdienen? Und wie viel wird dieses Geld noch wert sein in vielleicht drei oder fünf Jahren, wenn man es ein‐
fach machen kann, legal und ohne zu arbeiten?“ Ich riss mich zusammen: „Die meisten arbeiten 438 nicht für Geld, sondern weil sie in der Arbeit Sinn finden, sozialen Anschluss, Bedeutung, Struktur, Halt, Identität. In Russland sind Leute jahrelang weiter zur Arbeit gegangen, obwohl sie längst nicht mehr bezahlt wurden. Es geht darum, ge‐
braucht zu werden, etwas zu leisten, Anerkennung zu bekommen. Das Geld ist für mich nur ein klei‐
ner Teil der Anerkennung. Hast du in deinem Le‐
ben schon einmal etwas geleistet? Dich schon mal gefragt, wozu du eigentlich hier auf der Erde he‐
rumläufst? Wozu bist du eigentlich nütze? Du kriegst ja noch nicht mal mehr einen hoch“, bellte ich. „Und du? Hast du schon mal etwas Sinnvolles getan?“, brummte Victor. Ja, einen Spatzen aufgezogen, hätte ich fast ge‐
sagt. Mir dämmerte, dass der ganze Versiche‐
rungszauber, von dem ich bisher gelebt hatte, ir‐
gendwie ein ziemlich fauler ist. Er macht die Soli‐
darität zwischen den Menschen immer überflüssi‐
ger und sich so immer unentbehrlicher. Wir schaf‐
fen Abhängigkeit und selbst die Probleme, die wir zu lösen vorgeben, und sichern so unsere Daseins‐
berechtigung. Analog dazu basteln Hacker Com‐
puterviren und verkaufen dann Anti‐Viren‐
software. Die Mediziner verschreiben Medikamen‐
439
te und behandeln dann die Nebenwirkungen. Der Staat schafft immer mehr Gesetze und erzeugt so immer mehr Kriminelle, was noch mehr Staat und Gesetze erforderlich macht. Aber ist das alles Ar‐
beit, obschon es bezahlt wird? Was ist also das Wichtigste, wofür wir leben? Beschäftigung und Wichtigkeit? „Komm, ich zeige dir etwas“, sagte Victor. Dann stand er auf und ging zur Tür. Victor holte seine Tschaika und wartete dann mit offener Beifahrertür vor dem Haus. Der Motor blubberte und er rief mir zu: „Steig ein!“ Ich entschied mich einmal mehr für das Weib‐
chen in mir, und wir fuhren in Richtung Küste. Ich schaute aus dem Fenster und draußen sah es aus wie in Vietnam nach einem Angriff mit Agent Orange: Bis auf den Raps war die gesamte Boden‐
vegetation in der Nähe der Felder gebleicht und auch das Laub an den Bäumen war verwelkt. Und das jedes Jahr aufs Neue. „Willkommen in der Stadt Brasan“, stand auf ei‐
nem Schild am Ortseingang. Zwischen den Gie‐
beln tauchte ein massiver Kirchturm aus Ziegeln auf. „Aha, eine Stadt ist das also.“ Ich musste lachen. 440 „Brasan hat 1600 Einwohner, ist aber eine Stadt, so richtig mit Stadtrecht, Marktplatz und so. Und zwar die zweitkleinste in Deutschland“, erklärte Victor. Wir rollten über Kopfsteinpflaster hinab zum Hafen. Dort stiegen wir aus. Auf der Mole angel‐
ten ein paar Jungs; an den Pollern waren Segelboo‐
te vertäut und auch ein antiker hölzerner Zwei‐
master. Möwen schwebten im Wind auf der Stelle und lachten. Wir liefen zwischen den bunt gestrichenen spitzgiebeligen Häuschen hindurch zum Markt‐
platz. Dort standen vor einem SPAR‐Markt ein paar aufgedunsene Landeier mit fettigen Haaren, Windjacken und Bierflaschen in der Hand herum. Victor ging hinein und kam ein paar Augenblicke später mit einem Schlüsselbund wieder heraus. Ich folgte ihm ein paar Häuser weiter. Dann blieb er vor einem immerhin zweigeschossigen Haus mit einem leeren Laden stehen. Im Schau‐
fenster hing ein Schild mit der Aufschrift „zu ver‐
kaufen“. Er schloss die Tür auf und wir gingen hinein. „Willkommen zu Hause“, sagte er. Ein Zuhause? Hatte ich so etwas? „Noch ein bisschen leer hier“, sagte ich, als ich 441
mich umschaute. Der Laden war ausgeräumt; nur eine Kühltheke und ein paar Zementsäcke standen herum. Victor führte mich durchs Haus. Im Ober‐
geschoss befand sich eine Vierzimmerwohnung, die wie eine Nostalgieausstellung aus DDR‐
Tapeten, ‐Leuchtern und ‐Möbeln wirkte. „Das werden wir alles wunderschön herrichten. Unter dem Teppichboden sind noch richtige Die‐
len“, sagte Victor. Wir stiegen ins Dachgeschoss und schauten in den Hof hinab. „Da unten wird der Biergarten sein“, sagte er. „Wir werden einen Regionalladen eröffnen. Da wird man alles bekommen, was hier in der Gegend hergestellt wird. Und das ist fast alles, was man zum Leben braucht. Der Trick wird sein, dass man dort nicht mit Euro einkaufen kann, sondern mit Geld, das nicht so schnell verdampft wie der Euro. Und dieses bessere Geld, das machen wir selbst.“ Seine Augen leuchteten. „Wen meinst du mit ‚wir’?“, fragte ich ihn. „Na wen wohl? Dich und mich meine ich“, sagte er. „Wir machen hier ein offenes Haus. Mit Gäste‐
zimmern, Kulturprogramm – und dem Laden. Nach hinten raus gibt es noch den Stall und den Garten.“ Wir stiegen hinab, passierten den Hof und 442 durchquerten eine Stallscheune. Wir gelangten in einen Garten mit Obstbäumen, der von einem Bach durchflossen wurde. Darüber spannte sich eine kleine Rundbrücke. „Kostet nur hunderttausend“, sagte Victor. „Das sind ja Peanuts“, witzelte ich. „Und? Wa‐
rum hast du es nicht schon längst gekauft?“ „Ich für mich alleine? Nein, dazu habe ich keine Lust. Du und ich, wir könnten hier ein richtig gei‐
les Leben führen.“ „Ich habe schon ein geiles Leben. Oder sagen wir: Demnächst werde ich das haben.“ „Du willst etwas bewegen. Du willst Anerken‐
nung. Das will ich auch. Hier können wir etwas bewegen. Wir können diese ganze Gegend hier be‐
reichern. Künstler einladen. Ein tolles Programm fahren. Viel Besuch empfangen. Unser eigenes Geld machen.“ „Wieso eigenes Geld? Du hast doch schon jede Menge davon“, wunderte ich mich. „Das ist ja das Problem. Ich kann mich einfach bedienen, Geld machen, legal und ohne zu arbei‐
ten. Immer mehr Leute tun das. Und deshalb wird der Euro bald wertlos sein. Man wird besseres Geld als den Euro brauchen“, sagte er. „Das mit dieser Geldmacherei glaube ich dir 443
nicht. Woher hast du die Kohle?“ „Weißt du, wie eine Bank funktioniert? Wie der Euro entsteht?“ „Naja, irgendwie macht die Zentralbank das Geld und das verleihen die Banken dann. Aber dieses Thema ist mir zu trocken. Solange Geld aus dem Automaten kommt, bin ich zufrieden.“ „Dann brauche ich dir auch nicht zu erzählen, wo die Million herkommt.“ „Dein Vater hat mir schon ein bisschen vom Bankgeschäft erzählt und von der Zeitbombe, die da vor sich hintickt. Und dass es viele Wege gibt, Geld zu machen. Wenn du es mir nicht erzählst, bekomme ich es eben anders heraus. Da laufen ein paar richtig große Schweinereien und über die werde ich berichten.“ „Das würde ich nicht tun. Du wirst dir damit keine Freunde machen. Und keine Ruhe mehr fin‐
den. Vielleicht bist du dann berühmt, aber du wirst nichts davon haben, fürchte ich.“ „Das ist doch mein Problem, oder?“ „Nicht ganz. Hier hättest du die Chance, mit mir zusammen die Welt ein wenig schöner zu machen. Für mich alleine fange ich das nicht an. Ich brau‐
che dich dafür.“ Schon wieder einer, der sagte, dass er mich brau‐
444 che. Langsam wurde ich größenwahnsinnig. Alle schienen alles über mich zu wissen und mich zu brauchen. „Und wie willst du in deinem Laden hier besse‐
res Geld machen?“, fragte ich. „Indem wir zins‐ und tilgungsfreie Eurokredite für Realinvestitionen vergeben und zwar nur an Leute, die hier in der Gegend etwas produzieren. Diese Kredite bekommen sie, wenn sie für das neue Geld arbeiten und ihre Produkte verkaufen. Dieses Geld wird nur hier in der Gegend und in Bar umlaufen und zwar ohne Banken und Speku‐
lation. Und weil wir in einem abgeschlossenen Tauschclub Wirtschaft spielen, fallen noch nicht einmal Steuern oder Abgaben an.“ „Und wie viele Leute machen schon mit?“ „Bis jetzt niemand. Sie können sich nicht vorstel‐
len, wie es funktioniert. Sie verstehen es einfach nicht.“ „Für mich hört sich das nach einer schönen Fan‐
tasterei an. Hat das schon mal jemand auspro‐
biert?“ „Es gibt Regionalwährungen, Tauschringe, Ra‐
battsysteme. Aber zins‐ und tilgungsfreie Euro‐
kredite gegen Leistung für anderes Geld in einem eigenen, kleinen Markt sind etwas Neues.“ 445
„Du willst Euros verschenken und dann sollen die Leute für irgendwelche selbstgemachten Scheinchen arbeiten? Das ist doch lächerlich. Wel‐
chen Wert hätte dieses Spielgeld? Ich würde die Euros nehmen und ausgeben und weiter für Euros arbeiten.“ „Ich verschenke die Euros nicht. Sie werden in Realwerte investiert. Und nur wer dann auch für das neue Geld produziert, kann mitmachen und steuerfrei und ohne Renditedruck innerhalb des Systems wirtschaften. Versuch das mal in Euro... Es gibt kein stärkeres politisches Mittel, als Geld zu machen und die Spielregeln zu bestimmen. Das ist ein zweischneidiges Schwert, das die Welt schö‐
ner machen kann oder sie zerstört, wenn man es missbraucht. Im Moment wird damit die Welt zer‐
stört. Das Rad und das Geld haben die Zivilisation und materielle Fülle hervorgebracht, aber auch Krieg und Zerstörung ermöglicht. Geld entsteht heute im alchemistischen Prozess des Bankkredits, nämlich durch Bilanzverlängerung: Auf der einen Seite entsteht die Forderung, auf der anderen das Geld. Kreditgeld ist ein Zauberstab, das irdische Pendant zur göttlichen Schöpfung aus dem Nichts.“ Entweder dieser Typ spinnt oder da passiert et‐
446 was ganz Verrücktes, von dem ich bisher noch keine Ahnung habe, dachte ich. Er dozierte weiter: „Indem man Geld und Kredit schöpft, erzeugt man nach der doppelten Buchfüh‐
rung auch den Gegenwert, die Investition. Nur ist diese Investition im gegenwärtigen System immer fiktiver, symbolischer geworden. Aus Grundstü‐
cken, Häusern und Maschinen werden Aktien und Wertpapiere, die beliehen werden, was wiederum Geld und Wertpapiere erzeugt. Die Geldschöp‐
fung hat sich von den Realwerten abgekoppelt. Und deshalb inflationiert die Geldmenge und die Preise für Rohstoffe werden nach oben spekuliert, während die Realwirtschaft durch Kreditmangel austrocknet, denn die Banken brauchen dank der Luftbuchungen die Wirtschaft zum Geldmachen nicht mehr. Es gäbe keinen Mangel mehr auf der Welt, wenn man endlich Geld nur noch für Realin‐
vestitionen schöpft und nicht mehr für die Speku‐
lation und Beleihung von fiktiven Symbolen wie Wertpapieren, die noch nicht einmal mehr aus Pa‐
pier bestehen. Wir werden Geld machen, das nur noch für Realinvestitionen in regionale Kleinbe‐
triebe geschöpft wird. Und dieses Geld wird wert‐
stabil sein im Gegensatz zum inflationären Euro. Die Leute werden ihre immer wertloseren Euros 447
massenhaft in unser Geld tauschen. Die Euros ge‐
ben wir dann wieder für weitere Kleinunterneh‐
men aus. Der Untergang des Euro ist der Turbo, der unser System antreibt.“ Victor schwieg und schaute mich an, als sei er nicht mehr von dieser Welt. Dann sagte er: „Ich brauche dich, weil du als Journalistin gut erklären kannst und die richtigen Fragen stellst. Und weil ein Paar vertrauenswürdiger ist und eher ernst genommen wird als ein einsamer Wolf wie ich. Ohne dich schaffe ich es nicht.“ Das hatte ich doch schon einmal gehört. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. „Und warum bist du einsam?“, fragte ich giftig. „Ich ertrage es nicht, dass die anderen mit ihren Problemen derart beschäftigt sind, dass sie keine Zeit haben, über Lösungen auch nur nachzuden‐
ken. Sie sagen, sie hätten zuwenig Geld, weil es zuwenig Arbeit gibt. Sie arbeiten für immer weni‐
ger Geld und drücken so die Löhne immer weiter. Wer in diesem System zu Geld kommen will, sollte sich aber nicht auf dem Arbeitsmarkt verkaufen. Ich bin der Einzige hier weit und breit, der Geld einfach macht und keiner versteht es, keiner fragt nach, obwohl im Prinzip jeder diese Möglichkeit hätte. Für das, was ich anbieten kann, nämlich 448 Freiheit, gibt es schlicht keine Abnehmer. Man hasst mich dafür, wenn ich den Leuten sage, wie sehr sie sich versklaven lassen. Zwänge geben ih‐
nen Halt, Identität, Beschäftigung. Nimm den Leu‐
ten ihre Zwänge und Probleme und sie werden sich langweilen und dich dafür hassen. Aber wahr‐
scheinlich leiden die meisten gar nicht an ihrem Sklavendasein. Dummheit ist das beste Schmerz‐
mittel.“ Wie arrogant und größenwahnsinnig, dachte ich. Dann sagte ich: „Auch wenn du wirklich als Einzi‐
ger hier so schlau bist, kannst du Dummköpfen trotzdem nicht ins Gesicht sagen, sie seien Dumm‐
köpfe. Die Wahrheit kann töten, vor allem die, die sie aussprechen. A scheel Lieg is besser als a beese Woarhait, sagen wir Juden. Sie mögen dich nicht, weil du sie bloßstellst. Und deshalb bist du ein‐
sam.“ „Ich will nicht mehr einsam sein“, sagte Victor. „Meinetwegen würde ich darüber nicht mehr re‐
den, wenn ich nur nicht so verdammt einsam wäre und das Elend der anderen nicht ständig vor Au‐
gen hätte. Aber ich habe von diesem verbotenen Baum gegessen. Ich kann nicht mehr ins Paradies der Unwissenheit zurück. Wenn ich nur einen ein‐
zigen Menschen fände, der mich versteht. Ich 449
möchte in zufriedene Gesichter schauen, glückli‐
che Menschen um mich haben, in einer Welt leben, die ich den Ungeborenen empfehlen kann. An die‐
sem Haus bauen, den Garten beackern, Gäste be‐
herbergen. Einfach nur leben. Es ist alles da, nur dieser andere Mensch fehlt.“ Ich schluckte. Er schaute mich an und seine Au‐
gen fragen: Wie wäre es mit dir, Esther? 450 Knete selbst gemacht Einfach nur leben, Geld ohne Ende, Kinder. Aber der Status, das Sozialprestige, die Karriere... Nein, Victor war kein Alphamann. „Ich will arbeiten, keine Hausfrau sein. Richtig arbeiten“, so flog es ihm um die Ohren, „du glaubst wohl, Geld sei alles, mit Geld könntest du alles kaufen. Aber Geld ohne Karriere einfach zu machen gilt nicht, ist unsportlich. Es geht darum, zu arbeiten. Du hast mir eine Million geschenkt. Und ich will immer noch arbeiten. Ich will die Struktur, Prestige, ich will wichtig sein, Bedeutung haben, jemand sein, weil ich einen respektablen Beruf habe. Nein, geschenktes Geld ist ein Dreck. Außerdem bekommst du keinen hoch. Du bist ein Schlappschwanz, der in der Welt nicht klarkommt. Du bist ein Spinner, ein Weltverbesserer“, brüllte ich. Ich rannte nach draußen und begann zu japsen. Rotz und Tränen quollen aus mir heraus. Ver‐
flucht, wer hatte da geredet? Natürlich war es eine irre Vorstellung, nie wieder über Geld nachdenken zu müssen – und kein Gezerre zwischen Arbeit und Kindern zu erleben. Doch der Antreiber in mir sah mich schon als Heimchen in DDR‐
451
Kittelschürze mit einem Kind auf dem Arm und einem weiteren im Bauch. Ich stand an der Kaimauer und schaute aufs Wasser. War das alles wahr? Da sah ich einen Schatten neben meinem. Es war der von Victor. „Woher hast du das Geld?“, fragte ich ihn. „Sei vernünftig. Es lohnt sich nicht, für dieses Geld Kompromisse einzugehen. Der Euro ist nicht besser als Falschgeld. Nur dass man noch nicht einmal Scheine drucken muss, um sich zu bedie‐
nen. Buchgeld auf dem Konto hat keine Sicher‐
heitsmerkmale. Man kann es einfach aus dem Hut zaubern, indem man Kredit auf Wertpapiere auf‐
nimmt. Solche Kredite muss man nämlich nicht zurückzahlen.“ „Das kann nicht sein. Alle Kredite müssen zu‐
rückgezahlt werden“, sagte ich. „Das steht in den Bedingungen meiner Bank auch. Aber für Wertpapierkredite gibt es keinen Tilgungsplan. Und die Zinsen werden einfach hochgebucht.“ „Aber ein Kredit, der nicht getilgt werden muss, ist doch quasi geschenktes Geld... Das ist un‐
gerecht.“ „Naja, eigentlich hat eine Bank nicht wirklich In‐
452 teresse daran, dass Kredite getilgt werden. Sie macht nur Gewinn, wenn sie Zinsen kassiert, und die Zinsen müssen durch zusätzliche Kredite in die Welt kommen. Alles Geld entsteht durch Kre‐
ditvergabe der Banken. Ohne Kredit kein Geld, ohne Geld keine Wirtschaft und auch keine Ban‐
ken.“ „Ich finde das trotzdem unmoralisch, was die Bank da tut und dass du dabei mitmachst.“ „Warum? Die Banken freuen sich, dass sie im‐
mer mehr Kredit vergeben können und so Gewin‐
ne machen, weshalb auch die Börsen steigen, was die Anleger und die Aktiengesellschaften freut. Und jemand wie ich gibt das zusätzliche Geld aus, das durch den Kredit in die Welt kommt, und die Verkäufer freuen sich über die zusätzlichen Ein‐
nahmen, was die Wirtschaft ankurbelt. Alle sind zufrieden.“ „Aber irgendwann ist Schluss damit, spätestens wenn die Sicherheit nicht mehr ausreicht“, hielt ich dagegen. „Die Sicherheit wächst mit dem Kreditrahmen, und zwar automatisch. Je mehr Geld durch solche Kredite geschöpft wird, desto höher steigen die Kurse der beliehenen Wertpapiere, besonders der Rohstoffaktien. Die Spekulanten stürzen sich aufs 453
Öl und Gold und andere Rohstoffe, weil eine ra‐
sant wachsende Geldmenge begrenzte Rohstoffe jagt. Und die Geldmenge eskaliert, weil die Ge‐
schäftsbanken ganz überwiegend Wertpapierkre‐
dite geben, bei denen nicht reale Immobilien und produzierende Maschinen beliehen werden, son‐
dern Aktien und Forderungen, die bei der Kredit‐
vergabe zusammen mit dem Buchgeld entstehen. Diese Forderungen werden abermals beliehen und so weiter. Das ist ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Mehr Geld, höhere Kurse, mehr Kredit, mehr Geld. Ohne Ende. Schön blöd, wer da noch produziert und arbeitet.“ Unglaublich, dachte ich. Victor redete sich in Fahrt: „Und die Rohstoff‐
produzenten drosseln die Fördermengen, sparen Produktionskosten, schonen die Umwelt und die Vorräte, treiben so den Preis zusätzlich und ver‐
dienen sich mit dem Verkauf eigener Aktien oder Wetten auf steigende Rohstoffpreise eine goldene Nase. Das ist die Umkehrung der unsichtbaren Hand durch die Finanzmärkte – und echter Um‐
weltschutz durch den Turbokapitalismus. Endziel: Hyperinflation. Fazit: Es gibt zwei Kategorien von Menschen: die Masse, die für Geld arbeitet, und die Banker und Spekulanten, die es machen.“ 454 Mir schwirrte der Kopf. „Aber eine Bank kann doch kein Geld machen, sondern nur Geld als Kredit geben, das sie zuvor von den Sparern eingenommen hat“, wunderte ich mich. „Wenn eine Bank Kredit vergibt, erzeugt sie zu‐
sätzliches Geld. Sie freut sich natürlich, wenn sie Spargelder erhält, weil sie dann weniger Geld von der Zentralbank braucht. Aber Zentralbankgeld kann eine Bank jederzeit nach Bedarf erzeugen, indem sie Kreditforderungen bei der Zentralbank in Geld tauscht und dann das Fünfzigfache davon an zusätzlichen Krediten vergibt“, erklärte er. „Das Fünfzigfache? Die Zentralbank kontrolliert doch die Banken und die Geldmenge“, hielt ich dagegen. „Die Zentralbanken machen die selbst gemach‐
ten Forderungen der Geschäftsbanken faktisch un‐
begrenzt zu ‚richtigem’ Geld, denn sonst drehen die Geschäftsbanken der Realwirtschaft den Kre‐
dithahn endgültig zu. Das Geld würde durch die Kredittilgung der Fleißigen einfach im Nichts ver‐
schwinden, wenn nicht ständig neuer Kredit nach‐
geliefert wird. Und ohne Geld keine Wirtschaft. In‐
sofern kontrollieren die Geschäftsbanken die Wirt‐
schaft und somit auch die Zentralbank, denn die 455
Zentralbank ist ein juristisches Geschöpf des Staa‐
tes und der Staat ist von den Geschäftsbanken als Kreditgebern und der Wirtschaft als Steuerzahlern abhängig.“ Ich kratzte mich am Kopf. „Wenn es wahr ist, was du da erzählst, dann hat die Million in dem Paket vorher nicht existiert? Du hast sie gemacht, indem du deine Rohstoffaktien beliehen hast und du musst diesen Kredit niemals zurückzahlen? Und deine Aktien steigen, weil die Geldmenge steigt? Das hört sich nach Selbstbedienung und Geldmaschine an.“ „Niemand wird dir glauben, wenn du darüber schreibst, denn du bist keine Expertin. Die Exper‐
ten sehen aber nicht mehr, wie einfach es ist. Sie halten sich mit den Institutionen und Gesetzen auf, die alles nur verschleiern und kompliziert erschei‐
nen lassen. Und die Presse interessieren nur neue Skandale, Dinge, die schon passiert sind. Dieser ganze Selbstbedienungsladen ist gar nicht neu und er ist überhaupt nicht geheim. Er ist so groß, dass er niemandem mehr auffällt. Und alle wollen nur das Märchen glauben, dass Banken die Spareinla‐
gen weiter verleihen und dass Kredite getilgt wer‐
den müssen und dass man zu Geld kommt, indem man arbeitet und und produziert und verkauft. 456 Das alles passiert zum Teil auch so, aber es gibt eben auch die andere Realität der Geldmacher, und die müssen eben keine realen Sicherheiten bringen, sondern beleihen Wertpapiere und müs‐
sen keine Kredite tilgen. Sie haben einen unbe‐
grenzten Kreditrahmen, der mit dem Wert der Wertpapiere, die sie beleihen, durch die Inflation, die sie erzeugen, immer weiter wächst. Das nennt man auch Selbstalimentierung und Kreditkaskade, das ist Geldvermehrung mit Turboeffekt. Geldma‐
chen eben, grenzenlos, legal, ohne Arbeit und Risi‐
ko. Denn wenn es kracht, blecht der Staat und letztlich der Sparer und Steuerzahler.“ „Wenn das stimmt, ist das einfach zum Kotzen. Und warum hatten wir nicht schon längst eine Hyperinflation?“ „Weil die allermeisten so lange so staats‐ und bankengläubig waren und so fleißig fürs Geld aus dem Nichts gearbeitet haben. Sie wollen die Dago‐
bert‐Duck‐Märchen rund ums Geld glauben, dass Banken das Geld der Einleger verleihen und ir‐
gendwie Geld speichern, dass man erst sparen muss, um etwas zu kaufen... Die Banken bedienen den Volksglauben ans knappe, wertvolle Geld durch die Simulationsshow aus Kontrollorganen, Börsen, komplizierten Wetten, Kreditratings, Zin‐
457
sen, Tilgung, Pfändung, Vollstreckung und vieler‐
lei Zauber, den kaum einer versteht. Und sie sor‐
gen dafür, dass Geld für die Arbeitenden tatsäch‐
lich knapp ist, indem sie Kredite für produktive Investitionen knapp halten, weil sie die Wirtschaft zum Geldmachen nicht mehr brauchen und die Knete arbeitsfrei und unbegrenzt ohne den Um‐
weg über die Wirtschaft an den Finanzmärkten machen können. Dass das alles so lange funktio‐
niert hat, ist das eigentliche Wunder. Man kann sehr viele Leute sehr lange zum Narren halten, a‐
ber nicht alle für immer. Immer mehr Leute bedie‐
nen sich und die Hyperinflation kommt garan‐
tiert“, sagte Victor. Schon wieder hatte ich das dringende Bedürfnis, ganz schnell nach Berlin zurück zu fahren. Ich musste herausfinden, ob das alles wahr war. „Lass uns hier was aufbauen. Bald wird es da draußen sehr ungemütlich. Aber hier können wir es uns richtig schön machen“, sagte Victor. „Komm.“ Er griff meinen Arm und wir stiegen ins Auto. Ich war benommen und hatte das Ge‐
fühl, in zwei Teile zerrissen zu werden. Als wir wieder im Ferienhaus waren, sagte ich zu ihm: „Vielleicht ist es ja wahr, was du da er‐
zählst. Solltest du Recht haben, heißt das aber 458 nicht, dass ich hier mit dir etwas anfange. Ich glaube nicht, dass du hinbekommst, was du da vorhast.“ „Ich alleine nicht. Wir beide aber schon“, ant‐
wortete er. „Ein Mann würde es alleine hinbekommen. Ich finde nicht, dass du ein Mann bist. Du bist ein Schlappschwanz. Ein Kindskopf. Von dir lasse ich mich nicht unter Druck setzen. Du kannst mich nicht zwingen.“ Victors Gesichtszüge zuckten. Er erschien mir deutlich geschrumpft. Und ich legte nach: „Du erinnerst mich an Herbert. Hinter deiner al‐
bernen Fassade lauert die Depression. Depressive wollen sich immer anklammern, Energie absau‐
gen, sie sind wie Schwarze Löcher. Für so etwas wie dich gibt es Therapeuten. Ich bin aber kein Therapeut. Oder geh zum Psychiater. Der ver‐
schreibt dir was. Tu dir selber und deiner Umwelt den Gefallen. Dann kriegst du vielleicht auch wie‐
der einen hoch und die Leute meiden dich nicht mehr.“ „Du meinst also, das Problem ist gelöst, wenn ich mir Drogen einwerfe?“, sagte Victor leise. Sein Unterkiefer mahlte und sein Blick war wässrig. „Das ist besser, als andere mit deinen Problemen 459
zu belästigen“, antwortete ich. Victor ging nach nebenan ins Schlafzimmer und kam wenig später wieder. Er zog immer wieder die Nase hoch. Sein Gang war elastisch und er schien seltsam aufgerichtet. Sein Blick war kalt. Dann grinste er wie ein Teufel, stolzierte um mich herum und musterte mich von allen Seiten. Er blieb vor mir stehen, griff mit der einen Hand mei‐
nen Nacken und mit der anderen von hinten zwi‐
schen meine Beine. Und küsste mich. Dreist und gierig. Er schmeckte bitter. Meine Zunge fühlte sich taub an und ich spürte, wie hart Victor da unten war. Etwas Unheimliches, Gewaltiges sprengte mir den Schädel. Wir rissen uns die Kleider vom Leib. Er packte mich und schleifte mich ins Schlafzim‐
mer. Dort stellte er sich hinter mich und zwang mich über dem Fußende des Bettes in die Beuge. Auf dem Nachttisch lagen ein Spiegel, eine Ra‐
sierklinge und ein aufgerollter Hunderter. Ein roter Schleier senkte sich vor meine Augen. Mein Ellenbogen rammte Victor in die Seite und es klang hohl; er sackte zusammen und japste nach Luft. „Doping gilt nicht“, schrie ich. „Das ist Bio‐Qualiät, direkt aus Kolumbien“, rief 460 er mir nach, als ich hinausrannte. Und dann hörte ich ihn lachen. Ich musste mich schnell an die Arbeit machen und diesen Irrsinn, von dem mir Banz und Victor erzählt hatten, nachprüfen, herausfinden, ob diese Geldmacherei wahr war. Als ich im Zug nach Berlin saß, überlegte ich ei‐
nen Moment lang, ob ich im Hotel Adlon absteigen sollte. Wie lange würde eine Million für die Präsi‐
dentensuite reichen? Doch ich traute mich nicht, herumzuprassen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es meins sei, dieses Geld, denn was hatte ich schon dafür getan? Andererseits hielt es mich ganz schön auf Trab und ich bohrte immer tiefer in diesem Sumpf ... so mancher Journalist hatte wie Chipsy schon seine Berufsehre gegen eine satte Stille‐
gungsprämie getauscht ... oder war das eher ein erhöhtes Honorar für Nichtveröffentlichung, mit‐
hin doch ein Lohn für journalistische Arbeit, und zwar wirklich gute? Was, wenn ich es doch täte? Er könnte mir die Kohle nicht mehr wegnehmen... War das alles eine Falle, saß ich schon drin, und trieben Banz und Victor mich immer weiter hin‐
ein? Zog Victor mich durch diesen Geldköder, den ich schon gefressen hatte, und schob mich Banz, indem er meinen Ehrgeiz kitzelte? Nichts ist verlo‐
461
ckender als die Versuchung, bei der man nicht zugreifen darf... Bis zum vierten September blieben noch neun Tage. So lange würde ich die Wohnung wohl noch nutzen können. Den Gedanken, sie für mich alleine zu mieten, verwarf ich wieder. Dieser Ort war zu sehr mit bösen Erinnerungen kontaminiert. Au‐
ßerdem dachte ich nicht daran, die Mietschulden meiner Mitbewohner zu bezahlen. Ich musste mit Clara sprechen und sie fragen, ob ich für ein paar Tage bei ihr andocken durfte, bis ich eine andere Lösung gefunden hätte. Ich war ein bisschen nett zu ihr und durfte. Sie gab mir den Schlüssel zu ihrer Wohnung. Ich be‐
sorgte ein extralanges LAN‐Kabel und eine Kabel‐
trommel. Die Türen schlossen wegen der einge‐
klemmten Leitungen schlecht, aber es funktionier‐
te. Ich steckte zwei dieser grünen Scheine in einen Briefumschlag und warf ihn mit der Aufschrift „Danke“ in ihren Briefkasten. Es war allerhöchste Zeit, mich wieder ans Sys‐
tem anzuschließen. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schaltete mein Notebook an. An die inzwischen zweitausendfünfhundert ungelese‐
nen Mails in meinem Postfach wagte ich mich nicht heran. 462 Als nunmehr freie Journalistin abonnierte ich als Erstes über Pressrelations und Newsradar die Pressemeldungen und Nachrichten zum Thema Geld und Banken. Ich bekam Berge von Daten‐
müll, Ad‐hoc‐Meldungen von Banken und Akti‐
engesellschaften, Verlautbarungen von Universitä‐
ten und Ministerien, Pressetermine und Ankündi‐
gungen von Hauptversammlungen. Dann überlegte ich. Zum Spaß fragte ich Google nach dem Begriff „Geldmacher“. Es gibt tatsächlich Leute, die so heißen. Wie dieser Name einst wohl entstanden ist? Waren deren Vorfahren Falschmünzer gewe‐
sen? Oder die ersten Banker? Gab es dazwischen jemals einen Unterschied, außer, dass Banker dafür nicht eingesperrt werden? Dann gibt es noch ein Sachbuch mit dem Titel „Geldmacher: Das geheimste Gewerbe der Welt“ über das Geschäft mit der Herstellung von Bank‐
noten. Doch warum hatten diese Papierstückchen einen Wert? Warum arbeiteten wir dafür? Dann fiepte mein Handy. Es war eine SMS von Banz: „Waren Sie schon einmal auf dem Julius‐
turm der Zitadelle Spandau? Ich warte dort auf Sie.“ 463
Ich wählte seine Nummer, doch er meldete sich nicht. Was war das? Eine Schnitzeljagd? Abermals schnappte ich nach dem Köder. Es war das erste Mal, dass es mich nach Spandau ver‐
schlug. Ich nahm die S‐Bahn nach Westen am ICC und am Olympiastadion vorbei und stieg an der Festung aus. Über eine Brücke betrat ich den Hof der quadratischen Anlage. Und tatsächlich: In der linken Ecke wartete Banz am Juliusturm auf mich. In Sichtweite spazierte sein Bodyguard hin und her. „Langsam wird diese Geldmacherei zu einem Albtraum. Was wollen Sie und was soll ich ausge‐
rechnet hier?“, fragte ich ihn. „Schreiben Sie einen Artikel. Nennen Sie die Dinge beim Namen. Und kündigen Sie den Crash an. Sie haben nur noch wenige Tage Zeit. Die neue Ausgabe von ‚Plan B’ erscheint am ersten Septem‐
ber“, sagte Banz. „Plan B? Das ist doch dieses alternative Wirt‐
schaftsmagazin.“ „Genau. Das Einzige, das in Frage kommt. Bei den Mainstreammedien werden Sie damit nicht landen können. Wenden Sie sich direkt an die Chefredakteurin Juliane Schiffer.“ „Warum beschmutzen Sie Ihr eigenes Nest?“, 464 fragte ich Banz. „Die Reuba ist nicht mein Nest. Ich bin nur ein Angestellter wie alle anderen auch. Und die Akti‐
en der Reuba wären das Letzte, was ich kaufen würde. Wenn ich es nötig hätte, würde ich sogar auf den Crash der Reuba‐Aktie setzen. Ich will sa‐
gen können: Seht her, alles geschah ganz öf‐
fentlich. Ich will einen schnellen Schnitt, der zwar weh tut, uns aber von diesem Selbstbedienungsla‐
den befreit. Entweder, der geht möglichst bald krachen oder unsere ganze Gesellschaft mit ihm – wenn wir zu lange zusehen.“ „Wird man Sie dafür kreuzigen oder heilig spre‐
chen?“ „Weder noch, hoffe ich. Aber wir werden uns vor den Medien in Sicherheit bringen müssen. Kommen Sie, ein bisschen frische Luft tut uns gut. Auch mir ist es in der Reuba inzwischen zu sti‐
ckig“ Wir bestiegen den Juliusturm zu Fuß. Als wir oben angekommen waren, schnaufte Banz noch nicht einmal. Sein Gorilla war uns in einiger Ent‐
fernung gefolgt. Von oben hatten wir eine weite Aussicht auf die Havel und die Festungsanlage. „Wissen Sie, wo wir hier sind?“, fragte mich Banz. 465
„Ist das der sprichwörtliche Juliusturm? Damit meinte man früher einen Staatsschatz, glaube ich.“ „Hier war bis 1919 der Kriegsschatz des Deut‐
schen Reiches eingelagert, etwa achtundvierzig Tonnen Goldmünzen. Das entspricht ungefähr achthundert Millionen Euro nach heutigem Maß‐
stab. So viel setzen wir in unseren Handelsräumen in einer Stunde um“, erklärte er mir. Achthundert Millionen pro Stunde. Mir wurde schwindlig. „Wussten Sie, dass es einen gesetzlichen An‐
nahmezwang für Papiergeld gibt? Und nur Papier‐
geld hat Sicherheitsmerkmale gegen Fälschung, nicht jedoch das Buchgeld auf dem Konto. Ab und zu wird das per Gesetz zu Geld erklärte Papier‐ und Buchgeld auch mal wertlos und auch das per Gesetz. Nachdem der Goldschatz aus dem Julius‐
turm nach Frankreich ausgeliefert wurde, begann die Hyperinflation. 1923 folgte die Währungsre‐
form, dann die Weltwirtschaftskrise, dann Hitler und so weiter.“ Banz griff in seine Tasche und drückte mir etwas in die Hand. Es war klein, rund und schwer. Ich schaute es mir genau an. Eine Münze schimmerte seidig in meiner Hand. Auf der einen Seite waren die Jahreszahl 1908, der Schriftzug LI‐
466 BERTY und eine Frau in einem wallenden Gewand abgebildet, die in der einen Hand eine Fackel hochhielt und in der anderen einen Olivenzweig. Auf der anderen Seite war ein Adler in vollem Flug zu erkennen, hinter dem die Sonne aufging. Darüber stand: UNITED STATES OF AMERICA und TWENTY DOLLARS. „Ist das Gold?“, fragte ich ihn. Er nickte. „Wie viel ist die wohl wert?“, fragte mich Banz. „Keine Ahnung. Auf jeden Fall mehr als zwanzig Dollar“, antwortete ich. „Zwanzig ehemalige Golddollars entsprechen ungefähr tausend heutigen Computerdollars“, sag‐
te Banz. „Wenn es ein Gesetz gäbe, das besagt, dass Gold nichts mehr wert ist, wer würde es glauben und sich daran halten? Schon oft haben Staaten versucht, alles Gold einzuziehen und den Besitz zu verbieten. Das Resultat war, dass Gold auf dem Schwarzmarkt zu noch höheren Preisen gehandelt und Papiergeld immer wertloser wurde. Erkennen Sie den Unterschied zwischen Gold und Papiergeld?“ Ich wollte Banz die Münze zurückgeben. Doch er sagte: „Behalten Sie sie und legen Sie Ihr Geld in Edelmetallwerten an. Richten Sie ein Wertpapier‐
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depot ein und nehmen Sie darauf soviel Kredit wir möglich auf, denn die Inflation belohnt das Schul‐
denmachen. Und dann: Willkommen im Club der Geldmacher“, sagte Banz. „Jeder kann das tun?“ „Jeder, der Werte besitzt, die er beleihen kann.“ Als ich wieder zuhause war, recherchierte ich bei Google als Erstes den Begriff „Geldschöpfung“. Und landete über den Wikipedia‐Artikel zum Thema auf der Website der Deutschen Bundes‐
bank. Von dort lud ich mir das Schulbuch „Geld und Geldpolitik“ und die Broschüre „Durchfüh‐
rung der Geldpolitik im Euro‐Währungsgebiet“ der Europäischen Zentralbank herunter. Dort las ich, dass Geschäftsbanken sich unterein‐
ander Geld „leihen“, was nichts anderes bedeutet, als dass die verleihende Bank das verliehene Zent‐
ralbankgeld gegen eine Forderung gegenüber der leihenden Bank tauscht. Diese Forderung kann wiederum in Zentralbankgeld getauscht werden und zwar ganz nach Bedarf über die „Spitzenrefi‐
nanzierungsfazilität“ der Europäischen Zentral‐
bank. 40 Prozent der Bankbilanzen bestehen in Deutschland aus solchen Interbankkrediten in Hö‐
he von gut drei Billionen Euro, also drei Millionen 468 mal einer Million – genug, um nicht nur mich, sondern auch alle restlichen Berliner zu Millionä‐
ren zu machen. Sobald die Banken es zu toll treiben und ihnen die BaFin auf die Finger klopft, „leihen sie sich un‐
tereinander kein Geld mehr“, weshalb sie, so be‐
haupten sie, leider eben auch den Arbeitenden kein Geld mehr leihen können und so der Wirt‐
schaft die Luft abdrehen. Resultat: Die Zentralbank springt ein und „saniert“ die Geschäftsbanken, in‐
dem sie ihre faulen, selbst gemachten Lufbuchun‐
gen unbegrenzt in frisches, echtes Geld tauscht. Weiterhin fand ich eine Textpassage, die besagt, dass ebenfalls „Geld entsteht“, wenn ein Kreditin‐
stitut zum Beispiel ein Wertpapier, Devisen oder ein Grundstück von einer Nichtbank kauft. Die Banken „machen“ das Geld also tatsächlich, mit dem sie einkaufen. An der Grafik zum Wachstum der Geldmenge sah ich, dass sie steil ansteigt, wobei der Anstieg von Jahr zu Jahr zunimmt. Die amerikanische Zentralbank veröffentlicht das Wachstum der Geldmenge inzwischen überhaupt nicht mehr. Auch die Staaten bedienen sich: Deutschland und Frankreich verstoßen dauernd gegen den Euro‐
Stabilitätspakt und wurden nicht bestraft, sondern 469
dürfen Sonderausgaben Defizit mindernd ansetzen und haben mehrere Jahre Zeit, das Haushaltsdefi‐
zit zu verringern. Was noch lange nicht heißt, dass sie ihre Schulden tilgen, sondern sich zumindest nicht mehr schneller zusätzlich verschulden, bis die EZB das nächste Mal einknickt. Und ich erfuhr, dass die Europäische Zentral‐
bank die Bedingungen für die Geldschöpfung je‐
derzeit eigenmächtig und nach Bedarf ändern kann. Ich machte mich an die Arbeit und schrieb eine erste Rohfassung des Artikels mit dem Titel „Kne‐
te selbst gemacht“: „Wussten Sie, dass das Gesetz Sie zur Annahme von Euroscheinen zwingt und diese Euros auch per Gesetz für ungültig erklärt werden können? Banken machen per Gesetz „Fiat Money“, von „fiat lux“, dem „es werde Licht“ in der biblischen Schöpfungsgeschichte. Das ist sozusagen das irdi‐
sche Pendant zur göttlichen Schöpfung aus dem Nichts. Es braucht dazu nur Computer und eine Druckerei. Banken machen Geld, indem sie Werte mit Geld aus dem Nichts real einkaufen und indem sie Wertpapiere beleihen, wodurch neue Wertpapiere entstehen, die wiederum beliehen werden. So er‐
470 zeugen die Banken selber notenbankfähige Sicher‐
heiten, die sie bei der Zentralbank beliebig und nach Bedarf in richtiges Geld, sogar Bargeld tau‐
schen können. Die Mindestreservehaltung ist also eine Farce und beschränkt die Geldmacherei der Banken überhaupt nicht. Sie machen die Mindest‐
reserve einfach selber. Auch die geforderte Unterlegung der Kreditver‐
gabe mit Eigenkapital ist wirkungslos. Denn das Eigenkapital können die Banken ebenfalls selber erzeugen: durch die Gewinne, die sie durchs Geldmachen erzeugen, durch den Verkauf eigener Aktien und gegenseitige Beteiligungen. Und für Interbankenkredite ist wenig bis kein Eigenkapital erforderlich. Fazit Nr.1: Es gibt keine Kontrolle und Be‐
schränkung der Gelderzeugung durch die Ge‐
schäftsbanken. Wussten Sie weiterhin, dass auch Sie Geld ma‐
chen können? Kaufen Sie Wertpapiere und belei‐
hen Sie diese. Solche Kredite müssen Sie noch nicht einmal zurückzahlen und wenn Sie Roh‐
stoffwerte beleihen, steigt Ihr Kreditrahmen mit den Kursen dieser Werte, weil Rohstoffe durch die Inflation immer teurer werden. Das ist Geldma‐
chen ohne Ende, mehr Geld treibt die Preise und 471
Kurse und das macht wiederum mehr Geld und Kredit möglich. Wer für Geld noch arbeitet, dem ist nicht zu hel‐
fen. Das sehen auch die Rohstoffproduzenten so: Sie belassen die Bodenschätze zunehmend in der Erde, treiben so die Preise, sparen sich die Produk‐
tionskosten und verdienen sich über den Verkauf von eigenen Aktien und Wetten auf steigende Rohstoffpreise eine goldene Nase. Und ihre Aktien und Spekulationsgewinne steigen, weil sie immer weniger produzieren und so die Rohstoffpreise steigen. Das ist Ressourcenschonung per Turboka‐
pitalismus. Wir spüren es an der ‚gefühlten’ Infla‐
tion. Das heutige Banken‐ und Geldsystem ist letztlich ein gigantischer Selbstbedienungsladen, abgesi‐
chert durch die Fähigkeit der Geschäftsbanken, der Wirtschaft den Kredithahn zuzudrehen, falls man ihnen dazwischenfunkt. Und die Zentralbank kauft die windigen, selbstgemachten Forderungen der Geschäftsbanken unbegrenzt für richtiges Geld auf. Das Schönste daran ist: Alles geschieht öffent‐
lich und keiner schaut hin. Der ultimative Beweis für die grenzenlose Groß‐
zügigkeit der Europäischen Zentralbank wird ge‐
rade von der Reuterbank erbracht. Am vierten 472 September werden die Forderungen aus ihrer Wet‐
te gegen sich selbst fällig: Sie hatte unbegrenzt Call‐Optionen auf ihre eigene Aktie begeben, de‐
ren Kosten sich für die Reuba auf inzwischen neun Milliarden Euro belaufen, die aber nicht in der Bi‐
lanz der Reuba auftauchen. Indem Sie das wissen, sind Sie ein Insider und werden sich eine goldene Nase verdienen, wenn Sie auf den Crash der Reu‐
ba‐Aktie wetten. Pleite gehen wird die Reuterbank jedoch nicht. Dafür ist sie zu groß und abermals wird die Europäische Zentralbank rettend eingrei‐
fen und die faulen Forderungen gegen die Reuter‐
bank in frisches Geld tauschen – letztlich auf Kos‐
ten der Sparer, die diese Rechnung über die Infla‐
tion bezahlen werden. Fazit Nr.2: Die Banken brauchen die Wirtschaft zum Geldmachen nicht mehr, sie machen es durch Luftbuchungen einfach direkt untereinander und kassieren die Arbeitenden über Zinsen und Ge‐
bühren dennoch weiter ab. Falls man die Banken dabei stört, drehen sie der Wirtschaft den Geld‐
hahn zu. Die Arbeitenden bräuchten keine Geschäftsban‐
ken und Kapitalmärkte mehr zu erdulden, wenn die Zentralbank ihnen direkt und ausschließlich Kredite für Realinvestitionen gäbe und zwar dort, 473
wo auf dem realen Markt für Güter und Leistun‐
gen Nachfrage besteht. Virtueller Spekulation ohne Bezug zu Realinvestitionen und Kapitalmärkten wäre dann die Geschäftsgrundlage entzogen und wir kämen einer ‚Marktwirtschaft‘ einen großen Schritt näher.“ Ich bekam immer mehr das Gefühl, Schlitten zu fahren und zwar ohne zu wissen, wo die Reise hin‐
führte oder wie man steuert. Ich schickte Juliane Schiffer eine Mail mit der Rohfassung des Artikels. Sie antwortete: „Sie erheben schwere Vorwürfe gegen die Ban‐
ken. Können Sie die beweisen? Sind Sie dafür qua‐
lifiziert? “ Ich reichte die komplette Quellendokumentation nach. Das hatte ich ja gelernt. Sie schrieb zurück: „Sie sind nicht vom Fach. Man wird Sie nicht ernst nehmen. Selbst wenn es wahr sein sollte, was Sie da schreiben: Wer wird es verstehen? Wen interessiert das, wenn das alles schon so lange ganz offen geschieht? Wer möchte von Ihnen gesagt bekommen, dass er sich so lange hat hinters Licht führen lassen? Dass Sie diesen Skandal ankündigen, wird Ihnen das Genick bre‐
chen, falls Ihre Prognose nicht eintritt. Und selbst falls Ihr Artikel einschlägt: Wollen Sie die Folgen 474 verantworten? Außerdem kommen Sie zu spät. Das neue Heft ist bereits fertig gelayoutet. Versu‐
chen Sie es bei der Bildzeitung.“ Das hatte ich befürchtet. „Diese Frau Schiffer wird nicht mitmachen“, sagte ich bei einem weite‐
ren Treffen zu Banz. „Die ist wohl auch so jemand, den man zu sei‐
nem Glück zwingen muss“, sagte Banz. „Wir wer‐
den ein bisschen nachhelfen.“ 475
Crash Ein wenig nachhelfen wollte Banz. Aber wie? Frau Schiffers Antwort mochte ich kein zweites Mal durchlesen; es tat zu weh. Es war so verdammt ruhig. Banz meldete sich nicht mehr und war auch nicht zu erreichen. Her‐
bert war schon lange tot, meine Mitbewohner längst ausgezogen. Bei meinen Kollegen brauchte ich mich nicht mehr blicken zu lassen. Einen kok‐
senden Tschaikafahrer konnte ich nicht ernst neh‐
men. Friedrich war endgültig davon, Pia und mei‐
ne Schwester mochte ich nicht mehr belästigen, Chipsy kurierte immer noch sein Victor‐Trauma aus und meine Therapeutin hatte mich ein letztes Mal abkassiert. Ich saß ganz allein in dieser riesi‐
gen Wohnung und hing an der Leitung meiner lesbischen Nachbarin, die sich ganz der Steigerung ihres Kampfwertes widmete. Immer wieder las ich die Pressemeldungen und Nachrichten, die dreimal täglich in meine Mailbox flatterten: um neun Uhr, um dreizehn und um siebzehn Uhr. Pro Mail waren es mehrere hundert. 99 Prozent davon waren Datenmüll, trotz des Fil‐
ters nach Themen aus Wirtschaft und Finanzen. Die Verlautbarungen der Bundestagsfraktionen 476 und Ministerien klickte ich gleich weg, ebenso die Ad‐hoc‐Meldungen aller möglichen Aktiengesell‐
schaften. Dann meldete das Statistische Bundesamt eine Inflationsrate von 3,0 %. Ich musste lachen. Nah‐
rungsmittel und Energie waren im letzten halben Jahr im Schnitt um ein Drittel bis die Hälfte teurer geworden. Ich fragte die zuständige Kontaktper‐
son, was man denn kaufen müsse, um auf eine In‐
flationsrate von 3 % zu kommen. Zur Antwort be‐
kam ich, dass Herrenhüte und Damen‐
Feinstrumpfhosen deutlich billiger geworden sei‐
en; ebenso Tintenstrahldrucker und Pauschal‐
Kurzreisen. Wenn man bei diesen Angeboten or‐
dentlich zugreife, könne man die Kostensteigerun‐
gen in anderen Bereichen ganz leicht kompensie‐
ren. Am ersten September kam von Insiderreport.de die Nachricht: „Sell on good News: Insider verkau‐
fen große Aktienpakete der Reuterbank AG“. Die Reuterbank habe im zweiten Quartal erneut einen Rekordgewinn eingefahren, der besonders auf das boomende Derivategeschäft zurückzuführen sei. Dennoch sei es an der Börse zu massiven Verkäu‐
fen der Reuba‐Aktie durch Vorstände und Großak‐
tionäre der Reuterbank gekommen. 477
Ein paar Stunden später trudelten über „News‐
radar“ weitere Meldungen herein: „Schwerer Kurseinbruch der Reuba‐Aktie“. Wenig später „Crash der Reuba‐Aktie zieht übrige Banken mit in die Tiefe“ und: „Der Dax bricht zusammen: Bis zum Mittag verlor der Deutsche Aktienindex DAX 21,8 Prozent, das ist der schnellste und tiefste Ein‐
bruch seit Beginn der Kurshistorie. Es grassiert die Angst vor einer dramatischen Bankenkrise“. Am Nachmittag las ich: „Sparer stürmen die Banken‐
schalter und versuchen, ihre Guthaben in bar ab‐
zuheben. Die Europäische Zentralbank ruft zu Ru‐
he und Gelassenheit auf, es bestehe kein Grund zur Verunsicherung. Die Bundeskanzlerin garan‐
tiert die Spareinlagen und spannt über den Banken einen staatlichen Rettungsschirm.“ Die wichtigsten Meldungen hätte ich fast über‐
sehen: „Wirtschaftsmagazin Plan B sagte Crash der Reuterbank voraus“ und „Abwurf von zehn Milli‐
onen Euro über Berlin“. Absender war ein gewis‐
ser „Moneyman“. Dann sprang mir eine Mail mit dem Absender juliane_schiffer@plan‐b.de ins Auge. Sie schrieb: „Ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben. Auf jeden Fall ist es illegal und jede weitere Zusam‐
menarbeit somit hinfällig. Ich werde dafür sorgen, 478 dass Sie keine weiteren Aufträge mehr bekommen. Von niemandem.“ Tags darauf wurde es laut. Vom Balkon aus sah ich, dass über meinem Haus ein Helikopter schwebte. Unten lauerten Männer mit Kameras und geschützartigen Objektiven. Ich musste nachschauen, was Frau Schiffer mein‐
te. Aber ich traute mich nicht aus dem Haus. Dann fiel mir ein, dass es einen Hinterausgang in den Hof gab. Ich entkam durch ein Nachbarhaus. Auf dem Weg zum Kiosk sah ich Schlangen vor den Bankfilialen und Leute, die Einkaufswagen voller gehamsterter Lebensmittel nach Hause schoben. Mir sprangen die Schlagzeilen der „BZ“ und der Bild‐Zeitung ins Auge: „Börsencrash! Hamsterkäufe! Sparer fürchten um ihr Geld!“ und „Ist diese Frau an allem schuld?“ Daneben ein Foto von mir. Der Zeitschriftenverkäufer schaute mich seltsam an. Und dann wieder auf die Titelblätter. Ich griff mir das neue Heft von „Plan B“ und knallte ihm einen der druckfrischen Hunderter auf den Tresen. „Hee, Sie bekommen noch Wechsel‐
geld”, rief er mir nach. Wieder musste ich lachen. Als ich den Kiosk verließ, prallte ich zurück: Über mir schwebte der Hubschrauber. Ein paar Häuser 479
weiter sprintete mir eine Meute von Reportern mit Mikrofonen und Kameras entgegen. „Da ist sie“, brüllte jemand. Ich rannte so schnell ich konnte und schlug im‐
mer wieder Haken um Hausecken herum, doch ich wurde sie nicht los. Dann filmten sie mich aus dem Hubschrauber und aus fahrenden Autos heraus. Schließlich pflügte ich durch die Menschenmenge, die aus der U‐Bahn‐Station Görlitzer Park quoll und sprang in den nächstbesten Zug. In der U‐Bahn schlug ich „Plan B“ auf und traute meinen Augen nicht: Auf den Seiten 122 und 123 war mein Artikel mit der Überschrift „Knete selbstgemacht“ abgedruckt. Ich musste mit Banz reden. Ich wählte seine Nummer und er hob ab. „Normalerweise schaue ich kein Fernsehen, aber Ihr Sprint war wirklich olympiareif, Frau Wiesen‐
grund. Wo sind Sie gerade?“ „Ich sitze in der Linie 1.“ „Steigen Sie am Wittenbergplatz aus und warten Sie vor dem KaDeWe auf mich“, sagte er und legte auf. Dort hielt ich nach einer dunklen gepanzerten Limousine Ausschau. Überall schien es von Bild‐
zeitungslesern zu wimmeln. Die Passanten schau‐
ten mich seltsam an, so kam es mir vor. Ich hatte 480 das Gefühl, stundenlang auf kleiner Flamme zu schmoren, bis mich jemand am Arm packte. Mir rutschte das Herz in die Hose. Es war Banz. Dies‐
mal in Zivil. Er trug ein kariertes Hemd, Jeans und Turnschuhe. „Kommen Sie“, sagte er zu mir und lotste mich zum Taxistand. „Und? Sind Sie mit Ihrer neuen Prominenz zufrieden? Sie haben mit Ihrem Artikel ja schon irgendwie den Nerv getroffen.“ Er lächel‐
te süffisant. „Wie haben Sie das gemacht?“, fragte ich ihn. „Sie und ich, wir beide kennen da einen hervor‐
ragenden Hacker. Auf dem Weg zur Druckerei kann mit den Daten einiges passieren. Victor sagte, dass es gar nicht so schwierig war, die Datei abzu‐
fangen, das PDF zu cracken und wieder zusam‐
menzubauen.“ „Wie bitte? Victor hat...?“, staunte ich. „Was man nicht aufhalten kann, muss man eben stoßen. Wie bei der asiatischen Kampfkunst. Das gilt auch für Ihren Ehrgeiz, Frau Wiesen‐
grund“. Er nahm mir das Heft aus der Hand und schlug die Seiten 122 und 123 auf. „Sieht perfekt aus, oder? Manchmal braucht man halt einen Plan B“, sagte er und lachte. 481
Ich fand das nicht sehr komisch. „Das ist Mani‐
pulation. Das gilt nicht. Ich werde von Reportern verfolgt und diese Frau Schiffer ist jetzt noch viel saurer auf mich. Bei ‚Plan B‘ brauche ich mich nicht mehr blicken zu lassen, wahrscheinlich ist sogar meine ganze Karriere beendet“, schimpfte ich. „Abwarten“, sagte Banz nur. „Ich bin nicht mehr scharf auf Überraschungen. Wo haben Sie eigentlich Ihren Luxuspanzer gelas‐
sen?“, fragte ich. „Der steht in der Tiefgarage der Reuba. Ich bin inzwischen im Ruhestand, haben Sie das schon vergessen? Sie belagern übrigens auch mich. Ich musste über den Gartenzaun hinter meinem Haus klettern und mehrmals umsteigen, um sie abzu‐
schütteln“, sagte Banz. „Dann wissen Sie ja, wie das ist. Und wo fahren wir hin?“, wollte ich wissen. „Zur Kasse.“ „Zur Kasse?“ „Lassen Sie sich überraschen.“ Wir bestiegen ein Taxi und nahmen den Weg zum Reuterplatz. Doch wir hielten nicht an der Fi‐
liale der Reuba, sondern bogen in die Bismarck‐
straße ein, was nicht einfach war, denn vor Banz’ 482 ehemaligem Arbeitsplatz hatte die Polizei eine Ab‐
sperrung errichtet, um die Presse und die wüten‐
den Kunden auf Distanz zu halten. Wie ich später erfuhr, hatte sich Herberts Nachfolger vom Dach der Reuba in den Tod gestürzt. Armer Junge, dach‐
te ich. Zwei Blocks weiter hatte sich an der Ecke Leib‐
nizstraße ein weiterer Auflauf aus Menschen und Fahrzeugen gebildet, der die Straße blockierte. In der Mitte des Chaos stand ein Hubschrauber. „Was wollen die alle hier?“, wunderte ich mich. „Das hier ist die Filiale der Deutschen Bundes‐
bank“, erklärte Banz. Ich verstand nicht. „Und was soll der Hub‐
schrauber?“ „Sie werden schon sehen.” Ich stieg aus, drängte mich durch die Masse nach vorne und sah: Victor. Er schleppte Geldsäcke und lud sie in den Helikopter. Er war von Kameras und Mikrofonen umringt; die Reporter bedrängten ihn. „Victor!“, rief ich. Er schaute kurz zu mir und dann hörte ich ihn zu einem der Reporter sagen: „Was sind schon zehn Millionen? Ein Prozent von einer Milliarde. Jede Million, die ich abwerfe, bringt mehr Inflation und treibt meine Rohstoffaktien nach oben. Indem 483
ich das Geld abwerfe, werde ich reicher.“ „Der ist auf Koks“, brüllte ich. Die Reporter schauten mich irritiert an. Offenbar hielten sie mich für verrückt. Von hinten hörte ich Martinshörner. Victor stieg in den Hubschrauber, schloss die Tür und der Pilot startete den Rotor. Die Reporter und Schaulustigen wichen zurück, denn der Wind riss ihnen fast die Kleider vom Leib. „Tu’s nicht!“, rief ich, als Victor noch einmal nach mir schaute. Doch ich hörte mich selber kaum, so laut war das Pfeifen und Dröhnen. Die Maschine hob ab. Im letzten Moment hängte ich mich an die Kufe. Mit Armen und Beinen klammerte ich mich fest und schaute nach unten: Die kreisrunde Lücke in der Menschenmasse schloss sich, Blaulichter blinkten und Kameras folgten mir. Ich war vom Lärm fast taub. Ich konn‐
te nur blinzeln; der Wind war hart und kalt wie Eis. Unter mir flitzten die Häuser vorbei und dann sah ich den Partikelstrom aus Autos auf dem Reu‐
terplatz. Der Flug verlangsamte sich und der Helikopter blieb über dem Menschenauflauf vor der Reuter‐
bank in der Luft stehen. Über mir öffnete sich die Tür. 484 Pakete aus Papierschnipseln flogen nach drau‐
ßen und zerplatzten im Wind des Rotors zu Wol‐
ken. Weiter unten breiteten sie sich zu Teppichen aus, die der Erde entgegenschaukelten. Wo immer sich ein solcher auf den Reuterplatz legte, zog er eine Wolke aus bunten Teilchen an: Große, vier‐
eckige, die sich ineinander verkeilten und kleinere, die durcheinander wimmelten. „Victor!“, schrie ich immer wieder. Doch meine Stimme kam gegen den Lärm nicht an und versag‐
te schließlich. Die Tür schloss sich wieder. Meine Glieder wurden klamm und meine Kräfte ließen nach. Wenn ich jetzt einfach losließe? Wie viele Sekunden Schwerelosigkeit würde ich vor der endgültigen noch genießen können? Wen würde ich unten wohl erschlagen? Wer würde die Sauerei wegmachen? Wir flogen die Straße des 17. Juni entlang in Richtung Siegessäule. Ich sah, wie ein anderer He‐
likopter uns einholte. Ein Kameramann filmte uns aus der offenen Tür; ein weiterer Insasse gestiku‐
lierte wild und versuchte, mit Victor und dem Pi‐
loten Kontakt aufzunehmen. Immer wieder zeigte er auf die Kufe, an der ich hing. Dann legte unser Hubschrauber sich in die Kur‐
ve und umkreiste den Riesenphallus auf dem Gro‐
485
ßen Stern. Mir wurde schwindlig. Die Goldelse kam immer näher und ich konnte sehen, wie die Leute auf der Aussichtsplattform ihre Kameras auf mich richteten. Wieder öffnete sich die Tür über mir. „Hilf mir!“, schrie ich. Ich hatte keine Kraft mehr. Victor legte sich auf den Bauch und packte mit beiden Händen meinen linken Arm. Er zog, bis er mich auf die Kufe gewuchtet hatte. Dann griff er mich unter den Achseln und zerrte mich in die Kabine. Ich japste, schluchzte und schlotterte. Victor um‐
klammerte und wärmte mich. Immer weiter um‐
kreisten wir die Siegessäule. „Du Idiot! Was soll der Scheiß?“, krächzte ich, sobald ich wieder zu mir gekommen war. „Bist du lebensmüde?“, brüllte er zurück. „Lass den Blödsinn“, heulte ich und griff sein Kinn, damit er mich anschaue. „Geld, das man nicht sinnvoll ausgeben kann, muss man eben zum Fenster rauswerfen“, schrie er und lachte. „Du wolltest ja bei mir nicht mitma‐
chen.“ Er begann wieder, Geldbündel aus der Tür zu werfen. Jetzt begleiteten uns zwei Helikopter. Ich warf mich auf ihn, doch er schüttelte mich ab 486 wie eine Schmeißfliege. „Hör auf damit“, schrie ich immer wieder. Es hatte keinen Zweck. „Bitte”, bettelte ich, nahm seinen Kopf zwischen meine Hände und schaute in seine Augen. Sie wa‐
ren trocken und kalt. Dann küsste ich ihn; wieder schmeckte er bitter und wieder wurde meine Zunge taub. Ich um‐
klammerte mit den Armen seinen Hals und mit den Beinen seine Hüften. Fast wären wir aus der Tür gefallen. Schließlich ging er in die Knie und schob mir die Hose herunter. „Los, du Vieh!“ schrie ich. Er drehte mich um, zog meinen Hintern an sich und pfählte mich. Ich dachte an die Eingeweide dieses Wild‐
schweins in Klein‐Muselkow. Er stieß bis zu mei‐
nem Magen vor und zerwühlte mein Inneres zu einer blutigen Masse, die durch meine Kehle nach draußen drängte. Er griff in meinen Nacken und drückte mein Gesicht in die Geldscheine auf dem Boden. Der muffige Geruch brachte mich schließ‐
lich zum Kotzen. Ich werde ohnmächtig, dachte ich, ich werde nie wieder laufen können... Er um‐
fasste meine Taille mit der Gewalt einer Schrott‐
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presse; ich bekam keine Luft mehr. Ich ersoff in Wellen aus Schmerz und Lust. „Du Vieh!“, brüllte ich immer wieder. Schließlich fiel er von mir ab. Keuchend und schluchzend lag ich da. Auf einem Teppich aus zerwühlten Geldbündeln, vermischt mit Kotze. „Sex mit dem Moneyman: Warum hat sie das ge‐
tan?“, titelte die Bildzeitung am nächsten Tag, daneben ein Foto von Victor und mir in voller Ak‐
tion. Gute Frage. Ich könnte behaupten, ich habe grö‐
ßeres Unheil verhindern wollen und da ich ihm körperlich nicht gewachsen war, musste ich eben zu anderen Mitteln greifen. Aber ganz ehrlich wä‐
re das nicht. Sie wollen wissen, wie es weiterging? Natürlich wurde Victor gleich nach der Landung von der Po‐
lizei einkassiert. Und es hat lange gedauert, bis Banz und ich die Pressemeute los waren. Es war schwierig, passende Paragraphen zu fin‐
den, um Victor einzusperren. Denn das Geld war tatsächlich seines und auch die Massenkarambola‐
ge war wohl eher der Gier der Geschädigten zuzu‐
schreiben. Geld zu verschenken ist nicht strafbar. Schließlich wurde Victor wegen groben Unfugs und Gefährdung im Straßenverkehr angeklagt. 488 Der Pilot kam auf Bewährung davon und wird nie wieder arbeiten müssen. Dafür hatte Victor ge‐
sorgt. Der Gerichtspsychiater diagnostizierte bei Victor eine schwere narzisstische Störung, die wie auch der Kokainrausch als mildernder Umstand gewer‐
tet wurde. Der Richter verurteilte ihn zu einer mil‐
den Bewährungsstrafe. Victor, Banz und ich leben jetzt in Brasan und zwar in dem Haus, das Victor mir damals zeigte. Wir haben es mit ein paar Papierbündeln gekauft und den Regionalladen mit eigener Währung, Gäs‐
tebetrieb und Kulturprogramm eröffnet – wie Vic‐
tor es geplant hatte. Er sitzt den ganzen Tag lang herum und lächelt. Und ist jetzt auch ohne Koks sehr potent. Ich denke, Banz wird auf seine alten Tage seinem Enkel doch noch ein guter Vater sein – im Doppel‐
pack mit seinem Sohn. Inzwischen bin ich kugelrund und wie ich Banz jetzt nenne, verrate ich Ihnen nicht. Die Auflage von „Plan B“ hat sich inzwischen verdreifacht. Frau Schiffer gibt viele Interviews, und immer wieder sagt sie: „Frau Wiesengrunds Artikel kam einfach genau richtig. Das alles muss‐
te ja mal gesagt werden.“ 489
Später fragte sie mich, ob ich nicht wieder mal für ‚Plan B’ schreiben möchte. Vielleicht werde ich irgendwann einmal darüber nachdenken. Aber so langweilig finde ich das Bauen, Organisieren, Gärtnern und Bemuttern gar nicht. Und Kittel‐
schürzen kommen nicht ins Haus. Selbstverständlich wurde die Reuba gerettet – wie auch alle anderen Banken, deren „Schieflagen“ man plötzlich bemerkte. Ein letztes Mal richtete der monetäre goldene Schuss die „Masters of the Universe“ steil in den Himmel auf – wie seinerzeit die Titanic. Kredite geben die Banken aber trotz‐
dem nicht, sondern verdienen sich mit Goldge‐
schäften dumm und dämlich. Die Aktienbörsen sind bis auf weiteres geschlossen und niemand hungert, denn die Bundeswehr verteilt Bundes‐
fresspakete mit einem Bundesadler darauf. Man steht Schlange, um Euros säckeweise gegen unsere selbst gemachten Ossis einzutauschen. Aus dem Europapier machen wir Briketts und verkaufen die viel teurer als den Nennwert, aber billiger als Koh‐
le. Ich finde, der Euroqualm riecht irgendwie nach Fäulnis. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein – wie meine Gänsehaut bei Schlüsselgeklapper. 490 Maternus Millett wurde 1970 in Darmstadt geboren. Es folgten Abi‐
tur, ein Studium der Stadtplanung und 1997/98 ei‐
ne Ausbildung zum Fachzeitschriftenredakteur. Geprägt haben ihn Tätigkeiten als Pizzabäcker, Fahrradmechaniker, Datentechniker, Wertpapier‐
händler und freier Redakteur (bei Zeitpunkt, Kurskontakte, NEON). Die Liebe zu Lateinamerika führte ihn nach Kuba, Argentinien und immer wieder nach Kolumbien. Der Autor lebt aktuell in Weimar und Thüringen auf dem Land und arbeitet seit 2003 in kulturell‐kreativen Projekten als Pro‐
jektentwickler. 491
Sämtliche Bücher des AAVAA E‐Book Verlages, Berlin können auch als ebooks bezogen werden www.aavaa.de oder als Taschenbücher unter: E‐Mail: [email protected] Auf den nächsten Seiten eine kleine Vorstellung weiterer Romane, die im AAVAA ‐Verlag erschienen sind: 492 493
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