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Nastyboy
„Ich schwöre hiermit, nie wieder zu Lieben das sagt doch jeder mal.“ Amor
Nicks Augenlider schnellten nach oben, als wäre irgendwo
hinter den Augäpfeln eine Feder gerissen. Seine braune Iris
dehnte sich aus und seine Pupille zog sich zurück wie eine
beleidigte Blume. Eine Spinne hatte den Tag mit einer
Expedition über die Schlafzimmerdecke begonnen, befand sich
in diesem Moment direkt über Nicks Nase und plante die
weitere Route.
Alles gut. Es war alles gut. So gut es eben sein konnte.
Nicks dichte, dunkle Wimpern umarmten sich wie nach langer
Trennung, als er seine Augen noch einmal für einen kurzen
Moment schloss. Das Laken hatte durch seinen unruhigen
Schlaf und der Tatsache, noch nie richtig gespannt worden zu
sein, einen dicken Wulst gebildet der Nick in den Rücken
drückte. Der Polster lehnte sich lässig gegen den Scheitel, und
stützte sich auf Nicks Stirn ab. Davon, den Kopf zu betten hielt
er wenig – nur einen Zipfel, flach und lasch, ließ er unter Nicks
Schädel geschoben. Einen Moment. Nick brauchte nur einen
Moment. Von draußen drang das emotionslose Kichern
vergeblicher Startversuche an sein Ohr. Der alte Citroen AX
des Nachbarn verweigerte wieder einmal seinen Dienst. Nick
versank im Teer morgendlicher Ermattung. Er musste die
letzten Sequenzen eines Traumes verdrängen, der ihn nicht zum
ersten Mal heimgesucht hatte und – streng genommen - kein
echter Traum war. Es war mehr ein Trauma, eine Erinnerung
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die sich über Träume immer wider in sein Bewusstsein drängte.
Nick kratze gähnend über das Chaos, das der Schlaf mit seinem
schwarzen Haar angestellt hatte und erzeugte mit der anderen
Hand ein kleines Keramikkonzert im Küchenschrank. In einer
Garfield-Müslischale, die daraus hervorging, ertränkte er
Haferflocken mit Sojamilch und verlor anschließend das
Interesse daran.
Auf dem Weg ins Bad knirschte es unter seinen nackten
Fußsohlen und das erste Stück Stoff das er fühlte – eine Socke –
nutzte er, um zumindest auf diesem Bein voran zu schlittern.
Damit schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe. Er musste das
widerliche Gefühl von Krümel auf nackter Haut nicht ertragen,
und die Socke konnte in die Nähe der Waschmaschine bugsiert
werden.
Svens blonder Haarschopf ergoss sich über den graublauen
Teppich, in einer ungelenken Embryonalstellung lag er da,
einen Arm unnatürlich geknickt unter sich begraben. Auf der
verdrehten Schulter saß eine Krähe und Blickte Nick mit schräg
geneigtem Kopf an. Wie Ohrfeigen brachen sie in sein
Bewusstsein. Traumsequenzen. Erinnerungsfetzen. Aus dem
silbrig – von Kalkflecken matten - Hahn schoß Wasser in
unterschiedlich dicken Strahlen in mannigfaltige Richtungen
und trafen gelegentlich in das klebrig mit Zahnpasta verkrustete
Waschbecken. Nick bildete mit seinen Händen Schaufeln und
warf sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, um sich zu befreien von
unliebsamen Bildern. Er hob seinen Kopf und betrachtete sein
Spiegelbild. Dabei sah er nicht wirklich sich selber oder die
unzähligen vertrockneten Spritzer, sondern nur Fragmente, wie
etwa seine Bartstoppeln, über die er mit seinen Fingern rieb, um
abzuschätzen ob er mit dem Rasieren noch einen Tag warten
könne. Oder seine dichten Augenbrauen die wie schwarze
Balken die Stirn von seinem restlichen Gesicht trennten. Von
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jenem Haken den sie noch gemeinsam für den Boxsack an der
Decke verschraubt hatten, hing ein Seil – fasrig gerissen. In
Nicks Magen spannte sich eine Saite und riss dabei. Er beugte
sich über die Badewanne, mit einer Hand stützte er sich an der
gekachelten Wand gegenüber ab – mit der anderen betätigte er
den Knauf mit dem blauen Punkt. Wasser stürzte aus der
Brause und trümmerte eiskalte Nadelstiche auf Nicks Schädel.
Das weiße T-shirt sog sich voll und legte sich wie ein Schild
kalt und schwer über seinen Rücken. Nick konzentrierte sich
auf den nassen Vorhang der rings um sein Gesicht in den
kleinen Stausee mündete, der sich wegen des chronisch
verstopften Abfluss bildete. Gerade als er fest stellte, das er das
erstaunlich lange aushalten konnte, reichte es ihm auch schon.
Wie aus einer zweiten Haut wand er sich aus dem nassen
klebrigen Shirt und schleuderte es in die Wanne, wo es in die
nur langsam schwindende Pfütze platschte.
„Die Hände nach dir ausgestreckt, greifen sie in Glaspaläste
um sich blutig zu schneiden. Du – Elfenkönig – regierst, ohne
mein Blut zu sehen. -Sven“ Dies stand in ungeschickten
Buchstaben mit einem schwarzen Faserstift an die Wand im
Treppenhaus geschrieben. Nick rannte, mit seinem Fahrrad auf
seinen Schultern, daran vorbei, als ginge ihn dieser Satz nichts
an. Er brauchte ihn nicht lesen, er brauchte nicht hinsehen, der
Satz saß in seiner Seele, die Handschrift war seine eigene.
Über sein Gesicht hinweg zu seinen Ohren sauste die kühle
Morgenluft und flüsterte dort von einem April, an dem die Welt
sich ändern möchte. Es war das erste Mal heuer, das er sein
Fahrrad benutzte, und die Muskeln in seinen Beinen erwachten
geradezu mit einem sehnsüchtigen Seufzen aus den Monaten
der Pause. Das Licht und die Stadt waren sich einig, heute alles
grau in grau zu halten – und Nick kurvte behände durch den
mäßigen Morgenverkehr und schnitt, wen er schneiden konnte.
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An den Schultern drehte er Sven zu sich herum, dessen Kopf
lose nach hinten kippte, er konnte bis in den Rachen sehen, als
sein Kiefer herunter klappte. Das blonde Haar klebte am
Speichel in den Mundwinkeln, war über das Gesicht gewirbelt.
Nick ballte seine Fäuste und bremste mitten in einem Passanten
auf dem Zebrastreifen. Oder besser gesagt in dessen
Terriermischling, der aufjaulte und sich dann knurrend im
Vorderreifen seines sonnengelben Fahrrads verbiss. Für den
Bruchteil einer Sekunde sahen sich Nick und der junge Mann
an der Leine entsetzt an – als wäre nicht klar, wer einen Fehler
begangen hatte.
„Buster! Aus!“ befahl der Besitzer des braunen Mischlings, der
zu seiner eigenen Demütigung ein blaues Halstuch trug, im
Reflex, rekapituliere für einen Moment den Tathergang, und
sagte schließlich: „Faaaain Buster! Brav! Weiter so!“ Nick
verkrampfte seinen Griff um die Lenkstange, da sich Buster mit
vollem Körpereinsatz daran machte, den Vorderreifen wie eine
Beute hin und her zu schleudern um ihr das Genick zu brechen.
„Ich ... sorry ... ich habe die Ampel nicht gesehen ... Ich meine,
ich habe die Ampel gesehen, nicht aber das sie rot war.“ Nach
kurzer Überlegung, die dazu führte, das er fest stellte, das er
noch nicht einmal diese Welt gesehen hatte, revidierte er: „Ich
meine, ich habe noch nicht mal die Ampel gesehen. Die ganze
Kreuzung nicht ... nicht einmal Sie oder ihren Hund.“ und weil
ihm dämmerte wie das wirken könnte, meinte er
entschuldigend: „Sie wissen schon.“
Busters Herrchen, dem blauen Rollkragenpulli und der
schwarzen Jogginghose nach wohl beim Prä-TagewerkGassigehen, entfuhr ein gewisser prüfender Sozialarbeiterblick.
Wortlos musterte er Nick – von den abgetragenen Turnschuhen
über die verbeulte Jeans zur dunkelblauen Weste, deren Kapuze
zwar über Nicks Schädel gezogen, der Reißverschluss aber
offen stand. Der schwarze Schriftzug auf seinem weißen Shirt
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war „Farbenblind“. Direkt von diesem Spruch segelte der Blick
auf Nicks Gesicht und hielt dort auf eine Weise inne, mit der
anderswo das Sterben ganzer Welten betrachtet wird.
„Buster!“ er zog kurz an der Leine ohne Nick aus seinen Augen
zu lassen und der Mischling ließ auf der Stelle los, würgte den
Geschmack des Gummis hoch, und himmelte sein Herrchen
sabbernd an. Eilig setzten die Beiden den Weg auf die andere
Straßenseite fort, wobei sich einer noch zweimal verunsichert
nach Nick umdrehte, und der andere hechelnd die Nase
unablässig in die Knie seines Begleiters rammte.
Nick schaute an sich herab, in düsterer Vorahnung, und zog den
Reißverschluss seiner Weste bis zum Hals hoch. Der
Vorderreifen hing am Rad wie eine abgestoßene Schlangenhaut
und so hob Nick das Rad auf den Gehweg um die restlichen
Schritte zur Arbeit zu Fuß zurück zu legen.
Eineinhalb Meter über ihm, auf jener Ampel die er nicht wahr
genommen hatte, saß ein kleiner dicker Mann ohne Scheitelhaar
in einem weißen Nachthemd und hatte seine nackten behaarten
Beine um die Stange geschlungen um nicht herab zu fallen. Er
schraubte seinen schneeweißen Recurve–Sportbogen
auseinander und pfiff dabei ein vergnügtes Lied. Er verstaute
die drei Teile des Bogens in einem Futteral aus weißem Plüsch
und seine globigen Finger zogen an den herzförmigen
Schiebergriffen den Reißverschluss zu. So verhält sich ein
Mann, der sich sicher war, seine Sache gut gemacht zu haben.
Als Nick an jenem Schaufenster vorbei kam, in welchem
mehrere Generationen von Fliegen verdorrt auf dem Rücken
lagen wie Konfetti anderswo, und sich über Stempel, Tassen,
Schilder, Polster und T-Shirts ein gräulicher Schleier gezogen
hatte, war er angekommen. Dies war sein Reich. Zumindest von
neun bis achtzehn Uhr - Montag bis Freitags. Direkt aus dem
Hauseingang neben dem Geschäft zogen Schwaden säuerlich
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würzigen Gestanks heraus, und Nick stülpte sein T-Shirt über
die Nase und hielt die Luft an, um sich auf dem Weg da hinein
nicht übergeben zu müssen. Rasch lehnte er sein lädiertes
Fahrzeug an die braune, sich wie Blätterteig abschälende Wand,
direkt neben dem überquellenden Mülleimer, und fischte
hektisch den Schlüssel aus seiner Hosentasche. Die Augen
begannen zu tränen und ihm fiel der Schlüssel zweimal
scheppernd auf die hohe Stufe eher er es schaffte, in das
Geschäft zu flüchten und tief Luft zu holen.
Dort vermengte sich das ruhige Schnurren der Kopiergeräte im
Standby - Modus mit dem typisch satten Geruch elektronischer
Geräte und trockener Wäsche.
„Ng!“ unkte es aus dem Dschungel aus Bildschirmen,
Bügelpresse und metallenen Papierregalen.
„Da riechts als hätte jemand eine Leiche entsorgt.“ grüßte Nick
in Richtung bläulichen Lichtschein, die einzige Lichtquelle
außer den Schaufenstern, und prompt erschien ein ovales
Gesicht mit langen schwarzen Haaren die wie Schuhbänder
darum herum baumelten.
„Leiche? Wo ist eine Leiche?“
„Ich sagte, das es da draußen riecht, als hätte jemand eine
Leiche entsorgt.“
„Achso.“ zuckte Kevin seine mageren Schultern und sein Kopf
verschwand so unvermittelt wie er erschienen war. Nick bohrte
seinen Finger gerade in die Starttaste seines Rechners, als ihn
ein vertrautes Surren aufhorchen ließ.
„Kevin?“ fragte Nick, und machte eine Silhouette im vorderen
Bereich des Ladens aus. Wie aus dem Nichts schnellte wieder
der unheimlich ovale Kopf seines Mitarbeiters in sein Blickfeld
– hinter dem Regal hervor.
„Was gibt’s?“ Nicks Blick verfing sich in den baumelnden
Strähnen.
„Hast du schon aufgeschlossen?“
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„Nö? Warum?“
Nick deutete mit seinem Kopf in Richtung des Schattens, der
sich geschäftig verhielt und offenbar gerade dabei war,
Unterlagen zu sortieren. Kevin machte eine verschwörerische
Mine und flüsterte:
„Ein Einbrecher?“
„Bist du vom Kundeneingang herein gekommen?“ sah es Nick
pragmatischer. Kevins Augen wurden kugelrund als habe er
gerade den Heiligen Gral gefunden:
„Nein!“
„Und gestern?“
„Ich komme immer vom Seiteneingang.“ zischelte er
argwöhnisch und zog seine Augen zu einem Schlitz, während er
den Schatten genauer betrachtete, bei dem für einen Moment
ein Licht auf blitzte.
„Ich meinte, ob du abgeschlossen hast als du gegangen bist.“
„Natürlich. ... Das heißt ... wart mal.“ er legte seinen
Zeigefinger an sein glatt rasiertes Kinn und seine Augen
flatterten nach links oben.
„Ja oder Nein?“
Der Zeigefinger schoss Nick entgegen und Kevin nickte
zuversichtlich:
„Das ist die Frage!“
Nick ließ Kevin stehen und näherte sich dem Schatten, der
konzentriert Papiere sortierte und gelegentlich mit einer
Taschenlampe auf den Inhalt der Seiten leuchtete. Es waren die
typisch krummen und zittrigen Finger eines älteren
Stammkunden und als Nick ihn ansprach, leuchtete der sich
selber von unten ins Gesicht, sodass Schatten eine entstellte
Fratze ergaben. Aus dem hinteren Teil des Ladens tönte ein
entsetztes:
„Aaaaaahhh!“
„Guten Morgen, ich bins nur. Ich wollte Sie nicht erschrecken.
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Ich hab hier nur ein paar wichtige Inhalte zu kopieren.“ erklärte
die heisere aber sehr freundliche Stimme eines ehemaligen
Professors der viele Stunden in der Woche damit verbrachte,
Skripten seines Lebenswerks zu kopieren.
„Seit wann sind Sie schon hier?“ fragte Nick freundlich. Der
Professor beleuchtete mit seiner Taschenlampe seine
Armbanduhr, die er zum Ablesen vor seine Nase hob.
„Noch nicht so lange. Zwei Stunden. Ich hoffe ich störe nicht.“
„Zwei ... nein Sie stören nicht. Wie sind Sie hier herein
gekommen?“ fragte Nick, und kannte die Antwort, die er nicht
wissen wollte, bereits.
„Die Tür war nicht abgeschlossen.“ und nachdem er
beobachtete, wie Kevin schuldbewusst auf seinen Platz
stolperte und dabei ein paar Dinge in Gang setzte, die sich
geräuschvoll zu Boden begaben, sagte er mit eingezogenem
Kopf:
„Tut mir leid.“
Nick fühlte sich ein bisschen, als wäre er Pfleger in einer
Psychiatrie – oder eher ein Patient der sich für einen solchen
hielt. Er hob seine Hände beschwichtigend in die Richtung der
beiden Anwesenden und machte ein paar Schritte rückwärts auf
den Kundeneingang zu.
„Okay, okay. Kein Grund zur Panik.“ während er die Hand für
Kevin noch in Stellung hielt, kontrollierte er mit der anderen
den Knauf der Eingangstüre. Sie machte keine Anstalten,
geschlossen zu sein.
„Es ist alles gut. Alles gut.“
„Ich weiß.“ Sagte der Professor, nahm einen orangefarbenen
Umschlag der neben seinem Papierchaos gelegen hatte, hielt
ihn verlegen zwischen beiden Händen und machte einen Schritt
auf Nick zu.
„Ich habe mir erlaubt, diesen Auftrag entgegen zu nehmen. Der
Plan sollte bis Mittags zwei mal kopiert werden.“
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Nick hatte seinen Seufzer noch nicht beendet, da schlitterte
Kevin bereits über den Laminatfußboden und zupfte den
Umschlag aus den Händen des alten Professors.
„Das mach ich.“ Und war ebenso schnell wieder verschwunden.
Über dem Adamsapfel trennte ein dicker blauvioletter Striemen
den Kopf vom Hals, darunter war lose ein Seil geschlungen, das
nur dreißig Zentimeter nach dem Knoten gerissen war.
„Es tut mir Leid.“ riss Kevin Nick aus seinen Erinnerungen.
Nick hatte unbewusst mitgezählt, es war gerade mal halb zwölf
und Kevins Beteuerung war gut ein Duzend mal aus seinen
schmalen Lippen geschossen. Es kam so unverhofft und doch
regelmäßig, dass Nick dem Drang widerstehen musste, mit
„Gesundheit“ zu antworten. Das „Schon okay.“ verkniff er sich,
obgleich er es bereits dachte. Es fiel ihm verdammt schwer,
aber er musste Kevin ein Mindestmaß an Disziplin abverlangen.
Nicht, das er ihm sonst etwas abverlangen würde. Nick
beobachtete Kevin, der dabei war, ein weißes T-Shirt von Staub
und Haaren zu befreien, das ihm soeben auf den Boden gefallen
war. Das schwarze Shirt das Kevin trug hing an ihm wie eine
Toga, nicht weil es so feierlich wirkte, sondern weil es
irgendeinen Konflikt mit seiner Körperhaltung austrug. Er
breitete das zu bedruckende Shirt auf der Bügelunterlage aus
und strich es glatt, was sich bei seinen verschwitzten Händen
wie eine Sisyphusarbeit ausnahm. Offenbar hatte jedes Shirt in
seiner Nähe ein Problem mit ihm. Kevin kam zu der
Überzeugung, das er das Shirt noch einmal ausbeuteln müsse,
ehe er den erneuten Versuch wagen könne, es glatt auf die
Bügelfläche zu bekommen. Dabei entkam es und Kevin war
erneut damit beschäftigt, Staub und Haare mit Daumen und
Zeigefinger heraus zu pulen. Als er das Shirt endlich halbwegs
glatt in die Bügelpresse gelegt hatte, und sogar die Textilfolie
zu seiner Zufriedenheit situiert hatte, betätigte er den Hebel,
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und mit einem beherzten Röhren tat die Presse ihren Dienst.
Das Monster an Maschine öffnete sich und gab das Ergebnis
und einen knusprigen Geruch frei. Kevin zog das
Trägermaterial ab und hielt einen Moment verdutzt inne um
sein Werk zu bestaunen. Eine Quetschfalte zog sich vom
rechten Auge bis zur linken Schulter des Motivs – dem Portrait
eines Kleinkindes. Kurzerhand zog er das Shirt von der
Unterlage und legte es überraschend gekonnt zusammen. Die
Methode hatte er in einem Internetvideo gesehen und einen Tag
damit zugebracht, den Arbeitsschritt auswendig zu lernen um –
nun – um jemanden einmal zu beeindrucken, der sich von so
etwas beeindrucken ließ.
„Kevin?“ sagte Nick, und der zukünftige Rockstar zuckte so
deftig zusammen, das er das Shirt, auf den Boden fallen ließ. Er
hob es auf, und blickte schuldbewusst.
„Ja? Ich meine ... Ja?“ Kevins linkes Auge zuckte.
„Das ist doch nicht echt.“
Kevin biss auf seine Lippen.
„Es ist gefärbt, oder?“
Kevin starrte auf das Shirt in seinen Händen und überlegte
angestrengt was er sagen sollte.
„Dein Haar. Es ist nicht von Natur aus schwarz, oder?“
So oder so ähnlich musste Kevin bei Stundenwiederholungen in
der Schulzeit drein geschaut haben, wenn er nichts gelernt
hatte.
„Ich komm drauf, weil du faktisch keine Augenbrauen oder
Wimpern hast.“ erklärte Nick und machte einen Schritt auf
Kevin zu um ihm das Shirt abzunehmen.
„Ich ... ähm ... blond.“ sagte Kevin unsicher, während Nick das
Shirt wesentlich ungeschickter zusammenlegte – eher rollte –
und auf die Ablage für fertige Aufträge schmiß. Kevin seufzte
erleichtert.
Einen halben Meter über ihnen, auf dem obersten Fach des
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Metallregals, hatte sich ein kleiner fülliger Mann in einem
Nachthemd positioniert. Mit geübten Handgriffen hatte er die
Teile eines Recuve-Sportbogens zusammen geschraubt, die er
aus einem weißen Plüschfuteral genommen hatte. Er summte
nicht mehr. Er sah nicht mehr aus wie ein Mann der einen guten
Start in den Tag gehabt hatte.
„Entschuldigung.“ sagte eine schwach vertraute Stimme hinter
Nicks Rücken. Kevins blauschwarze Schuhbandhaare
vollführten eine synchrone Tanzbewegung zu beiden Seiten
unter seinem Kinn, als er seinen unfassbar ovalen Kopf zur
Seite neigte um an Nick vorbei zu sehen. Seine nicht
vorhandenen Augenbrauen wippten fröhlich.
„Bitte schön?“
Noch ehe sich Nick herumdrehen konnte, stieß etwas oder
jemand gegen sein Knie und zeitgleich als er die Ursache dafür
erspähte hörte er:
„Buster! Aus!“
Der blaue Pulli war einem weißen Hemd gewichen, das zum
Großteil von einem Sakko überdeckt wurde das exakt dieselbe
sandbraune Farbe hatte wie das kurze Haar – aber es war
eindeutig der Passant von heute Morgen, dessen Hund er
versucht hatte, mit dem Fahrrad umzubringen. Seine großen
sanftmütigen Augen ruhten einen irritierenden Moment auf
Nicks relativ schmalen geraden Lippen, deren Mundwinkel
selbst dann nach oben zeigten, wenn er wirklich mies drauf war.
Und Nick war gerade alles andere als wirklich gut drauf –
dennoch – sein Gesicht war zum grinsen verdammt. Immer.
Abhilfe konnten da nur seine intensiven Augen bieten, die dem
sonnigen Ausdruck dann und wann den nötigen Wahnsinn
verliehen.
„Ich habe heute morgen einen Plan abgegeben.“ erklärte der
Passant der eben zum Kunden geworden war, Kevin. Dieser
hob seinen Zeigefinger und fuchtelte damit ein bisschen vor
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sich herum während er begann, ein Mantra zu summen:
„Plan ... Plan ... Plan ...“ und sich dabei hektisch in Bewegung
setzte.
„Ein älterer Herr hat den Auftrag angenommen, er sagte, er
wäre da quasi angestellt.“ versuchte das Herrchen von Buster
eine Erinnerung zu wecken. „Ich brauche davon zwei Kopien.“
Buster schnüffelte konzentriert an einer Stelle an Nicks rechtem
Hosenbein – drückte seine feuchte Schnauze darauf und blieb
daran selbst kleben, als Nick das Bein zurücksetzte. Kevins
liebenswürdig inkompetente Art bot ein Schauspiel, dem sich
selten ein Kunde entziehen – der man aber auch nicht böse sein
konnte.
„Zwei Stück! Schach ... Matt.“ grinste er, hob den
orangefarbenen Umschlag und zwei mit einem Gummiband
daran befestigte, gefaltete Papierbögen hoch und warf dabei das
T-Shirt mit der Quetschfalte im Kindergesicht zu Boden. Und
während er dieses aufhob und darauf pustete, warf der Kunde
einen prüfenden Blick auf Nick, der seinerseits wiederum auf
Buster konzentriert war.
„Schach Sascha.“ wiederholte Kevin, blickte auf den mit
Kugelschreiber fixierten Namen auf dem Kuvert und hielt
diesem die Pläne entgegen. Die drei konnten es nicht sehen,
aber ein weißer Pfeil mit rosa Federn hielt direkt auf Nick zu,
und glitzernder Feenstaub platze direkt aus dem inneren des
Pfeiles, als er an Nicks Brustbein zerbarst. Der geknickte Pfeil
fiel zwar, doch schlug er nie auf dem Boden auf. Über den
Köpfen der drei, ertönte ein unartiger Fluch und Buster kläffte
gegen die Decke. Nachdem sein Herrchen ihn ermahnt hatte,
beruhigte er sich, indem er sein Bein hob und Nicks rechtes
Knie markierte.
„Scheiße!“ entfuhr es Nick, als er zur Seite sprang. Kevin – der
gerade das Wechselgeld herausgegeben hatte – prustete los und
Sascha zog den Terrier an der Leine zu sich heran und scholt
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ihn. Buster zog schuldbewusst den Schwanz ein, setzte sich auf
den Schuh seines Herrchens und versuchte möglichst debil
drein zu schauen.
„Ich denke, jetzt seid ihr Quitt.“ entkam Sascha ein schiefes
Grinsen, und ohne sich für seinen Köter zu entschuldigen
marschierte er aus dem Geschäft, wobei er sich noch zweimal
verunsichert nach Nick umdrehte, und Buster hechelnd die
Nase unablässig sein Knie rammte.
Der missmutige kleine Mann mit Halbglatze trug gegen
neunzehn Uhr noch immer sein Nachthemd – oder schon
wieder – und zurrte die Schrauben seines Bogens so fest das es
knarrte. Er beklagte sich bei seinem Sportgerät über seinen Job,
die Menschen heutzutage und seine Arbeitskleidung. Vor allem
seine Arbeitskleidung. Dann ließ er seine nackten behaarten
Beine über den Marmeladegläsern baumeln und wartete. Über
ihm hing ein großer gewölbter Spiegel – denn von hier aus hatte
man den besten Ausblick über den kleinen Supermarkt.
Allerdings hatte man hier auch einen kleinen Lautsprecher
installiert, der Amor unablässig ins Ohr dröhnte und neben
ausgesucht schlechter Musik auch beeindruckend Hirnlose
Slogans mit dynamischem Schwung in den Raum plärrte. Als er
einen jungen Mann mit tief in das Gesicht gezogener Kapuze
erspähte, der wie eine wintermüde Biene in den Laden
schwirrte, erhob sich Amor entschlossen. Er beobachtete, wie
Nick durch die Gänge schlurfte, ziellos, und sich mal hier und
mal da der Lektüre von Zutatenlisten hingab, ehe er die
Produkte wieder zurück stellte. Adrenalin schoss in Amors
unförmigen Leib, als ein sandfarbiges Sakko in den Laden
wehte und zielstrebig hinter Nick vorbei an die Gebäcktheke
eilte. Amor umfasste den Griff seines Bogens, klemmte die
Nocke in die Sehne, legte den Pfeil auf die Pfeilauflage,
umfasste die Sehne mit drei Fingern, und begab sich in die
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Grundstellung. Als Nick sich mit einigen Haken, der
Gebäcktheke näherte, an der Sascha soeben seine Bestellung
abgab, spannte Amor die Sehne, setzte den Ankerpunkt
zwischen Mundwinkel und Nasenwurzel, und verfolgte ihn mit
der Pfeilspitze. Aus der Box neben ihm dröhnte ein
abscheulicher Top Hit – und obgleich Amor nur zehn
Zentimeter daneben Stand, verdrängte seine Konzentration den
aufdringlichen Bass weit in einen dumpfen unwichtigen
Hintergrund. Es war eins mit dem Bogen, eins mit dem Opfer.
Er atmete in den Pfeil. Sascha nahm die Papiertüte entgegen,
lächelte und schäkerte mit der Verkäuferin, während er schon
mal einen Schritt zurück tat. Unter seiner Sohle erwartete ihn
der abgetragene Turnschuh von Nicks vollgepissten Bein. Amor
ließ die Sehne los, sein Arm schnellte nach hinten, der Pfeil
nach vorn, direkt auf Nicks Brustkorb zu. Hinter den
pinkfarbigen Federn zeichnete ein glitzerndes Flirren die
Flugbahn nach. In jenem Moment da Sascha spürte, das er auf
etwas weiches trat, und Nick spürte, das das Gewicht auf seinen
Zehen schmerzhaft wurde; in jenem Moment, da sich daraus ein
Handgemenge ergab; in jenem Moment da beide versuchten
einander aufzufangen obwohl keiner ernsthaft drohte zu
stürzen; zersplitterte der dritte Pfeil an Nicks Brustkorb, eine
weitere Wolke Feenstaub explodierte aus dessen Inhalt, und
verschwand auf halbem Weg zu Boden. Und während Saschas
Herz heftig schlug, er an ein Zeichen glaubte, da er heute zum
dritten Mal auf denselben Kerl traf der ihm von der ersten
Sekunde an gefallen hatte, ihn jetzt sogar in seinen Armen hielt,
zerbarst der Spiegel über den Marmeladegläsern neben dem
Lautsprecher und Splitter schellten auf den gefliesten Boden
und brachen das tote Licht der Neonröhren tausendfach.
Atemlos versagte Sascha die Stimme als er sich bei Nick
entschuldigte. Dieser wiederum zog seine Augenbrauen
zusammen und sein durchdringend böser Blick über den ewig
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grinsenden Lippen beschrieb eine intovertierten Ausdruck
höchsten Missmuts.
„Quitt, hm?“ raunte er mehr zu sich selber und kümmerte sich
nicht um das Knirschen der tausend Splitter unter seinen
Schuhen, als er direkt zur Kassa marschierte und unterwegs
hastig in das Getränkeregal griff und sich ein Coke heraus
fischte. Ein Tag voll Erinnerungen an den schlimmsten Tag
seines Lebens, ein kaputtes Fahrrad, ein vollgepisstes Bein und
ein beherzter Tritt auf seine Zehen, die nun schmerzten. Das
war kein guter Tag gewesen. Ganz und gar nicht. Dieser
Ansicht war auch: Amor. Nicht dieser Ansicht waren: Kevin
und Buster, die den Tag ziemlich okay fanden, und überhaupt
der Meinung waren, man sollte sich nicht allzu viele Gedanken
über Tage machen. Sascha würde sich hingegen noch viele
Gedanken über den Tag und künftige Tage machen, über dichte
Augenbrauen, dunkelblaue Kapuzenwesten und diverse
Situationen die so nie geschehen waren und vermutlich auch nie
geschehen würden. Er wird damit die halbe Nacht verbringen
und am nächsten Morgen zur gegebenen Zeit perfekt gestylt an
einer Ampel stehen und hoffen, ein ganz bestimmter Jemand
würde über seinen Hund fahren wollen.
Emo-Puppe: Man nehme einen Teddybär, knüpfe ein Seil um
seinen Hals, wickle Verbandmull um seine Handgelenke,
schieße ihm in die Schläfe (alternativ könnte man es mit einem
Faserstift auch nur so aus sehen lassen) und reiße ihm das
Herz heraus (oder jenen Teil, wo es liegen würde, hätte er
eines). Alternativ könnte man eine Puppe nehmen –
vorzugsweise mit Augen die wie ein X aus sehen oder aber
schwarz umrandet sind.
Mana trug eine solche Emo-Puppe so fest an ihre Brust
gepresst, das man von dem herausgerissenen Herz nichts sehen
konnte, und führte Nastyboy seit zwanzig Minuten immer und
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immer wieder an einer Leine im Kreis herum.
„Das passt nicht.“ erklärte Amor dem etwa zehnjährigen
Mädchen mit kupferroten Locken die ihm bis über die
Leibesmitte reichten. Nastyboy fauchte bösartig, fasste mit
seinen dürren Fingern nach der Leine und hielt dabei mit
seinem langen, spitz zulaufenden Schwanz sein Gleichgewicht.
„Drei mal! Die Pfeile brachen wie Stroh! Das es mitunter eine
echte Sauerei werden kann hab ich weiß Gott schon oft erlebt ...
aber das hier war etwas völlig anderes.“ Amor kratzte mit der
Zehe des einen am Knöchel des anderen Beines, und warf
seinen Kopf in eine jener Versagerposen, wie man sie an
manchen Bartresen anfindet, wo sich gescheiterte Seelen ihr
eigenes Leben nicht erklären konnten. Mana zog an der Leine,
Nasytboy stolperte mit seinen plumpen Füßen einen Schritt
nach vorne und musste die Leine los lassen um sich an den
Händen aufzufangen. Überall an seinem kleinen, hässlichen,
nackten Körper rollte sich die graue Haut in Falten – und man
konnte die abstoßenden Rippen zählen.
„Wenn ich da an den einen Fall denke damals ... “ Amor
machte eine theatralische Geste um seinen Worten Gewicht zu
verleihen „Das Brustbein sprang auf und es spritzte nur so
heraus wie schwarzes, zähflüssiges, stinkendes Öl – alles war
voll von diesem Zeug – und darinnen nichts ... das heißt, es war
so klein wie eine Erdnuss.“ Er schüttelte seinen Kopf als könne
er seine eigene Erinnerung nicht glauben. „Ich meine, was
führen die da auf? Wie kann man sich so gehen lassen?“
Nastyboy war zwar damit beschäftigt gewesen, der Leine nach
zu schleichen, doch seine runden großen - nach oben hin spitz
zulaufenden - Ohren hatten jedes Wort mitgehört, er neigte
seinen runden Kopf, bleckte die zwei dünnen gelben
Schneidezähne, leckte mit seiner schwarzen Zunge gierig
darüber und meinte mir schnarrender Stimme:
„Das hätte was für mich sein können, du Auswurf eines
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Schleimdrachen.“ Mana zog sanft aber respektlos – wie Kinder
es nun einmal tun - an der Leine und Nastyboy lief nur
widerwillig weiter.
„Und das ein Pfeil gar nicht erst reingeht – das hattest du noch
nicht?“ fragte eine Stimme von so unfassbar tiefem Bass, das
Amors Nachthemd zu vibrieren begann. Aus dem Schatten trat
ein Schatten. Ein umwerfend großer Schatten für ein
menschlich geformtes Wesen. Und so gut bestückt. Amor fühlte
sich in seinem Nachthemd mit einem Schlag overdressed.
„Nun ... meistens kratzt der erste Pfeil ein wenig an der
Oberfläche. Bis zum zweiten Versuch ist das Herz meistens
weich genug das zumindest die Pfeilspitze reingeht – der Rest
entwickelt sich. Aber das ein Pfeil selbst beim dritten Mal nicht
einmal die Oberfläche verletzt. Nein, so einen hartnäckigen Fall
hatte ich noch nicht – ich bin aber auch erst seit siebzig Jahren
im Dienst.“
Der nackte Schatten packte seinen muskulösen Körper auf
einen der herumstehenden Sessel, und wirkte als hätte er sich in
einen Kindergarten verirrt. Und keinerlei Schamgefühl. Amor
versuchte nicht da hin zu sehen wo er hinsehen musste.
„Mana, willst du Varis nicht mal etwas ... naja, du weißt
schon ... Anstand beibringen?“ wandte sich Amor mit
beschlagener Stimme an das kleine Mädchen das den kleinen
nackten Waschbär-Vampir-Eidechsenmann, oder was auch
immer, quälte, und verlor sofort die Hoffnung, das dieses
Anliegen Bedeutung haben könnte. Nastyboy witterte das
Unbehagen, hob seine Nase in die Luft und blickte Amor
lüstern an.
„Du hast da was.“ fauchte er und seine Zunge fraß mulmiges
Gefühl. Amor verzog sein Gesicht als hätte er in eine bittere
Frucht gebissen und wandte sich ab – dort aber wiesen lange
Beine seine Blickrichtung.
„Gott ... ihr seid so ... so ...“
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„Genau!“ schnarrte Nastyboy begeistert und rollte mit seinen
großen Augen. Dann würgte er, weil Mana die Leine zu straff
gezogen hatte – oder er sich zu vehement gewehrt hatte. Amor
warf ihm einen angewiderten Blick zu und suchte oberhalb der
gewaltigen Bauch- und Brustmuskeln – im Schatten – Varis
Gesicht.
„Wäre es zu viel verlangt, dich zu bedecken?“
Der gewaltige Schatten setzte sich in Bewegung, seine
Ellenbogen stützten sich auf die Knie und das Gesicht schob
sich ins Licht. Was für ein Gesicht. Eher eine Naturgewalt. Ein
Fels. Amors Knie wurden weich.
„Ich verstehe nicht.“ grollte es aus dem Brustkorb.
„Ich meine ja nur.“ sagte Amor kleinlaut und schaute auf seine
Zehen.
„Und wir sollen die Karre jetzt aus dem Dreck ziehen?“ sagte
die glockenhelle reine Stimme des Mädchens und hielt mit dem
Rücken zu Amor inne. Die kupferroten Haare brannten über
dem schwarzen Kommunionskleidchen und Nastyboy spuckte
auf die schwarz polierten Lackschuhe der Kleinen, um seinen
eigenen Rotz wieder abzulecken.
„Nunja.“ stammelte Amor und spielte mit seinen Fingern
„Wenns euch nichts ausmacht?“
Varis, Nastyboy und Amor blickten erwartungsvoll zu Mana.
„Wie heißt der Junge?“ fragte Mana und drehte nur ein wenig
ihren Kopf, sodaß man ihr linkes Ohr sehen konnte.
„Nick. Nikolaus um genauer zu sein.“ Amor räusperte sich
„Und er ist kein Junge ... zumindest wenn man aufs Alter ...“
„Halt die Klappe.“ tönte es zierlich aus Manas Richtung. Amor
warf Varis einen verunsicherten Blick zu, dessen blauschwarzes
Haar wie Seide über sein Muskelgebirge floss. Das Ungeheuer
von Männlichkeit zwinkerte Amor zu. Und Amor wurde ganz
anders zumute. Nastyboy kicherte und seine schwarze Zunge
leckte Unbehagen, und spuckte es angewidert aus. Es war keine
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hässliche Delikatesse von Unbehagen gewesen, sondern so ein
Ding mit Lust und Liebe und so. Nastyboy wünschte er könne
sich den Mund mit Eiter ausspülen.
„Meinst du den Schwulen den du mit dieser Scheißkröte von
gefallener Seele verkuppeln willst?“ klang es niedlich wie
Kindergesänge aus Manas Mund. Amor verschluckte sich am
eigenen Speichel, Nastyboy fuhr rasch seine Zunge aus und
grunzte wohlig.
„Ja, ich meine,... Sch... gefallene Seele stimmt nicht ganz, und
ich will niemanden verkuppeln, ihr wisst genau das ich
Anweisungen bekomme.“
„Vielleicht will dieser Nick ja nicht schwul sein, schon mal
daran gedacht?“ brummte es aus den untiefen des
Muskelgebirges. Nastyboy kicherte labil.
„Das hat er doch nicht zu entscheiden, was er sein will.“ sagte
Amor so entrüstet als hätte Varis soeben die Schwerkraft in
Frage gestellt.
„Haltet das Maul! Alle zwei!“ sagte Mana, immer noch mit
dem Rücken zugewandt. „Ich hab da was. Einen Schwur.
Dreizehn Jahre alt.“ Mana drehte sich um und Amor machte
anstalten, in Deckung zu gehen. Ein Reflex aus alten Zeiten.
Ihre grünen Augen fixierten Amor, der immer wieder davon
überwältigt war, wie unerhört niedlich ihr Gesicht war, für den
Job den sie hatte. Auf ihrer Alabasterhaut tanzten
Sommersprossen und sie sah aus wie die personifizierte
Unschuld. Satan, du elender Zyniker, dachte Amor, und
Nastyboy schmatzte schon wieder.
„Du wirst dir noch den Magen verrenken.“ spuckte ihm Amor
vor seine schwarze Seele.
„Was für ein Schwur?“ fragte Varis, und neigte sich so weit
vor, das Amor seinen Atem über seiner Glatze hinweg spüren
konnte. Gänsehaut zog ihm über den Rücken. Mana presste ihre
Augen ganz fest zu, wie Kinder es tun wenn sie sich unsichtbar
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machen wollen, und schrie mit der Stimme eines verzweifelten
jungen Mannes:
„ICH SCHWÖRE HIERMIT, NIE WIEDER ZU LIEBEN!!!“
schwarze Tränen bildeten sich in ihren Augenwinkeln, und als
sie ihre wundervoll blattgrünen Augen öffnete, sah sie aus als
hätte sie ein Cocktail aus Kajal, Mascara und Depression
verunstaltet. Nastyboy zuckte zusammen, Varis blickte
ernsthaft bestürzt drein – nur Amor begann herzhaft zu lachen.
Erst als er bemerkte, das die Anderen ihn seltsam betreten
musterten, nahm er sich beim Riemen und sagte wunderbar
gelöst:
„Kommt schon Leute. Ich schwöre hiermit, nie wieder zu
lieben – das sagt doch jeder mal in seinem Leben.“ und um zu
beweisen wie albern dieser Satz für ihn klang, lachte er noch
eine Runde. Sein Publikum verstand jedoch nicht.
„Also wenn der Satz ziehen würde – wäre die Menschheit
längst ausgestorben.“ machte er sich lustig.
„Also das ...“ sagte Nastyboy mit gerümpfter Nase über Amor
„Das ist wirklich abstoßend.“
Um es vorwegzunehmen: Sascha wurde enttäuscht. Aber er
wusste auch nicht, das Nicks Fahrrad neben einer
Restmülltonne im Koma lag. Oder besser gesagt: lehnte. Und
das dies bedeutete, das Nick sich zu Fuß auf den Weg in die
Arbeit machen durfte. Die Schmerzgrenze, bis sich
hoffnungslos Verliebte wirklich albern vor kommen, liegt
verdammt hoch, und Buster neigte zu ersten
Verhaltensstörungen, während Sascha – eingehüllt in Chanel
No5 – an der Ampel stand und versuchte, beiläufig auszusehen.
Nach nur dreißig Minuten erspähte er in der Ferne ein Fahrrad
mit einem jungen Mann in legerer Kleidung. In seinem Magen
brach ein Schwarm Heuschrecken auf und bekam berechtigte
Panik. Sascha befeuchtete seinen linken Mittelfinger an seiner
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Zunge, fuhr sich über die Augenbrauen und betete zu allen
Dämonen die ihm bekannt waren, das er nicht plötzlich
irgendwie entstellt aus sähe. Als der arglose Jüngling sich der
Kreuzung näherte, bugsierte er Buster auf den Zebrastreifen,
der sich aus gutem Grund dagegen sträubte. Es war rot. Oder
besser gesagt – der arglose Jüngling hatte grün. Und er machte
einen Salto über sein Mountainbike, als er sich in der Leine
verhedderte, die sich zwischen einen offensichtlich
Wahnsinnigen und seinem offensichtlich intelligenten Hund
spannte. Saschas bodenlos entsetzter Blick galt weniger dem
Malheur das er angerichtet hatte, sondern dem Umstand, das es
nicht Nick war, der sich aus dem Beton schälte, ihn einen
kranken Irren schimpfte und darauf bestand, nicht, gar nicht,
und unter keinen Umständen angefasst zu werden. Nein. Auch
nicht seinen Rucksack. Schon gar nicht seinen Rucksack.
Buster hatte das vom Straßenrand aus beobachtet und überlegt,
das er sich das einprägen müsse. Für irgendetwas müsse das
einmal gut sein. Die Fußgängerampel sprang auf Grün und
Buster setzte sich Schwanz wedelnd in Bewegung. Ab diesem
Vorfall ging er mit seinem Herrschen gassi. Aber die Liebe
wäre nicht die Liebe, wenn Sascha nicht bis zur Schwelle seiner
Wohnung schon ein duzend Ausreden für seinen Angebeteten
erfunden hätte. Buster trabte mit klackernden Krallen über den
Parkettboden zu seinem Körbchen und warf sich dort
schnaufend auf die Decke, während seine Stirn mehrere tiefe
Runzeln zeigte, als er beobachtete, wie sein Herrchen zu seinem
gläsernen Schreibtisch lief und der Maus einen kleinen Schubs
gab. Der Rechner erwachte aus seinem Ruhezustand und das
ästhetische Foto eines noch ästhetischeren Sixpacks zierte als
Hintergrundlandschaft. Auf Socken – er trug sie auf seinen
Füßen und nicht darunter – trabte er in die Küche, und Busters
Falten über den Augen – die wie ein Radar den Fersen folgten –
schoben sich entsprechend über die flache Stirn. Und wieder
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zurück, als sich Sascha mit einer Tasse Kaffe - deren Aroma es
in einem zähen Kampf mit Chanel No5 aufnahm und dabei nur
mühsam den Sieg errang – auf den behaglich großen Stuhl vor
seinem Rechner platz nahm. Das war der Platz, an dem Sascha
für gewöhnlich den Vormittag über saß, und Websites
programmierte. Heute beschloss er, sich einmal bestehende
Websites anzusehen. Man musste Up-to-date sein. Mal sehen.
Die Tastatur klackerte sanft unter seinen Fingerkuppen und mit
einem beherzten Schlag auf die Enter Taste schickte er das
Wort „Copyshop“ wie ein Stöckchen ins Weltweite Netz und
erhoffte sich, das Google ihm das richtige bringen würde.
Natürlich hätte er es sich denken können, dass das, was ihm der
Generator an den Bildschirm klatschte, nur einen Heuhaufen
nicht aber die berühmte Nadel brachte. Dennoch, manchmal
kam man zu überraschend guten Ergebnissen wenn man es
banal versuchte. Sascha überlegte nicht lange, fügte die
Postleitzahl und den Namen der Gasse hinzu, und spürte, wie
hundert Maikäfer von seinen Leisten bis zu seinem Herz hoch
und wieder Retour wanderten, als die ersehnte Antwort an
erster Stelle kam. Dabei entfuhr ihm ein vergnügtes Jauchzen
und Buster kommentierte es mit einem müden „Wuff“. Saschas
Ohren glühten und er schaffte es kaum, Luft zu holen, als er auf
den Link klickte. Ich benehme mich wie ein pubertierendes
Mädchen, schoss es ihm durch den Kopf. Diese Feststellung
hatte er als eine Ermahnung in sein Bewusstsein geholt – doch
erzeugte sie das Gegenteil. Offensichtlich hatte sein Herz
weniger Schaden durch sein doch recht bewegtes
achtundzwanzig jähriges Leben genommen, als er befürchtet
hatte. Er war also wieder da. Er hatte doch echt gedacht, er
würde nie wieder lieben können. Und nach dem Ende seiner
letzten Beziehung vor zwei Jahren, aus der ihm Buster
geblieben war, hatte er sich geschworen gehabt, nie wieder zu
lieben. Nun, das hatte wohl nicht funktioniert, dachte er, als
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sich die Site vor ihm aufbaute.
„Bei allen Dämonen die mir geläufig sind, ich hoffe das hast
nicht DU verbrochen.“ entfuhr es seinen Lippen, als er das
bunte Massaker aus hüpfenden, springenden und tanzenden
Cliparts sehen musste. Diese Site war so etwas wie die
Müllverwertungsanlage des World Wide Web. Wer auch immer
sie verbrochen hatte, hatte zumindest ein Händchen für alles
was für jegliche Form von Geschmack ohne Bedeutung war –
oder zumindest einen gehörigen Patzen wirklich schlimmen,
wirklich schrägen Humor. Sascha brach fast das Herz. Sollte
sich dafür wirklich sein Augensternchen verantwortlich
zeichnen, würde er sich einen ernsthaften Rückzieher
überlegen. Zunächst aber galt es, so etwas wie ein Impressum
und im besten Fall ein Verzeichnis über die Mitarbeiter zu
finden. Auf gewöhnlichen Homepages war das kein wirkliches
Thema – hier aber war es sogar gelungen, Text unlesbar
unterzubringen. Für gewöhnlich tat sich Sascha solche Seiten
keine drei Sekunden an, sie widerstrebten seinem Geschmack
so dermaßen, das sie ihn beleidigten.
„Komm schon, wer so etwas ins Netz stellt, beabsichtigt nicht,
anonym zu bleiben.“ murmelte er zu sich selber, und Buster
horchte auf. Als er entdeckte, das die animierten Gifs Links zu
weiteren Seiten darstellten, war seine Geduld am Ende. Einzig
die Hoffnung, den Namen seines Schwarms zu erfahren hielt
ihn noch. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ihm die
Erinnerung an das T-Shirt mit der Aufschrift „Farbenblind“ in
den Kopf, und sein Magen krampfte sich zusammen. Es war
sogar sehr gut möglich, das er sich hier in eine gestalterische
Amöbe verliebt hatte. Als er ein Gif entdeckte, bei dem sich
zwei Clowns unablässig gegenseitig mit Holzhammern auf den
Kopf schlugen, klickte er mit einer gruseligen Vorahnung
darauf – und – wurde fündig.
„Von Bildgröße hast du also auch noch nichts gehört“ murmelte
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Sascha, als er lediglich den Ausschnitt eines Fotos sah, und die
Scrollbalken unten und an der Seite ahnen ließen, wie groß es
sein musste. Statt sich aber mit diesen Balken abzumühen
speicherte er das Foto auf seinem Desktop ab und öffnete es in
der Vorschau, während er einen Schluck von seinem Kaffee
machte... an dem er sich Verschluckte, als das Bild sich fertig
aufgebaut hatte.
Kevin in seiner Vision als Rockstar. Komplettiert in Paint.
Sascha beschloss, dies für sich nicht weiter zu kommentieren,
es aber als skurriles Kleinod auf seinem Rechner zu belassen.
Er öffnete erneut den Browser und scrollte herunter, in
Hoffnung oder Angst, das konnte er nach den Impressionen der
letzten Minuten nicht so genau sagen. Unter dem riesigen Bild
erklärte eine Zeile, das man hier Kevin sah, den stolzen
Designer dieser Seite – und manche ihn wohl auch als Killerkev
wiedererkennen würden – und das er alle seine Fans recht
herzlich grüße. Das Bild dürfe man übrigens gerne verwenden –
auch für unanständige Dinge `zwinker´. Und noch ehe Sascha
darüber in ein müdes grinsen verfallen konnte, zeichnete sich
ein weiteres, deutlich kleineres Bild darunter ab. Sein Herz
machte einen kleinen Sprung, als er das Scrollrad seiner Maus
langsam bewegte – und – ihm das zeigte, wonach er gesucht
hatte. So wie es aus sah, hatte Nick nicht gewusst, das er Motiv
war – und der Bildqualität nach zu urteilen hatte ihn eine
Handykamera erwischt. Sascha hätte einen Mord in Auftrag
gegeben, wenn man ein Foto dieser Qualität von ihm in Umlauf
gebracht hätte. Dennoch war er froh über dieses Bild, speicherte
es ab und er musste unweigerlich bis über beide Ohren grinsen,
als er ihn aus sprach, den Namen seines Angebeteten.
„Nick.“
Dieser stand einsam und alleine und ohne Aufforderung zu
unanständiger Verwendung unter dem Bild. Sascha malte sich
aus, wie zäh der Kampf mit Killerkev gewesen sein musste,
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unkommentiert auf der Seite verewigt zu bleiben.
Und das sollte es auch gewesen sein mit seiner Produktivität an
diesem Vormittag. In guter Absicht öffnete er beständig neue
Ordner und Dateien, aber letztlich beschäftigte er sich damit,
das Foto qualitativ aufzubessern. Dann und wann nervte er sich
dabei selber, das er sich wie ein Kind benahm und wollte das
Programm schließen ohne zu speichern... letztlich aber machte
er sogar einen Ausdruck davon.
„Ich bin kindisch, dumm und verrückt, ich könnte verstehen das
du nichts von mir willst.“ sagte er zum ausgedruckten Nick, und
weil er sich vor sich selber albern vor kam, versteckte er es
unter einem Stapel Papier.
„Wetten, du traust dich nie mit – Wenn ich du wäre, wär ich
lieber ich – rumlaufen?“ sagte Kevin provozierend, als er dabei
war, Stempelplatten in die dafür vorgesehenen Stempel zu
kleben. Dabei hatte er es geschafft, bis zu seinen Handgelenken
blau und schwarz verschmiert zu sein.
„Das ist albern.“ erklärte Nick und legte einen Polsterbezug in
die Bügelpresse.
„Darum geht es doch.“ sagte Kevin begeistert, wackelte lustig
mit den unsichtbaren Augenbrauen und fand sich sehr
innovativ.
„Außerdem hab ich den Spruch schon mal gelesen.“ wehrte
Nick ab. Er war heute deutlich besser gelaunt und Kevin hatte
einen Riecher dafür. Nick für dämliche Spielchen zu gewinnen
war auch eine Art für Kevin, Frieden zu schließen. Schaffte er
es, Nick zu irgendeinem Unsinn zu überreden, war die Welt
wieder im Gleichgewicht. Man konnte ihm die offene Türe
dann auch nicht mehr nachtragen.
„Fünfzig Euro!“ bot Kevin. Nick klappte die Bügelpresse
herunter und setzte sie in Gang.
„Hör auf, gegen Geld mach ichs sowieso nicht.“ erklärte Nick,
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wartete das Röhren der Maschine ab und öffnete sie.
„Okay, okay ...“ schoss eine göttliche Eingebung in Kevin
unerschütterliche Seele „Wenn du ich wärst, wär ich lieber du.“
dabei zeichnete er den imaginären Schriftzug plakativ in die
Luft.
„Wenn du ich wärst, wär ich lieber du?“ wiederholte Nick
ungläubig „Was soll das heißen?“
„Mist“ sagte Kevin, als er den Stempel auf seinem Handrücken
ausprobiert und fest gestellt hatte, das er ihn verkehrt herum
eingeklebt hatte.
„Konzentriere dich lieber auf deine Arbeit.“ mahnte Nick.
„Würdest du?“ fragte Kevin unbeirrt, zog mit einer Pinzette die
Stempelplatte ab und presste sie hundertachtzig Grad verdreht
wieder drauf.
„Würd ich was?“ sagte Nick, nachdem er die Füllung in den
Polster gestopft hatte und den Reißverschluss zu zog.
„Na das T-Shirt mit dem Spruch tragen ... in der Mittagspause.“
verhandelte Kevin.
„Meinetwegen.“ seufzte Nick. Drumherum würde er doch nicht
kommen, und er hatte schon wesentlich doofere Texte
ausgetragen. Zudem verbrachte er seine Mittagspause ohnehin
nur im Cafe ums Eck. In Kevins Gesicht entzündete sich irre
Begeisterung, er rieb sich die Hände und hockte sich inspiriert
vor seinen Rechner.
„Ich hab was viel besseres.“ erklärte er kichernd, seine
Schuhbandhaare schlenkerten in die Tastatur und krochen
vereinzelt über seinen enormen Rundrücken. Nick bereute es
bereits, und während er die Stellung hielt, konnte er hinter
seinem Rücken vernehmen, wie Kevin sich der Erfüllung seines
teuflischen Planes hingab und dabei in unregelmäßigen
Abständen etwas zu Boden schubste oder kicherte. Nick half
einer älteren Dame, Fotos ihrer Enkelkinder vergrößert zu
fotokopieren, und beobachtete aus dem Augenwinkel wie Kevin
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gerade begeistert nickend die Bügelpresse bediente. Ob er auf
die Kunden auch so wirkte? So ... schlicht? Als Kevin merkte,
das er beobachtet wurde, schob er geheimniskrämerisch seinen
Rücken vor seine Kreation. Kind, dachte Nick als er sich zu
seinem Rechner setzte und sich in seine Arbeit vertiefte –
Preisänderungen an einer Speisekarte. Auch wenn es unmöglich
schien – Kevin prustete gelegentlich, peinlicher weise auch
wenn er einen Kunden bediente, unerwartet los – hatte er
zumindest verdrängt, das eine Überraschung auf ihn wartete.
Nick erhob sich, grub in seinen Hosentaschen nach Geld, zählte
nach ob es für ein Coke und einen Toast reichte, und raunte
Kevin, ein:
„Mahlzeit.“ zu. Vielleicht, ja, vielleicht – die Chancen standen
furchtbar schlecht – kam er heute ja davon.
„Warte!“ rief Kevin, und das ganze Universum schien an einem
Netz zu hängen in das Kevin sich verheddert hatte, und nun in
sich zusammenstürzte. Das ganze Universum ließ sich durch
einen nicht nummerierten, tausendvierhundertseitigen Bericht
vertreten, der mitsamt einem Ordner, zwei Stempel, einer Tasse
und etwa fünfhundert Büroklammern geräuschvoll zu Boden
krachte und speziell für den Kleinram fast drei Minuten
benötigte. Drei Minuten, in denen jeder in diesem Lokal einschließlich der beiden Mitarbeiter fünf Leute - inne hielt.
„Ups.“ ertönte es als Schlusssynfonie von Kevin, der die ganze
Zeit über seine Finger in das Shirt vor seiner Brust verkrampft
hatte. Einen angemessenen Abstand zu diesem Geschehen
abwartend entrollte er es und kommentierte es mit einem
jauchzenden:
„Tadaaaaa.“
„Wenn du dich wärst, bleib lieber mal, du!?“ las Nick. „Was
soll das heissen?“
Kevin fühlte sich nicht im mindesten gekränkt, das Nick seinen
genialen Witz nicht verstand. Immerhin verstand ja Nick nicht
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worum es geht, und nicht er selber. Das bot einen hübschen
Kontrast zum Rest seines Daseins. Aber er wollte mal nicht so
sein, zeigte mit dem Finger die Worte die Nick noch einmal
lesen sollte.
„Wenn du dich wärst ... wärst ... w... was meinst du verdammt
nochmal?“
Kevin schmunzelte.
„Naaa? Wer wird denn da gleich ungeduldig werden?“
„Ich geh jetzt essen.“ wandte sich Nick dem stinkenden
Angestelltenausgang zu.
„Na probiers nochmal... wer... wehr... wehren. Und?“
„Du meinst wehrst?“ über dem Shirt wackelten nicht
vorhandene Augenbrauen.
„Das schreibt man doch völlig anders.“ seufzte Nick genervt.
„Das ist ja der Wiiiihitz.“ erklärte Kevin und streckte Nick das
Shirt entgegen. Nick hielt auf den Ausgang zu ohne es
anzunehmen.
„Ach komm schon, du hast es versprochen.“ Nick fuhr herum:
„Kevin, das geht so nicht.“ er blickte in zwei sehr große sehr
wimpernlose Augen in einem sehr ovalen Gesicht,
„Okay, gib schon her.“ riß sich seine Weste und sein Shirt mit
dem Aufdruck: Ich hab Kenny getötet, aus einer früheren
Wette, vom Leib und stülpte sich jenes mit dem blödesten
Spruch aller Zeiten über. Darüber zog er seine Weste, und
sobald er aus dem Geschäft und dem stinkenden Vorort der
Hölle - wie sie den Hauseingang liebevoll nannten - getreten
war, zog er den Reißverschluss bis oben hin zu.
„Ich fühle mich irgendwie verkleidet.“ sagte Varis unglücklich.
Vor ihm stand ein Tisch, der durch ihn lächerlich wirkte. Er
konnte die Tischplatte beinahe auf seinen Knien balancieren.
An seinem Tisch saßen noch Mana und Nastyboy. Varis
streckte seine Hand aus, der Ärmel des grauen Sweaters reichte
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ihm bis zum halben Unterarm. Er spannte zu den Achseln hin
und über den Rücken, und zwischen ihm und der eng sitzenden
Jogginghose blitzte ein fünf Zentimeter breiter Streifen Haut
hervor. Unablässig zupfte der Hüne an der Kleidung wie eine
nervöse Discoqueen.
Amor hatte sich von der peinlichen Truppe abgesetzt und
beobachtete sie geringschätzig. Das Cafe war quasi leer und die
Kellnerin – eine dünne, große Frau die man am höflichsten mit
mittleren Alters – beschrieb, lehnte gelangweilt hinter der Bar,
blätterte in einer Zeitschrift und rauchte. Amor stand, einen
Arm auf die Kaffeemaschine gestützt, neben ihr und versuchte
lässig zu wirken. Sie konnte ihn nicht sehen, wie sie auch die
drei anderen nicht wahrnehmen konnte, aber Amor hatte das
Bedürfnis, sich mit zu teilen. Es war nicht so das er sich den
anderen nicht gewachsen fühlte – er hatte nur eine gewisse
Affinität zu großen, schlanken und dunkelhaarigen Frauen mit
leicht verlebtem Gesicht – wie schon zu seinen Lebzeiten. Und
wie zu Lebzeiten plauderte er über Gott und die Welt, nur das
es es jetzt etwas mehr Gott war und etwas weniger Welt war.
„Stellen Sie sich Gott als den Firmenchef eines Imperiums vor.
Alles läuft von selber. Menschen verlieben sich, Menschen
töten sich, sie provozieren Naturkatastrophen und
Nobelpreisträger. Seine Mitarbeiter vergnügen sich mit
Mutproben oder privaten Hobbys und Gott vergnügt sich beim
Golf und interessiert sich für teure Autos und Frauen. Aber in
regelmäßigen Abständen bekommt er das Chef-Syndrom. Die
Idee, er wäre nicht wichtig genug, der Laden könnte ohne ihn
besser laufen, oder so etwas, überfällt ihn und er beschließt,
wichtig zu sein. Also trabt er eines Tages wie von der Tarantel
gestochen durch die Büros und befielt Mana:
,Hol einen kleinen, dicken, Mann mit Halbglatze und schaff ihn
in mein Büro, ich hab da eine Idee.'
Und keine Stunde später, ich bin gerade beim pinkeln, tippt mir
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jemand auf die Schulter. Ich dreh mich um und sehe in das
schönste Puppengesicht und die wunderbar grünsten Augen die
ich je gesehen habe.“ Amor nickte kurz Richtung Mana, die
versuchte auf Nastyboys Kopf ein Häuschen aus Untersetzern
zu errichten. „Sie sagt nichts, sondern geht einfach wieder. Auf
einmal spüre ich, wie der Lebensmut aus mir heraus fließt als
hätte man irgendwo am Rücken einen Pfropfen entfernt und
keine vierundzwanzig Stunden später ertränke ich mich in einer
Regentonne. Nein, das ist nicht witzig. Ich – völlig verdattert –
aber mit einer tiefen Ahnung wo ich bin, Macher von diversen
so-schaut-es-im-Himmel-aus Filmen müssen schon mal da
gewesen sein, werde in SEIN Büro gebeten. ER hält sich nicht
lange mit Höflichkeiten auf, sondern erzählt mir sofort, das er
einen Job für mich habe. Ich solle bewirken das Menschen sich
verlieben. Ich sag, mit Verlaub, aber das tun sie doch sowieso,
und denke an die große, dünne Mathilda die mich vermutlich
gerade heulend aus der Tonne fischt. ER aber hört kaum richtig
zu, ist ganz versessen von seiner Idee, irgendwelche
spannenden Situationen zu erschaffen. Sag ich, bei allem
Respekt, aber er solle sich doch mal umschauen, wir haben gute
sechs Milliarden Menschen, da gäbe es mehr Unglück als er
verkraften kann, falls er es darauf anlegen würde. Und dann
winkt er ab. Nein, nein. Sagt er. Ich würde das nicht verstehen.
Das wäre wie fernsehen. Es wäre bunt und laut und unheimlich
nervtötend, wenn er sich den ganzen Mist da unten ansehe. Er
hasse fernsehen. Manchmal, zur Entspannung, da wäre es schon
okay, aber er sehne sich mehr nach etwas eigenem. Sag ich,
nun Herr, Ihr seid Gott, sag ich, ich dachte immer, Ihr habt das
Programm erschaffen. Und dann bekommt er plötzlich so einen
Schleier über seine Augen und meint, das es genau darum ja
ginge. Bei der Schöpfung damals, da habe er sich richtig kreativ
gefühlt. Nützlich. Aber dann habe er die Menschen sich selber
überlassen, immerhin habe er ja auch noch seine Schwäche für
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Golf, schöne Autos und Frauen, wenn ich verstehe was er
meine. Mir liegt schon auf der Zunge – das, was er mir vorhin
genommen habe? - aber ich komm nicht mal dazu, das fertig zu
denken, da beginnt er mit einem Monolog, wie kreativ er doch
manchmal sei. Er fängt an mir eine Geschichte nach der
anderen zu erzählen die er selber initiiert hätte und fragt mich
nach ein paar Duzend Namen, ob ich die kennen würde – von
denen mir über zwei drittel überhaupt nichts sagen. Sicher,
Jesus, Hitler, Curt Cobain, aber der Rest – nullachtfünfzehn
Leute – für die Menschheit unbedeutende Randfiguren – aber er
entflammt gerade für die besonders. Und dann, ich will gerade
weg pennen, weil es billiger Trivialschrott ist den er mir da
auftischt, erklärt er, das es kein Zufall wäre, das ich hier sitze.
Wäre ja noch schöner, was? Er meint, er habe letztens auf dem
Golfplatz eine Idee gehabt, eine Eingebung quasi, und er habe
Lust, sich wieder ein wenig einzumischen. ER wolle nicht
fernsehen, er wolle Ressigeur sein. Er wolle kreativ sein, etwas
erschaffen. Oder zumindest wolle er etwas mitrühren in der
Suppe seines Unterhaltungsprogrammes und dafür habe er mich
kommen lassen. Ich fühle mich geehrt, ich wollte schon immer
Gottes Pausenclown sein, murmle ich, aber er überhört es und
meint, ich solle Liebesbote werden. Sie können sich vorstellen
– ich guck an mich runter – ein kleiner, dicker Mann mit
Halbglatze, unter Liebesbote hatte ich mir was einigermaßen ...
anderes ... vorgestellt. Und da erzählt er schon von Spiderman,
Superman, Batman, und ich denke mir, was hat der Typ? er
beginnt zu schwärmen wie schlicht das Konzept sei – und doch,
keiner müsse erklären wer Batman sei, man würde ihn auf den
ersten Blick erkennen. Er bewunderte die Marketingstrategie,
das dieser Kerle quasi wandelnde Logos seien, und ich frag
mich, ob ihm bewußt ist, das es erfundenen Superhelden seien,
sie nicht wirklich existieren. Aber er fährt fort, das er das
Konzept so genial fände, das er sich für mich das selbe überlegt
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habe. Wow, denke ich, und sehe mich schon als Adonis wie
eine Rakete durch die Lüfte schwirren, da drückt er eine
Fernbedienung und ein Bild projeziert sich – quasi in die Luft.
Darauf ist eine Witzfigur zu sehen, tadaaa.“ und Amor zeigte
auf seinen kleinen unförmigen Körper in Nachthemd und
verzog sein Gesicht.
„Ich hasse den Scheißkerl. Aber ich hasse auch Mana. Ich
meine, sie hatte die Aufgabe irgendeinen kleinen fetten Kerl
ohne Haare zu holen, musste das ausgerechnet ich sein? Und
dann Varis. Oh ja. Ich meine, sehen Sie sich ihn an, und dann
sehen sie mich an. Ich muss ihn hassen. Er ist alles was ich
nicht bin. Und Nick? Hörn Sie auf. Den hasse ich ganz
besonders. Ich meine, dieser dumme Schwur, das ist doch eine
reine Kriegserklärung gegen mich. Mich würde nicht wundern,
wenn ER das so inszeniert hätte, das sadistische Miststück. Ich
sag Ihnen was. Der einzige von dem ganzen verdammten
Haufen, dem ich etwas abgewinnen kann – das ist Satan.
Jawohl. Der rekrutiert keine Mitarbeiter, der spielt keine Spiele
weil er sich kreativ inspiriert fühlt. Er weiß was er will und
setzt es durch. Direkt. Er vertraut da keinem. Das finde ich
ehrlich und direkt. Er fackelt nicht lange herum. Er will eine
Seele? Dann geht er hin, macht ein Angebot. Er selber.
Persönlich. Keine Mätzchen – wer es mit ihm zu tun hat weiß
worauf er sich einlässt. Ich meine, bei Gott ist sich doch eh
jeder unsicher und überlegt und weiß nicht recht oder verbeißt
sich fanatisch, sowas hat Satan nicht nötig. Seine Existenz ist
einfach nichts das jemand in Frage stellt, keiner wankt ob er an
ihn glauben soll.“
Amor blickte hinüber und bemerkte, das Varis sichtbar einen
Entschluss gefasst hatte und seinen massigen Körper bis unter
die vergilbte Decke hob.
„Das geht so nicht!“ tönte es aus seinem Brustkorb, packte mit
seinen Händen den Kragen und riss den Sweater einfach
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entzwei und entblößte das Muskelgebirge, das beinahe wie nach
einer Regenzeit dampfte. Das Haar floss in sein Gesicht, als er
seine Hände an den Hosenbund setzte, und mit seiner Hose
dasselbe machen wollte.
„Nicht!“ rief Amor flatterte mit seinen lächerlichen Flügeln zu
seinen Mitarbeitern und hob seine Hand. „Bitte nicht.“
„Ich fühle mich lächerlich in dem Fummel.“ erklärte Varis
verzweifelt.
„Erstens: Das ist kein Fummel.“ Amor fasste sein Nachthemd,
zog lieblos daran und sagte: „Das ist ein Fummel. Und
Zweitens: Ohne Hose wärst du lächerlich.“ Amor und Varis
Blicke kreuzten sich.
„Okay, lächerlich ist das falsche Wort.“ revidierte Amor
„Aber du kannst hier nicht nackt herum laufen.“
„Ich laufe nicht herum.“ brachte Varis hervor, gab sich aber
vorerst besänftigt. Amor versuchte, das Thema von vorhin
wieder auf den winzigen, runden Tisch zu bringen. Es war
beinahe unmöglich, eine simple Abmachung zu treffen. Jeder
der vier Anwesenden - außer Amor selbst natürlich - schien
völlig fasziniert von einer Welt zu sein, die nur von innen bis
zur eigenen Haut reichte. Egozentriker und Narzisten, dachte
Amor abschätzig, lächelte aber freundlich wie eine asiatische
Stewardess – und genauso ehrlich. Gerade als er das Thema
aufgreifen wollte, öffnete sich die Türe des kleinen Cafes und
Nick schlurfte herein.
Sein Platz war frei. Nun, es war nicht wirklich sein Platz, aber
es war der einzige im ganzen Lokal, an dem Nick sich
willkommen fühlte. Er lag in der hintersten Ecke und man
konnte von ihm aus das gesamte Cafe überblicken. Das machte
den Platz theoretisch attraktiv für andere Gäste und so
marschierte er zügig darauf zu, obgleich niemand ihm den Platz
streitig hätte machen können. Er war der einzige Gast. Der
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einzige für Menschen wahrnehmbare Gast. Und obgleich er
alleine war – mit Ausnahme der chronisch demotivierten
Kellnerin, fühlte er sich beobachtet.
Nick war ein scheuer junger Mann, und er beherrschte die
Kunst, unsichtbar zu sein. Und obgleich er jeden Mittag unter
der Woche dieses Cafe besuchte, und jedes Mal das selbe
bestellte, behandelte die Kellnerin ihn wie einen Fremden und
kritzelte jedes Mal seine Bestellung auf ihren kleinen Block.
Ein Coke und ein Toast. Selbst wenn es wirklich eine
unerwartete Bestellung eines unbekannten Gastes gewesen
wäre, angesichts der vollständigen Abwesenheit anderer Gäste,
hätte sie sich das auch so merken können.
Nick fischte sein zerfleddertes Notizbuch aus seiner hinteren
Hosentasche und legte es auf den Tisch. Sein Blick huschte
rasch durch den Raum. Es war keiner da. Dennoch, er fühlte
bohrende Blicke. Die Kellnerin stand mit dem Rücken zu ihm
und klatschte seinen Toast in den Toaster. Nick öffnete sein
Notizbuch und blätterte es auf einer x-beliebigen leere Seite
auf. Er ging nie nach Reihenfolge vor, und am liebsten mochte
er rechts liegende Seiten die frisch und unverbraucht wirkten,
wo sich nichts von vorangegangener Arbeit durch drückte. Am
Deckel des Notizbuchs klemmte in einer Schlaufe ein Bleistift
mit einem Radiergummi an seiner Rückseite, der allerdings im
Metallring verschwunden und daher unbrauchbar geworden
war.
Nick hatte nichts, das ihm wirklich etwas bedeutete. Die
Wohnung war nur dazu da, nicht im Park schlafen zu müssen.
Sein Job im Copyshop diente im Grunde genommen demselben
Ziel. Sie war nicht übel, die Arbeit, vermutlich besser, als für
Fremde Toasts zuzubereiten, aber sie diente, wie wohl bei den
meisten, bloß dazu, seine Existenz, nicht aber seine Fähigkeiten
zu etablieren.
„Ein Toast, ein Coke.“ sagte die rauhe Stimme der Kellnerin
34
lahm, als sie Glas und Teller klirrend auf den Marmortisch
stellte.
„Ich zahl gleich.“ sagte Nick und obwohl es jeden Tag dieselbe
Bestellung war, variierte der Preis ständig. Hätte Nick ein
bisschen mehr Interesse an seiner Umwelt, wäre ihm auf
gefallen, das er anhand der Preise den Zyklus der Frau
berechnen hätte können. Aber vermutlich, sicher, interessierte
ihn das überhaupt nicht. Und während sie hinter den Tresen
zurück wackelte, neigte sich Nick wieder über sein Notizbuch,
ohne den lauwarmen Toast zu beachten.
Nick hatte keine Freunde - außer man wollte Kevin zu einem
solchen zählen - und zu seiner Familie hatte er so gut wie
keinen Kontakt mehr. Vater hatte er ohnehin nie gehabt, und
seine Mutter war ihr Leben lang sehr beschäftigt mir ihrer
Wirkung auf andere Leute und ihre Probleme damit gewesen.
Und seit einem tragischen Vorfall, den Nick so beharrlich aus
seinem Bewusstsein Strich, das er ihn in seinen Träumen
verfolgte, war er aus seinem Heimatkaff weg gezogen in die
nächstgrößere Stadt. Dort nun wartete er. Nun, er wartete auf
nichts bestimmtes. Er wusste noch nicht einmal, das er wartete.
Er vermied es nur einfach, zu leben. Das einzig lebendige an
ihm war seine Hingabe für Zeichnungen. Hunderte, vermutlich
tausende von Zeichnungen, die er ständig und überall anfertigte,
aber niemandem zeigte. Wem hätte er sie auch zeigen sollen?
Kevin! Aber jemand der etwas davon verstanden hätte, hätte
das Talent erkannt und Nick vielleicht sogar motiviert, etwas
aus seinen Fähigkeiten zu machen. Doch war es genau das, was
Nick auch vermied. Oder vermieden hätte, hätte sich diese
Chance geboten. Heraus zu treten aus seinem unsichtbaren
Dasein hätte vielleicht bedeutet, Verantwortung für sein Leben
zu übernehmen, sich auf andere Menschen einzulassen. Nicht
das Nick nicht in der Lage wäre, verantwortlich zu sein. Das er
seine Wohnung und seinen Job halten konnte bewies, das er
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zumindest etwas richtig machte, was Kevin zum Beispiel nicht
schaffte. Kevin aber war grundsätzlich verschieden.
Nick suchte wieder das Cafe nach einem Beobachter ab. Dann
ergriff er seinen Toast der kalt geworden war und verschlang
ihn mit nur drei Bissen. Das war trocken und eklig und er
stürzte sein Coke hinterher. Nun hatte er nicht nur einen
ekligen, sondern einen eklig süßen Geschmack im Mund. Nick
seufzte. Er war nicht glücklich, aber das wusste er nicht.
Vielleicht ahnte er es, aber er versuchte, darüber nicht nach zu
denken. Sein Blick senkte sich auf das Motiv das er heute
gezeichnet hatte. Und er war schwer überrascht. Offenbar hatte
ihn das leere Cafe inspiriert. Auf seiner Zeichnung fanden sich
ein nackter muskelbepackter Mann mit langem seidigen Haar,
ein kleines Mädchen mit langen Locken in einem dunklen
Kleidchen, ein ebenso kleiner wie dicker Mann ohne
Scheitelhaar im Nachthemd wieder, – und – nun, eine Kreatur
die ihn irgendwie an Kinskys Nosferatu in einem Rattenkörper
erinnerte. Sie alle starrten zu ihm her. Ein kalter Schauer kroch
ihm über den Rücken und er ließ seinen Blick von dem leeren
Kaffeehaustisch vor ihm, und der Zeichnung in seinem
Notizbuch hin und her schweifen. Es passierte ihm gelegentlich,
das er nicht merkte was er zeichnete, aber selten entstanden so
seltsame Figuren dabei. Rasch packte er den Stift in die
Schlaufe, das zerfledderte Buch in seine Hosentasche und
verließ das Lokal. Nicht, ohne noch einmal auf den Tisch zu
blicken, den er, um schaurigen Figuren komplettiert, gezeichnet
hatte.
Die Wohnung war hell gehalten, und durch die weißen Wände
und das vollkommene Fehlen von Wandverbau oder ähnlichen
Schränken, dafür aber akkurat aufeinander abgestimmten
Acrylbildern wirkte sie regelrecht steril. Der Schreibtisch aus
Glas, das Designerkörbchen von Buster oder der harmonisch in
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den Raum gewachsene Bereich der Küche, verstärkten den
Eindruck. Und selbst diese Küche, die mehr einer Bar in einem
Szenelokal glich – nur ohne Alkoholbestände – vermittelte ein
Wohnungskatalogflair – oder zumindest das visuelle Aroma
einer Arztpraxis. Sascha fügte sich harmonisch in das Bild,
selbst beiläufig gewählte Freizeitkleidung schien zuvor exakt
aufeinander eingestimmt worden zu sein. Selbstredend, das das
Handy das er an sein Ohr hielt nach Design und nicht nach
Funktion ausgesucht worden war. Was brauchte es auch mehr
können als telefonieren – für alles andere hatte er entsprechend
ausgewähltes technischen Schnickschnack.
„Hallo meine Süße. Wie geht es dir?“ trällerte er vergnügt ins
Telefon.
„Nein, ich wollte nur nett sein, es ist ein schöner Tag.“
„Nein, wieso denkst du das ich etwas brauche?“
„Das stimmt nicht, ich rufe auch sonst an.“
„Jetzt zum Beispiel.“
„Apropos ...“
„Nein, nicht du hast es ja gewusst. Ich wollte nur fragen, ob die
Pläne in Ordnung waren.“
„Nur so.“
„Es hätte ja sein können, das etwas nicht stimmt.“
„Dann ist es ja perfekt. Brauchst du noch was von dort?“
„Noch eine Kopie vom Plan, zum Beispiel.“
„Was weiß ich, vielleicht braucht man ja mehr als zwei Kopien,
ich meine, es ändert sich doch gelegentlich etwas.“
„Ja?“
„Oh, ja, die Änderungen auf deiner Homepage. Ja, ähm, klar,
ich bin quasi schon dabei. Aber ich hatte mehr an etwas
gedacht, wie Dinge vervielfältigen lassen.“
„Weil ich auf der Tour mit Buster dieses Geschäft entdeckt
habe, und wenn ich ohnedies vorbei gehe, könnte ich doch
gleich ...“ Sascha hob einen Stapel Papier auf schaute sich Nick
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an.
„Wie kommst du denn darauf?“ er ließ den Stapel rasch auf das
Foto klatschen, als wäre er ertappt worden.
„Das stimmt nicht. Ich hab mir nur gedacht ich könnte, wenn
ich doch sowieso schon, aber muss ja nicht. Passt schon.“
„Nein, ich bin nicht beleidigt.“
„Nein, bin ich nicht.“
„Nein, sonst ist nix. Das war alles.“
„Tschüs, Schwesterherz.“
Sascha seufzte, als er das Handy von seinem Ohr nahm. Das
war ja mal gehörig daneben gegangen. Sascha hob nochmal den
Stapel auf und blickte seufzend auf den abwesend drein
schauenden Nick.
„Da müssen wir uns wohl was eigenes einfallen lassen, Buster.“
sagte er und der Terrier kläffte zustimmend.
Nick wurde durch das hysterische Keifen einer Dame aus seiner
Notizbuchmedidation gerissen. Die seltsamen Gestalten
fesselten ihn. Sie waren untypisch für ihn. Wer das Notizbuch
durchblätterte könnte fast denken, da hätte sich ein fremder
Zeichner versucht. Der Stil war wohl seiner, aber das Motiv war
fremd. Ihm ging es nicht ein, wie er darauf gekommen war,
obgleich er fast begeistert war von diesem Kreativitätsschub. Er
fragte sich, was ihn so inspiriert hatte. Es wäre praktisch, sich
das zu Eigen zu machen.
„Da kann ich doch nichts dafür, dass Ihre Tochter nicht schön
ist.“ hörte Nick einen recht besorgniserregenden Satz aus
Kevins erregten Kehlkopf schnellen. Kevins Gesicht hatte eine
gesunde Farbe angenommen, im Vergleich zu der hageren Frau
– Typ Chefsekretärin – wirkte er aber immer noch anämisch.
Nick fühlte den Deeskalationsbeauftragten in sich an die
Oberfläche kriechen während er langsam in die sich
verdichtende Situation glitt wie durch ein Sternentor.
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„Kann ich helfen.“ sank sein Angebot ruhig in den
angespannten Kokon unüberwindlicher Differenzen, in denen
sich Kevin und die Kundin befanden.
„Das kann unmöglich Ihr Ernst sein!“ kreischte es aus dem
rotgefleckten faltigen Hals und Nick dachte an eine Schildkröte.
Er fühlte sich wie ein Alien der sich zwischen Bush und einem
anderen Atombombenbesitzer wiederfand und den der Konflikt
irgendwie nichts anging, außer, das er mit in die Luft gehen
würde, wenn jetzt jemand die Nerven verlor. Er fühlte sich ein
bisschen belustigt aber auch etwas beunruhigt.
„Sie sind nicht zufrieden mit der Arbeit dieses Mannes?“ fragte
Nick, und spürte, dass Kevins Körpertemperatur stieg und den
Kokon der unüberwindlichen Differenzen erhitzte. Die Frau
rang kaum um Fassung als sie Nick das T-Shirt entgegenhielt,
das neben einer beachtlichen Menge Staub und Haaren auch
eine hübsche Quetschfalte vom rechten Auge zur linken
Schulter des Motivs – dem Portrait eines Kleinkindes – zierte.
„In Afrika sterben Kinder!“ gab Kevin von sich – für ihn war
die Sache sonnenklar. Die Schildkrötenfrau japste erregt:
„Was hat das denn damit zu tun?“
Kevin klappte erst das Kiefer herunter, ein rascher Farbwechsel
überzog sein Gesicht.
„Ist Ihnen eigentlich klar, wie viele Kinder in Afrika erfrieren
müssen – und Sie pudeln sich auf weil Ihre Tochter nicht schön
ist?“
„Das ist eine bodenlose Frechheit. So einen Unsinn muss ich
mir nicht anhören!“ klang es aus der Kundin beinahe wie eine
Arie in einer besonders emotionalen Oper.
Eigentlich schade, das ich das hier beenden muss, da
versprechen sich noch einige interessante Wendungen, dachte
Nick, als er beide Arme hob wie Jesus als er Wein und Brot
segnete.
„Beruhigen Sie sich doch, es ist nichts Schlimmes geschehen.“
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sagte er sanft zu der Kundin, die inne hielt als wolle sie erneute
Kraft für eine weitere Arie ansammeln.
„In Afrika verhungern die Kinder nur, sie erfrieren nicht.“
erklärte Nick Kevin, und erreichte damit, das die Frau
tatsächlich Abstand von ihrer zweiten Arie nahm und ihn fast
ebenso empört anschaute wie Kevin. Nick legte das Shirt
langsam und behutsam zusammen, reichte es Kevin und sagte:
„Du hast doch noch Kontakte in Namibia?“
„Ja?“ sagte Kevin langsam und nahm das Shirt entgegen.
„Gut.“ und an die Kundin gewandt „Wie heißt ihre Tochter?“
„Jaqueline.“ sagte diese, als wäre sie ein Schlauchboot dem
man die Luft ausgelassen hatte.
„Sie bekommen selbstverständlich ein neues T-Shirt.“
„Sie schicken ein T-Shirt mit dem Motiv meiner Tochter nach
Afrika?“ fragte die Kundin verstört.
„Selbstverständlich mit schönen Grüßen von Jaqueline.“ sagte
Nick freundlich „Wenn Sie sich ein bisschen gedulden, ich
mache ihnen ihr Shirt sofort neu.“ meinte Nick und marschierte
mit dem Foto von dem keinen Mädchen an den Farbkopierer,
legte die Textilfolie in das Seitenfach und drückte am
Touchscreen herum. Die Frau folgte zögerlich, und drehte sich
dabei nach Kevin um, der versuchte, das Shirt in einen
Umschlag zu quetschen.
„Afrika.“ sagte sie nochmal.
„Namibia. Außer natürlich, Sie möchten es kaufen.“ erklärte
Nick und drückte auf die Start Taste.
„Aber es hat eine Falte mitten durch.“
„Das ist den Kindern in Namibia egal. Keine Sorge, die werden
sich sehr freuen.“ beruhigte Nick sie, nahm die Kopie und
machte sich daran, ein T-Shirt auf zu spannen.
„Und wenn ich es kaufe? Ich meine, zu günstigeren
Konditionen natürlich.“ fragte sie, während die Bügelpresse
röhrte.
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„Sie wollen den Kindern das T-Shirt weg nehmen?“ entfuhr es
Kevin enttäuscht. Nick entfernte das Trägermaterial und zeigte
der Kundin das einwandfreie Ergebnis. Sie schien kaum Augen
dafür zu haben, rang sich zu einer Entscheidung durch.
„Okay. Ich zahle den vollen Preis – wenn er den Kindern
gespendet wird.“
„Das würden Sie tun?“ schoss es so begeistert aus Kevin, das
die Schildkrötenfrau fast verlegen wurde, und er packte das
fehlerhafte T-Shirt zum Neuen. Aus Kevin sprudelte es
daraufhin nur so heraus, er versicherte zweihundert mal, das das
die tollste Geste wäre die er je miterlebt habe und er überlege,
einen Award für besonders herzensgute Kunden zu entrichten.
Als die Kundin endlich das Lokal verließ, war es ihr egal, ob es
namibische Kinder gab. Kevin steckte das Geld, das er wie ein
rohes Ei anfasste, in ein Kuvert für die Spende.
„Bist du Jesus oder sowas?“ fragte Kevin Nick.
„Kann sein.“ murmelte Nick und schlug nachdenklich sein
Notizbuch zu um es wieder in seiner Jeans zu verstauen.
Gedanken an seinen unbekannten Vater schnellten hoch.
„Vielleicht bin ich ja sein Bruder.“
Auf einer beliebigen Straße zu einer beliebigen Zeit: Die
Scheinwerfer beleuchteten das Heck des weißen Hondas vor
ihm, als der Autofahrer sich aus den Gedanken über die Arbeit
in die Verpflichtung seines Privatlebens schälte. Im Radio
plärrte ein Oldie von dem er nichts mit bekam, und seine Hände
verkrampften sich um sein Lenkrad, während er über die
Landstraße Richtung Heimat bretterte.
„Schreib zumindest einen Abschiedsbrief.“ sagte eine
Mädchenstimme hinter ihm. Der Autofahrer zuckte zusammen,
schaute in den Rückspiegel und schraubte am Lautstärkeregler
des Autoradios herum. Er fühlte sich mit einem Mal sehr
aufmerksam, fast schmerzlich im Jetzt verhaftet, als er es
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wieder hörte.
„Wenn du dich umbringen willst, dann schreibe wenigstens
einen Abschiedsbrief.“ sagte die Mädchenstimme wieder. Über
den Rücken des Mannes lief der kalte Schauer. Er konnte das
Mädchen nicht sehen, aber es war da, er konnte es definitiv
spüren. Du wirst verrückt, dachte er bei sich, und sagte laut:
„Ich habe nicht vor, Selbstmord zu begehen.“
Mana, für ihn unsichtbar, saß auf dem Rücksitz und bürstete mit
einer weichen Bürste für Babyflaum über Nastyboys nackten
Schädel.
„Du fährst mit 90 Kmh und hältst nur zweieinhalb Meter
Abstand zum vorderen Wagen. Wie würdest du es nennen?“
sagte Mana. Über die Nase des Fahrers sammelte sich Schweiß
- vorsichtig bremste er runter. Wurde er verrückt?
Kaum hatte er den Abstand zum Wagen vor ihm auf fast
fünfzig Meter vergrößert, machte der weiße Honda eine
Vollbremsung wegen eines Damhirschs der unvermittelt die
Straße querte. Der Fahrer vor ihm hatte es geschafft, rechtzeitig
zu bremsen, er nicht, hätte er die Stimme des Mädchens nicht
vernommen.
Sie mussten nicht unsichtbar sein, es bestand keine göttliche
Pflicht dazu, oder so etwas. Es war in den allermeisten Fällen
bloß einfacher. Speziell für Varis, der eine ausgeprägte Liebe
für das Nacktsein entwickelt hatte. Amor argwöhnte, das Varis
einem Tier ähnlicher als einem Menschen wäre, doch wie sollte
er seine eigene scheinbare Affinität zu seinem Nachthemd
erklären? Vermutlich war Varis ein ebenso von Gott
erschaffenes Markenprodukt wie er selber und die Vorliebe der
Blöße, mit diesem Körper, eine Art running Gag. Ja, SEIN
Humor war manchmal etwas seicht, wer konnte das besser fest
stellen, als jemand der mit weißen Plüschfutteralen und
Pinkfarbenen Pfeilen herumlaufen musste und bei jeder
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Bewegung Glitzerstaub verlor? Mana musste in einem Zustand
tiefer Verzweiflung erfunden worden sein, speziell diese Puppe.
Eine Schutzheilige für Freitodsuchende, spöttelte Amor bitter,
damit wäre die Frage geklärt ob ER trinkt. Wenn die Christen
das wüssten, dachte Amor und ihm entkam ein zynischer
Lacher. Varis, Amor und Nastyboy sahen ihn an.
„Ich mag was trinken.“ quengelte Mana, die manchmal, bei all
ihrer Düsternis, doch ziemlich Kind sein konnte.
„Jemand sollte mit ihr sichtbar werden, Menschen werden
argwöhnisch, wenn Kinder alleine in Cafes herum sitzen.“
erklärte Amor schulmeisterlich.
„Ich machs.“ schnarrte Nastyboy, der sich versprach, aus dem
Ekel und dem Entsetzen der Kellnerin ein delikates Mahl zu
gewinnen. Aber er wurde vollkommen ignoriert, wie meistens.
Er wurde nur als dummes Spielzeug von Mana betrachtet und in
ihm wuchs seit geraumer Zeit Lust auf Rache.
„Eines Tages werdet ihr sehen, was ihr davon habt, mich zu
diskriminieren.“ murrte er, aber keiner hörte zu. Stattdessen
fochten Amor und Varis einen Kampf der stillen Zuweisung
aus.
„Unmöglich!“ raunte Amor und zupfte an seinem Nachhemd
„So lasse ich mich nie und nimmer blicken.“ Vor allem nicht
bei einer solch heißen Braut, dachte er und schaute sehnsüchtig
zur Kellnerin.
„Okay.“ sagte Varis und noch ehe Amor reagieren konnte hatte
er sich mit Mana sichtbar gemacht. Amor schlug sich mit der
Faust auf die Stirn.
„Doch nicht nackt, doch nicht nackt.“
„Ich bin nicht nackt.“ erklärte Varis tiefe Stimme und zeigte auf
seine sehr knapp sitzende Jogginghose. Wer so aus sieht, sieht
selbst in einem Pullover nackt aus, dachte Amor zermürbt, also
ist es eigentlich egal. Nicht egal jedoch war ihm der Blick der
Kellnerin, als sie Varis entdeckte. Amor konnte förmlich
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riechen, wie ihre Drüsen den Motor anwarfen und sie mit
Hormonen überschwämmten.
„Ich habe euch gar nicht reinkommen sehen.“ war es die
privateste und höflichste Rede die ihr seit Wochen aus dem
Mund gefallen war. Rasch betastete sie ihr Haar und kämpfte
gegen ihre Gesichtsröte – vergebens. Das ist doch peinlich,
dachte Amor eifersüchtig.
„Was kann ich für Sie tun?“ hauchte sie und ließ ihren Blick
über das dampfende Muskelgebirge gleiten.
„Drei große Gläser Himbeersaft und einen Napf frisches
Wasser.“ brummte es aus dem gewaltigen Brustkorb. Nur
widerwillig lösten sich die Augen der Kellnerin von Varis, um
fest zu stellen das nur zwei Personen am Tisch sitzen. Sie neigte
ihren Kopf und trällerte:
„Wo ist es denn?“
„Was denn?“ beim Klang seiner Stimme sackten ihr fast die
Beine weg.
„Das Hündchen.“
„Es ist unsichtbar.“ sagte Mana monoton. Die Kellnerin bekam
einen Blick als sähe sie ein sterbenes Welpen, als sie das kleine
Mädchen mit den langen roten Locken sah, in ihrem schwarzen
Kleidchen und der Puppe. Der seltsamen Puppe. Ihr Gesicht des
entzückten Bedauerns formte sich zu einer Geste entsetzter
Abscheu. Nastyboy schlürfte.
„Dein Papa sollte deine Puppe reparieren.“ gab sie von sich,
warf Varis einen vorwurfsvollen aber verliebten Blick zu und
trabte mit weichen Knien davon. Amor widerstrebte es das zu
sagen, aber er tat es dennoch:
„Du schaust doch auf sie, Varis, das tust du doch?“ Dieser
blickte zu Mana welche schuldbewusst gegen das Tischbein
trat. Amor schaute abwechselnd Mana und Varis an, dann
schüttelte er den Kopf:
„Nein.“ sagte er „Nein, das könnt ihr nicht tun! Sie hat euch
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doch nichts getan! Varis, du musst Mana hindern daran.“
„ER will es so.“ sagte Varis mit tiefem Brummton.
„Wir haben ebensowenig Einfluß darauf wie du, Amor.“
erklang es aus Manas niedlichem Wesen. In Amors Augen
blitzte Hass, und Nastyboy schlug sich den Wanst voll. Sie
hatten recht. Amor wusste das sie recht hatten. Wenn Gott
Mana einen Auftrag erteilte, konnte sie ebensowenig daran
ändern, wie Amor. Natürlich verliebten sich die Menschen von
selber, und manche brachten sich selbständig um. Aber wenn
Gott kreativ sein wollte, erteilte er einfach den Auftrag zu
Mord, Liebe Suizid, Krieg, Frieden.... Was er wirklich
bezweckte, wussten nicht einmal die Angestellten selber.
Manche steigerten sich in so etwas wie religiösen Wahn und
bildeten sich allerlei sinnvolle Fügungen ein, andere, wie Amor,
argwöhnten, das Gott nur langweilig sei und einen äußerst
miesen Geschmack hatte. Jetzt sollte also die Kellnerin daran
glauben. Wie würde es passieren?
„Schlaftabletten.“ sagte Mana, die Amors Gedanken erraten
hatte. Mana war ja nicht nur schlecht. Wer den Titel
Schutzpatron trägt, ist ja nicht immer gleich ein Abgesandter
der Hölle. Wenn sie nicht gerade dabei war, Menschen ihren
Lebensmut heraus zu saugen – wozu ein einziger Blick in ihre
wunderschönen blattgrünen Augen reichte – war sie sogar ganz
nützlich unterwegs. Sie sammelte beispielsweise
Abschiedsbriefe und sorgte bei Bedarf, das sie an den richtigen
Adressaten gelangten. Nicht immer wird der wahre Grund eines
Suizids auch klar – die Menschen trugen Scheu und Scham oft
bis ins Jenseits mit und die offenen Fragen konnten den
Hinterbliebenen das Leben zur Hölle machen. In solchen Fällen
war Mana ganz nützlich. Entweder hielt sie potentielle
Freitodsuchende dazu an, ihr Ableben fairerweise zu begründen
– oder sie sorgte dafür, das verschollene Antworten in Besitz
der Hinterbliebenen gerieten und sie besänftigten. Abhalten
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aber konnte sie niemanden. Niemanden der es beabsichtigte.
Dazu hatte Gott das etwas eigensinnige Projekt Varis ins Leben
gerufen. Varis war aber kein ausgreiftes Projekt und Amor
vermutete, das er mit einer so konkreten Geste wie:
Irgendjemand der Hoffnung und neuen Lebensmut sähen kann
und dabei ganz adrett aus sieht, entworfen worden war. Ein
Beweis, das Gott einen faible für Tragödien hatte und das
Happy End nur eine mittelfristige Lösung in der Dramaturguie
des Lebens (aus Leid und Qual) dar stellte. Und so war Varis
ohne konkrete Aufgabe eine Art Assistent von Mana geworden.
„Bitte schön.“ hauchte die Kellnerin nervös, als sie das Tablett
mit den Säften brachte. Sorgfältig teilte sie Untersetzer aus und
stellte die Gläser darauf. Als sie sich bücken wollte um den
Napf auf den Fußboden zu stellen, zupfte Mana sie an der
Schulter zurück.
„Nastyboy sitzt bei Tisch.“ erklärte sie monoton.
„Aber ein Hündchen, auch ein unsichtbares, sollte nicht bei
Tisch sitzen.“ erklärte die Kellnerin in mütterlichem Ton und
schaute Varis an, das sollten eigentlich Sie der Kleinen
beibringen. Doch seine Anwesenheit gereichte zur
Entschuldigung und sie lächelte verlegen. Was sie nicht wahr
nehmen konnte waren Nastyboys Geschwader an Flüchen.
„Außerdem, was ist Nastyboy für ein Name. Fluffy oder Puppy
oder Buster sind nette Namen für – unsichtbate – Hunde.“
Was sie weiters nicht sehen konnte war, das Nastyboy sein
Maul aufsperrte und den dünnen Ellenbogen der Frau ins Visier
nahm. Und von Amor eine über seine Nase geschlagen bekam
worauf er wirklich bösartig knurrte. Solcherart vorläufig von
Schmerz verschont, himmelte sie Varis mit leuchtenden Augen
an. Und Varis bekam wider einmal nichts davon mit. Offenbar
wusste er um seine Wirkung nicht. Ein unsauberer Entwurf
eben.
„Haben jetzt alle zu trinken? Sind wir nun alle bereit?“ fragte
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Amor schließlich und fuhr ohne Antwort weiter: „Ihr also könnt
mir helfen, Nick von seinem Schwur zu befreien, und ich soll
als Gegenleistung den Vogel der Zeit befreien. Sehe ich das
korrekt?“
Alle Anwesenden blickten stumm in ihren Himbeersaft oder
Wassernapf.
„Es geht eigentlich nicht anders.“ erklärte Varis.
„Es gibt keinen erhellenden Abschiedsbrief. Man wird vor Ort
sehen müssen.“ fügte Mana hinzu.
„Darf ich mit? Klingt lecker.“ sagte Nastyboy unpassender
weise.
„Und ihr denkt, ich schaffe das?“ war Amor verunsichert.
„Ich glaub sogar, du bist der Einzige, der das schaffen kann.“
meine Varis.
„Aber ohne IHM? Ich wisst das die Pfeile mit der Order von
IHM kommen müssen. Sonst sind sie wirkungslos und ich
machtlos.“ klagte Amor.
„Du weißt immerhin wie das Geschäft läuft.“ gab Mana zu
bedenken, und Amor prustete belustigt:
„Geschäft.“
„Wenn du es nicht schaffst, dann können wir dir auch bei Nick
nicht helfen, so einfach ist das.“ sagte Mana knapp aber
wirkungsvoll.
„Schon gut, ich tu mein Bestes. Vielleicht rückt er ja einen Pfeil
raus.“ obwohl ich eher denke, das das alles sogar Absicht ist
und zu einem seiner sadistischen Seifenopernspiele gehört,
dachte Amor, und hielt seine Hand in die Mitte des Tisches.
Sekunden später schmiegte sich Manas zarte Kinderhand
darauf, darüber legte sich die heiße Pranke Varis. Als Nastyboy
einschlagen wollte, gingen die Hände wieder auseinander, fast
ein bisschen rasch, als wollte sie vermeiden, den kleinen
Dämon zu berühren.
„Ich werde dafür sorgen das ihr zur Hölle fährt.“ fluchte
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Nastyboy daraufhin, und machte sich noch nicht einmal mehr
sorgen, ob er gehört würde.
„Zechpreller!“ schnauzte die Kellnerin, die nicht mit
bekommen hatte, das der atemberaubende Vater mit seiner
gespenstischen Tochter und dem unsichtbaren Hund das Lokal
verlassen hatte, während sie das Gefühl hatte, ihr Lebensmut
sprudele aus ihr heraus, als hätte man endlich einen verstopften
Abfluss gereinigt.
Buster fühlte große Not. Soeben hatte er seine Hauptmahlzeit
inhaliert, schon musste er unbedingt raus um ein paar Geschäfte
zu erledigen. Doch sein Herrchen trödelte wieder einmal herum,
zu den Schuhen passte die Jacke nicht, zu der anderen Jacke
passte die Hose nicht und wie kam es überhaupt, das er einen
ganzen Schrank voll Kleidung hatte, aber nichts dabei, das dem
hohen Anspruchs des im finstern Gassi gehen entsprach? Buster
lief japsend im Kreis, immer wieder zu Sascha hin und rammte
ihm die Nase ins Knie. Und dann läutete es auch noch an der
Türe.
„Erwartest du jemanden?“ fragte Sascha seinen Terrier, welcher
vor der Türe stand und mit seinem Blick sagte: schau einfach
nach, dann weißt dus. Daraufhin begab sich Sascha zur Türe,
öffnete sie und dann wusste ers.
„Stefan.“ sagte Sascha beinahe Fassungslos. Der rotblonde
Mann, der diesen Namen trug, grinste schief. Buster sprang ihn
an und machte sich beinahe an vor Freude, während Stefan ihn
abklopfte und über den Kopf streichelte und dabei so Sachen
sagte wie:
„Na wo ist er denn? Fain Buster. Ja. Braver Buster.“
Sascha stand da und wartete die überschwängliche Begrüßung
ab wie ein unvermeidliches Unwetter, ohne einen Schritt vor
oder zurück zu machen oder Stefan herein zu bitten.
„Kann ich rein kommen?“ fragte Stefan.
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„Wir wollten gerade gehen.“ sagte Sascha abweisend.
„Oh.“ machte Stefan nur, nichts weiter, und schaute aus als
hätte er gerade seinen Goldhamster begraben. Dann aber schien
die Sonne in seiner Welt wieder auf zugehen.
„Kann ich vielleicht mit kommen?“
Sascha blickte gequält. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er ja
gesagt. Diese Zeiten aber waren seit gestern Früh vorbei.
„Nein.“
„So feindselig?“ fragte der Rotblonde. Sascha biss auf seine
Unterlippe. Verdammt, dachte er, verdammt. Das Licht auf dem
Flur schaltete sich aus – und gleich darauf wieder an. Das
trippeln von Stöckelschuhen nahte. Stefan wurde nervös. So ein
Arsch, dachte Sascha, und entdeckte, zu wem das klackern der
Absätze gehörte. Nun zog auch Sonne in Saschas Gesicht.
„Hallo Hellen.“ sagte Stefan und musterte die Frau, die aus sah,
als wäre sie frisch aus einem Sarg entstiegen. War sie im
übertragenen Sinne auch, aber was wusste er schon.
„Hallo Stefan.“ flötete sie und er spürte das sie ihn verarschte,
das hatte sie schon immer getan. Er fühlte sich klein, neben ihr,
obwohl sie kaum eins sechzig war und er sie um fast zwei
Köpfe überragte. „Mein Verlobter hier?“
Als sie Sascha sah sprang sie ihn an als wäre eine Horde Ratten
hinter ihr her und kreischte auch ganz ähnlich. Stefan fühlte
sich überflüssig. Als sie sich wieder davon erholt hatte, Sascha
zu begrüßen, schaute sie ihn von oben herunter an – auch ein
Kunststück für ihre Größe - und sagte:
„Du bist wegen Buster hier?“ und noch eher er etwas antworten
konnte, drückte sie ihm ein paar Münzen in die Hand und
meinte „Gut, zwei Stunden. Nicht eher. Und kauft euch was
schönes.“ Sascha reichte ihm ferngesteuert wie ein Zombie die
Leine und zwei Sekunden später knallte die Türe zu. Buster
blickte Stefan auffordernd an. Zwei Stunden, du hast die Lady
gehört.
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„Du bist ein gemeines Biest.“ grinste Sascha „Wieviel hast du
ihm gegeben? Ein paar Cent?“ Hellen ignorierte die Frage und
warf ihre Stöckelschuhe quer über das Parkett. Buster war nicht
da, um sie einzusammeln und liebevoll zu zerkauen – und sie
war nicht dazu da, Ordnung zu halten. Sascha musste dem
Drang widerstehen, die Schuhe einzusammeln und schön neben
die Türe zu stellen. Er marschierte in die Küche und kramte im
Kühlschrank nach einem Bier.
„Hübsches Kerlchen.“ sagte Helen, während sie neugierig
durch das Zimmer tigerte und die Maus am Schreibtisch
anschubste wodurch der Bildschirm auf flackerte. Ihr Haar sah
aus als wäre es das Nest eines Raubvogels. Sascha hielt ihr die
Bierflasche entgegen, für sich hatte er ein Glas Wasser mit
gebracht. Sie ergriff die Flasche und ein Funkeln huschte über
ihr herzförmiges blasses Gesicht.
„Extra für mich?“ sie sprach aus was sie wusste, Sascha trank
keinen Tropfen Alkohol. Er kniff die Augen zusammen, als sie
die Flasche an ihren Zähnen öffnete. Er hasste das, aber sie
nahm keine geöffnete Flasche an.
„Kann ich dir schicken, wenns dir gefällt.“ sagte Sascha und
deutete auf das Hintergrundbild.
„Nö, nicht mein Geschmack.“ wandte sie sich gelangweilt ab.
Seine Schwester. Änderte ihre Meinung schneller als ein Cursor
blinkte.
„Ich dachte nur, weil du hübsches Kerlchen gesagt hast.“
„Ich meinte nicht den hier.“ grinste sie, blickte Sascha aus dem
Augenwinkel an und sagte „Ich meinte den Typ aus dem
Copyshop.“ Das saß. Saschas Mund öffnete und schloss sich
und eine ganze Palette unerwünschter Farben zog über sein
Gesicht hinweg, bis es sich für lila entschieden hatte.
„Was? Ich ... nein! Du hast ... Wie kommst du darauf?“
„Leugnen ist zwecklos, Sie sind überführt mein Lieber.“
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„Du irrst dich vollkommen.“ leugnete Sascha, worauf Hellen
begann, auf dem Glastisch zu zusteuern. Sascha stürzte
ebenfalls darauf zu und knallte seine Hand auf den bewussten
Stapel.
„Ich verwette meine Möpse, wenn da nicht irgendwo ein Bild
von ihm liegt.“
„Dann verabschiedet euch schon mal.“ sagte Sascha zu den
Brüsten seiner Schwester, und presste seine Hand beharrlich auf
den Papierstapel.
„Was ist da?“ fragte sie.
„Nichts.“
„Wenn da nichts ist, dann kannst du mich ja schauen lassen.“
forderte Hellen ihren Bruder heraus. Wenn sie zusammentrafen
wurden sie wieder die zankenden Kinder von einst. Ob sie sich
im Altenheim mal gegenseitig die Gehstöcke an sägen und das
Gebiss verstecken werden?
„Vielleicht geht es dich auch überhaupt nichts an was da liegt?“
konterte Sascha. Hellen gab sich überzeugt, sie schien das
Interesse an dem blöden Spiel verloren zu haben.
„Hast recht.“
„Ja ja, ich bin doch nicht blöd.“ gab Sascha von sich, er traute
ihr nicht. Hellen gab sich alle Mühe, seriös zu wirken, so seriös
wie ein Vampir eben wirken kann.
„Selbst wenn du hundert Fotos von ihm hättest. Es ist deine
Wohnung, dein Schreibtisch und dein gutes Recht.“ erklärte sie
„Und außerdem stehst du ja nicht auf den Kerl, was mich
einigermaßen beruhigt.“
„Wie meinst du das: beruhigt?“
„Ach nichts, es ist ja eh hinfällig.“
„Hellen.“ mahnte Sascha.
„Nichts. Es ist nicht wichtig.“ gab sie von sich und kratzte sich
auffällig mit dem Daumen an ihrem Ringfinger und dann an
ihrem Kopf, wozu fast die ganze Hand in der Frisur
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verschwand. Sascha war die Geste nicht entgangen, und auch
wenn er davon ausgehen musste, das sie ihn nur herausforderte,
war ihm der Gedanke noch nicht gekommen. Er hatte noch
nicht mal überlegt ob Nick überhaupt ähnliche Neigungen hatte.
Und noch ehe der kleine Schock so richtig Fuß fassen und sich
ausbreiten konnte, hatte Hellen sich herumgedreht und den
Stapel Papier mit einer Bewegung an sich gebracht, wie man sie
aus Ninjafilmen kannte. Sascha war zwar gar nicht erfreut über
diese Aktion, aber er hatte gerade schlimmere Probleme. Die
alleinige Vermutung, das Nick durch irgend etwas unerreichbar
wäre, legte sich auf sein Gemüt wie ein schwerer, nasser
Lappen.
„Ha!“ entfuhr es Hellen „Wußt ichs doch.“ als sie den
Ausdruck mit Nick darauf heraus fischte.
„Ja toll, du hast Recht gehabt. Gratuliere.“ gab Sascha zynisch
von sich und ließ sich auf das weiße Designersofa fallen.
„Himmelhochjauchzend zu Tode betrübt.“ sagte Hellen gar
nicht mehr so triumphierend „Dich hats richtig erwischt, hm?“
„Spielt das eine Rolle?“ Sascha stürzte das Glas Wasser
hinunter als wäre es was hochprozentiges das ihm bald
Erleichterung verschaffen könnte. „Vielleicht ...“ er musste sich
regelrecht zwingen es auszusprechen. „Vielleicht ist er ja ...“ es
wollte nicht raus.
„Hetero?“ fragte Hellen fürsorglich nach.
„Ja.“ sagte Sascha lauter als er wollte. „Oder Verheiratet, oder
sogar beides. Bei meinem Glück.“
„Sagst du das jetzt nur wegen ...?“ Hellen vollführte wieder
diese Geste mit dem Daumen und dem Ringfinger. Sascha
reagierte nicht, beinahe theatralisch stützte er seine Ellenbogen
auf seine Knie und die Stirn in seine Fäuste.
„Das war doch nur ein blöder Scherz um an das Foto zu
kommen.“ erklärte Hellen, der es beinahe schon Leid tat, aber
nur beinahe, und hielt Sascha das Foto vor die Nase. „Wo hast
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du das überhaupt her?“ sie drehte es um als könne die Rückseite
Aufschluss geben. Sascha konnte die geradezu sture Geste nicht
bei behalten als er das Bild sah, etwas in ihm schmolz, er setzte
sich aufrecht hin und erklärte:
„Von der Homepage von dem Laden. Ein Scheusal von
Internetauftritt.“ und er musste fast lächeln als er das sagte.
„Hacker!“ rempelte Hellen ihrem Bruder in die Seite. Und dann
sprudelte es aus Sascha nur so heraus und er erzählte ihr jede
Einzelheit vom gemeinsamen Leben mit Nick. Nach zwei
Minuten – eine kleine rethorische Pause inbegriffen – zog
Hellen Resümee über eben Gehörtes:
„Du weißt nichts von ihm, außer das er Nick heißt und in dem
Copyshop arbeitet.“
„Vermutlich weiß er noch nicht mal, das ich lebe.“ fügte Sascha
voll Selbstmitleid hinzu.
„Naja, ich tippe darauf das die Pisse von Buster schon einen
gewissen Eindruck hinterlassen hat.“ gab Hellen zu bedenken.
„Oh nein!“ entfuhr es Sascha. Das dieser Umstand einer
schmutzigen Hose für einen anderen Menschen ohne
dramatische Wirkung sein könnte, konnte er sich kaum vor
stellen. „Er hasst mich. Er muss mich hassen.“
„Schön der Reihe nach, Bruderherz. Du brauchst einen Plan.“
meinte Hellen nachdenklich. „Hast du noch ein Bier?“
Amors nackte, kurze und ziemlich behaarten Beine baumelten
vom weißen Schalensessel im Wartezimmer, als er eine
hochgewachsene, schlanke Frau in mittleren Jahren und einem
schwarzen Haarhelm verunsichert den Gang entlang kommen
sah. Zögerlich hielt sie bei der ein oder anderen Bürotüre, ehe
sie Amor entdeckte und direkt auf ihn zu trippelte.
„Ist da wo das Büro von ... ähm ... Gott?“ fragte die ehemalige
Kellnerin. Sie hatte – wie alle – ein gewisses Problem, das so zu
formulieren. Selbst eingefleischte Atheisten schafften es nicht,
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gelassen zu sein, wenn sie erfuhren, das es IHN gibt und er sie
zu sich berufen hatte.
„Guten Abend. So sieht man sich wieder.“ lächelte Amor und
zwinkerte ihr zu, um dann mit einer Kopfbewegung zur
Schalldicht beschlagenen Türe zu nicken. „Da drin.“
„Oh.“ sagte sie ehrfürchtig als sie die Türe sah, auf welcher in
silbrig verschnörkelten Buchstaben: Gott stand.
„Kennen wir uns?“ fragte sie Amor beinahe im flüsterton, und
setzte sich auf den Platz neben ihn.
„Nein. Das heißt, ich kenne Sie, Sie aber mich nicht.“
„Amor?“ fragte sie geradeheraus. Amors Gesichtszüge
entglitten ein wenig. „Ich habe nur geraten. Ich habe mal diesen
Film gesehen ...“ erklärte sie.
„Es gibt da eine undichte Stelle. Ich sollte dem einmal nach
gehen.“ sagte Amor grinsend, nachdem er sich gefangen hatte.
„Ihnen habe ich also Albert zu verdanken, ja?“ fragte sie, und
obgleich dahinter eine gewisse Anklage stand, lächelte sie nett.
„Oh ... nein. Daran sind Sie schon selber schuld.“
„Sind Sie denn nicht der mit den Pfeilen?“ fragte sie, und hatte
wohl im letzten halben Jahr nicht so viel gelächelt wie in den
letzten paar Minuten.
„Doch, doch, der bin ich. Ich hab es Ihnen schon mal erklärt.
Verlieben und all das, dazu braucht Ihr ... also die Menschen
den da nicht.“
„Sie meinen Gott?“ SEINEN Namen flüsterte sie wieder.
„Ja, den meine ich.“
„Und wozu gibt es dann Sie? Tut mir Leid, ich wollte nicht
unhöflich sein.“ dabei hob sie ihre Hand an ihre Lippen, als
könne sie die Schallwellen von eben gesagten auf halten.
„Schon okay. Ich bin für seine Psychospielchen zuständig.“
erklärte Amor mit bitterem Unterton. Die ehemalige Kellnerin –
Gudrun - riss entsetzt ihre Augen auf.
„Psychospielchen?“ wiederholte sie ganz langsam.
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„Manche sagen auch SEIN WILLE dazu.“
„Ach so.“ sagte sie erleichtert. „Ich möchte Ihnen nicht zu Nahe
treten, aber Sie wirken etwas, nun, gekränkt wegen IHM.“
„Oh nein.“ schüttelte Amor den Kopf. „Ich bin nicht gekränkt.
Ich bin stinksauer!“ das letzte Wort sagte er so laut, schrie es
fast, sodass Gudrun zusammen zuckte. „Es ist ja nicht so.“
begann er unaufgefordert „Es ist ja nicht so, das ich ihn ständig
um etwas bitten würde. Um genau zu sein, seit ich tot bin habe
ich ihn noch nie um etwas gebeten. Aber würde er mir einen
Gefallen tun? Nur einen?“
„Worum haben Sie ihn den gebeten?“ fragte Gudrun aus bloßer
Höflichkeit.
„Einen Pfeil.“ sagte Amor als würde er einen Fluch aus stoßen.
Und während die ehemalige Kellnerin dies wiederholte, fuhr
Amor geladen fort: „Einen einzigen, blöden Pfeil. Wie soll ich
den Vogel der Zeit befreien ohne den beschissenen Pfeil? Aber
ER, Monsieur, findet das die Geschichte jetzt erst so richtig
prickelnd wird.“ Amor verfiel in den typischen Ton, mit dem
Man Menschen nach äfft, die man nicht leiden kann: „Sehen Sie
es als Herausforderung, Amor. Sehen sie die Chance auf ein
Abenteuer.“
„Vogel der Zeit?“ war das einzige worauf Gudrun eingehen
wollte.
„Ja.“ knurrte Amor. „Es ist eine etwas längere Geschichte. Nur
soviel: Jemand hat ihn quasi gekidnappt und verfügt nun über
seine Fähigkeiten. Und das auf eine wenig schickliche Art.“
„Welche Fähigkeiten?“ wollte Gudrun wissen.
„Durch die Zeit zu fliegen. Wie der Name schon sagt.“
„Oh, selbstverständlich.“ sagte die Kellnerin und blickte auf
ihre Schuhspitzen. Dieser Amor war ein ziemlich zynischer
Mann, wie sie fand.
„Und Sie?“ fragte Amor schließlich, als er bemerkte, das er
vielleicht etwas zu viel über sich selber gesprochen hatte.
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„Ich?“
„Ja, wie, ähm, wie war ihr Selbstmord so?“
Gudrun bekam hektische Flecken auf ihrer gealterten Haut und
Amor mochte es, wenn Damen im mittleren Alter erröteten.
„Ich möchte vielleicht bitte nicht darüber reden.“
„Okay. Ähm, was machen Sie hier?“ fragte Amor und zeigte
auf ihre Anwesenheit im Wartezimmer vor dem Büro Gottes.
„Man hat mir gesagt ich soll mich bei IHM melden.“ sagte sie,
und flüsterte das IHM wieder. Amor nickte. Er erinnerte sich an
sein Eintreffen im Jenseits, wie er durch den Flur marschiert
und Gottes Büro gesucht hatte. Immerhin, Gottes Büro, wie
wollte man es sich vor stellen? Man hatte erstmal zu verdauen,
das man tot war, und dann, das es hier aus sah wie man es aus
Hollywood kannte. Was kann ER wollen? Wie wird ER sein?
Amor bemerkte, das Gudrun keine Anstalten machte, das Büro
Gottes auch aufzusuchen.
„Und?“ fragte er daher.
„Und was?“ wandte sie sich aufmerksam an Amor.
„Möchten Sie nicht rein gehen?“
„Aber ...“ Gudrun blickte zur Türe, dann auf Amor, dann in die
Luft als suche sie etwas. „Wird man nicht aufgerufen?“
„Sie wurden schon gerufen als Sie das rothaarige Mädchen
sahen.“ erklärte Amor zur Gudruns Überraschung.
„Aber Sie warten doch schon auf eine Audienz.“
Amors Beine baumelten angeregt als er sagte:
„Nein. Nein, ich war schon drin.“
„Aber, weil das doch hier ein Wartezimmer ist. Ich dachte Sie
warten.“
„Ich befinde mich im Post-Audienz-Trauma durch Gott.“
erklärte Amor. „Oder, wie Gott sagen würde: Laut Zyklus der
dramaturgischen Heldenreise in der Phase der Weigerung.“
„Oh.“ kommentierte Gudrun knapp „Das heißt, ich kann
einfach rein?“ und sie erhob sich unsicher.
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„Sie können immer rein, Liebes.“ und damit genoss Amor den
Anblick ihres Gesäßes, das sich durch ihren schwarzen Rock
drückte, während sie die Schalldicht beschlagene Türe zu
Gottes Büro durchschritt.
Es gibt Menschen, die sammeln Briefmarken. Es gibt andere
Menschen, die sammeln antike Bücher. Manche Menschen
verschreiben sich Sand von diversen Stränden der Welt oder
Steinen von allen vierzehn Achttausendern. Manchen haben es
Splatterfilme, Musik Cds, Comics, Überraschungseifiguren
oder Münzen angetan. Etwas seltsamere Menschen verfallen
toten Insekten, Gebeinen von Rotwild oder in Formalin
eingelegten Körperteilen. Hellen sammelte tote Rockstars.
Nicht ihre Tonträger, Autogrammkarten oder Poster. Sie
sammelte verstorbene Rockstars wie ein, nunja, Groupie. Und
sie sammelte sie in deren Bett – oder auch nicht mal in dessen
Nähe.
Es war ein stilles Hobby. Das hieß – genau genommen war es
eine schrecklich schrille, laute und manchmal recht
anstrengende Leidenschaft. Still war es eher, wenn sie
versuchte, jemandem davon zu erzählen. Manche, Sascha zum
Beispiel, hielten ihre Erlebnisse für einen Beweis ihres
abartigen Humors und fragten sie gelegentlich, welchen toten
Rockstar sie zuletzt flach gelegt hätte, ohne auch nur im
mindesten die Wahrheit zu ahnen. Andere hingegen musterten
ihre leichenblasse Erscheinung und bekamen Visionen von
Friedhöfen, Särgen und verfallenden Gebeinen – und wurden
still. Sehr still. Auch sie aber hatten keine Ahnung von der
Wahrheit.
Im Augenblick hielt sie einem jungen Musiker das fettige,
blond gefärbte Haar aus dem Gesicht, während er sich übergab.
Manchmal war es anstrengend. Der Inhalt des Magens ergoss
sich mit ein wenig Blut auf dem Teppich des Hotels und
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verbreitete einen beißenden Gestank. Sie hätte ihn gleich fragen
sollen, welches Jahr sie hatten, aber in dem Fall war das
vielleicht sogar egal. Irgendwie hatte sie sich das anders vor
gestellt, leichter. Dies war nun der dritte Versuch, ihn auf die
Liste gesammelter toter Rockstars zu setzen. Und gesammelt
bedeutete: vollzogen. Bis jetzt aber hatte sie sich eher gefühlt
wie eine Krankenschwester die jedes mal zum richtigen
Zeitpunkt kam, um beim fixen, kotzen oder mentalen
Einbrüchen – meistens irgendwie alles zusammen –
Gesellschaft zu leisten. Als Groupie toter Rockstars konnte sie
sich zwar kein besonders ausgeprägtes Bedürfnis nach Hygiene,
Angst vor Psychosen oder eine niedrige Ekelschwelle erlauben,
aber bei dem Geruch und der Grundstimmung in diesem
düsteren Raum - wozu gab es immerhin Jalousien – wurde ihr
schlecht.
„Und dafür brauchst du mich?“ sagte Hellens innere Stimme,
die nicht wirklich Hellens Stimme war.
„Halt die Klappe.“ fluchte Hellen, nicht jetzt auch noch das.
„Hä?“ gurgelte es aus dem fertigen Blondschopf.
„Ich hab nicht dich gemeint. Ich hab ... ich hör nur manchmal
so eine Stimme.“ das war wiederum der positive Aspekt im
Umgang mit toten Rockstars. Man konnte sich selbst sein. Oder
zumindest jeder der man war.
„Ah!“ röchelte der noch nicht tote Rockstar von der Bettkante
hoch „Das kenn ich.“
„Ich wäre dafür, das du wieder diesen Dichter nimmst.“ sagte
die innere Stimme.
„Welchen Dichter?“ entkam es Hellen.
„Olryrschtmm .“ brach es im wahrsten Sinne des Wortes aus
dem Kopf zwischen ihren Händen heraus und bedeutete so viel
wie: Oh, eine lyrisch interessierte Stimme.
„Den hübschen dunkelhaarigen aus der Stadt der Engel.“
erklärte die innere Stimme verträumt. Hellen ignorierte sie und
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versuchte den laschen Rockstar mit aller Kraft an die Bettkante
zu bugsieren. Das würde heute nichts mehr werden. Er fehlte
zwar noch in der Sammlung und er zählte zu jenen Exemplaren
die man auf jeden Fall in der Sammlung haben sollte, aber
vielleicht überarbeitete sie die Liste. Sie hatte es geschafft, in so
zu betten das er nicht aus dem Bett in seine eigene Kotze fallen
konnte, und doch bei bedarf über die Bettkante reichte, da
blinzelte er.
„Ich muss dann mal.“ lächelte sie das Lächeln von Menschen
die versuchen, damit eine Ausrede zu kaschieren.
„Ichndsch.“ nuschelte er und hob kaum merklich seinen
Zeigefinger. Hellen klopfte zuversichtlich auf seine
zerschlissene Jeans über seinem Bein und sagte im Ton einer
Krankenschwester:
„Jaja, das wird schon.“ ehe sie sich – aus seiner Perspektive – in
Luft auflöste, was er mit einem weiteren unverständlichen
Kauderwelsch kommentierte. Es bedeutete: Ich kenn dich doch.
Du bist doch die die sich immer in Luft auflöst. Ja, genau so.
Und bei sich dachte der Rockstar, als er einschlief: Wow. Meine
innere Stimme hat sogar einen äußeren Körper. Einen geilen
Körper. Ich sollte mich mehr mögen.
Eine gewisse Zeitspanne am Nachmittag war die Straße
üblicherweise menschenleer, und so auch das Geschäft in dem
Nick und Kevin arbeiteten. Und meist kündigte das eine ganze
Horde Kunden an die Kevin und Nick für eine gute Stunde
gehörig ins Schwitzen brachte. Kevins hatte mal im Scherz die
Theorie aufgestellt, die Kunden würden in einer nahen
Seitengasse zusammen warten um dann vorsätzlich etwas
Schwung in die Bude zu bringen. An diesem Tag, als Kevin
beim Zeitvertreib im Internet auf den Begriff „Flashmob“ traf,
hatte er eine gespenstisch anmutende Erleuchtung.
„Die organisieren das im Internet!“ rief er außer sich „Hör dir
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das an, Nick! Wiki sagt: Flashmob bezeichnet einen kurzen,
scheinbar spontanen Menschenauflauf auf öffentlichen oder
halböffentlichen Plätzen, bei denen sich die Teilnehmer
üblicherweise persönlich nicht kennen.“ aus seinem ovalen
Gesicht heraus blickte er Nick aufgeregt an. „Ich habe es
gewusst. Ich habe das schon immer geahnt.“ Seine
Schuhbandhaare tänzelten, als er fassungslos den Kopf
schüttelte und dann – beinahe gegenständlich, so nah kam er
dem Bildschirm – im Internet nach weiteren Informationen
suchte.
„Ich glaub nicht, das unsere Kunden sich über das Internet
verabreden.“ meinte Nick, und dachte an den Professor und all
die anderen, die Stunden damit verbrachten, irgendwelche
Unterlagen zu kopieren. Der typische Kunde, der T-Shirts,
Polster und so weiter bedrucken ließ, Schnittmuster und
Ausschnitte aus Familienfotos vergrößern ließ oder versuchte,
mittels Tipp Ex fehlgestaltete Aquarellbilder für Farbkopien zu
kaschieren, war kein Internet User der auf die Idee käme, einen
Flashmob ins Leben zu rufen oder sich ihm anzuschließen.
Kevin hatte beschlossen, der Sache dennoch sicherheitshalber
auf den Grund zu gehen, und als sich Nicks verdacht bestätigte,
braute sich ein Ersatzgewitter unter Kevins dünnem schwarzen
Haar zusammen.
„Ich hab da eine Idee.“ sagte er in jener Sekunde, da eine
Vampirfrau mit einem Raubvogelnest auf ihrem Kopf auf den
jungen Mann traf, der an der gegenüberliegenden Straßenseite
mit seinem Hund gewartet hatte.
Er neigte sich zu ihr hinunter, damit sie ihm zur Begrüßung den
schwarzen Lippenstift auf die Wange drücken und hernach
wieder abwischen konnte.
„Tut mir Leid. Ich hatte noch eben ein Vorstellungsgespräch.“
trällerte Hellen und Sascha rümpfte die Nase.
„Du riechst als hättest du eine toten Rockstar gevögelt.“
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„Er hat recht.“ sagte Hellens fremde innere Stimme.
„Da war nichts mehr zu machen, das kannst du mir glauben.“
sagte sie, diese ignorierend und wühlte ein bisschen im Nest auf
ihrem Kopf herum, ehe sie über die Straße durch das
Schaufenster suchte. „Und? Ist er da? Hast du ihn schon
gesehen?“
„Ja.“ sagte Sascha und es war nicht fest zu stellen ob er das toll
oder furchtbar fand.
„Na dann nichts wie ran.“ motivierte Hellen ihren Bruder, und
übernahm Busters Leine. Ein älterer Herr näherte sich dem
Geschwisterpaar.
„Du bist ja ein ganz ein Lieber.“ sagte der Professor mit
schwarzer Aktentasche unterm Arm geklemmt an den Hund
gewandt.
Drinnen stand Kevin und fühlte sich ein bisschen aufgeregt.
„Sie sind schon zu dritt.“
Nick ignorierte die neueste Paranoia und notierte, welches
Papier er nach bestellen würde müssen.
Eine ältere Dame gesellte sich hinzu. Ebenfalls Stammkundin,
sie sammelte Todesanzeigen von Leuten aus der Stadt die es zu
Lebzeiten in die Lokalpresse geschafft hatten, und fertigte in
Komposition mit diesen eine Collage, die sie Die Akte
Schmidt/Maier werauchimmer nannte. Wenn sie mal wieder
etwas liegen lassen hatte – sie war etwas schusselig – erklärte
sie immer ungeduldig: Als ich die Akte Maier bearbeitete, Sie
wissen schon. Für sie war nicht nachvollziehbar, das andere
Menschen ihre Zeit mit anderen Maßstäben maßen, als toter
Lokalprominenz. Sie war eine alte Bekannte des Professors und
hielt mit ihm oft Schwätzchen vor dem Geschäft.
„Vier.“ zählte Kevin unheilvoll. Nick fühlte sich bemüßigt,
einen Blick hinaus zu werfen, wo gerade zwei artige
Studentinnen dem Professor die Hand gaben.
„Sechs.“ formulierte Kevin und fühlte sich ein bisschen wie bei
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Hitchcocks Die Vögel. Und gerade als sich die Gruppe in
Bewegung setzte um die Straße zu queren, traten sich der TippEx Künstler und der Laufbursche eines Architekturbüros beim
Betreten des Ladens beinahe auf die Zehen.
„Das ist doch kein Zufall.“ raunte Kevin und war hin und her
gerissen zwischen der gestörten Faszination für
Naturkatastrophen und paranoider Hysterie.
Ganz ähnlich fühlte sich Sascha, als er den Laden betrat und
fühlte, das der Zeitpunkt irgendwie schlecht gewählt war. Der
Plan sah vor, das er Nick anbot, die Website des Ladens neu zu
gestalten. Das war Hellens Idee gewesen und er war versucht zu
sagen: Meine Schwester hat gesagt ich soll. Es hatte logisch
und einfach geklungen. Nun, sie hatte es logisch und einfach
formuliert. Du triffst dich mit ihm um die Homepage zu
besprechen, rückst immer näher und immer näher – und wenn
er nicht weg rückt dann knutscht du ihn einfach. Der Teil mit
dem näher rücken und dem Knutschen hatte ihm sehr gefallen –
doch nun fühlte er sich davon weiter entfernt als er sich
ausmalen mochte. Nick hatte Stress und die ganze Atmosphäre
lud nicht gerade dazu ein, sich an einen Angestellten ran zu
machen. Er konnte es sich geradezu bildlich vor stellen, wie er
ihn, der gerade in einem Kopierer versank um einen Papierstau
zu beheben, fragte, ob er die Website neu gestalten dürfe, und
Nick dann ein Maschinengewehr aus dem Gerät zog, auf ihn
richtete und brüllte: Was stimmt nicht mit der die wir haben?
„Was stimmt nicht mit der die wir haben?“ fragte der
Mitarbeiter der auch unter Killerkev bekannt ist und gerne
anzüglich verwendet werden würde seine Schwester.
„Mein Bruder ist ein angesagter Programmierer, und meinte,
die Seite ist Schrott.“ Sascha zuckte zusammen und wünschte
sich, sich ebenfalls in einem Kopiergerät verkriechen zu
können. Für ein Maschinengewehr hätte er auch Verwendung
gefunden. Stattdessen aber packte ihn Hellen am Ellenbogen
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und schob ihn vor sich.
„Nicht wahr, Sascha? Sag ihnen das die Seite ein Schrott ist.“
Nun stand er auf der Bühne und sein Publikum, Nick und
Killerkev, hatte er bereits an den traurigen Clown zu seiner
Linken verloren. Er lächelte gequält.
„Nun, sie ist kein Schrott. Sie ist ... eigenwillig.“ Als erstes
wenn er heim käme, würde er die Kronen an den Bierflaschen
mit Superkleber fixieren sodass sich die Kröte die Zähne aus
biss. Alle nach der Reihe.
„Das ist gut.“ erklärte Killerkev mit stolzgeschwellter Brust, er
hatte da vielleicht einen weiblichen Fan an der Angel.
„Eigenwillig ist gut. Das soll sie sein. Wie ich.“
Sascha bemühte sich ebenso, Nick nicht anzusehen, wie er sich
dazu zwang. Und Nick stand da wie ein unbeteiligter Kunde
und hatte dieses Lächeln auf den Lippen, das ihre Ergonometrie
vor gab, während seine braunen Augen amüsiert zwischen
Hellen und Kevin hin und her sprangen.
„Die Seite ist ein Scheusal!“ erklärte Hellen kampflustig.
„Sie sticht hervor!“ entgegnete Kevin.
„Sie verursacht Augenkrebs!“ stemmte Hellen die Hände in die
Hüften.
„Sie ist euch in Erinnerung geblieben!“ konterte Kevin.
„Ja, wie eine Krankheit!“
„Das ist Konzept!“
„Das man kotzen möchte wenn man die Seite sieht?!“
„Ja! Und wenn schon.“
Sascha wünschte sich, Buster würde seinem Herrschen ins Bein
beißen, sodass er einen Grund hatte, tot um zufallen. Buster
wünschte sich, Nick zu markieren, und Nick wünschte sich
Feierabend.
„Nick!“ rief Kevin, als er merkte das die schwarz gekleidete
Frau mit dem Nest auf den Kopf zwar klein (und sexy) aber
stärker als er war.
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„Was würde es kosten?“ fragte Nick Hellen und Kevin riss
entsetzt seine Augen auf.
„Nick, du kannst doch nicht!“
Hellen schubste Sascha an, etwas zu sagen.
„Das müsste man genauer durch kalkulieren.“ stammelte er.
„Ha!“ rief Kevin „Meine ist umsonst.“
„Das merkt man!“ gab Hellen zurück.
„Ungefähr? Gibt’s sowas wie eine Pauschale?“ fragte Nick
Sascha, welcher seine Beine nicht mehr spürte unter dem
Schock, direkt angesprochen worden zu sein. Er hatte keine
Zahlen im Kopf sondern nur die Feststellung, das Nick eine
sehr angenehme Stimme hatte, eigentlich.
„Also ich hatte mir gedacht, so eine Art Gegengeschäft.“ und
als er merkte, wie angenehm es war, wenn Nick ihm zuhörte
rutschten die weiteren Worte von selbst heraus: „Ich könnte die
Seite als Referenz verwenden, und eure Kunden kämen so
wiederum auf mein Angebot.“
„Nick, du wirst doch nicht ...“ fuhr Kevin dazwischen.
„Das klingt unheimlich nett.“ meinte Nick und Sascha blicke
betreten auf Buster und konnte sich ein, ja ja, das bin ich,
gerade noch verkneifen.
„Und er wird doch.“ trat Hellen an Kevin so dich heran, das er
den Kotzegeruch eines toten Rockstars einatmen konnte. Kevin
wusste nicht wieso, aber das roch für ihn nach allem, was er
wollte, was er anstrebte, wofür er lebte. So zu riechen.
„Wieso?“ fragte Nick und Sascha fühlte sich an die Wand
gedrängt. Weil ich versuche, dich auf die Tour rum zu kriegen?
Schiebs auf den Hund. Der Hund ist immer Schuld.
„Wegen Buster hier.“ erklärte Sascha, riss Hellen rasch die
Leine aus der Hand. Nick blickte den Hund eine Weile an. Es
war ein netter Hund. Aber es erklärte irgendwie gar nichts.
„Der Hund?“ fragte Nick daher nochmal nach.
„Wegen dem was er dir angetan hat.“ erklärte Sascha und fühlte
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sich wieder auf sicherem Eis. Eine Homepage war das mindeste
was man gegen eine vollgepisste Jeans erwarten konnte. Nick
hingegen überlegte, ob er in letzter Zeit von einem Hund
angefallen und irgendwie tödlich verletzt worden war. Nur
langsam kam die Erinnerung hoch. Der Köter der das Fahrrad
ruiniert hatte.
„Ah, ich weiß schon.“ erinnerte er sich. „Das Fahrrad“
„Die Jeans. Genau!“ lächelte Sascha. Sie sahen sich einen
Moment verwirrt an.
„Die Jeans?“
„Das Fahrrad?“
Und dann blickten sie beide Buster an, der sehr, sehr, sehr
schuldbewusst drein schaute und einen fahren ließ. Jetzt, wo er
sowieso schon schuld war ...
Die Zeiten, als die langbeinige Kellnerin in einer Wolke aus
Rauch gestanden hatte und beim durchblättern von Zeitschriften
ein Flair verbreitet hatte, wie man es sonst nur in Bahnhofcafes
vergessener Orte vor fand, waren vorbei. Eine kleine bleiche
Katastrophe aus wüstem Haar und zu hohen Absätzen wirbelte
durch das Lokal und verbreitete Unruhe. Das Radio, das bis zu
diesem Tag eine eher dezente Rolle gespielt hatte und indigniert
Nachrichten, Werbung und totgespülte Hits verbreitet hatte, war
in den Ruhestand geschickt worden. An seiner statt glänzte nun
ein Ghettoblaster auf der Tortenvitrine, der beständig Werke
toter Rockstars plärrte. Zumindest so lange der Chef nicht nach
dem Rechten sah – und das passierte so gut wie nie. Hellen
rauchte nicht weniger als Gudrun – sie nahm genau genommen
die Zigarette noch nicht mal aus ihrem Mund, wenn sie die
Bestellungen auf nahm, wobei die Knöchel ihrer Finger weiß
wurden, wenn sie mit dem Kugelschreiber auf den kleinen
Block kritzelte. Manchmal zwinkerte sie und hustete mit der
Zigarette im Mund und dem Block in der Hand, wenn der
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Rauchfaden der Glut sie direkt in die Augen oder Nase stach.
Sie schien für den Job vollkommen ungeeignet, aber sie gab
sich routiniert. Sie hatte Routine darin, ungeeignet für Jobs zu
sein.
Amor saß an einer Stelle im Cafe, von wo aus er den
Arbeitsbereich der Kellnerin gut überblicken konnte, und
beobachtete jede Bewegung. Komm schon, ich weiß das du da
bist, sagte er zu sich selber wie ein abgebrühter Jäger. Es war
nicht schwer gewesen, die Kidnapperin des Vogels ausfindig zu
machen. Varis hatte auf der universellen Zeit- und Ereignistafel
mit seinen Pranken auf einen Punkt gezeigt und gebrummt:
„Da muss es passiert sein. Da war diese Kleine die bei dem
Jungen saß.“
„Erinnere dich genau.“ hatte Amor gebeten.
„Da war dieser Junge.“ hatte Varis zu erzählen begonnen „Wie
lange ist das her? Ich glaub das war im Jahr, wo der Typ diesen
Schwur begangen hat, der dir so Sorgen bereitet. Der Junge
jedenfalls hatte versucht, zu gehen. Na du weißt schon.“
„Ein Auftrag.“ hatte Amor vermutet.
„Nein, nein. Mana hatte damit nichts zu tun. Der hat das von
alleine geschafft so drauf zu kommen. Jedenfalls sah es übel
aus und die Kleine saß an seinem Bett, Tag und Nacht, kann
man sagen. Na und dann hat ER mich hin geschickt. Ich sollte
den Jungen überzeugen zu bleiben.“
„Junge.“
„Naja, siebzehn, fast achtzehn. Ich hatte den Vogel der Zeit bei
mir. Nur für alle Fälle. Du weißt ja, manchmal reichen schöne
Worte und ein bisschen Hokuspokus nicht. Wie bei dir und
deinem Problemkind. Ich war bereit, ihn mit dem Vogel in
seine Vergangenheit oder Zukunft zu schicken, damit er
begreift das es sich lohnt zu leben.“ Varis hatte in seinen
Erinnerungen inne gehalten und mit leicht glasigem Blick
gesagt. „Ich sollte direkt wieder mal nach ihm sehen. War ein
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außerordentlich Hübscher. Wäre eine Schande gewesen, wenn
der erfolgreich gewesen wäre. Ob er mich erkennen würde?“
„Könnten wir zurück zum Thema?“
„Okay.“ hatte Varis gegrummelt „Jedenfalls war da die Kleine,
die keine Minute von ihm gewichen ist. Und während ich mich
mit dem Jungen auseinander setze, kidnappt die Kleine den
Vogel einfach.“
„Sie hat ihn gesehen?“ hatte Amor argwöhnisch gesagt.
„Vielleicht hat der blöde Vogel vergessen sich zu tarnen.“
„Aber wie hätte sie wissen sollen, wie man den Vogel der Zeit
anwendet?“ hatte Amor entgegnet.
„Woher soll ich das wissen?“ hatte Varis von sich gegeben.
Und um das heraus zu finden, saß Amor nun in diesem Cafe
und beäugte jede Bewegung der neuen Kellnerin, wie ein
Stalker.
Amor war sich sicher, das Hellen den Vogel der Zeit in ihrer
Gewahrsam hatte. Was er nicht wusste war, ob sie ihn trotz
seiner Tarnung sehen konnte und nur so tat als würde sie ihn
nicht wahr nehmen – oder ob sie ihn wirklich nicht sah. Der
Vogel der Zeit müsste in der Lage sein, ihn zu sehen. Aber es
stimmte sowieso nichts zusammen. Wenn der Vogel der Zeit
die Seele des Menschen in die Zukunft oder Vergangenheit
führte, waren diese Leute im Körper des Vogels unterwegs.
Was Amor aber heraus gefunden hatte, passte nicht. Dieses
Teufelsmädchen reiste mit ihrem eigenen Körper durch die
Zeit, wo sie unaussprechliche Dinge mit toten Rockstars
anstellt, bemerkte Amor nebenbei. Das war nur möglich, nun,
das ging eigentlich nur, wenn der Vogel der Zeit ... aber das war
unsinnig. Das ergab keinen Sinn. Warum sollte sich der Vogel
der Zeit absichtlich seit dreizehn Jahren an den Körper dieser
Katastrophe von Frau binden?
Hellen konnte Amor tatsächlich nicht sehen. Aber ihre innere
Stimme die nicht von ihr war. Also auch das innere Auge,
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quasi. Und das bemühte sich, unauffällig zu bleiben. Hellen
hatte nicht nur einmal das Gefühl, sie hätte gerade eine kleine
Witzfigur auf der Bank neben dem Fenster sitzen sehen. Es war
immer nur so im Augenwinkel, aber wenn sie dann hin sah, war
da keiner. Dafür aber telefonierte sie gerade hingebungsvoll mit
jemandem, dem sie erzählte, das Nick da gewesen sei, das er
beständig etwas notiert hätte. Ja das es sogar ausgesehen habe,
als würde er Zeichnen, und ob das nicht großartig wäre, da
hätten sie schon mal ein gemeinsames Thema.
Amor beobachtete zwei Stammgäste, die sich gerade soweit
angenähert hatten, das sie bald übereinander herfallen würden.
Es war schön, zu sehen, das nicht immer Pfeile nötig waren, um
so spontane Liebe entbrennen zu lassen.
Als ein magerer junger Mann mit Haaren wie Schuhbänder das
Cafe betrat, legte Hellen auf und blickte Kampflustig.
„Na?“ sagte sie provokativ.
„Na?“ gab Kevin zurück, auf seinem T-Shirt stand in deutlichen
Buchstaben Rockstar sucht Groupie. Hellen las den Schriftzug
und grunzte spöttisch.
„Nicht tot genug?“ neckte eine innere Stimme unvorsichtig und
sagte dann „Verdammt!“ als Amor auf horchte, und – für
Menschen nicht hörbar - rief:
„Ha! Hab ich dich!“
„Nein hast du nicht!“ sagte die innere Stimme, und dann noch
einmal „Verdammt.“ Hellen schloß die Augen und schüttelte
den Kopf. Die innere Stimme hatte sie seit dreizehn Jahren mit
zynischen Kommentaren genervt, sie war es gewöhnt, aber jetzt
war etwas anders.
„Schach matt, hä?“ freute sich Kevin, der Hellens verwirrte
Geste als Reaktion auf sein T-Shirt wertete.
„Du spinnst doch.“ gab Hellen zurück und wusste nicht genau,
ob sie das auch irgendwie zu ihrer inneren Stimme gesagt hatte.
„Warum?“ fragte Amor.
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„Darum!“ sagte die innere Stimme. Hellen hielt wieder inne.
„Ob dus glaubst oder nicht, ich bin wirklich ein Rockstar.“
sagte Kevin stolz und setzte sich auf den Barhocker vor den
Tresen.
„Ja klar.“ sagte Hellen und die innere Stimme sagte mürrisch:
„Darum ist sehr wohl ein Grund. Nein! Das geht dich nichts
an.“ Hellen fasste sich ans Ohr. Was war los? Das ergab keinen
Sinn.
„Wenn du mir nicht glaubst, komm nächsten Samstag zu
unserem Konzert.“ gab Kevin überheblich von sich und knallte
einen selbst produzierten Flyer auf den Tresen. Hellen benutzte
ihn als Untersetzer für das Bier das sie Kevin hin stellte.
„He, mann!“ rief dieser gar nicht cool, hob die Flasche auf und
zog den Flyer hervor wie einen zerquetschten Schmetterling.
Ein nasser Ring hatte sich gebildet und drohte, den Flyer zu
vernichten. Für Kevin waren diese Drucke sowas wie Babys.
Schwer zu sagen was er sich vor stellte was die Leute machten,
denen er diese Einladungen aufdrängte – vermutlich hinter Glas
setzen und jeden Morgen davor beten.
„Was kümmerts mich.“ sagte die innere Stimme und Hellen
nickte nur:
„Oh, jea!“
„Heißt das du kommst? Stark!“ freute sich Kevin.
„Du brauchst mich?“ fragte die innere Stimme „Gut! Dann
musst du auch was für mich tun!“ Hellen versuchte die innere
Stimme schweigend zu schütteln. Sie sprach nicht mit ihr. Das
war es. Die Stimme sprach nicht mit ihr. Da war jemand
anderer der sie noch hören konnte. Hellen blickte Kevin an.
Wenn er wirklich ein Rockstar war, standen die Chancen gut da
er es war. Die meisten die sie kennen gelernt hatte waren sehr
vertraut mit dem Thema lästiger innerer Stimmen.
„Sprichst du mit ihr?“ fragte sie daher Kevin, der sich daraufhin
umsah und arglos fragte:
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„Mit wem?“
„Hörst du meine Stimme?“ fragte Hellen, zog ihre Augen zu
Schlitzen und neigte sich vor. Kevin genoss den Ausblick der
sich daraus ergab.
„Varis, ich will Varis. Du sorgst dafür das ich eine Nacht mit
ihm bekomme.“ stellte die innere Stimme die Bedingungen für
ihren Rückzug aus Hellens Leben.
„Sicher höre ich deine Stimme.“ meinte Kevin etwas verwirrt.
Er sah sich noch einmal um, diesmal aber nicht nach
irgendwelchen Stimmen, sondern nach jemanden der über ihn
lachen würde.
„Wer ist Varis?“ zischte Hellen und schnitt eine Grimasse als
würde ein beständiger Störfunk ihre Konzentration trüben.
„Ja und? Jeder hat so seine Vorlieben. Denkst du als Scheiß
Vogel hab ich eine Chance? Aber den Körper hier fand er
offensichtlich geil. Zumindest damals.“ Hellen spürte eine
Beleidigung, wenn sie sie vernahm.
„Varis?“ fragte Kevin fürsorglich. Er hatte eine Schwäche für
verrückte Frauen.
„Nein, eben nicht.“ sagte die innere Stimme zerknirscht „Aber
bald, denn du wirst mir dabei helfen.“
„Spinnst du? Hör sofort auf damit, mich zu verschachern!“
wurde Hellen böse, und Kevin dachte, cool, sie hat Zugang zu
Drogen, jetzt steht meiner Karriere nichts mehr im Weg.
„Was nimmst denn du so?“ fragte er daher fachmännisch.
„Ja, dann geb ich sie frei – aber sie muss auch einverstanden
sein. Wir haben einen Pakt.“ erklärte der innere Vogel der Zeit
Amor. Hellen hatte Stress.
„Mit wem sprichst du, verdammt!“ rief sie in die Luft, als ihr
dämmerte, das es nicht Kevin war.
„Mit Amor, meine Liebe.“ sagte die innere Stimme, „Amor,
wink mal, ich sorge dafür das sie dich sehen kann.“ Hellen
drehte sich herum und sah einen kleinen dicken Mann mit
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Nachthemd direkt am Fenster sitzen, aus seinem Köcher ragten
pinkfarbene Pfeile und Glitzerstaub umschwirrte ihn. Sie packte
Kevins Unterarm, zeigte zu Amor und sagte:
„Kannst du das auch sehen?“
„Was denn?“ gab dieser sich Mühe.
„Den Mann im Nachthemd, mit den kleinen Flügeln und dem
Glitzerstaub.“ erklärte Hellen. Kevin war begeistert, obgleich er
Amor nicht sehen konnte. Er wollte mindestens so schräg wie
die Braut sein, also log er.
„Ja, Mann. Wie abgefahren ist das denn?“
„Amor wird mir helfen, eine heiße Nacht mit Varis zu erleben,
und dafür wirst du mich wieder los.“ erklärte der Vogel der Zeit
„Es sei denn natürlich, du bist einverstanden.“
„Kein nerviges dazwischengequatsche mehr?“ fragte Helen.
Kevin verliebte sich gerade.
„Kein nerviges dazwischengequatsche!“ versprach der Vogel
der Zeit. Das klang toll, hatte aber einen Haken.
„Aber ich kann dann auch nicht mehr durch die Zeit reisen. Ich
werde älter.“ begriff Hellen.
„Älter bist du auch so geworden, du hast dich nur gut gehalten.“
beruhigte die innere Stimme „Aber das mit den toten Rockstars,
das hätte ein Ende.“
„Keine toten Rockstars mehr?“ fragte Helen. Es fühlte sich
nicht so schlimm an wie es sich anhörte. Es war zuletzt ohnehin
mehr Mühe als Freude gewesen und sie wusste auch, das sie das
nicht ewig machen konnte. Materieller Wohlstand und ärztliche
Errungenschaften, sowie Psychologen und Bewährungsauflagen
machten es künftigen Rockstars schwer, destruktiv und damit
erfolgreich zu sein. Doch wie jeder Sammler hatte auch sie ein
Kleinod das sie begehrte und ohne dem sie die
Sammelleidenschaft nicht würde zum Abschluss bringen
können.
„Okay. Aber einen brauch ich noch.“ erklärte Helen. Kevin
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wusste nicht worum es ging, ahnte es nur, und sein Blick
schnellte zu Hellen.
„Oh nein, doch nicht diesen ...“ raunte die innere Stimme
genervt. „Das wird doch nie was.“
„Ich kriege ihn, oder ihr könnt eure Abmachung vergessen.“
stellte Hellen die Bedingung. Amor griff sich an den Kopf.
„Okay.“ sagte er, verdrehte seine Augen, denn offenbar lauerten
überall Verrückte: „Hellen kriegt ihren fehlenden toten
Rockstar. Der Vogel der Zeit kriegt für eine Nacht Varis, wofür
er den menschlichen Körper von Hellen braucht. Dann ist der
Pakt erfüllt und du machst wieder deinen Job, Vogel. Seh ich
das richtig?“
„Okay.“ sagte Hellen.
„Okay.“ sagte die innere Stimme.
„Du willst es mit Cobain machen?“ fragte Kevin begeistert. Er
hatte zwar so gut wie nichts mit bekommen, immerhin hörte er
nur Hellens unzusammenhängendes Gefasel, doch sein
Verstand verlief in so geschwungenen Linien, das er das
Wesentliche doch erfasst hatte. Und auch wenn er nichts
verstand, in Frage stellen tat er sowieso nichts, erklärte er, das
er Hellen helfen wolle. Der Vogel der Zeit freute sich auf ein
amouröses Abenteuer und verfiel in ein verliebtes aber nerviges
zwitschern. Hellen durfte zwar im Dienst nichts trinken, packte
sich aber eine Bierflasche öffnete sie mit ihren Zähnen, spuckte
die Krone so auf den Tresen das sie hinter der Kaffeemaschine
verschwand, und stürzte den Inhalt in einem Zug runter.
Hernach rülpste sie beherzt und Kevin schlug jauchzend auf
den Tisch. Das Stammgästepärchen ergab sich wildem
herumgeknutsche, als Amor beim verlassen des Cafes etwas
entdeckte. Er ging mit einem Knie runter, fuhr mit einem Finger
über den Fußboden wie ein Indianer der eine Fährte entdeckt
hatte und Glitzerstaub blieb daran kleben. Fremder
Glitzerstaub. Er roch daran, und drehte sich nach dem frisch
72
gebackenen Pärchen um. Etwas stimmte nicht. Schon wieder.
Als Hellen Sascha gesagt hatte, das sie alles arrangiert hätte,
hatte er Angst bekommen. Nick und Sascha hatten sich einen
Termin nach Feierabend ausgemacht, um die Homepage zu
besprechen, und weil es sich angeboten hatte, dies im Cafe ums
Eck organisiert, wo Hellen nun versuchte, routiniert
unbrauchbar zu sein. Wenn Sascha nicht ohnehin ein nervliches
Wrack gewesen wäre, ab jenem Telefonat das diesen Termin
fixierte, so wäre er es jetzt geworden. Alles arrangiert, wenn
man Hellen kannte, und das tat Sascha (mit Ausnahme der toten
Rockstars, aber was will man ihm das verübeln) bekam man
Visionen von Stumpenkerzen und düsteren Metal-Klängen. So
gesehen war Sascha erleichtert, als er das Cafe betrat und es
noch immer die Grundzüge eines etwas heruntergekommenen
Cafes aufwies und nur dezente Züge einer Gruft in der bald eine
schwarze Messe stattfinden könnte. Einer dieser Züge bestand
in Hellen selber, die es für angebracht hielt, eine weißes kleine
Schürze über ihrer Vampirkluft zu tragen und die in
Anwesenheit von Kerzen einfach immer ein wenig, nunja,
düster wirkte. Reine Assoziation, sie hatte sich nicht extra
zurechtgemacht.
„Ich würde sagen, du nimmst den Platz da hinten.“ schlug sie
vor.
„Sein Platz“? Fragte Sascha, sie hatte ihm Bericht erstattet.
Hellen nickte, Buster schlüpfte unter den Tisch und fiel in
komatösen Schlaf. Sascha durchwühlte seine Unterlagen, die er
betont knapp gehalten hatte, aber doch kompetent genug. Er
wollte so viel Zeit wie möglich mit Nick verbringen und dabei
dennoch so seriös wie machbar erscheinen. Seit dem Telefonat,
es war nun genau sieben Stunden her, hatte er keinen Bissen
mehr herunter bekommen und Saschas Kreislauf war im Keller.
Er hatte die Nacht nicht geschlafen da er sich vor genommen
73
hatte, gleich am Morgen anzurufen um einen Termin zu
fixieren. Dennoch war er erstmal ein paar Stunden im Kreis
gelaufen, hatte allmögliche unnötige Arbeiten vor geschoben,
nur um nicht telefonieren zu müssen. Und dann hatte er es
einfach getan. Er hatte das Signal für den Verbindungsaufbau
vernommen und es läutete zwei mal, eine Zeit die ihm ewig
erschien und ihn fast dazu brachte, wieder aufzulegen. Und
dann war er ran gegangen. Sascha war so überrascht gewesen,
obwohl er ja davon ausgehen musste das am Anderen Ende
jemand ran gehen würde, das er keinen Ton heraus brachte.
Zweimal musste Nick den Begrüßungssatz des Geschäfts und
seinen Namen sagen, und zwei weitere Hallos, ehe Sascha es
schaffte, einen Ton von sich zu geben. Wie ein dummes
pubertierendes Mädchen, scholt sich Sascha sicher zum
zweihundertsten Mal, seit er sich in Nick verliebt hatte. Nun, es
war lange her, das er sich richtig verliebt hatte – und ob er sich
so verliebt hatte – das wagte er generell zu bezweifeln. Das
Gespräch hatte keine halbe Minute gedauert, war sachlich und
direkt abgelaufen. Treffen heute, hier, nach Feierabend, in
Ordnung. Sascha wusste nicht was er sich von dem Telefonat
erwartet hatte, das er solche Hemmung davor gehabt hatte.
Seine Fantasie, seine Hormone, sie spielten ihm Streiche. Wie
auch jetzt. Es ist eine geschäftliche Besprechung, sagte er sich
immer wieder, mehr nicht. Und dennoch überlegte er, was wäre
wenn. Und es fielen ihm viele wenns ein, eigentlich viele wenns
die ihm entgegen kamen, aber auch genug die ihm Angst
machten.
Er war zu früh und in den Minuten des Wartens ging seine
Fantasie, aber auch seine Angst gnadenlos mit ihm durch. Er
sah sich wild mit Nick knutschen und Liebesschwüre
austauschen ebenso, wie Faustschläge, weil er es gewagt hatte,
irgendetwas zu sagen das Nick als schwul deutete. Er sah
Situationen verhaltener Zuneigung und beginnender
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Zärtlichkeiten ebenso vor sich, wie blanken Hass, weil Nick ihn
ob seiner Neigungen für krank hielt. Sascha stand diesbezüglich
aber auch ein gewisser Erfahrungsschatz bereit. Vielleicht
hatten heterosexuelle Männer die sich Frauen näherten ebenso
Erfahrungen mit groben Abfuhren, aber sie arteten vermutlich
weniger oft so schmerzhaft aus, wie Sascha es schon erleben
musste. Eine Ohrfeige vielleicht, aber das ein Date in der
Notaufnahme endete stand wohl eher weniger auf der
Wahrscheinlichkeitsskala heterosexueller Verabredungen. Nun,
so schlimm war es nun auch wider nicht, aber Sascha war
nervös und – wie gesagt – die Angst und seine Fantasie
entglitten ihm. Zudem, es war kein Date.
Und dann öffnete sich die Türe des Cafes, und Sascha fühlte
sich so elend, das er sich am liebsten unter dem Tisch hinter
Buster versteckt hätte. Nur um dann fest zu stellen, das Kevin
herein kam. Jetzt fühlte sich Sascha wirklich elend. Aber auch
irgendwie erleichtert. Enttäuscht aber leicht. Kevin tauschte mit
Hellen ein paar Gemeinheiten aus und begab sich dann zu
Sascha.
„Jo.“ grunzte er plump und ließ sich ihm gegenüber auf den
Sessel plumpsen. Hellen warf ihrem Bruder eine Geste des
Bedauerns zu, während sie Kevin sein Bier servierte.
„Also, schieß los, Zauberer.“ sagte Kevin kühl. Die
Beleidigungen über seine kreative Arbeit hatte zwar Hellen
verteilt, aber Sascha war für ihn der Böse. Immerhin konnte er
Hellen nicht böse sein, sie hatte Möpse, eine Schraube locker
und sollte sein Groupie werden.
„Ich dachte ich würde das Gespräch mit Nick, äh, mit deinem
Kollegen führen.“ sagte Sascha und versuchte, nicht zu
enttäuscht zu klingen.
„Ja, Mann, ich auch.“ gab Killerkev betont cool von sich. Er
nervte Sascha bereits, doch Kevin sah sich in erster Linie
anwesend, um Hellen zu beeindrucken. „Aber er hat noch zu
75
tun, und nachdem ich der kreative Kopf der Firma bin, bin ich
der Mann mit dem du vorlieb nehmen musst.“
Sascha unterdrückte das herzliche Schade, und begann, das
Konzept vor zu legen. Normalerweise hörte er sich vorher die
Wünsche seiner Kunden an, und Nick hätte er da auch gerne
stundenlang zugehört und ausgefragt, aber da der Fall nun
anders lag, überrumpelte er Killerkev einfach mit den Ideen die
er zwar aus Berechnung nicht zu Papier gebracht hatte, die aber
klar und deutlich in seinem Kopf abgespeichert waren. Dabei
ignorierte er jede dumme und auch provokante Frage von Kevin
beinahe beleidigend konsequent und zog das ganze Gespräch in
einem Durch. Je eher das alles vorbei war, je besser. Dabei war
es noch nicht einmal so, das Sascha Kevin nicht leiden konnte,
und unter anderen Umständen wäre ein netter Abend daraus
geworden. Aber Sascha hatte das Bedürfnis, sich irgendwohin
in einer Ecke zusammen zu rollen und seine Verletztheit aus
leben zu wollen. Und zwar möglichst bald. Am Ende seines
Plädoyers für seinen Vorschlag zur neuen Seite, sagte er:
„Wie ich am Telefon gesagt habe: Kurz und Schmerzlos.“ Von
wegen, dachte er jedoch. Kevin hingegen hatte ab der Hälfte,
als er merkte das seine Vorschläge ohnehin ignoriert wurden,
aufgehört, richtig hin zu hören und sich schon auf hinterher
gefreut. Er hatte eine Biografie von Cobain durch geackert und
würde Hellen bei ihrem Plan beistehen wollen, egal wie abartig
er war.
Hellen konnte sehen, das Sascha litt. Und sie wusste, das er
nicht nach Nick fragen würde. Als sie bemerkte, das die beiden
Jungs – sie konnte weder ihren Bruder noch Kevin als Mann
sehen - am Ende ihrer Besprechung angelangt waren, stürmte
sie hinzu.
„Noch wünsche?“ fragte sie, als wären die Anwesenden
irgendwelche Fremden.
„Zahlen.“ sagte Sascha mutlos.
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„Ging es da nicht grad um eure Homepage?“ und ohne eine
Antwort abzuwarten fragte sie Kevin:
„Was ist mit deinem Kollegen?“
„Überstunden, aber das hier interessiert ihn eh nicht.“ erklärte
Kevin „Ich bin der kreative Kopf in der Firma und Nick
vertraut mir da völlig.“
„Kommt er nach?“ fragte Hellen unbeirrt. Sascha,
normalerweise nicht besonders begeistert wenn Hellen so direkt
war, genoss es gerade, das er eine so unbefangene Schwester
hatte.
„Glaub nicht.“ zuckte Kevin die Schultern.
„Glaubst du, oder weißt du?“
„Keine Ahnung. Ist doch egal, oder?“
„Was muss er denn noch machen?“
„Das kann dir doch egal sein.“
„Was größeres, wird es länger dauern?“
„Was kümmert dich das?“
„Ich will nur ein bisschen mehr von dir wissen.“ sagte sie und
setzte sich neben Sascha.
„Macht ihr öfter Überstunden?“
„Geht so.“
„Und Nick? Kommt es oft vor das er so lange bleiben muss?“
„Gelegentlich, ja. Kommst du nun aufs Konzert?“
„Und ist seine Freundin nicht sauer, wenn er immer so lange in
der Arbeit ist?“
„Ha, ha. Nick eine Freundin? Nie im Leben.“
Sascha setzte verlegen sein Glas Wasser an die Lippen. Er
musste grinsen, konnte nicht anders, und suchte das zu
verbergen.
„Einen Freund?“ bohrte Hellen nach, und Sascha prustete das
Wasser wieder heraus. Hellen kannte keine Grenzen.
„Nick? Schwul?“ Kevin begann zu lachen „Das erzähl ich ihm
morgen. Du bist gut.“
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„Also nicht?“ beharrte Hellen und Sascha fühlte sich hin und
her gerissen zwischen Neugier und Verzweiflung.
„Nie im Leben!“ betonte Kevin amüsiert „Oder sieht er
vielleicht schwul aus?“
„Sieht er schwul aus?“ konterte Hellen und zeigte auf Sascha.
Was soll das? Sascha blickte gehetzt. Nicht, das er dazu nicht
stehen würde, aber musste das so sein? Kevin musterte ihn kurz
und schüttelte dann belustigt den Kopf.
„Ein bissi verklemmt vielleicht, aber nicht schwul.“ und zu
Sascha sagte er: „Das lässt du ihr durchgehen?“
Sascha, der für einen Moment jegliche Hoffnung verloren hatte,
hielt sich an einem Strohhalm fest. Oder besser an der
Bohnenstange von Kevins Fehleinschätzung, und sagte lieber
nichts.
„Warum willst du das wissen? Stehst du auf ihn?“ fragte Kevin
Hellen provokativ.
„Ich nicht.“ gab Hellen von sich und eilte zu einem Gast der
soeben frisch gekommen war. Kevin hatte weder die
Anspielung verstanden noch eine Verwandtschaft zwischen
Hellen und Sascha vermutet. Zugegeben, das
Geschwisterpärchen wies auf den ersten Blick, und auch auf
mehrere weitere, keine Gemeinsamkeiten auf.
„Du musst sie entschuldigen.“ fühlte sich Kevin also bemüßigt
zu erklären und zeichnete einen Kreis neben seiner Schläfe in
die Luft.
„Ich weiß.“ seufzte Sascha und überlegte, das die zwei gut
zusammen passen würden.
Da Menschen sehr körperlich präsent sind, ist es für sie von
enormer Bedeutung, wie sie aus sehen. Niemand weiß das so
genau wie jene, die nicht so aus sehen, wie Menschen vorgeben
das sie aus sehen würden. Kein Mensch sieht aus wie Menschen
vorgeben das Menschen aus sehen. Manche kommen diesem
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Ideal nur etwas näher, und manche weichen davon ab. Je näher
man dem Ideal kommt, umso besser hat man es im Leben, und
umso weniger menschliche Seele musste man kennen. Je mehr
man aber von diesem Ideal abweicht, umso mehr muss man von
dem mit bekommen, was die menschliche Seele ist. Und das ist
der Grund, warum alle schön sein wollen. Die menschliche
Seele nämlich, die ist es nicht.
Es gab jedoch Veranstaltungen, die dienten der Huldigung vom
Ideal abweichender. Ein Rahmen, der einem Menschen wie
Kevin die Gelegenheit bot, auf die Bühne zu steigen und
angebetet zu werden, war sicher keiner, an dem das Ideal hoch
gehalten wurde. Und die Jünger krochen heraus aus ihren
Kellern und Dachbodenbehausungen wo sie Männer waren, und
keine pickligen Jungen, wie in der restlichen Welt der Ideale.
Sie begaben sich unter ihresgleichen, wo Pubertätsschweiß
ebenso wenig eine Rolle spielte wie seit Wochen nicht
gewaschenes – dafür aber sehr langes Haar. Es war der Ort, an
dem der Aufdruck des T-Shirts die Lebensphilosophie preis
gab, und nicht das Gespräch. Gewiss nicht das Gespräch. Es
war jener Ort, und jene Gruppe von Menschen, für die ein
Killerkev ein Star war der etwas erreicht hatte, was sie alle sich
kaum vorstellen konnten. Er war schon sechsundzwanzig.
In solch illustrer Runde konnten sich auch jenseitige Kreaturen
materialisieren ohne weiter aufzufallen. Das war der Grund,
warum sich jenseitige Keraturen wie Mana oder Varis
gelegentlich auf solchen Konzerten auf hielten. Sie konnten
sich unters Volk mischen ohne auf zu fallen, und mochten die
satirische Texte über Gott und Satan. Wie Kinder die über Sex
reden – so klang es, wenn die Menschen hier über ewige
Verdammnis, Hölle, Blut und Sakrilege sangen. Das das ganze
noch dazu relativ ernst aufgezogen wurde, verlieh dem Ganzen
jenen angenehmen humorvollen Touch, der übersetzt aus der
Sprache der Jenseitigen: feiner englischer Humor bedeutete.
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Amor wälzte sich über die schwitzenden Leiber. Ziemlich weit
vorne, neben einem mannshohen Lautsprecher, stand Varis.
Als wenn er es nötig hätte so weit vorne zu stehen, schimpfte
Amor. Die Schallwellen aus den schwarzen Boxen fegten dem
Zweimeter Mann dermaßen um die Ohren, das das glatte
blauschwarze Haar im Takt mit hüpfte. Kaum hatte Amor die
vorderen Reihen erreicht gehabt – eine beachtliche Leistung –
und versucht, sich dort in Varis Richtung zu wälzen, hatte ihn
irgendjemand aufgehoben. Seitdem wurde er von schwitzenden
Händen an der Oberfläche des Meeres aus Menschen getragen
und versuchte gegen die Tendenz anzukämpfen, nach hinten
weitergereicht zu werden. Amor hatte ein schwarzes Tshirt mit
dem Aufdruck Love Sucks über gezogen und trug eine lederne
Motorradhose dazu. Er konnte sich nicht an Varis Nacktheit
stören und dann im weißen Nachthemd auf ein Heavy Metal
Konzert gehen. Den Glitzerstaub aber wurde er nicht los, er war
Teil der Aura und rieselte beharrlich aus seiner Kleidung, den
Kids unter ihm in die Augen oder blieb an deren Gesichtern und
fetten Haaren kleben. Sie würden es am nächsten Nachmittag
schwer haben, sich das zu erklären. Amor überlegte ob er nicht
einfach abheben und zu Varis fliegen sollte. Wozu hatte er
Schwingen? Okay, es waren keine Schwingen, es waren Flügel,
winzige Flügel, Handflächengroß, und ließen ihn eher flirren
denn fliegen. Wie eine Hummel hing er dann an diesen kleinen
surrenden Dingern und baumelte durch den Raum. Es war
erniedrigend. Wenn er richtige Schwingen gehabt hätte, wie
einige Engel, das hätten die Kids hier sicher echt fett gefunden.
Amor ließ sich treiben und rief der pickligen Masse immer
wieder zu „Dort hinüber.“ als würde er lahme Ackergäuler
antreiben. Und ebenso zielgerichtet funktionierte das alles auch.
Varis war überraschend passend gekleidet. Er hatte es sich zwar
erspart, ein Shirt oder so etwas beengendes zu tragen, aber eine
Lederweste mit Fransen und Nieten tat es auch. Die Lederne
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Jeans schien Teil des Sets zu sein, zu dem auch eine
Lederkappe gehörte. Die sollte er abnehmen, dachte Amor,
wenn er nicht alle anderen hier um einen halben Meter und
achtzig Kilo Muskelmasse überragen würde, hätten sie ihm
vermutlich schon die Fresse poliert. Vor allem, weil die
Lederjeans hinten Aussparungen hatte.
Amor krallte sich an der Lederweste Fest, und beschloss, gleich
auf dieser Höhe an Varis hängen zu bleiben, um mit ihm zu
reden. Instinktiv vergrößerte sich der Abstand des Publikums
um die beiden.
„Sag mal, hast du jemals ernsthaft nach dem Vogel der Zeit
gesucht?“ brüllte Amor dem Riesen ins Ohr, während er
versuchte, in den Gürtel zu steigen um besseren Halt zu
bekommen. Varis hob den Arm um Amor fest zu halten. Wie
das aus sieht wollte Amor lieber gar nicht wissen. Mehr kam
nicht von Varis.
„Oder anders – hast du je versucht heraus zu finden was er
will?“ brüllte Amor weiter. Der Gitarrist, Killerkev, ergab sich
einem ausgedehnten E-Gitarren Solo hin, das ebenso schlecht
wie laut war aber dafür extra lang andauerte.
„Hast du mir zugehört?“
„Ja.“ brummte es aus dem Brustkorb, Amor war Varis noch nie
so dicht am Körper gewesen, um das einmal quasi direkt zu
spüren. Es fühlte sich beunruhigend gut an.
„Was ja? Ja du hast mich gehört? Oder ja du weißt was der
Vogel der Zeit will?“
„Ja.“ brummte Varis ein weiteres mal. Amor überlegte, ob er
überhaupt wollte, das sie in dieser Art Umarmung ein Gespräch
führten, indem Varis längere Sätze sagen musste.
„Du weiß also, was der Vogel der Zeit will?“ fragte Amor.
„Ja.“
„Du weißt, das er dich will?“ Stelle ihm nur Ja und Nein
Fragen, war Amor die Idee gekommen.
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„Ja.“ Varis schien sehr konzentriert auf das Solo.
„Und?“ Verdammt.
„Nein.“
„Was nein? Du willst nicht ... also ... du magst nicht mit
ihm ..?“
„Nein.“
„Du willst mir jetzt allen ernstes sagen, das du seit dreizehn
Jahren weißt wie du den Vogel wieder bekommen könntest,
aber du willst einfach nicht?“
„Ja.“ Wenigstens funktionierte das mit den kurzen Antworten.
„Hast du den Wirten gesehen?“
„Ja.“
„Das ist eine scharfe Braut, und, wie ich mitbekommen habe,
ohne besondere Ansprüche. Sie ist wie geschaffen für dich.“
„Nein, ist sie nicht.“ Amor schielte auf die Lautsprecher, er
könnte doch auch von dort mit Varis reden. Dann gäbe es nicht
diese peinliche Konstellation das er wie ein Baby gehalten
werden musste. Dann fiel Amors Blick auf Varis zuckendes
Haar, und er selber spürte auch, wie der Glitzerstaub fast
rythmisch von ihm ab stäubte. Oh, nein, wie peinlich.
„Sie ist nicht dein Typ?“ fragte Amor. Er wusste gerade nicht,
wie er reagieren sollte. Varis hatte von Anfang an gewusst, wo
der Vogel war und was er wollte, und hatte sich nur geziert weil
die Frau nicht sein Typ war? Was um Himmels willen erwartete
er von ihm? Hatte Varis Amor engagiert, das er in ihm Gefühle
für den Vogel der Zeit in seinem Wirten – also Hellen
entfachte? Das war absurd.
„Was ist denn dein Typ?“ fragte Amor schließlich. Pfeile
bekam er von Gott keine. Amor hatte mit dem Vogel etwas
gemeinsam. Sie hatten beide den Geschmack von Varis anders
eingeschätzt. Und im Augenblick war das für beide
unangenehm. Amor sah sich um. Eine echte Vielfalt an
Frauentypen gab es hier ja nicht – aber es ging um die Tendenz.
82
Er würde Hellen dazu bringen, sich um zu stylen. Das war
Amors großer, einfacher Plan. Menschen hatten schon so viele
Methoden, sollte er Blondinen im Kostüm bevorzugen, Amor
würde Hellen dazu bringen, sich so zu verkleiden. Im Notfall
mit einer kleinen Erpressung. Sie war gewiss am Liebesglück
ihres Bruders interessiert.
„Schau dich um, Varis, welche wäre es denn? Nur ungefähr.“
Varis setzte seinen massigen Körper in Bewegung und Amor
krallte sich fest. Es schwankte unangenehm. Varis ließ seinen
Blick durch das Publikum schweifen, langsam, konzentriert.
Dann fixierte er eine Gruppe von drei Menschen die ganz
hinten, fast an der Wand, standen. Amor wurde unruhig als er
sah, wie Varis zu lächeln begann, sein Blick sich verklärte und
die Körpertemperatur an stieg. Amor versuchte dem Blick zu
folgen und trat dann gegen Varis Rippen.
„Aber das ist sie doch!“ schrie er. Er hätte es wohl auch
geschrien, wenn es die künstlerische Pause in einem klassischen
Konzert gewesen wäre. Amor fühlte sich verarscht.
„Nein.“ brummte er „Nicht sie.“ und zeigte mit seiner Hand in
die Richtung wo Hellen mit Nick und Sascha stand. Nick mit
dem Rücken zur Wand, die Kapuze ins Gesicht gezogen und
scheu um sich blickend. Hellen rauchte, hüpfte und gröhlte mit
und tat gelegentlich etwas, das man tanzen nennen konnte – sie
lebte mit der Atmosphäre mit. Sascha wirkte, als hätte man ihn
in einer Bank eingefangen, ihm einen Sack über den Schädel
gestülpt, und ihn hier wieder ausgesetzt um ein
sozialpsychologisches Experiment zu begehen. Er wirkte hier
so deplaziert wie eine Komplettduschkabine mit
Tellerkopfbrause und Massagedüsen. Amor kannte sie alle. Und
das Nick und Sascha miteinander aus gingen, war ein gutes
Zeichen. Hatte der Pfeil doch etwas bewirkt? Oder war Nick
etwa gar nicht mit Sascha da? In Amor wucherten
Befürchtungen. Er hatte Beobachtungen gemacht.
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Beunruhigende Beobachtungen. Jemand versprühte
Glitzerstaub, nicht in Pink, wie er, sonder in Lila. Er hatte Teile
von Federn Gefunden wie nur er sie an seinen Pfeilen hatte,
aber in Lila. Jemand wilderte in seinem Revier. Jemand hatte
die Macht, Liebespfeile zu verschießen. Was, wenn es dieser
Jemand auf Nick und Hellen abgesehen hatte?
„Ihn.“ sagte Varis. Das kam gleich hinter der schlimmsten
Befürchtung von Amor.
„Nick?“ fragte er gehetzt. Konnte es schlimmer kommen?
„Nein, der andere, ... Sascha.“ sagte Varis. In Amor begann
einiges zu dämmern.
„Der Junge? Er ist der Junge!“ Varis nickte verklärt und Amor
musste los lachen.
„Der Vogel der Zeit hat deine ..., ähm, deinen Zustand als eine
Reaktion auf das Mädchen gewertet!“ rief er und dann blieb
ihm das Lachen im Halse stecken.
„Das ist allerdings blöd.“ Denn das war es auch. Die Pläne von
atemberaubenden Vorher – Nachher Stylingaktionen für Hellen
fielen somit ins Wasser. Und jegliche Chancen, seinen Auftrag
zu erfüllen. Wenn der Vogel es dreizehn Jahre nicht geschafft
hatte, Varis zu bezirzen (haha), was sollte er, Amor, dann schon
machen können? Varis war einfach und direkt. Wenn er etwas
wollte, dann ließ er sich nicht mit etwas anderen abspeisen.
Als Sascha am Morgen nach dem Rendezvous ohne Nick von
Hellen erfahren hatte, das dieser doch noch nach gekommen
war, und zwar nur eine halbe Stunde später, hatte Sascha
versucht, sich mit einer Scheibe Vollkornbrot umzubringen. Die
zumindest hatte er gerade im Mund gehabt und sich heftig
daran verschluckt. Was hatte er die Nacht durch gegrübelt
gehabt und dabei ständig das Foto von Nick befragt. Warum er
nicht zur Besprechung gekommen sei, und was es bedeute, das
er keine Freundin habe. Hellen hatte ihm auch erzählt, das
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Kevin Nick mit der Schwul-Frage überfallen hätte. Laut Hellen
habe Nick zumindest nicht sofort verneint. Er habe erst so
komisch gelächelt.
„Und dann?“ hatte Sascha nach gefragt. Immerhin hatte sie ja
erst gesagt.
„Nichts. Er hat nur gelächelt.“
„Du hast erst gesagt. Was hat er dann gesagt?“
„Nichts.“ Hellen hatte eine Pause gemacht und dann zögernd
gemeint: „Aber er hat den Kopf geschüttelt. Tut mir leid.“
Und nachdem Sascha darauf sprachlos war, hatte sie davon
geplappert das sie eine gute Menschenkenntnis habe und davon
überzeugt sei, das Nick nur zu schüchtern wäre, das offen
zuzugeben. Kevin wäre nicht der Typ dem man das anvertrauen
wolle und sie sähe ja auch nicht vertrauenswürdig aus. Sascha
solle mal überlegen, ob er ihnen beiden das einfach so
anvertraut hätte – und – er müsse zugeben das er Kevins
Fehleinschätzung ja auch nicht berichtigt habe. Und dann war
sie in Fahrt gekommen. Hatte Szenen entworfen in denen Nick
verzweifelt wäre, weil er nun, wegen der Aussage von Kevin,
glauben würde er habe bei Sascha keine Chancen. Es wäre nur
zu fair, dieses Missverständnis aus zu räumen. Und dann hatte
sie ihn zu dem Konzert überredet. Sie wisse, das wäre nicht sein
Fall und so, aber immerhin wäre da auch Nick. Und damit hatte
sie ihn.
Und nun stand er da und fühlte sich so deplaziert wie eine
Komplettduschkabine mit Tellerkopfbrause und Massagedüsen.
Nick stand mit dem Rücken zur Wand und wirkte auch nicht
gerade entspannt. Die Kapuze ins Gesicht gezogen betrachtete
er das Geschehen als würde er einen Kriegsschauplatz
beobachten. Sascha fühlte sich daher verbunden mit ihm. Das
war eine Gemeinsamkeit. Sie beide waren hier ohne es zu
wollen. Sascha war hier, weil Hellen der Meinung war, er
müsse sich vor den neuen Bekannten outen, um auch nur den
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Funken einer Chance bei Nick zu haben. Hin und wieder schoss
Sascha die Idee in den Kopf, Nick könnte nicht wegen seines
Kollegen, sondern wegen ihm da sein. Dann aber wurden ihm
jedes Mal die Knie weich und er musste zu allen Dämonen die
ihm geläufig waren beten, nicht ohnmächtig zu werden.
Irgendwann erspähte er vorne, direkt an der Bühne, neben den
Lautsprechern, einen Mann mit langem blauschwarzen Haar,
den er kannte. Er war gekleidet wie eine Sado-Maso-Tunte und
das verwirrte Sascha zutiefst. Aus Zeiten an die er nicht dachte,
kannte er ihn als Gott. Gott umarmte einen Gnom und sah ihn
direkt an. Auch solche Erscheinungen erinnerten ihn an eine
Zeit an die er nicht dachte. Alles, alles hier war eine einzige
große Erinnerung an eine Zeit, an die er aus sehr gutem Grund
nicht mehr dachte. Sascha wollte weg. Nicht das er je wirklich
hier hätte sein wollen, aber jetzt wollte er ganz bestimmt nicht
hier sein.
„Ich muss hier raus.“ schrie er Hellen ins Ohr und rammte sie
mit seiner Nase in die Raubvogelfrisur. Sie tanzte komisch und
zog unablässig an ihrer Zigarette, während sie nickte und dann
zu Nick zeigte. Sie bemühte sich erst gar nicht, ihre Stimme in
den Krieg mit dem Lärm zu schicken. Sascha schüttelte den
Kopf. Was auch immer Hellen dachte. Sie nickte, schüttelte den
Kopf, deutete zu Nick, nickte, und warf den Kopf zurück.
Sascha war etwas verunsichert was sie ihm sagen wollte.
„Was?“ brüllte er daher wieder.
„Nimm Nick mit.“ rief sie, wie eine Mutter deren Ältester auf
den Spielplatz wollte und den sie dazu nötigte, den kleinen
Bruder mit zu nehmen. Ja wie soll ich denn? Dachte Sascha.
Dann erblickte er wieder Gott. Gott lächelte. Das war ein
Zeichen. Gott gab sich als Schwuler und hatte einen Mann
umarmt und lächelte ihm zu. Zugegeben, auch wenn Gott ein
sehr seltsames und wenig subtiles Bild gewählt hatte – es war
doch ein Zeichen. Sascha trat also an Nick heran:
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„Ich muss frische Luft holen. Kommst du mit?“ das war einfach
und hatte, an anderer Stelle, schon oft gezogen. Noch nie aber
war Sascha so gespannt auf die Antwort gewesen. Nicks Augen
musterten Sascha auf verwirrende Art, als müsse er sich das
mal durch den Kopf gehen lassen. Schließlich beschloss er,
Sascha zu begleiten.
An jenem Tag, an dem Nick zur Besprechung wegen der
Homepage zu spät gekommen war, hatte Kevin recht seltsames
gesagt. Nick hatte nicht wirklich etwas zu tun gehabt, er hatte
nur ein gewisses Problem, das andere Menschen betraf: Andere
Menschen. Nick war es nie leicht gefallen, Kontakte zu knüpfen
und die meiste Zeit seines Lebens war das auch nicht notwendig
gewesen. Er hatte das Zaubermittel des totalen Rückzugs
entdeckt und wandte es an. In der Firma konnte er
seltsamerweise ganz gut mit Leuten umgehen. Aber das waren
auch keine Menschen, das waren Kunden. Wenn er diese
Kunden unterwegs traf, hoffte er zumeist, nicht gesehen zu
werden. Sahen sie ihn doch, leider war er körperlich anwesend,
nickte er zumeist nur rasch und gab vor, sehr in Eile zu sein.
Vielleicht stellte er sich vor, das alle nur immer einen
persönliche Bezug herstellen wollten. Für jemanden der den
totalen Rückzug lebte war eine Runde Small-Talk schon fast so
etwas wie eine nähere Bekanntschaft, und zog Fragen nach
sich, ob man nun zu Geburtstagen eine Karte schicken müsse.
Nun, es war nicht ganz so schlimm, aber doch ging es soweit,
das Nick regelmäßig die Geschäfte wechselte in denen er
einkaufte. Und zwar meistens an jenem Tag, an dem irgendeine
gut gelaunte Verkäuferin nach der Tagesverfassung fragte oder
eine Bemerkung zum Einkauf tätigte. Wie dem auch sei, sich
mit einem Menschen den er nicht kannte in einem Cafe treffen
um mit ihm zu sprechen, war für ihn eine unüberwindliche
Hürde gewesen. Das hatte nichts mit Sascha zu tun, sondern
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damit, das Sascha ein Mensch war. Aus Begegnungen ergaben
sich so unangenehme Dinge wie die Befangenheit der ersten
Sätze. Nick hatte daher Kevin unter dem Vorwand vor
geschickt, das er noch etwas erledigen müsse. Er hoffte das,
was auch eintraf. Das Gespräch war zu ende und der
Homepagemann schon weg gewesen. Allerdings hatte Kevin
ihn mit der Frage überrumpelt, ob Nick schwul sei. Das kam
wirklich unerwartet. Wie reagiert man auf so etwas, wenn der
simple Gruß auf der Straße schon fast zu persönlich war? Gut,
Kevin war kein Mensch. Kevin war sein Kollege. Und es gab
keinen Tag an dem er nicht durch seine besondere Art auf fiel.
So ein seltsamer Typ war das beste was Nick passieren konnte,
nichts brachte ihn mehr ins schwitzen wie ein normaler
Mensch. Wie zum Beispiel Sascha einer war. Mit Hellen konnte
Nick auch einigermaßen gut, weil sie kein normaler Mensch
war. Etwas an ihr erinnerte ihn sogar an seine Mutter.
Vermutlich die irgendwie fürsorgliche Art die sie Nick
gegenüber an den Tag legte. Er wusste nicht warum, aber sie
sorgte sich um ihn.
Nick war nicht Homophob oder so. Er hatte nichts gegen das
schwul sein. Er hatte eher etwas gegen das Mensch sein. Nunja,
er war kein Menschenhasser, er konnte halt nur nicht so gut mit
Menschen. Und das funktionierte auch prima. Absurde Frage,
dieser Kevin.
„Hellen meinte, es könnte dich interessieren.“ erklärte Sascha.
Sie standen vor dem Areal wo das Konzert statt fand, drinnen
tobte die Menge. Nick waren Menschenansammlungen lieber
als einzelne Menschen. Aber wenn die alternative nicht
einzelner Mensch hieß, mochte er auch
Menschenansammlungen nicht. Doch Kevins Konzerte
besuchte er. War so eine Art Freundschaftsdienst und meist
musste er nicht viel tun als hinten zu stehen und am nächsten
Arbeitstag seine Eindrücke vermitteln. Doch nun stand er mit
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einem einzelnen Menschen draußen in der frischen Luft und
wünschte sich, drinnen in der tobenden Masse zu sein. Nick war
gerade sehr unbehaglich zumute. Sascha war voraus gegangen,
er hinterher getrottet, dann war Sascha stehen geblieben und
hatte ihm geradeheraus gesagt, das er schwul sei. Und nachdem
Nick nicht wusste was er darauf sagen sollte, denn was ging ihn
das an – erklärte Sascha eben, das Hellen ihm gesagt habe, es
wäre für Nick von Bedeutung. Und damit konnte Nick noch
weniger anfangen. Okay. Es war mutig. Es zeugte von
vertrauen. Immerhin.
„Danke.“ sagte er daher, weil er es als eine höfliche Geste
empfand. Der Homepagemann schien sich etwas anderes
erwartet zu haben, sagte aber nichts weiter. Ein nervöser
Mensch. Nick war manchmal ein nervöser Mensch, daher
konnte er das erkennen. Vermutlich fühlte sich Sascha in
menschlicher Gesellschaft auch nicht so wohl. Etwas
gemeinsames, immerhin.
„Willst du wieder rein?“ fragte Sascha und Nick war
verwundert. Gerade hatte er doch unbedingt raus gewollt, und
nun wollte er doch wieder hineingehen? Es war ja schon
verwunderlich gewesen, das Sascha überhaupt auf so ein
Konzert wollte, er wirkte hier so deplaziert wie eine
Komplettduschkabine mit Tellerkopfbrause und Massagedüsen.
„Willst du denn rein?“ war daher Nicks Gegenfrage.
„Nein, eigentlich nicht.“ gab Sascha zu und trat von einem Bein
aufs andere. „Wollen wir was trinken gehen?“
Von wegen, dachte Nick. Menschen wollen nicht was trinken
gehen, sie wollen reden gehen. Sie meinten definitiv
miteinander kommunizieren, wenn sie davon sprachen, trinken
oder essen zu gehen. Wenn man dann wirklich nur aß oder
trank waren sie vor den Kopf gestoßen.
„Okay.“ fand sich Nick einverstanden und auch zugleich über
seine eigene Zustimmung überrascht. Offenbar hatte er Sascha
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eine große Freude bereitet. Kein Wunder, Kevins Band spielte
unerträglich. Nagut, sagte er zu sich, üben wir Mensch sein.
Sascha versank in einem riesigen weichen Sessel. Vor ihnen,
auf einem niedrigen Tisch, standen Kaffee und Kakao. Kaffee
für Nick, der ebenfalls in so einem bequemen Polstersessel
versank, sodass er beinahe auf die Decke sehen konnte ohne
den Kopf anzuheben. Im Hintergrund lief irgendein grooviges
Kontrastprogramm zu dem Konzert von Kevin und Konsorten.
Ruhige Beats, irgendwie harmonisch, fast einschläfernd – und
in Kombination mit den Stühlen beinahe fatal. Nick fühlte sich
nie wohl, wenn er einem Menschen gegenüber saß. Aber so, wo
man einander beinahe gegenüber lag. Sich so auch nicht
ansehen musste, sondern an die Bilder an der Wand schauen
konnte – damit konnte er sich anfreunden. Sascha erzählte ein
bisschen von den Plänen mit der Homepage, das war etwas
geschäftliches, das war gut. Nick konnte ihn fast als Kunden
betrachten und daher einigermaßen gut mit ihm reden. Er fühlte
sich sicher. Was solls, das Leben aus den Angeln heben, dachte
er bei sich, und bestellte sogar einen Cocktail. Nick trank selten
Alkohol. Manchmal ein Bier mit Kevin, aber er hatte noch nie
einen Cocktail getrunken. Sascha hatte ihn angestiftet, selber
aber auf ein alkoholfreies Getränk beharrt. Und irgendwann
kam sie dann. Die unvermeidliche Frage.
„Hast du jemanden?“ fragte Sascha beiläufig. Er hatte lange
gebraucht, sich zu überwinden, aber schließlich war er zu dem
Ergebnis gekommen: finde es jetzt heraus oder lass es sein. Der
Abend und die Tatsache es bis hier her geschafft zu haben,
machte ihn mutig. Sicher, er war nur mit einem Kunden etwas
trinken. Aber es kam ihm vor, als hätte er eine der
schwierigsten Missionen der letzten Jahre gemeistert.
„Ob ich jemanden hasse?“ fragte Nick und wunderte sich ein
bisschen, während er im Bild an der Wand versank.
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„Das Gegenteil.“ erwiderte Sascha und beobachtete ihn von der
Seite. Überhaupt konnte er ihn eigentlich die ganze Zeit
ungeniert anstarren, denn Nick hatte seinen Blick fast
permanent in das Bild versenkt.
„Nein, sowas brauch ich nicht.“ erklärte er und schlüfte von
seinem Cocktail. Nick merkte das ihm ein wenig schwummrig
wurde, angenehm leicht und angenehm schwer zugleich. Sascha
fühlte sich gerade alles andere als angenehm – egal ob schwer
oder leicht.
„Was brauchst du nicht?“ fragte er und setzte sich auf.
„Na jemanden haben. Liebe und der ganze Mist.“ Aus seinen
Augenwinkel konnte Nick sehen, das Sascha aufrecht saß und
ihn ansah, während er angenehm in das Sofa gedrückt gegen ein
Bild starrte. Er fühlte sich beinahe wie bei einer therapeutischen
Sitzung. Das war als Kind ein paar mal notwendig gewesen.
Seine Mutter hatte sich eingeredet, er brauche das weil er
keinen Vater habe. Wer auch immer ihr den Floh ins Ohr
gesetzt hatte, keinen Tag später lag er auf einem Sofa und eine
Frau Doktor stellte fragen. Nick hatte es genossen. Jemand
hörte ihm zu, und weil er das mitmachte bekam er nachher ein
Eis und seine Mutter war stolz auf ihn. So als wäre es ein
Zahnarztbesuch gewesen. Aber gegen einen Zahnarztbesuch
war das der Himmel. Nick hatte davon gesprochen, das er wisse
wer sein Vater wäre. Er könne nicht da sein, weil er in der
Zukunft leben und im Krieg gegen Maschinen kämpfen müsse.
Er wäre aber einmal in die Vergangenheit gereist um sie für die
Zukunft zu verändern, was zwar schief gelaufen sei – aber nicht
wirklich – denn hey, er war ja da. Man muss dazu sagen, das
Nick sich die Videokasette von Terminator so oft angesehen
hatte, bis sie am Schluss kaum noch zu erkennen war.
Irgendwann musste er nicht mehr zur Therapie. Da hätte er sie
aber gebraucht. Denn nun wusste er, das sein Vater kein
Zeitreisender Krieger war, und in seiner Klasse wurde bekannt,
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das Nick von Nikolaus kommt. Und als wäre das nicht alles
gewesen, hatte er fest gestellt, das viele seiner Mitschüler
Junior genannt wurden. Zumeist, wenn sie dieselben Namen
wie ihre Väter hatten. Und als er eines Tages am Heimweg in
der Weihnachtszeit in einer Seitengasse hinter dem Kaufhaus
einen betrunkenen Weihnachtsmann kotzen sah, der sich von
dem stierenden Kind genervt fühlte und mürrisch rief: Hau ab,
Junior ... ja, also da hätte er dann diese Therapie wirklich
gebraucht.
„Wie meinst du das? Liebe brauchst du nicht?“ fragte Sascha in
ruhigem aber besorgten Ton. Nick stierte auf das Bild, wie
damals, und begann zu reden.
„Ich habe das geschworen. Vor ewigen Zeiten. Mein bester
Freund hat sich wegen einer Frau umgebracht. Er war lange
heimlich in sie verknallt. Wochenlang, monatelang hat er mich
damit genervt, wie toll sie sei und wie sehr er sie liebe. Er hat
ihr Liebesbriefe geschrieben und Liebesgedichte – aber er hat
sie nie abgeschickt. Irgendwann hat er sich dann wohl doch
getraut – und sie ... Tja, da hat er einen Strick genommen und
russisch Roulett gespielt.“
„Russisch Roulett mit einem Seil?“
„Er hat es angesägt. Reißt es, hat die Liebe Sinn. Reißt es nicht,
hat die Liebe keinen Sinn. Es ist nicht gerissen. Das heißt, es ist
zu spät gerissen. Ich hab ihn gefunden.“
Wow, das war ja einfach. Nick war überrascht wie gelöst er
darüber sprechen konnte. Er hatte noch nie mit jemandem
darüber gesprochen. Er hatte sich oft ausgemalt wie es sein
würde, hatte Nervenzusammenbrüche voraus gesehen – aber
das er die Sache so kühl herunter erzählen konnte. Er fühlte
nichts dabei. Zumindest als er darüber gesprochen hatte. Er
hatte das Bild angeschaut und sich erzählen hören. Aber er hatte
es nicht vor sich gesehen, nicht gespürt. Nicht wie in den
Träumen.
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„Das ist schrecklich!“ sagte Sascha betroffen. „Aber ... was hat
das mit deinem Schwur zu tun?“
Da erst löste Nick den Blick von dem Bild. Mit einer Sekunde
brach alles über ihn herein, es traf ihn mit voller Wucht. Wie
bei einer morbiden Diashow drängten sich Bilder in sein
Bewusstsein, immer schneller. Davon wie er die Türe zu Svens
Zimmer öffnete, wie er ihn am Boden liegen sah, erst nicht
begreifend, dann das gerissene Seil am Haken, er sah den Toten
in seinen Armen vor sich, wie der Kopf nach hinten sackte, der
Mund weit offen. Nick sah es vor sich wie er ihm die blonden
Haare aus dem Gesicht strich, das schon erste Flecken aufwies,
den Striemen am Hals vom Seil, er sah sich selber schreien, ihn
in den Armen wiegen, und letztlich den Schwur leisten und mit
einem Kuss auf die kalten blauen Lippen seines besten
Freundes besiegeln. Er hatte keine Tränen, aber er zitterte und
war blind für das Hier und Jetzt. Als er Sascha anschaute sah er
Sven an dessen Stelle.
„Das Seil ist gerissen. Es hat keinen Sinn. Wenn ich nicht
Liebe, dann hat dein Tod einen Sinn gehabt.“ erklärte er, als
wäre es die logische Konsequenz und eine Frage dazu blanker
Hohn. Nicks Magen verkrampfte und er hatte das Gefühl, keine
Luft zu bekommen. Im wurde schlecht. Wie ihm immer
schlecht wurde wenn ihm Szenen dieses Traumas durch den
Kopf gingen. Er sprang auf, schien etwas sagen zu wollen,
seine Fäuste hielt er geballt – und dann rannte er zum Ausgang
als wäre der Teufel hinter ihm her.
„Warte.“ sagte Sascha, warf einen Schein auf den Tisch der
reichen sollte, und stürmte Nick hinterher. Als er die Tür des
Lokals erreichte, sah er Nick in der Ferne um die Ecke biegen.
„Bei allen Dämonen die mir geläufig sind, der Typ hat einen
Knall.“ seufzte Sascha und stellte fest, das er verliebter war als
je zuvor.
„Entschuldigung.“ sagte der Kellner und hielt Sascha etwas
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entgegen. „Sie haben was vergessen.“ Es sah aus wie ein
Notizbuch und Sascha wollte schon ablehnen und sagen, das es
ihm nicht gehörte, als er doch danach griff. Vielleicht gehörte
es Nick?
„Danke.“ nickte er dem Kellner zu und nahm es an sich als
wäre es ein geheimnisvoller Schatz. Es musste Nick gehören, er
erinnerte sich an Hellens Erzählungen davon, das er in ein
kleines Buch zeichnet. Sascha wollte nicht rein sehen. Nicht
sofort zumindest.
Etwa zur selben Zeit als Nick entgegen seine Gepflogenheiten
aus seinem morbiden Köfferchen purer Lebenslust plauderte
und dann damit klar kommen musste, hatte Hellen Streit. Ihr
Gegner saß in ihrem Mittelohr oder wo auch immer. Jedenfalls
dort wo es weh tat wenn er schreit, und so, das Hellen ihn nicht
ignorieren konnte. Das war der Nachteil wenn man mit seiner
inneren Stimme einen Disput hegte. Man konnte nicht die
Türen knallen und einfach weg fahren. Das hieß, man konnte
gerne mit Türen knallen, wenn es einem beliebte – und es
machte auch sicher Spaß, durch die Gegend zu fahren – aber
der Streit war damit nicht unterbrochen, geschweige denn
beendet. Es ging immer weiter und weiter und irgendwann ging
es nur noch darum, wer angefangen hatte und wer auf keinen
Fall klein Beigeben würde. Die Sache an sich hatte sich
verloren, oder war eine ganz Banale gewesen, wegen derer man
normal nie streiten würde, wenn, ja, wenn man nicht ständig
aufeinander kleben würde.
Hellen wusste nicht mehr wer angefangen hatte, aber sie
wusste, das sie auf keinen Fall klein beigeben wollte. Ihrer
inneren Stimme ging es haargenau so. Gemessen daran hätten
sie beste Freundinnen sein können, wenn sie nicht gerade
ineinander verkeilt waren.
„Es wird Zeit das wir uns trennen.“ sagte Hellen schließlich und
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machte damit Kevin ganz nervös. Er war sich zwar nicht sicher
gewesen, ob er mit ihr zusammen war (seinen Bandkollegen
gegenüber waren sie es) aber das es aus sein sollte ehe er es mit
ihr getan hatte, ging ihm ein bisschen zu schnell.
„Oh.“ sagte er daher „Wolln wir noch geilen Abschiedssex?“
Besser jetzt als nie, oder?
„Ich habe nicht dich gemeint.“ gab Hellen zurück.
„Oh.“ sagte Kevin wieder „Aber wir könnten es trotzdem tun.“
„Halt die Klappe Kev.“ fuhr sie ihn an. Kevin war high von der
Dosis Rockstar die er gerade gelebt hatte. Auf der Bühne, Fans
und so. Das die nicht in erster Linie wegen ihm sondern einigen
anderen Bands gekommen waren, verdrängte er erfolgreich.
Auf jeden Fall war er ganz berauscht davon, ein begehrter
junger Mann zu sein, und konnte nur an eines denken.
„Hast du es echt mit allen gemacht?“ fragte er schließlich.
„Fast.“ gab Hellen knapp von sich. Sie schmollte auf ihre innere
Stimme und beschloss, sie zu ignorieren. So funktionierte das.
Kevin rollte anerkennend mit den Augen und pfiff beeindruckt.
„Das sind über dreihundert.“ erklärte er.
„Nur die, die nicht älter als vierzig waren und nicht eines
natürlichen Todes starben.“ erklärte Hellen.
„Also quasi ... alle unter vierzig.“ Kevin war noch immer
beeindruckt. „Sind immer noch, hm ...“
„Zweihundert, cirka.“ erklärte Hellen.
Kevin wurde still. Nicht aus Schock, oder Ekel oder Eifersucht
wie man glauben möchte. Er dachte, wenn ich es mit der Frau
treibe, dann treibe ich es irgendwie auch mit allen toten
Rockstars. Cool. Er musste es einfach mit ihr machen.
„Lebende auch?“ fragte Kevin.
„Hey, ich hab auch noch ein normales Leben, und Job und so.“
„Aha, verstehe.“ tat Kevin als würde es ihn interessieren das sie
auch noch ein Leben jenseits von Sex hatte. Gerade mochte er
sich nicht einmal vorstellen das er selbst ein solches führte.
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„Das heißt, wenn ich jetzt sterbe würdest du sofort geil auf
mich werden?“
„Was genau an Rockstar hast du nicht verstanden?“ gab Hellen
zurück. Die innere Stimme kicherte. „Der war gut.“
Kevin fühlte sich, als hätte ihm jemand vor geworfen, als
Rockstar keine Bedeutung zu haben. He, moment mal! Kevin
schmollte. Hellen hörte ihm eine Weile beim Schweigen zu.
„Tut mir Leid, so hab ich das nicht gemeint.“ erklärte sie,
nachdem sie sicher gehen konnte, das seine Hormone wieder
etwas abgeflaut waren. „Ich habe nur noch einen auf der Liste
und dann ist Schluss damit.“
„Und wenn ein echt berühmter Rockstar stirbt? Heute oder so?“
„Kommt darauf an.“ sagte Hellen.
„Wie alt er ist?“ fragte Kevin, Hellen nickte grinsend und stieß
Kevin in die Seite.
Die heilige Dreifaltigkeit der menschlichen Seele besteht aus
dem Menschen, den man anderen zeigt, dem, der man glaubt zu
sein, und den, der man wirklich ist.
Nick saß inmitten von Schluchten aus Büchern über die Wäsche
drapiert war, in deren Tälern DVD und CD Hüllen grasten. Aus
den Boxen jaulten depressive Töne depressiver Liedermacher,
vor seinen Knien breitete sich ein Meer aus Zeichnungen aus,
die in den letzten Monaten entstanden waren.
Er hatte immer gedacht zu wissen, wie er sich anderen zeigte, er
war überzeugt, zu wissen wer er war. Er war der ruhige,
unauffällige Mensch, der eine gewissen Begabung für das
Zeichnen entwickelt hatte und einigermaßen
verantwortungsvoll einem Job nach ging. Kein großer Redner,
kein Gesellschaftstyp. Nick ließ seinen Blick durch den Raum
schweifen. Jemand, der ein gewisses Problem hatte, Ordnung
zu halten und zu schaffen – der sich in seinem Chaos aber gut
zurecht fand. Jemand, der niemanden hatte, der niemanden
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wollte.
Auf den Zeichnungen die sich wie ein Teppich der Erkenntnis
vor ihm ausbreiteten fanden sich ein paar duzend Portraits und
eine beachtliche Anzahl Körperstudien wieder. Mit Kohle und
Bleistift schraffierte Torsen in verschiedenen Bewegungen,
verschiedenen Lichteinfällen. Schöne Körper, detailliert, jeder
Muskel, jede Wölbung saß an der Richtigen Stelle – die
Proportionen beherrschte Nick aus dem kleinen Finger. Und
Sven, immer wieder Sven.
Ein Freund war er gewesen, der beste Freund. Ein Bruder fast.
Und in den Ohren war er Nick gelegen. Tag für Tag, Woche für
Woche, Monatelang oder Jahrelang. Einseitige Liebe. Sie war
hübsch. Zumindest hatte Sven das immer behauptet. Sie musste
der reine Engel gewesen sein. Nick hatte sie nie persönlich
kennen gelernt, aber durch die beständigen Schwärmereien
Svens hatte er den Eindruck, sie zu kennen. Tausend verpasste
Chancen, hundert Mal der Mut versagt. Sven hätte nicht so
unsicher sein müssen, fand Nick. Sag es ihr, gestehe es ihr, wie
könnte sie anders als geschmeichelt sein? Hatte Nick geraten.
Er mochte es nicht mehr hören, nicht mehr ertragen. Wenn
Sven den Schritt täte, dann wisse er zumindest woran er wäre.
Mehr, mehr als ihn abweisen werde sie wohl nicht können. Und
dann hatte Nick ihn gefunden.
Nick hielt den blonden, leblosen Schopf in seinem Arm. Er
strich immer wieder über Svens hohle Wange und ohrfeigte sie
dann. Sven würde gleich aufwachen. Sicher würde er gleich
aufwachen, er trieb nur einen dummen Scherz. Einen sehr
dummen Scherz. Doch Sven wachte nicht auf. „Verschwinde,
du scheiß Vogel.“ schrie Nick die Krähe an, die lästig auf die
Brust des Toten sprang, sich immer nur kurz scheuchen ließ.
Sie war lästiger als eine Fliege im Hochsommer, die von
Schweiß kosten möchte. Sie wetzte den Schnabel an Svens
Hemd, blickte Nick auffordernd an. Dieser hob sachte Svens
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Kopf an und entfernte das Seil, indem er es vorsichtig über den
Kopf schob. Als er den gefiederten Aasfresser wieder
scheuchen musste, bemerkte er ein Stück Papier in der
Brusttasche von Sven. Es war ein Abschiedsbrief. Sven hatte
kein Wort zu viel geschrieben. „Liebe ist Aussichtslos“. Sie
hatte ihn wohl nicht erhört. „Lieber ein Ende mit Schrecken, als
ein Schrecken ohne Ende.“ stand noch als reiner Zynismus
dabei. Nick fühlte sich hin und her gerissen zwischen Schmerz
und Hass. Mal wiegte er den Toten in seinen Armen – dann
wieder hatte er den Wunsch, ihn zu schlagen. „Wenn du nicht
tot wärst – dafür könnte ich dich umbringen.“ schrie er, flüsterte
er. Und dann fasste Nick den Entschluss. Er wolle nie lieben.
Nie wieder. Er schrie es hinaus, irgendeinem gelangweilten
Gott entgegen: „Ich schwöre hiermit, nie wieder zu lieben.“
Und dann küsste er den Toten. Ein erstes Mal. Ein letztes Mal.
Nick hatte alles verdrängt, doch seine Träume und seine Hände
erinnerten ihn immer wieder. Und Nick hatte die Träume
hinweg geschoben, die Zeichnungen vor sich versteckt. Er war
so beschäftigt gewesen damit, sich nicht zu erinnern, das er fast
vergessen hatte. Das er beinahe vergessen hatte, wie er für Sven
gefühlt hatte.
Nick stierte auf den Teppich der Erkenntnis, graue Zeichnungen
auf weißem Papier. Doch ja, er hatte Sven nicht vergessen, nie.
Aber er hatte die Liebe vergessen. Sie hatte nie existiert. Nicht
für andere, nicht für Sven, nicht einmal für Nick. Und doch war
sie da gewesen.
„Du hast WAS?!“ brüllte Amor, der sich als einen
verstandesorientierten – nun – zumindest verständnisvollen
Liebesboten hielt. Nun, zumindest dachte er, er wäre
verständnisvoll weil er Liebesbote war. Nun aber, da er Mana
gegenüberstand, deren wundervolle blattgrüne Augen in einem
Salzsee ertranken der in der Sekunde da er seiner Empörung
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Luft gemacht hatte überlief und glänzend nass über die blassen
Wangen floß, da musste er sich eingestehen, das er keine
Geduld für Kinder hatte. Deswegen bin ich auch kein Storch,
sagte er sich und seufzte genervt, deswegen, und weil ich kurze
dicke Beine habe.
„Sie kann nichts dafür.“ brummte es aus etwa zwei Metern
höhe und Amor hatte keinen Nerv, aufzublicken. Zumal seine
Augen sich in einer wirklich misslichen Höhe befanden, wenn
er vor Varis stand – und Varis diese verflixte Freikörperkultur
pflegte.
„Tut mir Leid.“ schluchzte Mana und rieb sich mit ihren
Kinderfäusten auf diese unbeholfene Art über die Wangen, wie
kleine Kinder das nun einmal tun.
„Tut mir leid, tut mir leid.“ äffte Amor sie in ihrem
weinerlichen Singsang nach. Das Mädchen brachte Menschen
dazu, sich Überdosen zu geben, sich an Stricke zu hängen, von
Dächern zu springen – nie und nimmer wollte er ihr abnehmen,
das sie gerade heulte wie ein echtes Kind und dabei echten
Schmerz empfand. Natürlich ahnte Amor das er gerade ein
klein wenig übertrieb, aber wer hatte das Melodram in Gang
gesetzt? Ihm konnte wirklich keiner etwas vor werfen.
„Bist du jetzt nicht ein wenig hart?“ spielte sich Varis als
Gewissen auf. Ausgerechnet. Amor stemmte seine Hände in
seine Hüften und brachte damit seinen kugelförmigen Bauch
hervorragend zur Geltung.
„Ah! Mister Sie-ist-nicht-mein-Typ weiß plötzlich, wie man
sich beherrscht. Mister sie-ist-nichtmal-irgendein-Typ ist der
Meinung man müsse sich ein bisschen zusammenreißen. Mister
iii-sie-ist-eine-Frau-deswegen-zier-ich-mich-scheißverdammte-dreizehn-jahre-und-verzichte-auf-den-vogel-derzeit meint er könne mir beibringen wie man sich zurück nimmt
um ein höheres Ziel zu verfolgen, ja?“ Amor war in Form. Ein
Storch hat größere Flügel. Er hat Schwingen. Verdammt,
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warum denk ich jetzt an den Storch, dachte Amor. Mana
schluchzte nun geräuschvoll. Varis stierte betreten auf seine
großen Zehen.
„Also gut!“ seufze Amor schließlich, ließ dabei seine Schultern
sinken wie ein Vater den man dazu überredet hatte, eine billige,
höchstwahrscheinlich sogar giftige Actionfigur aus Plastik zu
einem idiotisch überhöhten Preis zu kaufen „Seit wann ist er
weg?“
Mana hörte augenblicklich auf zu schluchzen sondern schaute –
nein, sie blickte wie ein zehnjähriges Mädchen dessen Vater
sich dazu entschlossen hatte die billige, höchstwahrscheinlich
sogar giftige Actionfigur aus Plastik zu einem idiotisch
überhöhten Preis zu kaufen. „Seit gestern.“ sagte sie, und
sniefte noch einmal, um zu demonstrieren, das ihr letzter
Heulkrampf noch nicht weit genug weg war, um nicht doch
noch rasch zurück zu kommen.
„Als wir auf dem Konzert waren.“ brummte Varis
schuldbewusst ohne eine Idee zu haben, worin hier nun seine
Schuld lag. Amor würde dies gewiss wissen.
„Hat er ... nun ... hat er vielleicht gesagt wo er hin geht?“ fragte
Amor und sprach das offensichtlichste an. Im Kontakt mit
Jenseitigen hatte er gelernt, das naheliegendes oft nicht ganz so
nahe lag wie man meinen mochte. Speziell wenn er an die
Sache mit dem Vogel der Zeit dachte.
„Nein!“ gab Mana so selbstverständlich von sich, als habe
Amor gefragt ob sie etwas mit Pontius Pilatus zu tun gehabt
hätte. (Amor hatte da seine Theorie).
„Hat er irgend etwas mit genommen?“ fragte Amor und rieb
sich am Kinn. Das sah geistreich aus.
„Nur das was fehlt.“ meinte Mana und hob zum besseren
Verständnis Nastyboys Leine hoch, die durchgebissen war und
so traurig am Handgelenk des rothaarigen Mädchens baumelte,
wie der gerissene Strick eines Selbstmörders.
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Es lag da wie die Versuchung höchstselbst. Klein, schwarz,
schmuddelig und rechteckig - Sascha hätte nie gedacht das so
etwas jemals in der Lage sein könnte, ihn herauszufordern. Und
doch. Wie es da auf dem gläsernen Tisch neben seiner Maus lag
- vielmehr lauerte - es wollte ihn. Sascha hatte es geschafft sich
bis jetzt zu zieren. Es geht mich nichts an, hatte er sich gesagt
und sich mit Warnungen über Vertrauensmißbrauch davor
bewahrt, hineinzusehen. Oh - in der Hand hatte er es oft gehabt,
und gelegentlich war es auch aus derselben gefallen um dabei
etwas ungeschickt aufzufallen und vom Inhalt preis zu geben.
Aber dabei war es köstlich schüchtern gewesen und er hatte
nichts erfahren. Sascha musste mit der Maus eine weitläufige
Bewegung machen und dabei berührte er das Notizbuch erneut.
Okay, es hatte es so gewollt. Die kurze Pause, ehe er schamlos
darin blätterte diente nicht mehr einer kleinen
Gewissenskontrolle. Seine Entscheidung war gefallen. Es war
eher ein innerer Reboot, um auch wirklich jede intime
Information aus den Aufzeichnungen von Nick zu erfassen,
derer er habhaft werden würde.
Und am Ende machte es ihn unglücklich. Keine Frage, Nick
hatte Talent und die Tatsache das er ebenso kreativ veranlagt
war wie er selber erfreute Sascha durchaus. Verstörend jedoch
empfand er das Motiv. Durchaus - die Neigung seines
Augensternchens bildete sich deutlich heraus. Nicht das Sascha
so eindimensional dachte und nur aus der Präferenz des Motivs
auf die Präferenz im Leben oder dem Bett schloss, doch so
detailiert, so hingebungsvoll und beharrlich für so ein
unbedeutendes Notizbüchlein - das war Leidenschaft.
Allerdings für einen bestimmten Mann der nicht Sascha war.
Und der für jede einzelne Zeichnung Modell gestanden hatte.
Ein hübscher junger Kerl, das erkannte Sascha neidvoll und
spürte sein Herz brechen. Nicht nur das Nick offenbar einer
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jener Menschen war, die sich verleugnen - denn warum sonst
hatte er Hellen und Kevin angelogen - hatte er wohl doch
jemanden. Und speiste Sascha auch noch mit einer so billigen
Geschichte ab, anstatt die Wahrheit zu sagen. So ein Feigling.
Verleugnet seine Neigung und seinen Partner gleich dazu. Das
war Sascha nur zu vertraut und er hatte sich geschworen, so
etwas nicht mehr mit zu machen. Und im Gegensatz zu dem
Schwur, nie wieder zu lieben, war das einer, den er tatschlich
umzusetzen gedachte. Das war er sich selbst schuldig. Er würde
Nick das Buch zurückbringen und sich dann daran machen, sich
zu entlieben.
Sie war jung. Sie war blass. Sie war stoned. Und der Vogel der
Zeit dachte nur Donnerwetter. Hellen konnte Mana nicht sehen,
die ihre Emo-Puppe unter ihren zarten Arm geklemmt hielt und
sich mit einem jungen künftigen und künftig toten Rockstar und
ihr einen Joint teilte. Sie saßen nebeneinander, den Rücken an
den aus Stein gemauerten Rundbogen einer Brücke gelehnt. Die
Beleuchtung der Straße über ihnen spiegelte sich im Flussbett
wieder, wo das Wasser eher tümpelte denn floss. Mana auf der
einen Seite, Hellen auf der anderen Seite, der blonde Junge in
der Mitte. Sie waren alle nicht alleine. Hellen hatte ihre innere
Stimme, der künftige Star hatte ein äußeres kleines Mädchen.
Und sie tauschten ihre Erfahrungen mit ihren Parasiten aus.
„Sie kommentiert nahezu alles.“ schilderte Hellen und blies
Rauch aus ihrer Nase.
„Sie hat diese gruselige Puppe.“ erklärte der junge Mann.
„Darfst du das denn überhaupt?“ fragte die innere Stimme.
„Kann dir egal sein, Scheißvieh.“ klirrte es aus Mana.
„Sie kann deine sehen.“ stellte Hellen fest.
„Sie kann deine nicht leiden.“ erklärte der künftige Star.
„Er kann dich sehen und hören?“ fragte die innere Stimme.
„Sie dich doch auch.“ gab Mana zurück.
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„Sie wissen das wir es wissen.“ meinte der Blonde.
„Wär ja noch schöner.“ gab Hellen zurück, verfolgte die
jugendliche Hand mit dem Joint der alsbald in der Luft
schwebte und sich mit einem Zug verkleinerte ehe er in die
Finger des künftigen Stars zurück manövrierte. „Du, äh, deine
kifft?“
„Deine nicht?“
„Gute Frage.“
„Solltest du nicht erst in zehn Jahren oder so kommen?“ fragte
der Vogel.
„Kiffst du?“ fragte Hellen.
„Siehst du doch.“ erklärte der künftig berühmte Leichnam erst
verwirrt – und gab dann ein verständnisvolles „ah“ von sich.
„Solltest du gar nicht kommen?“ gab Mana zurück.
„Touché.“ ächzte die innere Stimme. „Aber du kannst ihn nicht
jetzt holen – es ist zu früh. Der soll sich doch erst in zehn
Jahren erschießen, nicht heute Nacht.“
Hellen nahm einen Zug, hustete, ließ Schall und Rauch auf sich
wirken und wandte sich mit dem Ergebnis ihrer Erkenntnis an
den jungen vielleicht schneller toten Mann als gedacht.
„Sag mal, hat deine eine schwarze Kutte oder eine Sense oder
sowas dabei?“
„Nö, aber ein schwarzes Kommunionskleid und eine Puppe,
Wieso?“
„Nur so... warte.“ sagte Hellen, hob ihren Zeigefinger,
aufmerksam darauf bedacht, dem Gespräch der inneren Stimme
zu folgen.
„Er entscheidet wie und wann.“ gab Mana zurück.
„Es geht irgendwie um mich, oder?“ fragte der Blonde.
„Aber keine zehn Jahre! Der kann nicht zehn Jahre aushalten.“
meinte der Vogel.
„Ich hoffe doch, er muss doch noch ein Star werden.“ mischte
sich Hellen ein.
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„Star?“ fragte der blonde junge Mann.
„Ja.“ erklärte Hellen, schaute in die blauen, rot unterlaufenen
Augen des Blonden, packte ihn an den Schultern und sagte:
„Dein Leben wird beschissen sein. Du wirst dich fühlen wie
dreimal aufgefressen, verdaut und wieder ausgekotzt. Jede
Minute deines Lebens wird eine Qual sein und du wirst es
beenden wollen. Es wird einen Haufen beschissener Leute
geben die dir einen beschissenen Scheiß einreden wollen.“
„Ermutigend“ stellte der Junge fest.
„Du wirst dich selber hassen und du wirst diesen Hass
zelebrieren. Und du wirst keinem glauben der dir versucht,
einzureden das du dich irrst.“
„Ist das ein Befehl, oder die logische Konsequenz?“
„Hör zu. Das alles wirst Du durchhalten und ertragen denn Du
wirst einer der berühmtesten Rockstars des Jahrtausends
werden. Vor allem nachdem du dich ... Ich meine, lebe was du
leben kannst – aber mach aus der Scheiße Gold.“
„Aha.“ hob er ungläubig seine Augenbrauen.
„Du musst mir glauben. Ich komme aus der Zukunft und reise
durch die Zeit um to... um die berühmtesten Rockstars zu
vögeln. Nur deswegen bin ich heute und jetzt hier. Ums mit dir
zu treiben, weil du der Held einer ganzen Generation wirst.“
„Cool.“ sagte der siebzehnjährige mit glasigen Augen, der nur
die Sache mit dem Sex hier und jetzt wirklich begriffen hatte
und beschloss, sie nicht warten zu lassen bis sie es sich
vielleicht überlegte. Sie hatte das letzte Wort kaum
ausgesprochen, da klimperte sein Gürtel bereits auf Kniehöhe.
Er war bereit und gab sich einer sehr kurzen - für Hellens
Verhältnisse – und aufregenden – für seine Verhältnisse - Zeit
hin. Das Wasser plätscherte, das Licht der Laternen tanzte
darauf und unter der Brücke war sich ein zukünftig toter
Rockstar sicher, das er öfter mit Drogen Experimentieren sollte,
wenn die Visionen dadurch so – real - wurden. Und das auf
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diese ansprechende Art und Weise. Die Sache mit der Qual und
dem Leid und all dem Zeug war weiter von ihm entfernt als
jemals in seinem Leben und würde noch früh genug akut
werden.
„Der hält zehn Jahre durch, nachdem er dich gesehen hat?“
fragte der Vogel Mana ungläubig. Mana nickte.
„Danke auch.“ gab Hellen, den süffisanten Stil ihrer inneren
Stimme gewöhnt, zurück.
„Gern geschehen.“ grinste der junge Casanova – oder
zumindest jener der Anwesenden, der glaubte, das zu sein. Das
er erst in Zukunft das darstellen würde was Hellen eigentlich
erlegen hätte wollen, konnte er nicht ahnen. Und Hellen bekam
eine Art – nun – unliebsame Auffrischung von Erlebnissen ihrer
Jugend mit Jungen ihres damaligen Alters - nur das sie heute
wusste dass das – nun – nicht ganz das war, wovon alle immer
sprachen wenn sie von Sex redeten.
„Dich meinte ich nicht.“ sagte Hellen abwertender als sie
beabsichtigt hatte, und zupfte ihr Raubvogelnest zurecht.
„Ach ja, die Stimme.“ erinnerte sich der Blonde
verständnisvoll, knöpfte seine Hosen zu und fragte sich, ob es
als Dreier galt wenn man mit Frau Sex hatte, die Stimmen hört.
„Ist es eine weibliche Stimme?“ es schien ihm jetzt irgendwie
wichtig zu erfahren.
„Nein.“ erklärte Hellen und der blonde Jüngling bekam die
erste Vorstellung des Schmerzes den er noch ausgiebig würde
fühlen müssen. „Eher ein Tier, soviel ich weiß.“
„Oh.“ klang er etwas verstört und fragte sich, ob er eventuell
Rockballaden über Unzucht mit sprechenden Tieren schreiben
würde. Zumindest aber schien die Vorstellung, sich selber zu
hassen gar nicht mehr so absurd.
„Ich werde dann mal wieder.“ erklärte Hellen in der typischen
postkoitalen Stimmung eines Ereignisses, das nicht ganz das
versprochen hatte, das sie erwartet hatte. Zwar hatte sie sich
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diesmal auch mehr wie eine Krankenschwester denn ein
Groupie gefühlt – aber gemessen an den anderen besuchen bei
ihm war sie immerhin so etwas wie erfolgreich gewesen.
Sozusagen. Daher wollte sie ihm noch etwas auf den Weg
geben, ehe sie ihr Abenteuer „Rockstar sammeln“
glücklicherweise für immer beendete.
„Zuck aus.“ flüsterte sie also „Es sind doch nur
Musikinstrumente.“ und verschwand im Nirwana.
Kevin verströmte das Aroma verhaltener Aufregung. Dabei
funktionierte die Sache mit dem verhalten nicht so ganz. Sein
ovaler Schädel war irgendwie überall gleichzeitig und die
Schuhbandhaare zitterten beinahe vor Nervosität und vergaßen
ihre taoistische Angewohnheit des gelassenen Baumelns. Nick
wusste, dass es keiner großen Erkenntnis bedurfte, diese
Feststellung zu machen: Kevin war unbrauchbar. Kevin würde
Muskelzerrungen im Rücken bekommen, so oft wie er eine
Korrektur des Bestimmungsortes diverser Gegenstände
vornehmen musste und sein Hinterteil war öfter am obersten
Punkt seines Körpers als sein Kopf. Auf Nachfragen reagierte
Kevin höflich bedeckt, dabei äußerst frenetisch, und je näher
der Nachmittag rückte, je näher der Zeiger der Uhr auf zwei
nach Mittag zu zuckelte, umso gefährlicher wurde ein
Aufenthalt in Kevins Reichweite. Abgesehen davon war es ein
ruhiger Arbeitstag. Fast etwas zu ruhig. Und diese Kombination
von verdächtiger Stille und angespannten Kevin verursachte
Nick ein flaues Gefühl. Etwas stimmte nicht.
Schließlich - fünf Minuten vor zwei – betrat eine dunkle Elfe
das Lokal. Ein Raubvogelnest auf ihrem Kopf, ein Strahlen in
ihrem bleichen herzförmigen Gesicht und gekleidet wie eine
Vampirfrau. Kevin sprang fast einen halben Meter senkrecht in
die Höhe, ähnlich wie Krieger dieses afrikanischen Stammes,
und schwebte dann auf Hellen zu, als hätte er Raketenstiefel an.
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Nick grinste in sich hinein. Ach, das hätte er sich doch denken
können. Die zwei steckten ihre Köpfe zusammen wie kleine
Jungen die aufgeregt ihre neuen Might and Magic Karten
austauschten und kicherten dabei verschwörerisch. Nick kam
sich so erwachsen vor, neben den Beiden, dass er geradezu
väterliche Gefühle entwickelte als er sagte:
„Kevin, du kannst für heute Schluß machen.“ Um ihn nach
hause zu schicken. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn Kevin
vor Freude explodiert wäre wie ein überstrapazierter Luftballon,
oder wenn er aus dem Nichts eine Gitarre gezogen und darauf
(und ohne Strom) ein Solo herunter gebrettert hätte. Ja, es hätte
ihn noch nicht einmal überrascht, wenn Kevin sich spontan in
Terminator verwandelt hätte und mit einer ordentlichen Salve
Schutt und Asche aus dem Laden gemacht hätte. Es überraschte
ihn jedoch zutiefst dieser verzweifelte, geradezu flehentliche
Gesichtsausdruck – fast so als wäre Nick über einen flauschigen
Babyhasen gefahren.
„Das kannst du nicht machen Nick. Nein. Sowas kannst du mit
mir einfach nicht machen.“ Raunte er.
„Aber was ist denn? Ich hab doch nicht... ich dachte...“
„Wann ist es denn soweit?“ fragte Hellen neugierig als stünde
sie vor einem Babybauch.
„Was meinst du mit soweit?“ wollte Nick wissen.
„Nichts.“ Sagte Kevin und warf Hellen einen Blick zu der alles
bedeuten konnte – und nichts.
„Was hast du vor, Kevin?“
„Es war nur so eine Idee.“ Meinte er und unter seinen fehlenden
Augenbrauen stach ein beunruhigendes Funkeln hervor.
„Kevin.“ Mahnte Nick. Kevin blickte begeistert zur Uhr und
regelrecht hysterisch begann er durch das Lokal zu springen
und Kopierer aufzuwecken.
„Es geht gleich los! Mach die Kopierer bereit, Mann!“ Hellen
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gab sich amüsiert.
„Was geht los?“ wollte Nick wissen und ließ sich von einer
leichten Panik anstecken. Kevin wirkte wie ein fanatischer
Professor vor der Entdeckung eines Heilmittels gegen die Zeit,
rieb sich die Hände, blickte zur Uhr, kontrollierte noch mal ob
alle Kopierer bereit wären und stellte sich – mit Blick auf den
Eingang - auf. Wie ein eingefrorener Dirigent blieb er dann
stehen und zählte leise die Sekunden. Hellen grinste. Nick
befürchtete. Der Zeiger ratterte respektlos über die
Stundenanzeige hinweg in die nächste Runde. Kevin blieb
stehen wie eine Statue. Er zählte nicht mehr hörbar mit. Nick
versuchte Ruhe zu bewahren. Der Zeiger beendete die erste
Umrundung und zappelte hastig in die zweite Minute nach
zwei. Ein bisschen der besessenen Aura fiel von Kevin ab, seine
Dirigentenarme sanken etwas. Er kämpfte verbissen gegen eine
Enttäuschung an. Hellen – oder besser – die im Umgang mit
Rockstars geübte Krankenschwester in ihr – machte einen
Schritt auf Kevin zu.
„Kevin?“
„Psssst!“
Nick und Hellen wechselten einen intensiven Blick. Da öffnete
sich die Eingangstüre und ein Terriermischling schleifte
röchelnd Sascha herein. Aufstieg und Fall in zwei Sekunden –
dies war es, was sich in Kevins Gesicht abzeichnete. Buster
rammte seine Nase in der Reihenfolge gegen Hellens, Kevins
uns Nicks Knie um sich dann wieder um Hellen zu kümmern,
die ihn ausgiebig hinter seinem Ohr kraulte.
„Ja was machst du denn hier?“ fragte Hellen den Hund, welcher
aber nur mit Schwanzwedeln antwortete. Nick hingegen
musterte Kevin relativ verwirrt. Das wars? Die ganze
Aufregung wegen dem Homepagemann? Sascha hingegen war
etwas überrascht, Hellen anzutreffen. Diese wiederum konnte
sich ein derbes Grinsen nicht verkneifen.
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„Ja klar, zumindest einer musste es ja gesehen haben.“ Meinte
sie und rammte Kevin in die Seite.
„Einer ... ja toll.“ Sagte dieser bloß traurig, streckte Sascha die
flache Hand entgegen. „Gib schon her.“
Nick fühlte sich wie bei einem Theaterstück dem er inhaltlich
nicht folgen konnte. Sascha blinzelte ihn an und rückte dann
zögerlich das Notizbuch heraus und legte es auf Kevins flache
Hand. Jetzt wussten sie alle, dass etwas nicht stimmte.
„Das ist meins.“ War Nick am schnellsten und nahm Kevin das
Notizbuch aus der Hand. Er bedachte Sascha mit einem kurzen
aber intensiven Blick, hielt kurz inne als wolle er in das Buch
schauen aber entschied sich anders und stopfte es in seine
hintere Hosentasche. Hellen grinste breit.
„Die Seite drei einer Tageszeitung!“ pöbelte Kevin Sascha an.
„Aber es ist auch schon egal.“
„Ich wollte nur das Notizbuch zurückbringen.“ Erklärte Sascha
Kevin, und Nick in sehr abweisendem Tonfall: „Du hast es im
Lokal verloren.“
„Du bist nicht wegen dem Flashmob hier?“ fragte Hellen.
„Flashmob?“ fragten Sascha und Nick zeitgleich und sahen
einander an.
„Flashmob.“ Erklärte Kevin. Nick biss sich auf die Lippe, er
wollte etwas sagen, aber er wusste, dass Kevin das schon für
sich selbst erledigen würde.
„Heute um vierzehn Uhr sollten hunderte Kunden das Lokal
stürmen und je eine Kopie der Seite drei ihrer Tageszeitung
kopieren.“
„Hunderte Kunden.“ Wiederholte Sascha.
„Stürmen.“ Sagte Nick.
„Ja genau!“ jauchzte Kevin begeistert, und in Anlehnung daran
das gerade kein Kunde da war, ließ er die Schultern hängen,
und seinen Kopf auch gleich. Hellen beobachtete Sascha und
Nick.
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„Alles klar mit euch?“ fragte sie schließlich provokativ.
„Ja klar ... wieso nicht?“
„Sicher.“ Dann blickten sie sich rasch gegenseitig irgendwohin
auf den Oberkörper und wieder zu Hellen.
„Eigentlich nicht.“ Sagte Kevin depressiv.
„Wo hast du ihn denn angekündigt?“ fragte ihn Sascha.
„Auf der Homepage.“ Erklärte Kevin „Eigentlich müsstest es
zumindest du gesehen haben. Immerhin bearbeitest du die Seite
doch, oder?“ und dann riss er die Augen auf, stürmte zum
Rechner und rief dabei „Oder hast du etwa stillschweigend die
Seiten ausgetauscht?“
„Hab ich nicht.“ wies Sascha von sich und folgte Kevin um sich
den entsetzlichen Anblick der Einladung zu einem Flashmob
anzutun. Sascha war nicht überrascht das es nicht funktioniert
hatte und während er Kevin ein klein wenig über die
Herangehensweise und Prinzipien von Flashmobs aufklärte, trat
Hellen an Nick heran.
„Und?“ fragte sie.
„Und was?“
„Wie findest du ihn?“
„Etwas unbeholfen vielleicht, aber er ist ein ganz netter Kerl,
wenn man ihn erstmal näher kennt.“
„Findest du?“ grinste Hellen.
„Ja.“ Nick schielte zu Hellen. „Ihr mögt euch, hm?“
„Obwohl wir Geschwister sind.“ Nickte sie.
„Geschwister??? Kevin hat eine Schwester?“
„Oh ... ich ... nein ich sprach von Sascha.“
„Oh.“
„Was meinst du?“ fragte Hellen nach einer kurzen Pause „Ihr
wart doch gemeinsam aus, oder nicht?“
„Nein. Das heißt: ja. Was trinken.“
„Und?“ sie ließ nicht locker und stieß Nick sogar mit ihrem
Ellenbogen.
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„Und was?“
„Wie findest du ihn?“
Nick wusste nicht was Hellen wollte. Sie tat doch geradezu als
hätte sie Sascha aus Ton geformt und wolle wissen ob er
gelungen war. Zudem – was hatte es für eine Bedeutung was er
von ihm hielt? Er machte die Homepage – und die war Nick
eigentlich relativ egal. Wenn Sascha Hellens Bruder war,
musste sich doch allenfalls Kevin mit ihm herumschlagen, nicht
er.
„Okay.“ meinte Nick daher, und weil das so abwertend klang
fügte er ein „Ganz nett.“ hinzu.
„Ganz nett also. So so.“ neckte Hellen.
„Das solltest du dir ansehen, Nick.“ rief Kevin und deutete auf
den Bildschirm. „Die Vorab Ansicht der Homepage. Der Mann
hier hat was auf dem Kasten.“
„Das ist wirklich nur mal die grobe Struktur und ein erster
Design Vorschlag.“ erklärte Sascha und machte Nick Platz.
Auch wenn Sascha beschlossen hatte, das ihm Nick künftig egal
wäre, so brachte ihn die körperliche Nähe doch aus dem
Konzept. Er machte noch einen Schritt auf die Seite und
beinahe im maximal möglichen Bogen um ihn herum flüchtete
er regelrecht zu seiner Schwester.
„Was ist los?“ flüsterte sie verwundert und sah Nick und Kevin
zu wie sie durch die Seiten klickten die Sascha vorgeschlagen
hatte.
„Wieso?“
„Du schmeißt dich ja nicht gerade ran.“ Hellen schaute Sascha
in die Augen. „Du hast doch was!“
„Lass mich in Ruhe.“ zischte Sascha und nickte freundlich zu
seinen Auftraggebern. Hellen riss ihre Augen und ihren Mund
zugleich auf als fiele ihr ein das ihre Küche daheim in Flammen
stand.
„Oh nein! Er hat das Notizbuch nicht in einem Lokal verloren.
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Er war bei dir!“
„Wie kommst du auf den Unsinn! Nein!“ sagte Sascha
unterdrückt „Und nun hör bitte auf damit. Da ist nichts und da
wird nie was sein!“
„Oh.“ meinte Hellen „Diese Phase also.“
„Was heißt ...“
„Nick, hast du morgen Abend schon was vor?“ rief Hellen und
ignorierte, das Sascha versuchte, ihr den Ellenbogen zu
brechen. Sie grub ihre andere Hand in ihre Raubvogelnestfrisur
und lächelte liebenswürdig.
„Ich, äh ... nein!“ sagte Nick und bereute es im selben
Augenblick. Spätestens jedoch nach Hellens Einladung die er
ebenso direkt an nahm ohne überhaupt zu wissen wofür sie war.
„Gut.“ trällerte sie vergnügt trabte zu Kevin, zwinkerte ihrem
Bruder zu und sagte zu Nick „Sascha wird dich ab holen.“ und
indem sie sich an Kevin drückte „Und du, mein Lieber, sorgst
dafür das er auch sicher mitkommt.“
„Ich nehm das Angebot an, sofort Schluß zu machen.“ sagte
Kevin rasch zu Nick und legte seine dünnen Arme um Hellens
Schultern.
„Ich hasse dich.“ summte Sascha seiner Schwester nach, als sie
mit Kevin das Geschäft verließ, und blickte dann ebenso
unbeteiligt durch den Raum wie Buster.
„Gefällt mir.“ sagte Nick schließlich und riss Sascha aus seinen
verzweifelten Gedanken.
„Was?“
„Die Entwürfe. Nett.“
„Oh. Ja. Danke. Nett.“ antwortete Sascha zynisch. Doch dann
verlor er sich irgendwie in dem scheuen Lächeln und Nicks
intensiven Augen und beinahe vergaß er seinen Groll.
„Und danke.“ sagte Nick und sein ohnehin lächelnder Mund
begann nun richtig zu Lächeln, sodass Sascha alle Dämonen die
ihm geläufig waren anbeten musste, jetzt nicht ohnmächtig zu
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werden.
„Wofür?“ piepste er, räusperte sich und wiederholte die Frage
sonor. Nick holte das Notizbuch aus seiner Hosentasche und
schwenkte es zur Erklärung.
„Achso ... ja. Es muss dir raus gefallen sein als du ... eilig weg
musstest.“ erklärte Sascha, kratzte sich am Kopf und trat von
einem Bein aufs andere.
„Ja.“ meinte Nick, drehte das schwarze Buch in seinen Händen
und sie stierten beide darauf.
„Also dann, ähm, bis morgen.“
„Was ist das überhaupt für eine Sache? Wofür die Einladung?“
„Geburtstag. Meine Schwester hat Geburtstag.“
„Deine Schwester? Ach ja. Sie ist deine Schwester.“
„Von Geburt an.“ meinte Sascha und Buster kommentierte es
mit einem „Wau.“
Im Nachhinein gesehen war es keine gute Idee gewesen, sich
ausgerechnet mit Greueltaten der Vergangenheit den Mut für
die Gegenwart zuzusprechen. Varis hatte seinen Kopf voll mit
halb- oder ganz Toten, mit mehr oder weniger verstümmelten
Leichen oder Lebenden und sein Gemüt begann diese sinnlose
Schuld darüber zu entwickeln was rein Gottes Wille war. Und
das alles nur, um sich klar zu machen, das er schon weit
schlimmeres getan hatte, als mit einer Frau Sex zu haben. So
stand er dann auch, nackt und schuldbeladen vor Hellen und der
Splatterfilm seines Lebens zog an ihm vorüber.
„Er hat mich noch nicht einmal angerührt.“ sollte Hellen später
verzweifelt vorwurfsvoll einem völlig resignierten Amor
entgegen schmettern. Sie hatte die Nase voll vom Vogel der
Zeit, der – abgesehen vom Zeitreisen – ein wenig angenehmer
Parasit war. Zudem hatte er die ganze Sache auf die er seit
Jahren hin arbeitete nicht gerade erleichtert. „Ist es sehr schwer,
nicht so plump dazustehen?“... „Wäre es zu viel verlangt
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gewesen, sich etwas attraktiver zu kleiden?“... „Das soll lasziv
sein? Kein Wunder das er Panik bekommt.“ Für Hellen war es,
als hätte sie ihre Eltern eingeladen, beim Sex mit Varis mit
guten Ratschlägen zur Seite zu stehen. Mit dem Ergebnis, das
es nicht zum Sex kam. Amor betrat den Schauplatz, als er ein
Geräusch vernahm, wie man es in der Vorbereitungsphase zu
einem Konzert einer Teenierockband vernehmen konnte – wenn
eine Horde präpubertärer Mädchen die entschlossen war alles
für ihr Idol zu tun, kollektiv beschlossen hatte, seine
Stimmbänder zu opfern. Das dies der Höhepunkt der Extase
dieser Vampierfrau war, war so etwas wie ein Wunschdenken,
das bereits im Keim erstickt wurde, einfach dadurch, das Amor
Realist war. Er war Amor, Sachdiener in Liebesdingen – er war
nüchtern genug um zu wissen, was auch immer für Emotionen
in der Begegnung zwischen Varis und Hellen aufkeimen
würden – sie würden nicht zur Lösung all seiner Probleme
führen.
Hellen stand also da, ihre Hände an die Ohren gepresst – von
Amors Position aus wirkte es, als stöbere Hellen in einem
Raqubvogelnest über ihrem Kopf – und kreischte dabei
dreizehnjährige Wut in die Welt – und dabei tanzten ihre Beine
als wollte sie ein Feuer austreten.
„Ich habe nichts gemacht.“ bestand Varis und blickte betreten
auf seine nackten Zehen. Das wars. Bis zu diesem Moment
hatte er sich zumindest Theoretisch dazu überwinden können,
diese Frau zu nehmen, ihr Veitstanz aber verhinderte eine
Paarung auf alle Zeit. Dieses Bild, dieses Gekreische – es
würde noch Jahrhunderte Später durch Mark und Bein dringen,
sobald er eine Frau sah. Für Varis war die Sache damit
gegessen. Jetzt galt es, diese Erkenntnis mitzuteilen.
Irgendwo aus einem Schatten war ein genüssliches Schlürfen zu
vernehmen.
„Nastyboy!?“ rief Mana. Seit sich ihr dämonischer
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Spielgefährte von der Leine genagt hatte, war sie abgelenkt von
den wirklich wichtigen Dingen des Lebens. Es ging soweit, das
sie einige göttliche Aufträge anstehen ließ und weit mehr
Menschen ein zufriedenes Leben führten als Gott geplant hatte.
Ihr Glück, das ihre Kollegen eine so hinreißende Komödie aufs
Parkett der Welt legten, das machte Gott nachsichtig.
„Du solltest aber was machen!“ mahnte Amor. In den Schatten
um sie herum kicherte es.
„Ich... kann nicht!“ brummte Varis tiefe Baßstimme „Ich
wollte... wirklich... ich hatte die Absicht... aber...“ er scharrte
mit den Füßen am Boden, das blauschwarze Haar floss über
seine gewaltigen Schultern und meinte dann: „Sie ist zu... zu...“
„Zu was?!“ brüllte Amor, der zwischen dem monströsen
nackten Varis und der zierlichen aber äußerst anziehenden
Hellen hin und her blickte. Sie hatte ihre Vorzüge ins rechte
Licht gerückt, ihr Busen präsentierte sich geradezu auf dem
Silbertablett, ihre Kurven waren atemberaubend, sie hatte
Anmut, Liebreiz, wirkte verwegen und zu allem bereit. Amor
fühlte, das auch er gerade zu allem bereit wurde.
„Weiblich.“ sagte Varis.
Dagegen konnte Amor allerdings nichts sagen. Und darauf fiel
ihm auch nichts ein. Sein Blutkreislauf war gerade in andere
Regionen abgewandert und so musste das Gehrin mit halber
Kapazität fahren, wodurch er Schlagfertigkeit einbüßte.
„Heißt das, ich muss diesen Scheiß Vogel für den Rest meines
Lebens mit mir herumtragen?“ kreischte Hellen.
„Na na na.“ meinte der Vogel der Zeit und Hellen schlug gegen
ihren Kopf.
„Das tut mir nicht weh.“ erklärte die innere Stimme. Hellen
ballte die Fäuste und ließ einen weiteren – aber unterdrückten
Schrei raus, ja, so einen von der Sorte Magengeschwür.
Aus den dunklen Schatten ertönte ein Schmatzen. Mana schlich
um sie herum. Vergeblich.
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„Das Problem ist, das es ein Pakt ist.“ erklärte Amor
„Zugegeben, der dämlichste und sinnloseste Pakt aller Zeiten,
aber ein Pakt. Wird er nicht erfüllt... sind wir alle am Arsch.“
und damit wanderte sein Blick streng über Varis Muskelberge.
Jener Körperteil, der ihn bis jetzt immer etwas irritiert hatte,
hatte sich echt gut verkrochen, und das nahm Amor die
Hoffnung. Und dem Vogel der Zeit. Und Hellen.
„Gibt es nichts was ich tun kann?“ fragte Hellen schließlich
„Kann man nicht... ich weiß nicht... diesen Pakt übertragen? An
jemanden der, hmmm, männlicher ist als ich?“
„Nicht das ich wüsste.“ schüttelte Amor den Kopf. Varis senkte
sein Haupt ein weiteres Mal, sein Haar verdeckte nun fast
vollständig sein Gesicht.
„Selben Blutes, selbes Blut.“ summte Mana und stöberte in den
Schatten herum, wo sich wieder ein gefräßiges schlürfen
vernehmen ließ. Alle Blicke wandten sich dem kleinen
makaberen Mädchen zu, dessen rotes Haar über die schwarze
Kommunionskleidung floss.
„Hey... das ist doch... ist das nicht?“ fragte Hellen, die sich an
die Nacht unter der Brücke erinnerte. „Bist du nicht die
Paranoia von diesem toten Rockstar? Du bist doch viel zu jung
um zu kiffen!“
„Meine Rede.“ kommentierte der Vogel der Zeit.
„Selben Blutes, selbes Blut.“ sang Mana unbeirrt weiter als
gingen sie die Anderen gar nichts an.
„Das wär toll, wenn dein Bruder den Pakt an deiner statt lösen
könnte.“ murmelte Amor vor sich hin. Varis grinste daraufhin
dämlich.
„Sascha?“ fragte Hellen.
„Selben Blutes, selbes Blut.“ trällerte Mana.
„Mein Bruder... selben Blutes.“ sagte Hellen.
„Selbes Blut...“ murmelte Amor. „Selbes Blut. Das wärs... das
wäre die Lösung!“
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„Das heißt, wenn mein Bruder an meiner Stelle den Pakt erfüllt,
dann werde ich den Vogel los?“
„Nicht ganz, blöde Zicke.“ erklärte Mana im singenden Ton
„Dein Vogel müsste in deinen Bruder schlüpfen.“
„Und wie soll das gehen?“ fragte Hellen.
„Blut.“ erklärte der Vogel anstelle Manas „Ich könnte über das
Blut zu deinem Bruder gelangen.“
„Und... äh... wer erklärt ihm das alles?“ fragte Hellen. Varis
grinste bloß und Amor zuckte mit den Schultern.
„Na toll.“
Als Nick die Türe seiner Wohnung öffnete und Sascha vor ihm
stand, geschah etwas seltsames mit ihm. Sein gesamter Körper
sendete ihm Signale, die „Flucht“ bedeuteten. Das Herz begann
schon mal heftig zu pumpen, in den Beinen wurde Milchsäure
frei und er japste nach Luft, und seine Hand schlug die Türe vor
Saschas Nase wieder zu.
Natürlich hatte er nicht vergessen das er heute Abend auf diese
Geburtstagsfeier von Kevins Freundin sollte – Kevin hatte den
ganzen Tag von nichts anderem geredet. Es war aber ein
erheblicher unterschied, wenn etwas in Aussicht stand, oder vor
einem stand. In diesem Fall Jemand. Jemand, dessen Existenz
in seinem eigenen Leben gewisse Fragen aufwarf, denen er sich
nicht stellen wollte. Noch immer nicht. Das alles aber hatte
nichts damit zu tun, das sein Körper gerade eine Art
Fehlzündung initiierte. Das kam unerwartet. Und das Nick die
Türe zugeschlagen hatte war ihm jetzt ein bisschen peinlich. So
peinlich, das er überlegte, die Türe nicht wieder zu öffnen um
darauf zu hoffen, das der Homepagemann das gar nicht
mitbekommen hatte. Im selben Augenblick aber entwickelte er
den Verdacht, das die Dinge so nicht funktionieren. Beherzt
also öffnete er die Türe erneut, trat in den Gang hinaus, darauf
bedacht das Sascha nicht in die etwas von Dingen überforderte
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Wohnung blicken konnte und schloss ab. Dabei sagte er zu
seiner eigenen Demütigung:
„Sorry, der Luftzug.“
Sascha bewertete die Situation auf seine weise – und die
lautete: Er will nicht das ich seinen Freund sehe. Und auch
wenn ihn das schmerzte, glitt sein Blick über Nicks Körper und
registrierte, das das Ausgehoutfit sich nicht vom Arbeitsoutfit
unterschied.
Als sie das Stiegenhaus hinab schritten und Sascha den Spruch
an der Wand las:
„Die Hände nach dir ausgestreckt, greifen sie in Glaspaläste
um sich blutig zu schneiden. Du – Elfenkönig – regierst, ohne
mein Blut zu sehen. -Sven“
War er vollends überzeugt, das Sven alles andere als tot war –
und vermutlich gerade eifersüchtig in Nicks Wohnung saß.
Andererseits aber zu wissen, dass dennoch er es war, mit dem
Nick nun einen Abend verbrachte, stimmte ihn versöhnlich. Er
dachte nicht mit der Erfahrung und seiner daraus erworbenen
Moral. Wie auch. Nicks verschmitztes Lächeln machte ihn fast
wahnsinnig. Und das er ihn in seinem kleinen luciferroten
Peugeot durch die Stadt kutschierte, also weniger das er ihn
manövrierte sondern das Nick tatsächlich in seinem Auto saß –
neben ihm, machte Sascha fast fahruntüchtig.
„Wir atmen dieselbe Luft.“ sagte er, und war im selben Moment
überzeugt das er etwas weitaus weniger seltsames hätte sagen
wollen. Es war ihm aber entfallen was das gewesen sein könnte.
Bei allen Dämonen die mir geläufig sind, halt die Klappe wenn
du nichts besseres zu sagen hast, scholt er sich selber.
Nick hatte bei einer Geburtstagsfeier für Hellen an einen Event
in Form einer spektakulären Beerdigung mit ein paar hundert
Leuten und mindestens einem echten oder unechten Alice
Cooper und mindestens sechshundertsechsundsechzig echte
oder unechte Spinnen mitsamt Spinnweben gedacht. Was ihn
118
jedoch erwartete war das pausbäckige Gesicht einer älteren
Dame im Alter seiner Mutter, die entzückt ihre Hände
zusammen schlug als sie Nick sah. Nick hatte diese Frau gewiss
noch nie in seinem Leben gesehen, dennoch fand er sich an
ihren weichen Körper gepresst wieder, wo er gewogen wurde
und in sein Ohr ein:
„Ich freu mich so, ich freu mich so.“ gesummt bekam. Er hatte
sich noch nicht erholt davon, da wurde seine Hand von einem
großen bärtigen Mann Marke Braunbär zerquetscht, der ihm ein
wohlgesonnenes:
„Sehr erfreut, sehr erfreut.“ entgegenbrummte. Irgendwo hinter
sich registrierte er, das auch Sascha überschwänglich begrüßt
wurde, aber Nick war wie benommen, als sein Blick über eine
Wohnung im Dunkles Holz und Stofftapete im gutbürgerlichen
Landhausstil einerseits, und einer bunten Truppe verschieden
großer und runder Menschen andererseits glitt, die ihn
überschwänglich anlächelten als wäre er der Dalai Lama.
Irgend etwas war hier falsch gelaufen und der gewisse
Fluchtreflex kribbelte ihm erneut über das Gemüt. Noch
während er überlegte, ob er diesem Reflex nachgeben sollte,
erschienen Hellen und Kevin wie aus dem Nichts – und stellten
eine gewisse Normalität im Abnormen dar. Okay, ganz falsch
konnte Nick also nicht sein.
Es dauerte ganze zwei Stunden, ehe Nick einigermaßen
verarbeitet hatte, wo er sich befand, und wer die Leute waren.
In dieser Orientierungsphase wurden ihm von der pausbäckigen
Frau, die sich als Hellens Mutter entpuppte, Speisen aller Art
aufgedrängt, die er wie benommen in sich hineinzwängte,
obwohl er alles, nicht jedoch Appetit hatte. Alle schnatterten
durcheinander, lachten laut und boten das krasseste
Kontrastprogramm das zu Nicks Erwartungen von diesem
Abend möglich war. Kevin schwamm in dieser drollig bunten
Masse mit als wäre er mit ihr Verschmolzen, Hellen sog
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unablässig an einer Zigarette und stierte zu Sascha, als plane
sie, ihm ein Skalpell an eine hervortretende Ader zu setzen.
Und von Sascha bekam Nick nur mit, das er neben ihm saß,
damit war das Fassungsvermögen für neue Informationen
überfüllt und Nick ließ alles über sich rieseln wie einen
Wolkenbruch im Herbst. Es war erträglich, aber würde
hoffentlich bald vorbei gehen. Und als er gerade so begann, sich
zu arrangieren, wohlfühlen wäre zu viel gesagt, stellte ihm eine
der bunten rundlichen Frauen, die vermutlich eine der Tanten
war, eine Frage. Nick realisierte das zu spät, um sie aus dem
Stimmengewirr heraus zu filtern.
„Was?“ fragte er, und weil dies das erste Mal an diesem Abend
war, das er ein Wort sagte, wurde die gesamte Runde auf ihn
aufmerksam.
„Ich habe gefragt, wie lange ihr schon ein Paar seid.“ tönte die
schrille Stimme ihm Gegenüber. Es war so still. Alle Blicke
ruhten auf Nick. Und Nick begriff zunächst nicht. Sein
Verstand machte Umwege, fragte ihn warum man glaubte er
wäre mit Hellen zusammen, es wäre doch sonnenklar das sie
mit Kevin liiert war, revidierte seine eigene Frage und stellte
ihn ins Niemandsland zurück.
„Was?“ fragte er daher nur und hoffte, das wäre Antwort genug.
Jetzt sehnte er den Lärm und das Gelächter der guten
Unterhaltung der anderen untreinander herbei, er wollte nicht
Mittelpunkt sein. Und auf keinen Fall wollte er, das man die
Frage präzisierte.
„Na du und Sascha, seit wann seit ihr zusammen? Ihr seid ein
so schönes Paar.“
Da war es wieder. Das Signal zur Flucht. Nick hörte nur
Rauschen und er fühlte, wie seine Haut im Gesicht verbrannte.
Von allen Dingen dieser Welt, die er sich nicht eingestand, war
dies eine, mit der er am allerwenigsten Umgehen konnte. Noch
dazu vor Fremden. Nick konnte nichts sagen, er spürte ein
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Würgen in seiner Kehle. Sich jetzt übergeben wäre ein wirklich
unpassender Moment, auch wenn es vielleicht das Gespräch in
eine andere Richtung gelenkt hätte. Sascha reagierte.
„Wir sind kein Paar.“ sagte er rasch. Er bemerkte, wie Nick
immer blasser wurde und die Familienmitglieder begannen
einander zu bestätigen, das sie das alle fälschlicherweise
angenommen hatten weil Nick ja mit Sascha gekommen sei,
und sie doch so gut zueinander passen würden. Und hatte
Hellen nicht gesagt...? Und klar gäbe es auch unter Schwulen
platonische Freundschaften, und was nicht ist könne noch
werden. Nicht wahr? Ha Ha. Nick spürte seinen Körper nicht
mehr, hörte nicht welche Bemerkung von wem an ihn
herangetragen wurde, er begann seinen Kopf zu schütteln.
„Nein, nein.“ stammelte er, „ich bin nicht...“ erhob sich von
seinem Sessel, da seine Beine endlich das taten, was sie schon
längst hätten tun sollen, und floh zur Eingangstüre. Sie ließ sich
nicht öffnen, in seiner Panik hatte er versucht sie nach außen zu
drücken, und rüttelte daran, ehe er auf die Idee kam, sie zu sich
zu ziehen.
Sascha erlebte eine Art Dejavue. Nick reagierte so kopflos wie
im Cafe damals. Und wie damals war Saschas Reflex, ihm
nachzulaufen. Da er sich aber nicht erst mit
Zahlungsmodalitäten aufhielt, und sich zudem hier auskannte,
konnte er Nick diesmal einholen. An den Stufen im
Treppenhaus bekam er Nick am Ellenbogen zu fassen.
„Warte!“ rief er, und setzte ein sachtes „Warte“ hinterher.
Sascha sah, das Nicks Hände zitterten, aber er blieb immerhin
stehen, wenngleich er sich nicht umdrehte.
„Es tut mir Leid, sie reden viel.“ erklärte Sascha ruhig.
„Ich bin nicht...“ rief Nick die Treppen hinunter, schaffte es
aber nicht, seinen Satz zu beenden. Sascha tat es weh, das Nick
so an seiner Lüge festhielt. Auch wenn er selber wusste, das es
nicht einfach war, zu sein wer man ist – so hatte er kein
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Verständnis mehr dafür, sich zu verleugnen.
„Das ist doch nichts schlimmes.“ meinte er daher und blickte
Nick auf den Nacken. Fast eine halbe Minute verstrich, in der
Nick seinen Fluchtweg entlang schaute. Dann drehte er sich
um, sah Sascha direkt in die Augen und sagte mit fester
Stimme:
„Ich bin nicht so wie du.“ dann musterte er ihn abschätzig und
lief die Treppen hinunter. Der direkte Blick traf Sascha mitten
ins Herz, und die Aussage drehte dasselbe um. Spätestens ab
diesem Moment war Sascha absolut überzeugt, das Nick schwul
war – da konnte dieser sagen was er wollte.
„Doch, das bist du!“ rief er ihm hinterher, und weil er sich von
diesem abschätzigen Blick verletzt fühlte setzte er hinzu:
„Schwuchtel!“. Dann hörte er das untere Tor ins Schloss fallen.
„Verdammt.“ Sascha schlug gegen die Wand – fester als er
wollte, und verletzte sich.
„Er wird schon.“ sagte Hellen dicht hinter ihm. Sascha hatte gar
nicht mit bekommen das sie ihm gefolgt war.
„Hast du dich verletzt?“ fragte sie fürsorglich und griff nach
Saschas Hand die er gegen die Wand gedonnert hatte. Sascha
war geistig noch bei Nick, als er sagte:
„Nein, geht schon. AUA! Spinnst du?“
„Hoppla!“ sagte Hellen rasch und drückte ihren Finger in seine
Hand. Sascha hatte sich zwar verletzt als er gegen die Wand
geschlagen hatte, aber innerlich. Doch nun lief Blut aus seiner
Handfläche, die plötzlich brannte. Das Hellen auch noch ihren
Finger drauf drückte, linderte den Schmerz keineswegs. Er riss
sich los und schnauzte sie an:
„Was hast du gemacht?“
„Nix!“ gab Hellen rasch zurück, versteckte ihre eigene Hand,
rollte mit den Augen und sage:
„Hallo?“
„Hallo was?“ fragte Sascha. Hellen zog ihre Augen zu einem
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Schlitz, legte ihren Finger an ihre Lippen und horchte.
„Hallo? Bist du da?“ fragte sie erneut. Sascha, etwas irritiert,
ließ sich anstecken und horchte ebenfalls.
„Wen rufst du?“ fragte er im Flüsterton. Hellen rümpfte die
Nase und zischte geheimnisvoll:
„Meinen Vogel.“
Sascha legte seine flache Hand an sein Ohr um besser zu hören
und sagte:
„Da war was. Ich hör ihn. Ganz deutlich.“
Hellen starrte ihn fassungslos an.
„Wirklich?“
„Ja. Er macht: PIEP PIEP PIEP.“
Sascha stand noch am späteren Abend vor seinem Wohnhaus
und beobachtete Buster, der einen Hydrant markierte, sog die
frühsommerliche Luft ein und stellte fest, das er scharf war.
Und zwar seit dem Tag an dem er Nick auf die Zehen getreten
war. Doch heute war es besonders schlimm und er ertappte sich
dabei, das er wildfremden Männern nach schaute und sich
bereit fühlte, es mit ihnen in irgendeinem Hausflur zu treiben.
Sascha betrachtete die Wunde auf seiner Handfläche. Es war
definitiv ein Schnitt, auch wenn Hellen das abstritt. Und – es
klang vermutlich etwas seltsam, aber er hatte das Gefühl, das er
seit diesem Moment besonders, nunja, überbedürftig war. Aber
wahrscheinlich redete er sich das nur ein, Nick so
emotionsgeladen zu sehen hatte durchaus seinen Reiz. Und
immerhin war es die verletzte Hand, die zuvor Nicks
Ellenbogen gehalten hatte. Es war schön gewesen, das es eine
Zeit für alle so ausgesehen hatte, als wären er und Nick ein
Paar. Es wurde Zeit, dass er Nick knackte. Das konnte doch
nicht so schwer sein, er spürte doch genau, das da was war. Und
diese Geschichte die er ihm über Sven aufgetischt hatte – die
passte vorne und hinten nicht. Die diente doch nur dazu, ihn hin
123
zu halten. Kein Mensch verzichtet sein Leben lang auf Liebe
und Sex, weil sich sein bester Freund wegen einer Tussi das
Gehirn weg bläst. Oder sich erhängt – oder was auch immer.
Sascha rieb sich die Handgelenke. Wäre ja noch schöner. Aber
so wie Nick sich verhalten hatte, ob die Sache mit Sven nun
stimmte oder nicht, er benutzte sie als Abwehr, vielleicht sogar
vor sich selber.
Nie Lieben. Was hatte das für einen Sinn? Sicher, klar, er selbst
hatte das auch schon geschworen. Mehrmals. Aber so etwas
meinte man doch nie wirklich ernst. Das war dummer,
kindischer Trotz. Jeder, ausnahmslos jeder, der schon mal ...
Sascha stockte. Moment. Konnte das heißen, das Nick noch
nie ... Das er gar nicht wusste was er versäumte? Sascha hielt
inne. Das ergab Sinn. Es war zwar total verrückt. Aber es ergab
Sinn. Niemand den er kannte, der schon mal Sex hatte, hätte
sich an so einen Schwur gehalten. Er kannte keine Priester, aber
er hätte so einiges verwettet, das auch die das Zölibat nur dann
– wenn überhaupt – leben konnten, wenn sie wirklich unbedarft
da hineingeraten waren. Nick war Jungfrau? Hatte vielleicht
wirklich noch nie geliebt? Ging das denn überhaupt? Überfiel
einen die Liebe denn nicht gelegentlich, ob man wollte oder
nicht, und man konnte nichts dagegen tun? So wie Sascha vor
ein paar Tagen? Rums, und plötzlich ist man nicht mehr man
selbst. Man konnte sich doch noch nicht mal aussuchen in wen
man sich verliebte, wie denn dann ob. Das mit dem Sex, das
konnte man ja vielleicht noch steuern – aber Liebe? Wie wollte
man verhindern, sich zu verlieben? Sascha blickte in die Sterne,
dann die Gasse hinunter. Nichts desto trotz. Er war scharf. Er
war so verdammt scharf das er kaum gehen konnte. Und der
Gedanke an Nicks mögliche Unschuld machte ihn so an wie sie
ihm Angst machte. Himmel, ich bin soweit einen Hydrant zu
bespringen, dachte Sascha, wie Buster. Ich sollte mich
austoben, es mir geben bis mein Gehirn erweicht. Sascha war
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verwundert über sich selbst. Fast wollte er meinen, etwas würde
ihn lenken, steuern oder zumindest auf etwas vorbereiten – auf
jeden Fall aber scharf machen. Ein Fahrrad schwirrte vorbei. Es
war völlig egal wer es betrieb, Sascha war kurz davor, eine
eindeutige Aufforderung heraus zu plärren. Lass es uns tun,
hier, jetzt, unverbindlich, spontan, keine Verpflichtungen,
gleich im nächstbesten Hausflur, keiner wird es je erfahren,
nur schneller, harter, ungezügelter, wilder Sex.
„Okay.“ brummte eine unerhört tiefe Stimme hinter ihm.
Sascha zuckte zusammen, fuhr herum und erblickte einen gut
zwei Meter großen Schatten, Haar wehte wie ein Umhang über
die breiten Schultern.
„Hab ich das etwa laut gesagt?“ sagte Sascha mehr zu sich
selber als zu dem Mann, der - nackt war. Nackt und gut
bestückt. Sascha schluckte.
„Du?“ er kannte den Riesen. Das war aber schon sehr lange her.
Ware das nicht als er...?
„Lass es uns tun, hier, jetzt, unverbindlich, spontan, keine
Verpflichtungen, gleich im nächstbesten Hausflur, keiner wird
es je erfahren, nur schneller, harter, ungezügelter, wilder Sex.“
wiederholte Varis, und seine Stimme berührte jede einzelne
Muskelfaser in Saschas ohnedies vibrierenden Körper. Er rang
nach Luft. Das kam natürlich unerwartet. Sein Drängen war
zwar einer gewissen Not entsprungen – aber er hatte es doch
nicht wirklich ernst gemeint. Nicht das er sowas noch nie
gemacht hätte. Und das Angebot stand. Wie auch noch was
anders, und was war schon dabei? Er war ja nicht mit Nick
verheiratet, noch nicht mal mit ihm zusammen – und wer weiß
– würde das jemals auch passieren. Was solls, dachte er bei
sich, mit einem verwegenen Kribbeln in seinem Bauch.
Himmel, wie lange ist es her das ich sowas gemacht habe?
Zehn Jahre?
„Acht Monate!“ grollte Varis tiefe Stimme „Es freut mich das
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du dich entschlossen hast.“ und gab sein makelloses Gebiss frei.
„Nein ...“ erwiederte Sascha „Ich bin sicher das es zehn Jahre
her ist. So etwas vergisst man doch nicht.“
„Schnell, unverbindlich, spontan. Vor acht Monaten.“ bestand
der monströse Schatten auf seine Erkenntnis, und in Sascha
dämmerte es.
„Ach das meinst du. Das war etwas völlig anderes.“
Die Welt verflüssigte sich, zog diese Nacht, diese Straße und
Varis mit sich und schob eine andere Nacht, einen anderen
Mann – etwa acht Monate vorher – in Saschas Erinnerung.
Er war nach draußen gegangen, auf den Parkplatz, wo es fast
stockdunkel war – drinnen tobte die Hochzeitsgesellschaft. Er
sog die Luft tief ein, als er drei Meter weiter einen orangenen
Punkt aufleuchten sah.
„Wieso rauchst du hier draußen? Da drinnen kriegst du das
umsonst, brauchst nur atmen.“ aus der Dunkelheit drang ein
belustigter Zischlaut.
„Und was machst du hier draußen?“
„Ich feiere Jubiläum.“ erklärte Sascha.
„Jubiläum?“
„Ja. Die fünfhundertste Frage wann ich meine bezaubernde
Schwester heirate und ob wir uns Kinder wünschen.“
„Oh!“
„Danke.“
„Tut mir Leid.“
„Tut es nicht.“
Die Dunkelheit schwieg. Der orangene Punkt glimmte erneut
auf.
„Wenn ich ... nun ... sagen wir mal ...“
„Vergiss es.“ zischte Sascha.
„Das versuch ich ja ... aber.“
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„Das ist nicht mein Problem. Ich geh jetzt wieder rein ...“
„Hier und jetzt.“
„... und tanze mit meiner bezaubernden Schwester ...“
„Auf dem Parkplatz.“
„... oder den Oberkellner.“
„Kein Jammern. Keine Vorwürfe. Einfach nur spontanen,
ungezügelten, wilden ...“
„Oh Mann, du hast es ganz schön nötig.“ schüttelte Sascha den
Kopf. Schweigen breitete sich aus.
„Bitte.“
„Wie kommst du auf mich? Wie kommst du dazu, zu glauben
das ich ...“
„Wer wenn nicht du, hä?“
„Der Oberkellner ...“
„Okay, okay.“ schnaufte die andere Stimme: „Ich frage dich nur
dieses eine mal. Ja oder nein?“
Ein orangener Punkt fiel zu Boden und zog einen
unbeeindruckenden Feuerschweif nach sich ehe er erlosch.
Körper und Blech kollidierten, Reißverschlüsse ratschten und
unterdrücktes Ächzen vermengte sich mit dem aus dem Festsaal
dringenden Lärm.
„Stefan, bist du da?“ zog eine schrille Stimme durch die
Dunkelheit über den Parkplatz.
„Scheiße“ drang es von der Motorhaube hoch.
„Ist da jemand?“ schrie die Silhouette in Robe, ein Kopf wurde
etwas zu eifrig gegen ein Stück Blech gedrückt und schlug
dumpf auf.
„Autsch!“
„Ich bins nur, Sascha.“ rief Sascha und winkte ungesehen aus
der Dunkelheit des unbeleuchteten Parkplatzes über den
lediglich schwach das Licht aus den Fenstern vom Festsaal her
fiel.
„Hast du den Bräutigam gesehen?“ schrillte es zu ihm herüber.
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Sascha blickte auf den Frack der vor ihm auf der Motorhaube
eines luziferroten Peugeot lag.
„Nein. Hier ist niemand.“ Sascha ruckte, Stefan schnaubte.
„Ist alles okay bei dir? Du klingst komisch.“
„Alles bestens! Wenn ich Stefan seh, sag ich das du ihn
suchst!“ rief Sascha zur Trauzeugin und rammte den
Bräutigam.
„Danke.“ schrillte es, eine Türe wurde geschlossen, Körperteile
schlugen aneinander, unterdrücktes Stöhnen wurde ein
Wimmern.
„Übrigends ... Sascha?“ durchbrach die Stimme nochmal die
Leidenschaft. Jemand biss sich auf die Lippe, atmete tief durch.
„Was gibt’s?“
„Gleich beginnt das Brautstrauß Werfen... wenn du dann bitte
kommen könntest.“
„Ich ... komme gleich.“ ächzte Sascha die Türe fiel ins Schloss
und er hielt sein Versprechen.
Wie ein Strudel versenkte sich die Erinnerung und schlug
Sascha in die Leiste.
„Du hast es mit dem Bräutigam getrieben.“ grinste Varis
beeindruckt.
„Und wenn schon. Auf jeden Fall ist es nicht das selbe.“
„Finstere Nacht, keine Fragen, keine Verpflichtungen, einfach
nur spontanen, wilden ...“ zählte Varis auf.
„Ich war mit dem Scheißkerl vier Jahre zusammen. Vier Jahre.
Und dann kommt er auf die Idee, das er so nicht mehr leben
kann und sich nach einer Familie sehnt, Haus, Frau, Kinder und
einen Van vor der Türe.“
„Wie originell.“
„Ich meine ... ich wusste, das er nicht dazu stehen kann, aber
ich dachte immer – eines Tages ... Und weißt du was das
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Schlimmste ist?“ Das ich mich schon wieder in so ein
Exemplar verliebt habe, dachte Sascha.
„Jedes Jahr, am vierzehnten Februar, schickt er eine Karte.“
wusste Varis. Eine Strähne seines blauschwarzen Satinvorhangs
rutschte über die kolossal nackte Schulter und spielte mit einer
Brustwarze.
„An Buster!“ schnaubte Sascha zur ebendieser.
„Den Hund?“ nickte Varis zu dem Terrier, der sich gerade
hingebungsvoll die Eier leckte.
„Valentinstagsgeschenk. Er behandelt den Köter wie ein Kind
aus erster Ehe.“ Sascha fing den Schlüssel aus seiner Tasche
und wandte sich einem luziferroten Peugeot zu.
„Dein Auto.“ stellte Varis fest.
„Unverbindlich, spontan – aber mit Komfort.“ grinste Sascha.
„Geräumig.“
Sascha ließ seinen Blick über das Muskelgebirge schweifen,
machte eine halbe Umdrehung um die eigene Achse und
schloss die Eingangstüre des Wohnhauses auf. Varis gewaltiges
Unterkiefer grinste.
„Also doch Hauseingang.“ die sonore Stimme kroch in jede
Freske und verbiss sich am metallenen Treppengeländer bis ins
Dachgeschoß.
„Pssssst.“ scholt Sascha, hielt inne, betrachtete den riesigen
nackten Mann im klaren Licht des Treppenhauses und deutete
dann nach oben.
Nick lag seit zwölf Stunden regungslos am Rücken in seinem
Bett. Der Wulst seines Lakens hatte ihn anfangs gestört, ihm
nach etwa zwei Stunden das Gefühl gegeben, unmittelbar gegen
seine Wirbelsäule zu scheuern und das Bett mit Blut und
Knochenmark einzusauen – ab dann spürte er seinen Körper
nicht mehr. Er stierte an die Zimmerdecke und versuchte, einen
Zustand zu erreichen, in dem das Denken und auch das fühlen
129
auf hörte. Sein Körper war dieser Aufforderung rasch gefolgt,
aber sein Geist und sein Gemüt quälten ihn.
Im Nachhinein betrachtet kam ihm seine Reaktion etwas
überzogen vor – eine Erkenntnis zu der er jedoch mehrere
Stunden gebraucht hatte. Davor kreiste sein gesamtes
Bewusstsein um diese gemeine Unterstellung, darum, wie ein
Haufen wildfremder ihm derartige Neigungen unterstellen
konnten. Und nicht genug damit, das er auch noch mit diesem
Homepagemann zusammen sein solle. Die Empörung darüber
hielt ihn lange auf Trab und jeder Einwand der sich
irgendwoher aus seinem Unterbewusstsein regte, das an dieser
Unterstellung doch etwas dran sein könnte, schob er von sich.
Anfangs ging das noch leicht. Wie feines Löschpapier, so
zaghaft waren diese Erwägungen - das da was dran sein könnte
- und er konnte sie in seinem Entsetzen weit von sich schieben.
Mittlerweile, und nach der Erkenntnis, das er die ganze
Angelegenheit viel erwachsener, viel überzeugender Entkräften
hätte können, wenn er einfach darüber gelacht und
hinweggesehen hätte, betrug das Gewicht dieser Ideen über
seine Neigungen schon deutlich mehr, und er benötigte schon
eine ziemliche mentale Kraft, sie zu ignorieren. Lieber
schwelgte er in der Idee, es wäre möglich, völlig losgelöst von
Erfahrung und Emotionen jeder Situation nach der statistisch
sinn- und stilvollsten Methode zu begegnen. Hätte, wäre, wenn
übernahmen das Ruder und zeigten ihm auf, das er eigentlich
nicht nur etwas überzogen reagiert hatte – sondern wenn man es
mal genauer besah, wie er reagiert hatte, wie er sich genau
verhalten hatte... verriet das nicht einiges? Je mehr Nick
versuchte, sich dagegen zu stemmen, umso deutlicher wurde
ihm, das er sich verhalten hatte wie eine Diva. Das alles an ihm
und seiner Reaktion gewisse Schlussfolgerungen nach sich
zogen. Hieß es nicht immer – das, wogegen man sich am
meisten stemmt – das wäre einem am nächsten? Hier war das
130
Gewicht der unterbewussten Erkenntnis bereits von der Größe
eines Panzers und er schaffte es nicht, sie weg zu schieben.
Schlimmer noch, als er versuchte, dann zumindest großzügig
darüber hinwegzusehen, erinnerte er sich schlagartig an Sven.
Das er sich immer wieder an ihn erinnerte, war etwas
parasitäres an das er sich beinahe gewöhnt hatte, aber wie er
sich jetzt erinnerte, das entsetzte ihn. Vielleicht benebelte das
lange wach liegen und grübeln das Gehirn, aber er vermeinte
sentimental verschnulzte Geigen zu hören, während sich wie in
einem schlechten Film Szenen mit Sven abwechselten.
Wehendes Haar, sentimentale Blicke, zufällige Berührungen,
entladendes Lachen, verlegenes Lächeln, verbitterte Tränen und
zu guter Letzt der Kuss des Leichnams. Der Panzer der
Erkenntnis rollte über ihn drüber und wie zur zynischen
Krönung endete dieser kitschige Soundtrack der sein Gehirn
gekapert hatte mit Sascha. Das kam unerwartet. Die
sentimentale Melodie seiner Erinnerungen hielten tatsächlich
auf Sascha zu, wie er das Geschäftslokal betrat, gezogen von
Buster, und Zeitlupe rückte jede kleinste Bewegung in den
Vordergrund.
Nick schnellte hoch. Das war für den Körper gar keine so
einfach Übung und er dankte es mit Schmerzen. Überall krachte
und knackte es in seinen Knochen und Muskeln und Nick stellte
fest das er nicht nur vollständig bekleidet war – er hatte sogar
noch seine Schuhe an. Die Zeit des Grübelns war vorbei, die
Erkenntnis benötigte Unterstützung. Nick verlor keine Zeit mit
unnötigem Essen – er hätte ohnehin nichts runter bekommen –
oder irgendwelcher Körperpflege. Er hob das Fahrrad im Flur
auf seine Schultern als wöge es keinen Kilo, und trippelte die
Treppen hinunter. Freilich, sein Körper wehrte sich, er zwickte
und stach, und unter normalen Umständen wäre Nick wohl
sogar gehumpelt. Doch es waren keine normalen Umstände –
die Motivation hatte kein Gehört für den zimperlichen Körper.
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Nick schwang sich aufs Rad und trat in die Pedale, es gab keine
Zeit zu verlieren.
Sonne schwirrte in den Raum, der das Licht, weiß, in weiß, in
weiß, reflektierte. An der Wand hing das Gemälde eines
unbekannten aber umso abstrakteren Künstlers, im Bett wühlte
sich ein sandfarbener Schopf aus einer Armada von Decken und
Kissen. Sascha fühlte sich blendend, räkelte sich und mochte es,
wie sich das Leben anfühlte. Er fühle sich glücklich und
zufrieden. Verdächtig glücklich. Verdächtig zufrieden. So
zufrieden fühlte er sich für gewöhnlich nur... mit einem Satz
saß er aufrecht. Er ließ seinen Blick über das Bett schweifen das
– abgesehen von ihm selber – verwaist, aber ziemlich
zugerichtet aus sah. Wie eine Diashow im Zeitraffer zischten
Bilder durch seinen Kopf. Verwirrende Bilder. Verdammt, ich
habe ... schoss es ihm in den Kopf. An der Tür klingelte es.
Sascha dämmerte eine unheimliche Wahrheit. Ich habe mit ...
splitterfasernackt sprang er rasch in seine graue Freizeithose,
als es erneut klingelte. Ich habe mit ... ich habe ... er ließ seinen
Blick noch einmal über das wirklich mitgenommene Bett
schweifen und konnte den Gedanken der durch sein
Bewusstsein brach kaum formulieren. Beeindruckt oder
geschockt von sich selber, so genau konnte er seine Gefühle
noch nicht zuordnen, platschten seine bloßen Füße über den
blitzblanken Parkett zur Eingangstüre. Er löste die
Verriegelung, öffnete die Türe weit, schaute seine Schwester an
und sagte entschlossen:
„Ich habe Gott gevögelt.“ ... Gott gevögelt ... Gott gevögelt ...
hallte es auf dem Flur wieder.
„Guten Morgen, Frau Schneider.“ lächelte Hellen zuckersüß zur
Nachbarstüre und schob sich an Sascha vorbei, dessen Kopf aus
der Türe schnellte, nur um fest zu stellen, das Hellen ein Biest
war. Er drückte die Türe zu während Hellen ins Wohnzimmer
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trabte und Buster sich seine Streicheleinheiten holte.
„Kaffe?“ fragte Sascha und latschte in die Küche. Hellen riss
sich von Buster los, grinste ihren Bruder an und sagte:
„Du schaust blendend aus, Bruderherz, hast du Gott gevögelt?“
Durch Saschas Kopf rasten weitere Bilder, gewagte Bilder,
unaussprechliche Bilder.
„Das, oder Satan hat mich gevögelt.“ relativierte er. Hellen ließ
ein Papiersäckchen vom Bäcker auf die Küchenablage fallen,
plumpste mit ihren Ellenbogen gleich dazu und schob sich
neugierig über die Marmorfläche.
„Erzähl.“ forderte Hellen und öffnete die Papiertüte um ein
Stück aus einem Croissant zu reißen. Varis und der Vogel
hatten offenbar keine Zeit verloren. Sie beobachtete Sascha, der
offenbar nach den richtigen Worten suchte, während er den
Kaffee zubereitete.
„So ein Tier? Hätte ich ihm gar nicht zugetraut irgendwie.“
plapperte Hellen unvorsichtig und stopfte das fasrige Stück in
den Mund. Vor allem wenn ich bedenke wie er sich bei mir
angestellt hat, dachte sie. Der Vogel der Zeit hatte abgefärbt.
Aus der Kaffemaschine grugelte und röchelte es.
„Du überlegst, was du Gott im Bett so zutraust?“ Nick stellte
klirrend zwei Kaffeetassen neben die Papiertüte.
„Du Nicht?“ fragte Helen spitz als wäre das das normalste der
Welt.
„Nein, eigentlich nicht.“ erklärte Sascha und beobachtete
Hellen eine Weile, wie sie ihr Croissant mit ihren Fingern
brutal aushöhlte. Sie schien ganz in ihren eigenen Gedanken
und schleuderte einen Teil des Skelettes des Croissants in
hohem Bogen von sich, als sie sich wild gestikulierend an
Sascha wandte:
„Wieso hältst du ihn eigentlich für Gott?“ Buster inhaltierte das
Gebäck und hypnotisierte den Rest in Hellens Hand.
„Ich denke, es ist Gott gewesen.“ erklärte Sascha als er die
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Kühlschranktüre öffnete um Milch zu holen.
„Ist dir eigentlich klar wie das klingt?“ Hellen nahm Sascha die
Milch aus der Hand und schüttete sie so in ihren Kaffee, das der
Tisch auch noch etwas ab bekam. „Ich meine, das ist doch so:
Wenn du an Gott glaubst, dann vögelst du ihn nicht. Wenn du
nicht an ihn glaubst, dann kannst du ihn nicht vögeln.“ Hellen
verstand schon ganz gut, das ihr Bruder Varis für eine Art Gott
halten musste. Welcher schwule Mann würde das nicht?
„Weißt du noch? Damals? Als ich... naja...“
„Im Koma lagst?“
„Ja, genau. Also – wie soll ich sagen – da hatte ich eine Art
Erscheinung. Ich war da am Weg nach drüben, und ER kam
und holte mich ins Leben zurück. Ich hab das nie erzählt, weil
ich mir dachte es wäre nur ein Traum gewesen – aber
insgeheim dachte ich immer, das könnte Gott gewesen sein.
Naja, und nach der vergangenen Nacht....“
„Du glaubst also, das Gott dich als eine art Spielzeug ins Leben
zurückgerufen hat, dreizehn Jahre wartet und dann sagt: Hey,
lass es uns heute treiben?“
„Naja. Zugegeben. Es klingt seltsam. Und bis gestern hätte ich
das mit Gott ja noch nicht so ernst genommen, aber was passiert
ist, als wir, naja, es war da was göttliches.“
„Göttliches.“ wiederholte Hellen und begann geräuschvoll,
ihren Kaffee zu schlürfen.
„Es war so... ich kanns gar nicht beschreiben, es war irgendwie
so, als würde die Zeit stehen bleiben. Aber nicht nur bloß ein
Moment, sondern alle Zeit, die Ewigkeit quasi.“
„Bruderherz, sowas nennt man Orgasmus.“ Sascha warf Hellen
ein Geschirrtuch gegen die Brust.
„Ich weiß wie sich ein Orgasmus anfühlt. Das war aber anders,
es war als würde ich irgendwie gar nicht beteiligt sein, und
dann wieder doch. Ich hatte das Gefühl als hätte ich riesige
Schwingen, dann wurde alles unheimlich Grell. Das war
134
wirklich überirdisch, mystisch.“ erklärte Sascha mit glänzenden
Augen und fügte dann rasch hinzu: „Zumindest beim ersten
Mal, die anderen Male wars ganz normal.“
„Die anderen male?“ riß Hellen die Augen auf, begann dann
aber schmutzig zu Grinsen. „Varis, du elender...“
„Was?“
„Und was ist nun mit Nick?“ lenkte Hellen ab – und es gelang.
Saschas gesamte Körperhaltung veränderte sich.
„Ich weiß nicht.“ sagte Sascha und eine lähmende
Beschlagenheit schlich in seinen Bauch.
Als Kevin den Copyshop betrat, spürte er, das irgend etwas
anders war. Es war jemand da gewesen. Es roch würzig streng.
Einbrecher, schoss es Kevin sofort in den Kopf. Einen kurzen
Moment blieb er auf der Schwelle stehen, überlegte, still kehrt
zu machen, in Ruhe erst Nick und dann die Polizei zu rufen.
Doch in seinem Blut schwammen eine gehörige Portion
Sexualhormone, die sich dieses Wochenende nicht ausreichend
entladen hatten können. Kevin hatte das Bedürfnis, den Helden
zu spielen – sollte er am Ende mit Schmerz bezahlen, würde
ihm das entgegenkommen. Hellen verstand es, ihn verrückt zu
machen und dann auf Abstand zu halten. Allerdings – Kevin
empfand das bei jeder Frau die nicht ununterbrochen Aktiv sein
wollte. Er sah sich um, packte ein großes Metalllineal von
eineinhalb Metern Länge mit beiden Händen und stabilisierte
seinen Körper. Wie ein Schwert, bereit, dem bösen Drachen zu
begegnen, schritt er leise aber zügig voran. Er drückte sich
seitlich an Kopierern und Tischen entlang – und auch wenn es
völlig unnötig war – immerhin ging ihm alles nur bis zur Hüfte
– sprang er hinter Hindernissen hervor und hielt das
Metallschwert im Anschlag. Ein Geräusch! Kevin hielt inne. Er
rümpfte seine Nase, der Gestank wurde im hinteren Teil des
Ladens schlimmer. Vorsichtig, Kevin war immerhin ein Held
135
und kein Dummkopf, schob er sich seitwärts Schritt um Schritt
weiter. Je näher er den seltsamen Geräuschen kam, umso
heftiger spannte er seine Muskeln an, ging in die Hocke, bereit,
mit seiner gesamten Kraft zuzuschlagen.
Die Kassa war offen, Kleingeld lag verstreut auf Tisch und
Boden. Kevin – nicht gläubig – machte das Kreuzzeichen. Es
wirkte heroisch, es gab Kraft, es machte Mut. Sein Herz
hämmerte wie verrückt, als er sich rücklings gegen das letzte
Hindernis stemmte, ehe er um dieses herum den Eindringlingen
gegenüberstehen würde. Er musste sich seine klebrigen
Handflächen an seiner Hose abwischen, da das Metallschwert
in seinen verschwitzten Händen zu rutschen begann. Kevin
neigte vorsichtig seinen ovalen Kopf, um zu spähen, ob er einen
Satz machen sollte und mit Gebrüll um sich schlagen, oder eher
hinterlistig wie ein Fuchs einen Widersacher nach dem anderen
aus dem Verkehr ziehen sollte. Seine Schuhbandhaare
baumelten hektisch aber symmetrisch schwingend um sein
Kinn, als Kevin die Sohle eines Schuhs sah. Kevins
Adamsapfel sprang über seinen Hals. Er griff das Metallschwert
etwas fester, blickte es entschlossen an, zählte bis drei und
sprang mit einem Schrei hinter dem Regal hervor, hob dabei
das Lineal und blieb wie versteinert stehen.
Der Anblick war grässlich. In einem Meer von lediglich
angebissenen Fast Food Spezialitäten, lag ein Mann, erschöpft,
ausgezehrt und sein Körper hing so komplizert über Sessel und
Tisch, das es wirkte als wäre er von diesen Möbeln überrumpelt
worden. Erst auf den zweiten Blick erkannte Kevin, wer das
war. Er ließ das Metallschwert langsam sinken, warf es dann zu
Boden und stürzte auf den leblosen Körper zu.
„Nick?!“ fragte er zuerst zaghaft, rüttelte dann an der Schulter
und rief ihn mit immer größerer phonetischer Intensität.
„Ist er tot?“ fragte eine freundliche Stimme hinter Kevin. Es
war der Professor, der sich wohl ebenfalls von Geräuschen und
136
Gerüchen – auf jeden Fall aber von Kevins beispiellosem
Schauspiel - angezogen gefühlt hatte.
„Ich weiß es nicht.“ rief Kevin gehetzt in diesem geschäftigen
Ton beherzter Retter die verdammt noch einmal nicht aufgeben
würden, selbst wenn sie nichts weiter als einen Arm würden
bergen können.
„Dem Geruch nach zu Urteilen, würde ich sagen, schaut es
schlecht aus für Ihren Kollegen, junger Mann.“ erklärte der
Professor und näherte sich mit kleinen Schritten. Kevin rüttelte
derweil weiterhin an Nicks Schultern und rief dessen Namen.
„Lassen Sie mich mal.“ sagte der alte Stammkunde, und Kevin
wich zur Seite wie ein ergebener Untertan. Der Professor holte
ein Messer aus seiner Manteltasche, faltete es aus seinem Griff
und rieb die Klinge mit einem Stofftaschentuch ab.
„Was tun Sie da?“ fragte Kevin, der auf der Stelle bereute, das
er dem Professor vertraut hatte. Dieser bewegte die Klinge
unbeirrt auf Nicks Gesicht zu und hielt sie unter seine Nase.
Dann winkte er Kevin, welcher herbei stürzte und dem Blick
des Professors folgte.
„Sehen Sie, junger Mann?“
Kevin blickte besorgt auf die Klinge die kurz davor war, Nicks
bärtige Oberlippe zu spalten.
„Er verträgt eine Rasur?“ riet Kevin – es war eher eine
Überzeugung, Nick war ihm noch nie so unrasiert begegnet.
„Das Messer beschlägt sich.“ verbesserte der Professor ihn und
zog die Klinge zurück. „Das heißt, er atmet noch.“ damit
entfernte er sich von Nick, klopfte Kevin zuversichtlich auf die
Schulter uns sagte: „Mundhygiene täte ihm auch gut.“
während der Professor sich geschäftig zu seinem Kopierer
schlich, ließ Kevin seinen Blick über den hinteren
Geschäftsraum gleiten. Jemand hatte versucht, nicht nur TShirts zu produzieren, sondern auch Pizza in der T-Shirt Presse
aufzuwärmen. Zudem dürfte wohl jedes Fast-Food-Service der
137
Stadt dieses Wochendende eine Lieferung in den Copyshop
getätigt zu haben. Allerdings nur, damit jemand die Packungen
öffnet und den Inhalt für Ungenießbar befindet. Nick hatte
offenbar ein schwieriges verlängertes Wochenende hinter sich
gebracht.
Nick erwachte erst aus seinem komatösen Zustand, als Kevin
ihm ein in eiskaltes Wasser getränktes T-Shirt in den Nacken
drückte. Dabei brummte und ächzte er und schielte Kevin eine
weile an, ehe er ihn erkannte.
„Was machst du denn da?“ brummte Nick, gähnte und kratzte
seinen frisch gewucherten Mehr-Tage-Bart.
„Ach...“ summte Kevin geschäftig von sich „Ich reise von Land
zu Land und wecke suizidgefährdete Copyshopmitarbeiter, die
ihre Wochenenden in der Firma verbringen.“
„Was?“ fragte Nick schlaftrunken und erkannte erst jetzt, das er
gar nicht daheim war. Sein Rücken krachte als er sich
aufrichtete, durch streckte und dabei seinen Blick über das
Desaster schweifen ließ, das einen beißenden Geruch
verströmte.
„S c h w u c h t e l.“ sagte Kevin langsam, wobei er seinen
augenbraunlosen Kopf schräg hielt und seine Schuhbandhaare
tänzeln ließ. Nick war auf der Stelle hellwach.
„Geiles Shirt.“ nickte Kevin „Hätt ich dir nicht zugetraut nach
deiner Aktion am Freitag.“
Nick blickte an sich herab, schlug rasch sein Kapuzenshirt
darüber und verschränkte die Arme. Sequenzen der letzten
zweiundsiebzig Stunden zogen vor seinem inneren Auge
vorbei. Er hatte wohl einiges zu verarbeiten. In seinem Magen
schienen sich pelzige Würmer zu tummeln. Kevin – ansonsten
in der Rolle des Kleinkindes – verhielt sich nun wie eine
nachsichtige Mutter die schweigsam und ohne verbale
Anschuldigung die Sauerei beseitigte. Nick – ansonsten in der
Rolle des nachsichtigen Vaters – verhielt sich nun wie der
138
schuldbewusst Pubertäre. Das Leben hatte sich grundlegend
verändert. Über Nacht. Okay, genau genommen über die letzten
drei Tage. Ganz genau genommen, über die letzten dreizehn
Jahre. Nick saß da, verschränkte Arme und sah Kevin beim
zusammen räumen zu, scheinbar unfähig, selber irgend eine
Entscheidung zu fällen. Als Kevin die Computermaus berührte,
sprang mit einem beherzten Klonk der Bildschirm an und gab
eine Seite frei, die sich, nun..., mit gewissen Themen befasste.
Nick errötete, haute auf eine Taste und hoffte dabei, Kevin hätte
nicht bemerkt, was auf dem Bildschirm zu sehen gewesen war.
Doch hinter dem einen Fenster mit prekärem Inhalt wartete
bereits das nächste – Nick war gar nicht klar gewesen, wie
umfassend er sich im Internet informiert hatte. Das Internet in
seiner ganzen Größe hatte ihm nie besonders viel bedeutet – er
war eher der Papier und Bleistift Typ. Dieses Wochenende aber
war er erschlagen worden von der Palette an Informationen die
es zu jedem Thema gab das man suchte. Und ganz besonders zu
dem Thema, das er suchte. Noch nicht vertraut mit der nüchtern
- intuitiven Auswahlmethode alter Internet-Nerds hatte er
einfach wahllos alles geöffnet, was er gefunden hatte – und das
war manchmal etwas schwer verdaulich gewesen – aber nicht
uninteressant. Klick um Klick schloss Nick rasch Fenster um
Fenster, auch wenn er das eine oder andere doch gerne noch
etwas länger besichtigt hätte. Allmählich wuchtete sich seine
Seele wieder in seinen Körper – und sein Körper sich wieder in
sein Leben.
„Harte Zeiten, Robinson?“ neckte der alte Professor, als er Nick
sah.
„Verzeihung?“
„Zeit, von der einsamen Insel aufzubrechen. Hmmm?“ fügte der
Alte hinzu und nickte wissend.
„Ich verstehe nicht.“ bohrte Nick nach.
„Freitag ist ein guter Junge.“ sagte der Professor im Plauderton
139
und sie blickten beide zu Kevin, der auf seine eigene
uneffiziente Art Papier schlichtete. „Aber eine Insel von der
man nicht fliehen kann ist ein Gefängnis.“
Der Professor erwiderte Nicks fragenden Blick so direkt, als
wisse er Bescheid. Als ahne er das gesamte Ausmaß von Nicks
momentaner Situation. Und auch wenn Nick noch gerne eine
weile den Unwissenden gespielt hätte, so wusste er doch genau,
was der Professor meinte.
„Danke.“ sagte Nick daher leise. Der Professor winkte lächelnd
ab, sagte „Nichts für Ungut, junger Mann.“ deutete auf den
Schriftzug auf Nicks Shirt und fügte hinzu: „Aber das ist
vielleicht etwas zu viel aufgetragen – fürs erste.“
Amors nackte Füße versanken im hohen Gras. Die Sonnen
senkte sich gegen Abend und flutete den Park mit goldenem
Licht. Amor hielt einen lila Pfeil in seinen Händen, von dem
lila Glitzerstaub rieselte und blickte einem Pärchen nach, das
ineinander versunken gegen Sonnenuntergang schritt. Zur
Hölle, was ging hier vor? Wer wilderte in seinem Revier?
„Naaaaastyboooooy!“ rief Mana und stöberte in Büschen, die
abgebissene Leine schleifte sie seit Tagen mit sich herum. Die
hölzerne Parkbank neben Amor knarrte, als sich Varis üppiges
unverhülltes Muskelgebirge darauf niederließ. Seit Tagen
grinste er blöd vor sich hin, und wäre Amor nicht so abgelenkt
gewesen durch diese seltsamen neuen Pfeile die überall immer
häufiger auftauchten, hätte er ihn vielleicht schon getötet –
Gottes Wille hin oder her.
„Ihr seid ein ziemlich kranker Haufen.“ schnarrte der Vogel der
Zeit, in Gestalt einer Krähe, der es sich auf der Lehne der
Parkbank gemütlich gemacht hatte. „Was ist nun? Hattet ihr
nicht einen ach so dringenden Job für mich?“
Varis wurde schlagartig unentspannt. Ein Terrier stürzte auf
jene Bank zu auf der er saß, und markierte sein nacktes Bein.
140
Varis war zwar für Sascha unsichtbar, er konnte ihn aber
durchaus sehen. Er fuhr sich rasch durch sein blauschwarzes
Haar und warf sich in Pose. Amor zischte verächtlich. Sascha
setzte sich auf die Bank neben ihn, ohne es zu wissen. Der
Vogel der Zeit neigte seinen Kopf und stierte Sascha
interessiert an.
„Denk nicht mal dran!“ knurrte Amor.
„Tschirp.“ sagte der Vogel – für eine Krähe etwas
ungewöhnlich.
„Er ist ab jetzt Tabu. Ich muss Gottes Wille ausführen, und er
ist Teil des Plans, also bitte – lebt eure amourösen Gefühle
anders aus!“ schnauzte Amor.
„Scheiß dich nicht an.“ erklang Manas unschuldige Stimme,
und sie tauchte ihre flache Hand in einen frischen Hundehaufen.
„Nastyboy, schau! Ich hab was für dich!“ rief sie dabei lockend.
Sascha seufzte tief. Jemand schlurfte. Mana reckte den Hals in
die Höhe.
„Was für einen Gottesplan soll er erfüllen?“ fragte der Vogel
der Zeit und hypnotisierte Saschas rechtes Auge. Zumindest
etwas Augensaft könnte er schlürfen. Eine kleine Delikatesse
stand ihm doch wohl zu.
„Genau genommen ist er nur ein Teil des Plans. Dich brauchen
wir für die andere Hälfte.“ erklärte Amor. Die Parkbank knarrte
erneut, als sich Varis so setzte, das er Sascha hemmungslos
anstarren konnte. Dieser wiederum stierte gedankenverloren in
die Ferne.
„Welche andere Hälfte?“ krächzte der Vogel der Zeit.
„Saschas zukünftige andere Hälfte.“ sagte Amor „Nick. Er ist
gefangen in einen mehr als blödsinnigen Schwur. Du musst ihn
zurück bringen, damit er diesen auflösen kann.“
„Sonst?“ fragte der Vogel.
Amor rollte den lila Pfeil zwischen seinen Fingern und erklärte
gedankenversunken:
141
„Sonst kann mein Pfeil nichts ausrichten.“ er stippte mit seiner
Fingerspitze gegen die Pfeilspitze und fragte sich, ob dieser
Pfeil in der Lage wäre, Nicks Herz zu durchbohren. Als Sascha
sich seufzend erhob – irgendwie war das ein unangenehmer
Platz – er fühlte Paranoia in sich aufsteigen – steckte Amor den
fremden Pfeil in seinen Köcher. Wir werden sehen. Und seine
kleinen Flügel begannen zu schwirren, um ihn hochzuheben.
Schwankend wie eine Hummel folgte er Sascha, und ein
Schweif aus Glitzerstaub verriet die verschnörkelte Flugbahn.
Gegenüber des Copyshops brummte ein schweres Motorrad vor
sich hin. Seine Kraft ratterte so vereinnahmend, das sie sich
über den Asphalt bis ins Geschäft hinein ausbreitete.
„Hellen!“ erklärte Kevin stolz und zeigte zum zierlichen
Körper, der dieses schwarze Ungetüm ritt. Es war nötig, das zu
erklären. Hellens schlanker Körper steckte vollkommen in
schwarzem Leder, und das Raubvolgelnest war in einen
schwarzen matten Helm gezwängt worden. Nick hätte sie in der
Tat nicht erkannt. Ungeduldig ließ sie den Motor aufbrummen,
und dann ersterben.
„Cool.“ meinte Nick anerkennend, als ihm im nächsten Moment
ein Blitz von der Kehle bis in die Knie schoß. Ein
Terriermischling hielt schwanzwedelnd auf die schwarze
Motorradfahrerin zu. Drei Sekunden später erblickte Nick den
sandfarbenen Schopf, und ja, auch den schlanken Körper und
die überaus gut sitzende Jeans. War ihm das bloß noch nie
aufgefallen, oder hatte er es sich schlicht verboten gehabt, das
zu bemerken?
„Oha!“ meinte Kevin, grinste dann, stupste Nick gegen die
Brust, auf der – verhüllt vom Kaputzenshirt – noch immer
Schwuchtel stand und sagte: „Na dann haben wir heute wohl
beide noch was vor, hm?“ Damit verlor er keine Sekunde, und
hopste auf unnachahmliche Art aus dem Laden, querte die
142
Straße und gesellte sich zum plaudernden Geschwisterpaar.
Nick stand da, wie gelähmt, und beobachtete die drei, als sie
alle sich umdrehten und versuchten, ihn durch die Auslage
hindurch zu erkennen. Kevin winkte Nick herüber.
Nick fielen in der Sekunde hundert Sachen ein, die er noch
dringend zu erledigen hätte. Zugleich aber auch überfiel ihn
eine Art Kühnheit. Zwischen der letzten Begegnung mit Sascha
und heute lagen zwar nur wenige Tage – aber eine Erkenntnis
die so schwer wog, als wären Jahre vergangen. Und diese
Erkenntnis brachte auch eine gewisse Neugier mit sich. Genau
genommen war Sascha ja nun einer seiner Art. Der einzige den
er kannte. Und auch wenn noch Angst, eine Straße und eine
Glasvitrine zwischen ihnen lag, fühlte Nick eine
Verbundenheit.
Nick atmete also tief durch, verließ das Geschäft und sperrte ab.
Auf seinem Weg über die Straße wusste er gar nicht, wohin er
schauen sollte. Er hatte das Gefühl, jeder, die ganze Welt,
könnte sehen wer er nun war, was in ihm vorgegangen war. Er
war jemand anderes geworden. Er war Jemand geworden. Und
das fühlte sich sehr fremd an. Er kannte die neue Rolle noch
nicht.
„Steht dir gut.“ lächelte Sascha und fuhr sich über sein Kinn.
„Danke.“ sagte Nick leise und starrte auf den Terrier, der ihn
überschwänglich begrüßte. Kevin schnallte sich seinen Helm
auf den ovalen Schädel und schwang sich hinter Hellen auf ihr
Motorrad. Der Motor lief an, verbreitete seine Vibrationen im
ganzen Stadtviertel, ohne viel Zeit zu verlieren brausten Kevin
und Hellen davon und ließen Nick und Sascha im Vacuum der
nun folgenden Stille stehen.
„Wie geht es dir? Kevin sagte, du hättest das Wochenende in
der Firma verbracht. So viel zu tun?“ durchbrach Sascha das
Schweigen.
„Ähm... ja. Ja. Saison.“
143
„Verstehe!“ sagte Sascha und musste Nick unentwegt anstarren.
Nick sah völlig ausgewechselt aus. Vielleicht liegt es am DreiTage-Bart, überlegte Sascha.
„Ich hol nur mal kurz mein Rad.“ erklärte Nick und lief davon,
über die Straße zurück in den Torbogen neben dem Geschäft.
Sascha ließ Nick nicht aus den Augen. Nick wirkte lebendiger,
die stoische Ruhe, die trotz des immer währenden Lächelns
manchmal fast feindselig gewirkt hatte war verschwunden.
Sascha fragte sich, ob das nun wieder eine Flucht war. Ob Nick
sich auf sein Fahrrad schwingen und davon flitzen würde.
Genau genommen rechnete er sogar genau damit. Als Nick
jedoch sein Rad neben sich her schob und direkt auf Sascha zu
schritt, betete Sascha zu allen Dämonen die ihm geläufig waren
– und zu einem sehr geilen Gott – das er nicht ohnmächtig
würde.
Als gäbe eine Unsichtbare Macht eine Richtung vor,
marschierten sie entschlossen los, Buster zog Sascha und Nick
schob sein Rad. Nick hatte tausend Fragen, in seinem Kopf, und
eine Art drängenden Wunsch, Sascha von seiner neuen
Erkenntnis zu erzählen. Doch nicht eine einzige Frage
formulierte sich, sie waren alle weg, hinterließen eine
unfruchtbare Wüstengegend in Nicks Gehirn, durch die
gelegentlich Dornbüsche rollten. Und keine Situation schien
ihm richtig, seine Erkenntnis Preis zu geben. Platzte man es
einfach raus? Wie sagt man es? Musste er es Sascha überhaupt
sagen? Dieser war doch offenbar ohnehin überzeugt, oder etwa
nicht?
Auch Sascha grübelte um den heißen Brei herum. Hatte er sich
zu entschuldigen? Für seine Familie? Für das was er Nick im
Stiegenhaus nach gerufen hatte?
„Ich habe in dein Notizbuch gesehen.“ platzte es aus Sascha
heraus und Nicks Kopf quoll rot an. Nie war ihm die Tatsache
verhängnisvoll erschienen, das es durchzogen war von
144
männlichen Körperstudien, bis jetzt. Okay, jetzt war es wohl
raus, dachte er.
„Alles du gezeichnet?“ fragte Sascha. Eigentlich wollte er
darauf hinaus, wer der Mann war, der Modell für all die
Zeichnungen gestanden hatte. Noch fühlte er sich bemüßigt,
Nick auf die Schliche zu kommen. Nick atmete auf.
„Ja.“
„Talentiert.“ meinte Sascha.
„Danke.“ grinste Nick, „Ich habe noch viel mehr davon. Zu
Hause!“ rutschte es aus ihm heraus, und er biss sich auf die
Zunge. Über ihnen, in etwa zweieinhalb Metern Höhe jauchzte
eine dickliche Gestalt in Nachthemd, dessen kleine Flügel mühe
hatten, die Flugbahn stabil zu halten. Glitzerstaub rieselte auf
Nick und Sascha herab, unsichtbarer Glitzerstaub.
Nick schob das Fahrrad in den Vorraum, lehnte es gegen die
Wand, schloß die Tür hinter sich und Sascha. Sascha machte
sich daran, seine Schuhe aus zu ziehen.
„Nicht nötig.“ erklärte Nick, warf den Schlüssel auf die
wochenlang gesammelte Post auf der Ablage im Vorraum und
wies Sascha den Weg ins Wohnzimmer. Nick betätigte diverse
Lichtschalter und flitzte durch die Räume, als überprüfe er, das
es kein unerwartetes Wurmloch oder sowas gab. Draußen war
es dunkel geworden und das elektrische Licht senkte das
Wohnzimmer in ein heimeliges Gelb. Buster lief schnurstracks
durch die Wohnung, fand das Schlafzimmer und warf sich aufs
Bett. Sascha trottete unsicher im Wohnzimmer herum und ließ
seinen Blick über die Landschaft aus Kleidung und
Bücherstapel schweifen. Welch ein Kontrast diese Wohnung zu
seiner bot. Er fühlte sich unwillkommen, wie ein wüster
Eindringling der unangekündigt ein Revier stürmte, das ihn
nichts anging. Sascha bemühte sein detektiviesches Gespür, nur
um fest zu stellen, das hier sonst keiner wohnen konnte.
145
Erleichtert verbarg er seine Hände in den Hosentaschen und
suchte nach einem Satz der Anerkennung – aber das Chaos
verlangte keine geistreichen Sätze sondern eine zupackende
Hand. Nick kramte in einer Mappe die in einem Spalt zwischen
Wand und dem Bücherregal steckte.
„Fühl dich ganz wie zu Hause.“ rief ihm Nick zu ohne ihn
anzusehen, kopfüber in der Zeichenmappe. Hier konnte er
etwas Zeit schinden, um sich der Situation bewusst zu werden.
„Ich glaube das geht nicht.“ gab Sascha zu, und schaute
ungeniert auf Nicks Hintern. Und suchte nach etwas Haut unter
T-shirt und Kapuzenshirt, wo sie sich der Schwerkraft beugten.
Jetzt war er also da, wurde ihm ziemlich bewusst, in Nicks
Wohnung. Wer hätte das gedacht. Noch vor einer Stunde hatte
er gedacht, er würde ihn vielleicht nie wieder sehen. Nungut –
zumindest nie wieder mit ihm sprechen. Als Nick gefunden
hatte was er suchte und sich aufrichtete, ließ Sascha seinen
Blick rasch interessiert gegen ein Poster schnellen. Nick
versuchte sich in Gelassenheit. Er suchte nach einer
Möglichkeit, mit Sascha über seine bewegende Erkenntnis zu
sprechen.
„Setz dich doch.“ sagte Nick und Sascha ließ seinen Blick über
das mit Bücher, Kabel und Kleidung überwucherte Sofa
schweifen: Wohin?
Sascha beobachtete fasziniert und verzweifelt zugleich, wie
Nick mit einer einzigen Bewegung alles zur Seite schob, wovon
Einiges zu Bogen krachte. Reflexartig versuchte Sascha das
Zeug aufzuhalten, aber Nick winkte ab und ließ sich in die
weichen Polster sinken.
Als würde er erwarten, das das Sofa lange Zähne aus führe, ließ
Sascha sich nur sachte nieder, und je tiefer er glitt, je weiter
schien das Sofa zurück zu weichen. Als ihn ein todesmutiges
Was solls dazu ermunterte, einfach los zu lassen, sank er
unerwartet tief ein – und weil Nick schwerer als er selber war –
146
oder auf der durch gesesseneren Stelle saß, kippte er fast auf ihn
drauf. Nicht das ihn diese körperliche Nähe gestört hätte,
begierig versuchte er sogar diese Nähe einzuatmen. Das erste
mal das er sich traute, einen Lungenzug zu machen seit er die
Wohnung betreten hatte - doch er rückte rasch von Nick ab.
„Sorry.“ schnaufte er atemlos und spürte ganz genau jene
Stellen an seinem Körper heftig pulsieren, mit denen er Nick
beiläufig berührt hatte. Dieser Abend würde zur
Herausforderung werden. Die Anziehung steigerte sich mit
jeder Sekunde – auch mit jeder Sekunde, in der Nick sich so
unerwartet gelassen gab. Er tat doch glatt so, als hätte er diesen
kleinen Zwischenfall nicht bemerkt – zumindest aber so, als
würde er sich nicht besonders daran stören.
„Okaaaay, ... Zeichnungen.“ sagte Sascha, mehr als Appell
gegen sich selber gerichtet, denn als Aufforderung an Nick. Bei
allen Dämonen die mir geläufig sind, und bei einem recht
geilen Gott, du willst nicht schwul sein? Dachte Sascha bei sich,
als er seinen Blick über diverse Körperstudien gleiten ließ, die
allesamt tadellos waren, durchaus üblich auf dem Weg zu
einem guten Zeichner. Sie setzten in wesentlichem nur mit
größerem Detailreichtum das fort, was das Notizbuch bereits
vorgegeben hatte. Nicht ein weiblicher Körper darunter, und als
Sascha seine Aufmerksamkeit auf eine besonders muskulöse
Körperstudie richtete, dachte er bei sich: Den kenn ich doch!
„Und, ähm ... du zeichnest vom lebenden Objekt?“ versuche
sich Sascha ein Bild von Tathergang zu machen, das weitaus
blühender war, als die Realität. Er würde noch herausfinden
wer das geheimnisvolle Modell war.
„Aus dem Kopf.“ erklärte Nick und wurde ein wenig rot. Das
stimmte doch nur bedingt. Sven hatte existiert – er hatte ihn
gewissermaßen aus seinen Erinnerungen gemalt.
„Das also hast du alles im Kopf? Nur das ich das richtig
verstehe?“ fragte Sascha, ließ seinen Blick über all die
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detailliert ausgearbeiteten Körperteile gleiten und dachte:
schwul.
„Ich meine, natürlich beobachte ich in der Natur, aber direkt
umsetzen tu ich das aus dem Kopf.“ erklärte Nick nicht ohne
Stolz. Natur also, dachte Sascha und fixierte einige Stellen, die
man nicht so ohne weiteres in der Natur vorfinden würde, es sei
denn, man würde der Natur auf die Sprünge helfen. Es war also
doch recht einschlägig, was Nick natürlich fand. Und als Nick
bemerkte, was genau Sascha so interessierte, trieb es ihm
wieder ein bisschen die Farbe ins Gesicht und er sagte rasch:
„Das ist von mir.“ und machte dazu eine flüchtige Bewegung
über die Stellen die er meinte „Ich meine, habe ich von mir
selber abgezeichnet.“ und wünschte sich in derselben Sekunde
in einem Wurmloch verschwinden zu können. Na Prima. Auf
welche weise versuchte er Sascha eigentlich zu erklären was
mit ihm los war? Wollte er die Hosen runter lassen und sagen:
du hattest recht?
Sascha versuchte das Bild aus seinem Kopf zu vertreiben, das
einen nackten Nick vor dem Spiegel zeigte. Er begutachtete
Nicks vermeintlich bestes Stück auf diversen Zeichenblättern
und fragte sich, ob er je würde überprüfen können ob es
stimmte.
Es behagte Nick nicht, das Sascha sich so auf die Zeichnungen
konzentrierte, wenngleich es ihm doch auch gefiel. Immerhin
hielt er seit neuersten viel von Saschas Meinung und betrachtete
ihn seit der finalen Einstellung in seinem sentimentalen
Erinnerungs-Soundtrack mit etwas anderen Augen. Wie Sven,
dachte Nick kurz und war so entsetzt von diesem spontanen
Gedanken, das es ihm einen echt schmerzhaften Stoß ins Herz
versetzte.
Solchermaßen ernüchtert blickte Nick zu Sascha, welcher noch
immer auf die Zeichnungen starrte. Nick bemerkte, das Sascha
etwas am Hals hatte, das wie ein Insektenbein aus dem
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Hemdkragen ragte. In derselben Annahme schlug er reflexartig
da drauf. Sascha wurde unsanft aus seinen Träumen zu Nicks
Leibesmitte gerissen.
„Sorry.“ sagte Nick rasch „Du hast da ...“ und er zog an Saschas
Kragen um darunter das vermeintlich tote Insekt zu entdecken.
Stattdessen aber dehnte sich die dunkle Fläche aus. Fast entsetzt
zog Nick den Kragen weiter herunter, und stellte fest, das er
versucht hatte, den Ausläufer eines gewaltigen Tattoos zu
erschlagen. Sascha zog den Kragen rasch wieder hoch.
„Du bist tätowiert?“ platzte es fassungslos aus Nick heraus.
Wenn Kevin oder Hellen mit einem Wahnsinns Tatoo protzten,
dann ergab das einen gewissen Sinn. Es war logisch. Sascha
aber hatte er bisher jedoch sehr seriös, zurückhaltend - um nicht
zu sagen bieder - eingeschätzt. Ein riesiges Tattoo passte
irgendwie überhaupt nicht.
„Nein.“ gab Sascha nüchtern von sich, reichte Nick die
Zeichnungen und sagte „Schön.“ Nicht, das er zu seiner
Vergangenheit nicht stehen könnte, aber dieses Tattoo war
nichts, auf das er stolz war, und in seinem Leben hatte er es sich
schon oft weg gewünscht. Das sollte sich heute ändern.
„Du hast ein Tattoo? Kann ich es sehn?“ bat Nick, nahm die
Zeichnungen entgegen und legte sie einfach auf den Boden zu
seinen Füßen – was Sascha aus dem Konzept gebracht hätte,
wenn er es nicht schon gewesen wäre wegen der Bitte, sich
quasi vor Nick zu entblößen.
Nicht das er auf einmal Schamgefühle entwickelt hätte, zumal
er erst wenige Tage zuvor genug anderes getan hatte, dessen er
sich hätte schämen können – Gott stand ihm bei – quasi, aber
das kam zu unerwartet. Zwischen der Auseinandersetzung im
Treppenhaus seiner Eltern, und diesem Moment, da er sich
quasi vor Nick ausziehen sollte, lag so gut wie nichts. Für
Sascha trat der Aspekt Hemd aus – vor den Aspekt Tattoo
zeigen. Der Weg hier her war zu mühsam gewesen, um ihn
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durch Übermut zu vermasseln.
„Es ist nichts... besonderes.“ erklärte Sascha zurückhaltend und
verlor sich in Nicks braunen Augen. Himmel.
„Es muss etwas besonderes sein, wenn du es hast.“ sagte Nick
und fügte rasch hinzu „Ich meine, sonst hättest du es doch
nicht.“ Verdammt, Nick sollte es einfach sagen, er sollte
einfach sagen wer er ist, was er ist.
Sascha blickte Nick ungläubig an. Entweder er ist grenzenlos
naiv oder weiß genau was er will. Sascha schluckte, was sollte
er darauf sagen? Langsam bewegte er seine Hände auf den
Verschluss seines Hemdes zu ohne Nick aus den Augen zu
lassen. Noch nie waren ihm seine Hemdknöpfe so klein und
seine Finger so globig vor gekommen. In einer anderen
Situation, bei einem anderen Mann, hätte er das ausgespielt und
sich entkleiden lassen. Jetzt aber nestelte er mit zittrigen
Fingern an den Knöpfen herum. Als er den letzten Knopf
geöffnet hatte betete Sascha zu allen Dämonen die ihm geläufig
waren, und zu einem recht geilen Gott, das er nicht ohnmächtig
würde. Sachte ließ er das Hemd über die Schulter gleiten und
beobachtete Nicks Gesichtsausdruck. Dieser sagte nichts,
sondern bestaunte einen Drachen, der sich über Saschas halben
Rücken, den Oberarm über die Schulter hin zur Brust
ausdehnte. Und Nick sah die wunderschön zart definierten
Muskeln, sein Blick glitt über Schultern, Brust, Bauch und
Arm. Nick erlaubte es sich zum ersten mal vor sich selbst, es
schön zu finden, anziehend.
Vorsichtig berührte Nick das Hemd und schob es noch ein
wenig zurück, um vordergründig das Tattoo in voller Pracht
begutachten zu können. Sascha war schön gebaut. Nick prägte
sich jede Wölbung ein. Das Motiv seiner nächsten Zeichnungen
war damit klar. Nick überkam schließlich das unstillbare
Bedürfnis, Sascha zu berühren. Er wollte wissen wie er sich
anfühlte, warm oder eher kalt, weich oder eher hart.
150
Sascha fühlte die Blicke auf seiner Haut geradezu brennen und
schloss seine Augen. Vielleicht war das Tattoo doch kein so
schlechter Eindruck. Nie hatten er oder einer seiner bisherigen
Lover es so erotisch gefunden, wie Nick, offenbar.
„Kann ich anfassen?“ hörte Sascha von weit her an sein Ohr
dringen und er wusste nicht ob er es nur geträumt hatte.
Verstört schaute er Nick an, der lächelte – wie er immer
lächelte – und einen verträumten Blick hatte, wie er immer
einen verträumten Blick hatte – nur das Sascha nicht mehr
unterscheiden konnte ob es ihm galt, ob es eine Anmache war,
oder ob Nick vielleicht gerade in der Küche Toasts machte und
er das alles nur träumte.
„Ich weiß, das hört sich komisch an, aber ich denke immer, so
ein Tattoo würde sich wie Samt anfassen.“ erklärte Nick seinen
Wunsch. Ja, klar, dachte Sascha, und Bush sichert den
Weltfrieden. Doch er nickte nur, denn Stimme hatte er schon
lange nicht mehr. Sascha fühlte sich wie ein Vampir dem man
die Halsschlagader feil bot, sie sogar für ihn an ritzte um seinen
Appetit anzuregen, der aber versuchte, gegen das Unmögliche
an zu kämpfen.
Nick war überrascht von seiner eigenen Courage. Er hatte sich
über das Wochenende vielleicht zu viel Informiert. Er berührte
sanft Saschas Schultern und zog mit seiner Hand eine
geschwungene Linie über dessen Rücken. Erogene Zonen!
Erogene Zonen! Schrie Sascha innerlich. Jemand konnte sich
unmöglich so verhalten ohne eine Absicht dahinter zu haben.
Andererseits fing die erogene Zone derzeit bei der Türschwelle
an und hörte sowieso nie wieder auf. Spätestens als Nick
selbstvergessen die Hand zur Brust gleiten ließ, schnellte
Saschas Hand auf Nicks Oberschenkel und krallte sich dort ins
Fleisch.
Nick erschrak über diese Reaktion nicht weniger als Sascha,
und versuchte mit beiden Händen, die Hand von seinem Bein
151
zu nehmen.
„Wie, äh, wie kommt es, das du ein Tattoo hast?“ fragte Nick
betont arglos, und Sascha hatte das Gefühl, man hätte ihm die
Quelle reinen Blutes unter den Eckzähnen weg gerissen und
ihm stattdessen ein Daunenkissen ins Maul gerammt.
Verdammt! Beinahe hatte er sich eingeredet, Nicks Interesse
gelte mehr, als nur dem Drachen auf seiner Haut.
„Ich bin nicht vom Himmel gefallen ...“ sagte Sascha voll
Unmut, so wie du anscheinend „sondern habe eine
Vergangenheit.“ und beinahe schon, um ein Haar, zog echter
Groll in ihm hoch. Unschuld und Naivität – das war ja ganz
reizvoll – aber sinnlos wenn es zu nichts führte.
„Das glaube ich nicht.“ sagte Nick geradeheraus. Er hatte zwar
Saschas Hand von seinem Bein bekommen, aber sie noch nicht
los gelassen. Er wollte es sagen. Er wollte es ihm jetzt sagen,
und hielt Saschas Hand mit feuchten Händen fest.
„Ich bin zwar noch nicht ... was weiß ich wie alt du bist,
dreißig?“ gab Sascha nahezu empört von sich. „Aber ich glaub
an Vergangenheit hab ich dir einiges voraus.“ und auch wenn er
sich seine Hand hätte gerne noch stundenlang halten lassen,
versuchte er, sich zu lösen. Er sollte jetzt gehen. Der
Dauerzustand der Erregung begann echt zu schmerzen und er
hatte keine Lust, an explodierten Hoden zu sterben.
„Ich meinte nicht das.“ erklärte Nick und hielt die Hand fester.
Jetzt, sagte er zu sich, jetzt. Er drehte die Hand auf den Rücken,
schob den Hemdsärmel hoch, zeichnete mit seinen Fingern die
lange Narbe nach und sagte:
„Ich glaube du bist schon vom Himmel gefallen.“ Nick zuckte
zusammen. Was sagte er da? Warum sagte er nicht was er
dachte? Warum kamen so seltsame Sätze aus seinem Mund?
Warum schaute Sascha so? Nick schluckte. Sascha näherte sich
ihm, blickte ihm abwechselnd in die Augen und auf den Mund.
Schlagartig wurde Nick klar, was gleich passieren würde. Es
152
war ewig her, das er einem Menschen körperlich so nahe war
wie Sascha jetzt. Und da war dieser tot gewesen. Sascha lebte,
er näherte sich behutsam, und seine Lippen waren warm und
weich. Nick hielt seine Augen geschlossen, wagte kaum zu
atmen, sich nicht zu bewegen, wie zu einer Säule erstarrt hielt
er inne, als sich Sascha längst wieder entfernte.
„Also doch.“ hörte er Sascha von weit her sagen, und erst da
öffnete Nick wieder seine Augen und sah Sascha auf so
wunderbare Art lächeln. Noch nie hatte jemand ihn so
angesehen. Fast niemand. Nick bemerkte, das er immer noch
Saschas Hand hielt, und mit einer zügigen Bewegung zog
Sascha Nick daran zu sich und schlang seine Arme um ihn.
Nick hatte noch nie jemanden Umarmt. Zumindest nicht seit er
in die Pubertät gekommen war. Die Nähe, die Wärme des
anderen Körpers, zu spüren wie dieser sich im Atmen hob und
senkte, die Arme, die sich so harmonisch um den Körper
schlangen – es war ein Wunder. Nick hielt Sascha so fest, als
müsse er andernfalls ertrinken. Er wollte mehr. Er wollte
zumindest nicht, das dieser Moment jemals vorübergeht.
Saschas weiche und warmen Lippen fanden ihn erneut, und
Nick gab sich nur bereitwillig einem leidenschaftlichen Kuss
hin, als ein Gefühl ihn durchbohrte wie Blei. Plötzlich war ihm,
als wäre Sascha kalt, hart, tot. Nick sah Sven vor sich, ihm war
als würde er gehalten von einem knöchernen Toten, der nun
aber gar nicht der schön verkitschen Erinnerung entsprach.
„Du hast geschworen, niemals zu lieben.“ donnerte eine
blecherne, grollende Stimme – die Nick zwar Sven zuordnete,
nicht aber Svens Stimme entsprach. Svens Kopf war zu einem
entstellten Totenkopf mutiert, und knöchernes Gebein, daran
verrottendes Fleisch neigte sich Nick entgegen, forderte
seinerseits den Kuss.
Ssascha kam gerade erst in Fahrt, als sich Nick begann, wie
verrückt gegen ihn zu stemmen. Er riss sich los, starrte Sascha
153
entsetzt und mit wirrem Blick an, und schrie:
„Ich habe geschworen niemals zu lieben.“ Tränen standen in
seinen Augen, eine Grimasse von Ekel und Verzweiflung
überzog Nicks Gesicht und er sprang vom Sofa. Als wäre der
Teufel hinter ihm her, rannte Nick hinaus, hielt nur einmal kurz
inne um Sascha einen Blick des Bedauerns zu zu werfen, und
verließ dann seine eigene Wohnung.
Es lag dieses aufregend erfrischende Knistern in der Luft, das
für die Nächte der ersten warmen Sommertage typisch ist, aber
an Nick war das vergeudet. So umsichtig wie Nick sich sonst
verhielt, um nicht aufzufallen, um unsichtbar zu bleiben, in
dieser Nacht vergaß er all diese Fesseln, all seine Knebeln. Es
war nicht mehr oberste Priorität, unscheinbar zu sein. Die ganze
Welt mitsamt ihren Menschen hatte keinen Wert, keine
Dringlichkeit im Verhältnis zu seinem Leid. Daher bemerkte er
auch nicht, das er laut mit sich selber sprach, als er ohne Ziel
durch die Gassen irrte. Er bemerkte die Pärchen nicht, die
Spaziergänger, die Herrchen die ihre Hunde aus führten – er
bemerkte nicht, wie sie ihn ansahen, einen Bogen um ihn
machten, über ihn den Kopf schüttelten und ihm noch lange
nach sahen.
Er sprach mit dem Schicksal, mit seinen eigenen Gedanken,
seinen Schuldgefühlen, seiner Vergangenheit und er sprach mit
Sven. Er spürte den Kuss noch deutlich auf seinen Lippen und
wann immer ihm das einfiel, wann immer die Szene von vorhin
durch sein Bewusstsein schritt – stach es ihn in den
Eingeweiden. Er wollte zurück laufen. Er konnte nicht zurück
laufen. Er konnte Sascha nie wieder sehen. Nein, auch wenn
sein gesamtes selbst nichts sehnlicher wünschte, als Sascha
nahe zu sein – er durfte nicht.
„Sieh her!“ rief er „Sieh her! Es hat noch nicht einmal richtig
angefangen und schon tut es weh! Schon ist es Leid!“ für Nick
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war die Sache klar. Liebe ist das schlimmste Übel, es ist Leid,
Qual und sie ist auf jeden Fall zu vermeiden. Wollte er am Ende
denn auch von einer Decke baumeln? War das der Plan? War
das der Sinn hinter der Liebe? Also wollte er es doch wie bisher
handhaben – und eben nicht lieben. Das hatte die letzten
dreizehn Jahre doch wunderbar funktioniert! War er etwa
unglücklich gewesen? Nein! Jetzt war er unglücklich, jetzt litt
er. Jetzt, wo er... Und wieder gabs einen Tritt der Erinnerung in
die Magengegend. Nick war in der Hölle gelandet. Auch wenn
er es sich einredete – und er redete mittlerweile sehr laut – er
spürte das er nicht mehr zurück konnte. Er wusste, das er nicht
mehr glücklich werden würde. Mit Sascha nicht, und ohne
Sascha nicht. Sie würden am Ende noch beide von der Decke
baumeln.
Nick war so in Selbstgespräche vertieft – man sollte sie eher
Selbstgeschreie nennen, das er nicht merkte, wie er in den Park
gekommen war. Und auch da schritt er quer über den Rasen,
dessen Tau die Hosenbeine nass machte, und ignorierte Wege
und Paare und bemerkte noch nicht einmal, wo Laternen Sicht
spendeten oder die Finsternis alles Sichtbare verschlang.
Und so musste er sich fragen, was um alles in der Welt passiert
war, als er diese Truppe Zirkusleute antraf. Sie standen und
saßen auf einer Parkbank versammelt und auch wenn die
Laterne darüber kaputt war, waren sie deutlich sichtbar. Sie
waren einfach da und taten so, als würden sie auf ihn warten –
auf ihn, und niemanden sonst.
Erst wäre er beinahe auch an ihnen vorbei gelaufen, hätte sie
ignoriert, wie den Rest der Welt. Doch weil der Anblick gar so
grotesk war, riskierte er einen zweiten Blick. Er kannte die
doch. Sie kamen ihm bekannt vor. Das riesige Muskelgebirge
von Vater mit seiner etwas rotznasigen Tochter. Der skurrile
Onkel.
Plötzlich wurden seine Gedanken völlig still. Er zog das
155
Notizbuch aus seiner Hosentasche und verglich die Zeichnung
die er einst im Cafe machte und die ihn so überrascht hatte. Das
er die Zeichnung in der Dunkelheit sehen konnte, verwunderte
ihn nicht weiter – immerhin war das was er vor sich sah
wesentlich beeindruckender.
„Hallo Nick.“ sagte der kleine dicke Mann im Nachthemd. Nick
hatte keine Zweifel daran, das er gemeint sein könnte, dennoch
blickte er sich um. Es schien angemessen, das zu tun.
„Ja, dich meinen wir.“ erklärte der kahlköpfige Mann für alle.
Nick entging nicht, das der Riese splitterfasernackt war. Viel
bemerkenswerter aber fand er das kleine Mädchen.
„Sieh ihr nicht in die Augen.“ brummte das Muskelgebirge
rasch und Nick zuckte zusammen.
„Wie geht es dir denn?“ fragte Amor.
„Gut!“ sagte Nick reflexartig. Wenn ein Fremder dich so etwas
fragt, dann will er nicht über deine Probleme sprechen. Das
hatte ihm seine Mutter einst beigebracht. Außer er ist ein
Psychologe.
„Lügner!“ rief Mana wie ein ungezogenes Mädchen. Nicks
Blick schlich zu ihr, als Varis wieder betonte:
„Schau ihr nicht in die Augen!“ Nick zuckte erneut und
bemühte sich, der Versuchung zu widerstehen, das kleine
Mädchen anzusehen.
„Wir wissen warum du hier bist.“ erklärte Amor.
„Weil ich mich verlaufen habe?“ fragte Nick, sah sich um und
fügte hinzu „Obwohl ich eigentlich sehr genau weiß wo ich
bin.“
„Kein Wunder. Da bist du auch schon reichlich lange.“ gab
Mana von sich und Nick bemühte sich, nicht hinzusehen.
„Ich kam eigentlich gerade erst frisch...“ entgegnete er ihr, und
stierte dabei intensiv auf Varis Bauchnabel. Als er das
bemerkte – und vor allem bemerkte, das Varis es bemerkte –
konzentrierte er sich rasch auf den Mann im Nachthemd. Er
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schien jemand zu sein mit dem man vernünftig reden konnte.
„Sie meinte nicht den Park.“ erklärte dieser „Sie meinte dein
Leben.“
„Was weiß sie schon von meinem Leben?“ entgegnete Nick
ungehalten. Das Zirkusleute immer irgendwelche mystsichen
Shows abziehen müssen. Gleich fangen sie an, von
Gedankenlesen und Kristallkugeln zu faseln.
„Du hast geschworen, nie wieder zu lieben. Hast du eigentlich
in den letzten dreizehn Jahren mal überlegt, was dieses wieder
bedeutet?“ fragte Amor. Nick fühlte sich ertappt. Woher
konnten sie das wissen? Dann aber fand er seine kritische
Distanz wieder und erklärte sich dies mit einem Trick.
Vielleicht hatten sie ihm zugehört, er hatte ja doch laut mit sich
gesprochen gehabt.
„Ich weiß, du dachtest du hättest nie geliebt.“ fuhr Amor fort
„Zumindest hast du dir das lange genug eingeredet, nicht
wahr?“
„Wie macht ihr das?“ fragte Nick und machte einen Schritt
zurück. Plötzlich ertönte über ihm in einem Zweig ein beherztes
„Krah!“
„Er ist schon okay, er gehört zu uns.“ beruhigte Amor, als er
Nicks verblüfften Blick sah. Nick kannte den Vogel. So gut er
eben sagen konnte, das man einen Vogel kannte. Mag es
Millionen Vögel geben auf der Welt, die diesem glichen – so
wusste er doch ganz genau, das er diesen Vogel schon einmal
gesehen hatte. Wie könnte er ihn auch vergessen, trat er doch in
regelmäßigen Abständen in seinen Alpträumen auf.
„Wer seid ihr?“ fragte Nick.
„Freunde.“ gab sich Amor knapp „Freunde die dir helfen
werden.“
„Helfen wobei?“ Nick fühlte sich in Schach gehalten, der Vogel
über ihm, die drei seltsamen Gestalten vor ihm, und diese
seltsamen Psychotricks mit denen sie in seinen Gedanken lesen
157
konnten.
„Warum wolltest du nie wieder Lieben?“ fragte Amor.
„Laaaaangweilig!“ motzte Mana, verdrehte die Augen und blies
Luft durch ihre Lippen. Sie verstand es, Nick zu irritieren.
„Das geht euch nichts an.“ erklärte Nick und machte einen
weiteren Schritt zurück. Er sollte hier schleunigst
verschwinden.
„Du hast Sven geliebt!“ brummte Varis Stimme sehr weich und
mitfühlend. Das lag wohl daran, das Varis sehr gut mit fühlen
konnte. Auch er liebte.
„Woher weißt du den Namen?“ fragte Nick. Eine Faust zog
seinen Magen zusammen, sein Herz raste und kalter Schweiß
kroch langsam den Rücken hinunter.
„Mann! Willst du den Scheißschwur nun lösen oder nicht?“
klirrte Manas Stimme ungehalten in die Nacht.
„Schwur?“ Nick kannte sich nicht mehr aus.
„Willst du glücklich werden?“ fragte Amor, und Nick begann
schon zuzustimmen, als Amor hinzufügte „Mit Sascha?“
Nein, wollte Nick darauf schreien. Er wolle keine Liebe, er
wolle ohne Liebe glücklich werden. Aber sein Mund folgte
nicht. Er schwieg, blieb gelähmt, sein Kopf jedoch nickte.
„Vergiss es!“ rief Mana „Der will nicht. Merkt ihr das denn
nicht?“
„Also wenn er Sascha nicht will... ich finde sie hat recht – dann
muss er ja nicht.“ gab Varis eifrig und betont großzügig vor
sich, während er daran dachte, eine gewisse Nacht zu
wiederholen.
„Was ist los mit euch?“ platze Amor der Kragen „Fällt ihr mir
jetzt in den Rücken? Ich hab euch den Vogel der Zeit befreit,
jetzt tut was ihr versprochen habt und helft mir gefälligst!“
„Sorry.“ brummte Varis schuldbewusst.
„Wovon sprecht ihr eigentlich?“
„Die Sache ist die.“ begann Amor „Du hast da vor dreizehn
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Jahren einen ziemlich... naja... sagen wir unüberlegten Schwur
getätigt. Du weißt schon, welchen. Dieser Schwur steht, nun, er
steht... ähm gewissen Plänen im Wege. Und wir sind nun hier,
um dir zu helfen, diesen Schwur obsolet zu machen.“
„Der Schwur hat seine Richtigkeit.“ beharrte Nick auf einen
Standpunkt, den zu Vertreten er sich gerade nicht so sicher war.
Aber die seltsame Brigade war in der Überzahl und dabei, einen
wirklich wichtigen Punkt in seinem Leben zu negieren. Was
wussten die schon? Sven hatte den Fehler begangen, seine
Liebe wahr zu machen, sie leben zu wollen, und nun war er tot.
Nick hatte ihm noch selber Mut gemacht, also war er indirekt
auch schuld an Svens Tod. Die Herrschaften hier, und
überhaupt alle, redeten sich leicht, wenn sie von der Liebe
sprachen. Auch Nick hatte mal so geredet, und Sven ermutigt
seiner Angebeteten die Liebe zu gestehen. Es war der
schlimmste Fehler in seinem Leben gewesen. Hätte Sven nicht
versucht, seine Liebe wahr zu machen, so würde er noch leben.
„Vielleicht.“ so gab Amor zu bedenken „Kanntest du nicht alle
Fakten.“
„Was soll das heißen?“
„Manches sieht anders aus als es scheint. Vielleicht beruht dein
Schwur auf falschen Annahmen.“
„Sven ist tot. Das ist keine Annahme, das ist ein Fakt.“
„Sollen wir dir nun helfen, du Versager, oder nicht?“ gab Mana
ihrer Ungeduld freien Lauf. Amor bedachte sie mit einem sehr
wütenden Blick.
„Wenn es einen Weg gäbe, die Situation noch einmal zu
beleuchten. Mit dem Wissen das du jetzt hast. Mit einem
Wissen das du damals nicht haben konntest, nicht zulassen
konntest zu haben, wenn du mit diesem Wissen an den Tag des
Schwurs zurückgehen könntest – würdest du?“ wollte Amor
wissen.
„Was sollte das bringen?“ Nick war verunsichert. Meinten sie
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etwa Zeitreisen? Das war absurd. Völlig unvorstellbar.
„Du könntest einiges anders betrachten, besser verstehen.“
„Ihr habt eine Zeitmaschine mit der ihr mich dreizehn Jahre
zurückversetzen wollt. Sehe ich das richtig?“
„Es ist nicht direkt eine Zeitmaschine. Und du könntest nicht in
deinem jetzigen Körper reisen.“
Sie machten wohl Witze. Nick hatte gut Lust, sie
herauszufordern. Vermutlich würde das ganze seltsame Theater
hier damit ein jähes Ende finden. Er könnte nach Hause gehen,
und... da war er wieder, der Schlag in die Magengegend. Mit
glühendem Kopf und weichen Knien erinnerte er sich, das
Sascha noch bei ihm zu Hause sein könnte. Nick spüre
Sehnsucht nach ihm, aber zugleich auch diesen furchtbaren
Schranken, diese eiskalte Beklemmung, diesen Schwur. Es war
mehr als reine Provokation, als er schließlich sagte:
„Okay! Ich machs. Was soll ich tun?“
„Was könntest du schon verlieren? Schlimmstenfalls... Oh...
Oh, okay. Du bist einverstanden. Das ist gut!“ stammelte Amor
aufgeregt und der Vogel der Zeit ließ ein heiseres Krächzen los.
Mit einem Mal entstand rege Betriebsamkeit. Varis erhob sich
von der Parkbank – das war im Prinzip das Betriebsamste –
Amor und Mana wichen zur Seite und winkte Nick herbei.
Zögernd näherte er sich der Bank und setzte sich vorsichtig als
hätte er angst, sich einen Span einzuziehen.
„Hinlegen bitte.“ gab Amor Anweisung, und Nick bekam erste
Zweifel. Was würden sie sich für einen Verrückten Zaubertrick
einfallen lassen?
„Ganz ruhig atmen, nicht schrecken.“ sagte Varis in einem
besorgniserregenden ruhigen Tonfall. Nick fiel ein, das er gar
nicht wusste, in welcher Gestalt er denn die Zeitreise machen
würde. Und – auch wenn er nicht wirklich glaube, in wenigen
Minuten dreizehn Jahre zurück zu reisen – wie er wieder in die
Gegenwart zurück fände. Und ob er, wenn er etwas verändern
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würde, die gesamte Welt verändern würde. Am Ende käme er in
einer vollkommen anderen Welt heraus und wäre... ja... wäre
Sascha nie begegnet. Und auch, wenn er immer noch nicht an
die Umsetzung dieses bescheuerten Plans glaubte, so tadelte er
sich, so unüberlegt eingewilligt zu haben.
„Schön entspannen.“ brummte Varis, berührte vorsichtig Nicks
Buch und sagte „Du bist zu verkrampft. Lass los! Es wird dir
nichts passieren. Wir haben das schon mit tausenden Leuten
gemacht.“
Ah, dachte Nick, sie machen Hypnose. Das hätte er sich
eigentlich denken können. Und noch während er in den klaren
Sternenhimmel blickte und sich darauf einstimmte, arglos vor
sich hin zu träumen – stürzte die seltsame Krähe auf ihn zu. Sie
zielte genau auf seine Stirn, zwischen seine Augen und in
jenem Moment, als sie sein Gehirn durchschmetterte, fühlte
Nick seinen Körper nicht mehr. Im nächsten Augenblick zerrte
ihn etwas hoch, hoch hinauf in den Nachthimmel. Alles war
größer, gewaltiger, der Abstand zum Boden vergrößerte sich
rapide, Nick kämpfte mit Schwindel und Übelkeit. Er wurde
wie verrückt hin und her gerissen und bald wusste er nicht
mehr, wo oben und wo unten ist. Und dann kam das Feuer. Es
war als würde die Welt brennen, dann bemerkte er, das er selber
es war, der brannte. Er wurde mit dem Sog eines Strudels weg
gerissen, und ehe er sein Bewusstsein verlor, erblickte er ein
Geschöpf das grässlicher war als alles was er je gesehen hatte.
Es hatte einen widerwärtig nackten, buckligen Körper, einen
kahlen runden Schädel und zwei gelbe verlorene Vorderzähne.
Es lachte bösartig und alles in ihm und um ihn herum
verkrampfte sich. Es war etwas böses, das wusste er. Sein
letzter Gedanke war: Etwas schreckliches ist passiert!
Sascha drehte einen Schlüssel zwischen seinen Fingern hin und
her – und ließ ihn dabei fallen. Buster schreckte hoch und
161
blickte ihn müde an. Hingebungsvoll, aber müde. Es war vier
Uhr in der Früh, Buster lag endlich in seinem luxuriösen
Körbchen – aber von erquickender Nachtruhe war nicht zu
sprechen. Sein Herrchen hielt es keine drei Minuten an
derselben Stelle aus, und keine zwei Minuten ohne einem tiefen
besorgniserregenden Seufzer.
Sie waren erst vor einer Stunde heim gekommen. Zu Busters
tiefgreifender Verunsicherung hatte Sascha in der fremden aber
inspirierend duftenden Wohnung intensiv aufgeräumt. Bei
jedem Geräusch das nicht durch den Krach erzeugt wurde, den
Sascha beim akribischen Säubern erzeugte, hielt dieser inne.
Zehnmal pro Stunde lief Sascha wie von einem unsichbaren
Soldaten aufgefordert zur Türe, öffnete sie, horchte, und schloss
sie wieder. Und dann war es passiert. Die fremde Wohnung war
sauber, fast so sauber wie Saschas eigenes Domizil, und
unterbrach jäh Saschas Tatendrang.
Fünfmal verließ Sascha entschlossen die fremde nun saubere
Wohnung, und betrat sie wieder um drei Minuten rastlos auf
dem Sofa zu warten. Buster hatte brav mitgespielt, auch wenn
nach dem dritten Mal die Spannung raus war und er wusste, das
nichts Aufregendes mehr zu erwarten gewesen war.
Endlich waren sie aber doch daheim gelandet – doch die
Ruhelosigkeit des Herrchens nahm kein Ende. Sascha spielte
mit dem Schlüssel der fremden Wohnung herum, stand auf,
vergaß was er tun wollte, setzte sich wieder.
„Hellen?“ sagte nun Sascha und riss Buster wieder aus einem
Sekundenschlaf. Erst dachte er, er würde angesprochen, doch
Sascha drückte sein Telefon ans Ohr.
„Ja, ich weiß wie spät es ist.Ist Kevin bei dir?“
„Hat sich Nick bei euch gemeldet?“
„Ich weiß, daß es mitten in der Nacht ist. Hat er sich
gemeldet?“
„Nicht?“
162
„Ich mach mir Sorgen um ihn.“ sagte Sascha „Hellen?“ Hellen
hatte schon aufgelegt. Sascha überlegte nicht lange und drückte
auf Wahlwiederholung.
„Nick ist abgehaun.“ platzte Sascha heraus.
„Ja, gewissermaßen gehört das zu seinem
Persönlichkeitsprofil.“ gab Sascha zu. „Aber... Hellen?“ Er
starrte eine weile unentschlossen auf das Display seines
Mobiltelefons und drückte erneut die Wahlwiederholung.
„Hat er sich wirklich nicht gemeldet?“ fragte er. Doch Hellen
hatte nicht abgehoben sondern ihn einfach weg gedrückt.
Das Licht des Morgens zog kaum die ersten zähflüssigen
Schatten, da ertönte bereits der Chor der Singvögel im Park.
Varis, Mana und Amor bewegten sich um Nicks leblosen
Körper herum, welcher vor ihnen im Gebüsch lag. Mana häufte
verspielt verrottendes Laub und Grad darüber, Varis zog ihn an
Arm oder Bein noch etwas mehr ins Gebüsch, heraus aus dem
Blickfeld eventuell vorbeikommender Passanten.
„Ist das normal?“ fragte Amor der sich verwunderte, das die
unsanfte Behandlung Nick nicht weckte.
„Es dauert normalerweise nicht so lange.“ brummte Varis und
schob mit seinem nackten Fuß Nicks Leib in der Körpermitte
noch etwas weiter unter den Busch. Ein leicht nervöser
Unterton schwang in seinem Bass mit. Amor hörte es genau.
Mana stierte wütend auf Nick, seit er in die Bewusstlosigkeit
gesunken war.
„Mieses Arschloch!“ zischte sie leise.
„Wie lange sollte es denn so dauern, im Durchschnitt?“ fragte
Amor.
„Ich weiß es nicht.“ gab Varis zu, und rieb sich am Kinn. „Aber
nicht so lange. So lange hat es noch nie gedauert.“
Amor befühlte vorsichtig Nicks Stirn – er hätte auch ungestüm
und rücksichtslos sein können wie Mana und Varis, die Nicks
163
Körper behandelt hatten wie einen Sack Kohlen – Nick blieb
ungerührt - und zuckte entsetzt zurück.
„Er ist kalt!“
„Wirklich?“ fragte Varis, neigte seinen Kopf und legte
seinerseits seine massive Hand auf Nicks Stirn, wobei er das
Gesicht beinahe vollständig abdeckte. „Stimmt.“ gab er zu.
„Ist er tot?“ fragte Amor. Mana hob ihre zarte, blasse Hand,
fasste Nick an einer Augenbraue und zog so heftig daran, das
die Haut sich dehnte und schließlich Haare her gab. Jeden
Menschen in noch so tiefem Schlaf hätte das aufgeweckt.
Amor war entsetzt. Mana warf die Augenbrauenhaare zu Boden
und fuhr mit ihren kleinen Fingern erneut grob in Nicks
Gesicht, zerrte an den Wangen, bohrte ins Kinn, rieb brutal über
die Nase. Amor kämpfte mit sich, ob er sie aufhalten sollte.
„Was macht sie da?“ flüsterte er zu Varis.
„Sie reagiert sich ab.“ erklärte Varis „Ausserdem steckt sie ihm
gerade einen Käfer in die Nase.“
„Sie... was?“
„Sie reagiert sich ab. Sie mag ihn nicht. Aber der Käfer scheint
ihn zu mögen.“ Varis legte seinen Kopf schief.
Amor riss die grobe Kinderhand von Nicks Gesicht, pulte den
Käfer aus dessen Nase und schrie Mana an:
„Bist du verrückt?“
Sie zog eigenwillig ihren Arm zurück und sagte
„Er hats verbockt!“
„Was?“
„Er hat Nastyboy mitgenommen! Nastyboy gehört mir! Er hat
kein Recht dazu!“ schrillte ihre beleidigte Kinderstimme. Mana
verschränkte die Arme und blickte finster.
„Er hat was?“ Amor blickte Mana an wie ein Vater dessen Kind
gerade gestand, das es Kaugummi gestohlen hatte.
„Nastyboy. Er hat ihn mir weg genommen.“
„Oooh!“ brummte Varis und taumelte hoffnungslos zurück.
164
„Was heisst das?“ Amor hatte Varis noch nie hoffnungslos
erlebt.
„Das er am Arsch ist!“ brüllte Mana mehr als unhöflich.
Mana schlug mit ihrer flachen kleinen groben Hand auf Nicks
Stirn, sodass die Haut rot anlief.
„Ich bin am Arsch.“ dachte Nick als er wieder fähig war,
zusammenhängende Gedanken zu fassen. Um genau zu sein
war es das einzige, zu dem er derzeit fähig war: Gedanken
fassen. Und diese fassten sich eben so zusammen: Ich bin am
Arsch. Diese Erkenntnis überkam ihn, als ihm zweierlei
bewusst wurde: Er war nicht Herr über seinen Körper, er war
sich noch nicht einmal sicher ob es sein eigener Körper war.
Und er war nicht Herr seiner Motivation, was er im ersten
Moment so gar nicht formulieren hatte können. Er hatte es auch
jetzt noch nicht formuliert, es war mehr ein diffuses Gefühl.
Eine Art düstere Ahnung. Etwas böses hatte von ihm Besitz
ergriffen.
Doch der Reihe nach.
Gerade war er noch im Park gewesen und hatte Bekanntschaft
mit ein paar abstrusen Wahrsagern eines Zirkus gemacht, die in
seinen Gedanken herum gestöbert hatten wie in einem
Wühltisch beim Sonderabverkauf, und ihn unter der idiotischen
Idee einer Zeitreise hypnotisierten. Nick wusste wie es war,
hypnotisiert zu werden, das durfte er als Kind in der Therapie
erfahren, in der man versucht hatte, so etwas wie ein
Vatertrauma zu lösen, das er noch nicht hatte. Aber das hier war
etwas anderes. Vielleicht war das der Unterschied zwischen
billiger Showhypnose und therapeutischer Hypnose? Nun, in
diesem Fall hätte er der Showhypnose wesentlich mehr Punkte
gegeben, denn was er in ihr erlebte fühlte sich so real an, es
wirkte echt. Und sie brachte ihn an einen echten Ort. Einen, den
er schon einmal gesehen hatte, den er kannte. Die Farben, die
165
Geräusche, die Gerüche – sie waren intensiv und sehr vertraut.
Er war schon einmal hier gewesen.
Und dann sah er ihn. Einen jungen Mann von zarten siebzehn
Jahren dem all das markante fehlte, das ihm heute im Spiegel
entgegen schaute. Es war Nick. Nick sah sich selber.
Unglaublich jung. Er hatte sich nie so junge gefühlt wie er hier
aus sah, nicht einmal als Kind. Aber das war wohl die Tücke
der Ich-Perspektive. Umso verrückter war es, sich von außen zu
sehen, wie ein Fremder, und auch wenn gewisse
Bewegungsabläufe sich nicht geändert hatten, so konnte Nick
nicht glauben, das er wirklich so agierte. So wie jeder, der das
erste Mal seine Stimme hört, von ihr angewidert ist, so war er
es jetzt von der Art wie er als Gesamtkonzept wirkte. Oder
gewirkt hatte. Im Spiegel posiert man bloß, hier aber war er das
nackte Leben. Unzensiert. Und es war widerlich. Das Gefühl
von Ablehnung und Hass wuchs besorgniserregend und
ungebremst rasch an, ehe Nick merkte, das da etwas war, das
diese Negativität schürte. Etwas Böses.
Nick hatte versucht, sich selbst zu folgen und dabei
Bekanntschaft mit seinem jetzigen Körper gemacht. Dem
Körper seiner aktuellen Ich-Perspektive. Er existierte nicht.
Oder anders gesagt – er gehorchte nicht. Aber er gehorchte
diesem Abgrund den er in sich spürte. Und dieser hatte zufällig
das selbe Ziel. Sven.
Nick erkannte die Situation in der sich sein jugendliches Abbild
befand, und er wusste, das Sven hier war. Als er das erkannte,
war ihm elend und aufgekratzt zugleich zumute. Nie hätte er
gedacht, Sven jemals lebend wiederzusehen, außerhalb seiner
Träume. Er spürte Sehnsucht. Und zugleich hatte er Angst
davor. In den vergangenen dreizehn Jahren hatte sich das Bild
der Erinnerung gewiss verändert. In all den Zeichnungen und
seinen Albtäumen hatte sich ihm doch bloß eine verzerrte
Vorstellung von Sven gezeigt. Nick ahnte einfach zu deutlich,
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das es sich von dem unterscheiden würde, das er sobald zu
sehen bekäme.
Zuvor aber wurde er Zeuge, wie er sich selbst, sein jugendliches
selbst, im Spiegel kontrollierte – prüfte, ob das Haar saß, und
seine Augenbrauen befeuchtete. Oh, der Tick mit den
Augenbrauen, den hatte er fast vergessen gehabt. Zu allem
Überfluss spannte der Teenager auch noch seinen Bizeps an,
um sich selber zu bewundern. Nein, nicht bewundern, Mut
machen. Er wirkte sehr nervös. Nick erinnerte sich gar nicht das
er nervös gewesen war damals. Der jugendliche Nick verließ
den Raum, und der Körper in dem er sich nun befand setzte sich
in Bewegung um ihm zu folgen. Der Körper erhob sich
kraftvoll und folgte dem Jungen aus einer Höhe, die Nick klar
machte, das er fliegen musste. Nick befand sich also im Körper
eines Vogels. Eines bösen Vogels, wie es den Anschein hatte,
denn eine dumpfe Beschlagenheit machte sich in Nicks Gemüt
breit – ungeachtet der Eindrücke die er verarbeiten musste.
Und dann sah er ihn. Sven.
Er sah genauso aus wie in seiner Erinnerung, und doch auch
wieder nicht. In seinen Träumen war er mit gewachsen, war
älter geworden, war immer in seinem eigenen aktuellen Alter
gewesen. Nun aber frischte seine Erinnerung pur den lebenden
Sven auf, und das traf ihn mitten ins Herz. Es zerstörte alle
Schreckensbilder des Leichnams, die ihn so lange gefesselt und
geknebelt hatten. Aus Nicks Herz – auch wenn es körperlich
nicht anwesend war – floss die Trauer in dicken zähflüssigen
Tropfen, und zugleich wurde es geflutet von einer tiefen
Wiedersehensfreude. Am liebsten wäre er hin geflogen und
hätte ihn umarmt. Doch sein fremdartiger Köprer gehorchte
nicht. Er saß, von den Jungen unbemerkt, noch im anderen
Zimmer, aber so, das er sehen konnte.
Nick erinnerte sich. Es war dieser unselige Tag, als er Sven riet,
seiner Angebeteten noch seine Liebe zu gestehen. Sven wirkte
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gedrückt und aufgeregt. Er starrte die meiste Zeit auf seine
eigenen Handgelenke, während Nick auf ihn einredete. So viel
hab ich gesprochen? Frage sich Nick. Sven schien immer
wieder Luft zu holen, um etwas zu sagen, und tat es dann doch
nicht. Das hatte Nick damals gar nicht bemerkt gehabt, so
beschäftigt war er gewesen, mit guten Ratschlägen zu glänzen.
„Was soll schon passieren? Das schlimmste das passieren kann
ist, das sie dich nicht mag. Dann wärst du so weit wie jetzt, wo
du dir ständig einredest das sie dich ja doch nicht will. Also
verlierst du nichts.“ erklärte Nick überraschend lebendig.
„So einfach ist das nicht.“ schüttelte Sven den Kopf, hob wieder
seinen Brustkorb als wolle er nun erklären, wo das Problem lag,
aber dann blitzte eine Angst in seinem Gesicht auf und er sagte
nichts. Nick als Vogel wusste, das sein jugendliches Ebenbild
über diese feine Geste hinwegtrampeln würde und die
Überzeugungsarbeit fortsetzen würde. Er aber, er der
Erwachsene im Leib eines Vogels, hätte einfach zu gerne
gewusst, was Sven ihm hatte sagen wollen. Halt die Klappe,
dachte er genervt gegen sein frühers Ich, hör hin, hör doch
einfach mal hin, es ist die letzte Chance, verdammt, er will dir
etwas sagen. Wenn du jetzt nicht zuhörst wirst du ihn nie
wieder lebend sehen! Nick wünschte sich, das er einen Körper
hätte, mit dem er energisch ins Zimmer schreiten und sein
junges Selbst schütteln konnte. Einen Mund hätte, mit dem er
Sven hätte fragen können, was ihm auf dem Herzen liegt, was
er plane, warum, und wie er es verhindern könnte. Doch der
Vogelkörper saß regungslos da und eine finstere Kraft in ihm
schien die Verzweiflung zu genießen, die er fühlte. Sie war
hungrig, mehr als hungrig – gierig. Je länger Nick der Szene
beiwohnte, die hundert Signale wahr nahm, die Sven sandte, die
er damals übersehen hatte, umso unerträglicher wurde es.
Ich muss es verhindern, beschloss er. Ich muss herausfinden
wie ich diesen Körper lenken kann. Ich muss verhindern das
168
Sven stirbt.
Als Kevin vom Motorrad sprang, das unter Hellens Hintern
ungeduldig brummte, bemerkte er bereits Sascha, der vor dem
Geschäft zappelte und den Hund völlig verrückt machte. Hellen
murmelte etwas genervt in ihren Helm, das Kevin nicht hören
konnte, und gab dem Benzingaul die Sporen.
„Hat sich Nick bei dir gemeldet?“ fragte Sascha Kevin.
„Oh, hallo! Ja, danke, mir geht es gut. Und dir? Ach, ich konnte
die halbe Nacht nicht schlafen weil so ein Verrückter
Telefonterror betrieben hat.“ sagte Kevin.
„Was? Achso... ja. Also hat er?“ fragte Sascha. Buster verdrehte
die Augen und ließ schnaubend seine Schnauze auf die
Vorderpfoten krachen. Kevin seufzte, hielt inne als er die Türe
zum Shop öffnete und sagte:
„Nein, hat er nicht! So wie er nie hat! Warum sollte er auch?“
„Oh, verdammt.“ sagte Sascha und biss sich nachdenklich auf
seinen Finger.
„Aber vielleicht haben wir Glück und in ein paar Sekunden hat
mich mein erster Kunde das Geschäft betreten lassen und ich
kann nachsehen ob Nick hinter einem Bildschirm liegt.
Neuerdings fühlt er sich dort heimisch.“ erklärte Kevin.
Sascha sah sich um.
„Kunde? Da ist doch eh keiner... oh... achso...“ Sascha senkte
etwas beschämt den Kopf. Kevin hielt noch einmal inne, blickte
Sascha augenbrauenlos und prüfend ins Gesicht, seine
Schuhbandhaare beschrieben synchron achter.
„Sag mal, was ist eigentlich vorgefallen?“
„Ja... also... wie soll ich sagen. Das ist nicht so einfach zu
erklären...“ begann Sascha ausschweifend.
„Du hast ihn geknutscht und er hat die Panik bekommen. Jetzt
ist er weg und du denkst er springt von einer Brücke.“
vervollständigte Kevin rasch den Satz. Sascha sah Kevin
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überrascht an.
„Er hat sich also doch gemeldet?“ schloss er.
„Nein.“ erklärte Kevin und öffnete die Türe „Es war heute
morgen in den Nachrichten.“ Sascha drängte sich an Kevin
vorbei und lief schnurstracks zu den Computern im hinteren
Teil des Geschäfts. Irgendein Server surrte, aber keine
Anzeichen von menschlichem Leben. Kevin beobachtete
Sascha, der sogar unter Stühlen und Ordnern nach sah.
„Hast du schon unter Brücken nachgesehen?“ schlug er vor und
wackelte mit den nicht vorhandenen Augenbrauen.
„Was? Brücken? Wieso?“ fragte Sascha und verzog dann die
Mine. Er fand es nicht annähernd so amüsant wie Kevin. Er
hatte aber auch nichts geschlafen und das puschte die Dramatik
simpler Momente unheimlich.
„Brücken, Parks und Krankenhäuser.“ meine Kevin „Wenn du
nach einem Toten suchst, fang dort an. Man erzählt sich, das sei
vielversprechender als Aktenordner und Bürostühle. Wobei...
vermutlich hat man dort auch schon jemanden gefunden. Also,
schau dich nur in Ruhe um.“ und damit wandte sich Kevin ab.
Sascha benutzte ein unflätiges Wort gegenüber Kevin, das
dieser jedoch nicht wahr nahm, weil er durch den Verkaufsraum
schritt und die Kopierer anwarf. Brücken, Parks und
Krankenhäuser – das war keine so schlechte Idee. Kevin war
vielleicht ein wenig einfach – aber er hatte seine lichten
Momente.
„Hey, super, vielen dank.“ flötete Sascha und klopfte Kevin
fröhlich auf die Schulter, als er rasch aus dem Shop flirrte –
gefolgt vom hektischen getrippel von Busters Krallen auf den
Fliesen. Kevin klatschte entschlossen in seine Hände und sagte
zu sich:
„Na, dann werden wir den Laden heute also mal alleine
schupfen.“
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Nick vermerkte, das fliegen keine Eigenschaft war, die er als
Mensch vermisste. Auch wenn sein Magen über ein Jahrzehnt
in der Zukunft in einem leblosen Körper im Gebüsch im Park
lag – so wurde ihm regelmäßig schlecht, sobald der
Vogelkörper sich kräftig in die Lüfte schwang. Von der
Perspektive wurde ihm schwindlig und wenn er die Kontrolle
über den Körper gehabt hätte, er wäre überall dagegen
gedonnert und am Ende hätte er sich dafür entschieden, zu Fuß
zu gehen. Auch wenn das für eine Krähe etwas mühsam und
vor allem gefährlich gewesen wäre. Die gesamte Welt wirkte
wesentlich gefährlicher aus der Perspektive eines Tieres – auch
wenn es ein Tier war, das die Zeit beherrschte.
Der Leib des Vogels war Sven gefolgt und Nick merkte, wie er
zunehmend angespannt wurde. Einerseits würde er nun
vielleicht endlich jenes Mädchen sehen, das Svens Herz
gebrochen hatte und ihn damit in den Selbstmord trieb –
andererseits stand dieser unseelige Moment unmittelbar bevor.
Nick war sich nicht sicher, ob er diese Szene so direkt erleben
wollte.
Nick verstand den Vogel der Zeit als einen reinen Beobachter,
der ihn an jene Schauplätze brachte, die für sein weiteres Leben
in der Zukunft relevant sein könnten. Somit war ihm klar, das er
nicht würde eingreifen können, und unter diesen Umständen
wollte er nicht Zeuge des Todes an sich sein.
Sven kam in sein Zimmer, das aus der Vogelperspektive und
nach der langen Zeit einigermaßen verbaut aus sah. Auf jeden
Fall aber war es ziemlich unordentlich, Nick fühlte sich sofort
wohl. Es war seltsam, Sven so unbemerkt beobachten zu
können, und zugleich fragte Nick sich, warum er selber nicht
bemerkt wurde. Eine Krähe in seinem Zimmer bemerkt man
doch? Vielleicht war er ja unsichtbar, kam es ihm in den Sinn.
Sven wirkte seltsam gedrückt und angespannt. Nicht wie
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jemand der sich in der nächsten Stunde würde in eine Schlinge
werfen. Diese Mischung aus Himmelhochjauchzend und
Zutodebetrübt kannte Nick. Sven war richtig verliebt. Das hatte
Nick damals auch schon gewusst, nur war es etwas anderes, ihn
so zu sehen – wo er sich nicht für jemand anderen
zusammenreißen musste.
Sven warf sich auf sein Bett, seufzte, stierte in die Luft, seufzte,
schlug mit der Faust auf die Matratze um schließlich wieder
sanft zu seufzen. Plötzlich erhob er sich, öffnete die Lade des
Nachtkästchens und fischte ein Buch heraus. Nicks total ödes
und vollgekritzeltes Mathematikbuch aus der Volksschule und
Nick fragte sich, warum er dieses Buch in der Schublade
aufbewahrte – geschweige denn warum er es jetzt lesen wollte.
Sven blickte zur Türe, und öffnete das Buch dann, um ein Foto
hervor zu holen. Nick konnte zwar das Motiv nicht sehen,
wusste aber, das es ein Foto von dem Mädchen sein musste.
Jetzt hätte Nick doch gerne den Körper steuern wollen. Zu
gerne hätte er gesehen welche es war. Auf dem Begräbnis
damals hatte er sie alle verdächtigt, aber sie war offenbar so
abgebrüht, dass sie entweder gar nicht gekommen war, oder
aber keinen Bezug zwischen Svens Selbstmord und ihrer derben
Abfuhr hergestellt hatte.
Sven schaute lange und intensiv auf das Foto. Dabei fuhr er sich
mit seinen Fingern gedankenverloren über die Lippen. Nein,
nicht gedankenverloren, seine Hand wanderte weiter über den
Hals, tastete sich über das T-shirt. Oh, nein, oh nein, Sven, bitte
nicht – dachte Nick. Nicht das er es nie erwartet hätte, das Sven
so etwas machte, aber das er es so kurz vor seinem Tod machte,
auf ausgerechnet jenes Mädchen das ihn auf dem Gewissen
hatte. Nick war regelrecht zornig, und konnte es doch nicht
zeigen. Diese innige Bosheit die dem Vogelkörper innewohnte
schien sich an der aufkeimenden Eifersucht zu laben. Svens
Hand wanderte in seine Hose, während er unablässig auf das
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Foto stierte, und bediente sich. Nick hätte lügen müssen, wenn
er behauptet hätte, ihn hätte das nicht angemacht. Er war hin
und her gerissen zwischen der Enttäuschung, das Sven doch so
einfach gestrickt war, Eifersucht auf das Mädchen, die er erst
jetzt, so viele Jahre später, zulassen konnte – und Erregung. Als
Sven auf seinen Höhepunkt zusteuerte, bemerkte Nick, das
diesem Tränen aus den Augenwinkeln liefen. Überhaupt schien
Sven auf einmal regelrecht zusammenzubrechen. Er begann auf
einmal zu schluchzen, krümmte sich zusammen und ohne
seinen Orgasmus gelebt zu haben, drehte er sich zur Seite und
zog seine Beine an. Als er so in die Embryonalstellung sank,
ließ er das Foto los und es fiel auf seinen Kopfpolster.
Nick erstarrte. Er kannte das Foto. Er kannte es zu gut. Und er
kannte die Person auf dem Foto nur zu gut. Sie blickte ihm
allmorgendlich in den Spiegel. Hätte Nick seinen Magen hier
gehabt, er hätte sich übergeben. Sven lag unten in seinem Bett
und schluchzte sich die Seele aus dem Leib, und Nick saß oben
auf dem Schrank, gefangen in einen unsichtbaren Vogelkörper
und hätte am liebsten das selbe getan. Wenn er gekonnte hätte,
er wäre hinuntergestürzt und hätte Sven umarmt, ihm all das
gestanden was er sich stets verboten hatte. Ach wenn er das
gewusst hätte. Wenn er es bloß geahnt hätte. Obwohl der Vogel
festen Boden unter den Füßen hatte, wurde Nick schwindlig,
dachte er, er müsse ohnmächtig werden. In
Sekundenbruchteilen rasten Gedanken, Ereignisse und vor
allem sämtliche Möglichkeiten einer verschenkten Zukunft
durch den Sinn. Wenn er es nur geahnt hätte. Wie hatte er sich
doch eigentlich danach gesehnt gehabt, so sehr er es sich auch
selber verboten hätte. Hätte Sven nur eine kleine Andeutung
gemacht, irgendetwas gesagt, eine kleine Geste gemacht – alles
wäre anders gekommen. Nick hatte doch jahrelang heimlich
darauf gehofft. Aber er war wohl ebenso feig wie Sven
gewesen. Er hatte ebenso erwartet, der andere habe den Mut,
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den er selber aufzubringen hatte.
Und Nastyboy fraß sich voll. Er fraß sich am Leid der Beiden
so voll das er dachte er müsse platzen. Aber er fraß weiter und
weiter und in seiner unendlichen Gier ahnte er, das noch viel
mehr herauszuholen war. Oh ja, er hatte gewusst das es sich
auszahlte, den Vogel der Zeit zu entführen. Er war ja nicht blöd,
er war ja kein dummes Haustier für das die Anderen ihn immer
hielten. Er hatte mitgehört und er hatte gewusst, das es hier
mehr Futter für ihn gab, als er fressen konnte. Er würde so stark
werden, das die Anderen nur so schauen würden. Jawohl, neidig
würden wie werden. Aufschauen würden sie zu ihm und es
würde ihnen Leid tun, wie herablassend sie ihn immer
behandelt hatten. Ach, das Leid der beiden Jungs schmeckte so
köstlich. Vor allem Nick war eine wahre Quelle von
Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen – aber auch Svens Qual
der unerwiderten Liebe, der Angst vor einer Zukunft als
Außenseiter war köstlich. Nastyboy wuchs mit den
Delikatessen die ihm die Beiden verschafften, und mit Eifer
stellte er bereits das Kochrezept zusammen für ein noch
köstlicheres, noch üppigeres Mahl. Auf Qualität kam es ihm
nicht mehr so an, er wollte nur mehr, mehr. Auf jeden Fall
mehr.
Sie sah verdammt gut aus. Hätte Amor sich eine Frau backen
können, so hätte sie wohl ausgesehen. Sie war groß und schlank
und ihre ellenlangen Beine endeten in einem engen weißen
Minirock. Sie war komplett in weiß gekleidet und trug eine
kleine Schürze mit Rüschen, wie Kellnerinnen sie tragen. Am
anderen Ende der Beine glänzten weiße High Heels mit einem
Lila Masche darauf. An der Rückseite der weißen Strumpfhose
schlängelte sich die gute altmodische Naht hoch. Auf ihrem
pechschwarzen Haar im Pagenschnitt saß ein kleines Krönchen
aus weißem Tüll und lila Strass.
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Diese Haltung. Man sehe sich nur diese Haltung an. Ihr Rücken
war elegant durch gestreckt, als sie den Bogen in Position
brachte und die Sehne anzog. Diese Eleganz... von der konnten
sich manche Schützen etwas ab schauen. Sie visierte eine Frau
mittleren Alters an, die in einem Arbeitsoverall steckte und
ihren Körper über die geöffnete Motorhaube neigte. Kaltblütig
und entschlossen wie ein Jäger schoss die Dame in weiß den
Pfeil ab, und er zog eine Spur aus lila Glitter hinter sich her.
Ohne den Bogen zu senken, und in einer professionellen Ruhe
nahm sie einen weiteren Pfeil aus dem Köcher, legte an und
schoss diesen auf einen Mann im Anzug, offenbar den Besitzer
des Wagens.
„Hey, Hey!“ rief Amor empört, als ihm klar wurde, was diese
Frau da im Begriff war zu tun. Die Körperhaltung der beiden
getroffenen Menschen änderte sich Schlagartig, und ebenso
schlagartig baute sich eine allzu bekannte Spannung auf. Amor
hatte das schon tausende Male erlebt. Nämlich dann, wenn er
seine Pfeile verschoss.
„Wer sind Sie! Was tun Sie denn da!?“ rief er und seine
winzigen Flügel begannen zu schlagen um ihn hoch zu heben.
Die Dame in weiß erschrak, sie hatte offenbar nicht damit
gerechnet, gesehen werden zu können. Als sie Amor erblickte,
der mit der Eleganz und Fluglinie einer Hummel auf sie
zusteuerte, entfalteten sich riesige transparent Schwingen. Sie
schienen weniger aus Materie zu bestehen als aus reiner
Energie die je nach Bedarf die Flügel sichtbar oder weniger
sichtbar machte. Es wirkte schön, elegant und sinnvoll.
„Gudrun?“ rief Amor. Er kannte sie doch. Das war doch die
Kellnerin aus dem Cafe in der Nähe des Copyshops. Jene
Kellnerin, die sich umgebracht hatte und die er vor Gottes
Amtszimmer angetroffen hatte. Gudrun reagierte wie jemand,
der genau wusste, das er ertappt worden war, und der so tat als
gäbe es noch eine Fluchtmöglichkeit. Zugegeben, gegen ihre
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Ausstattung zum Fliegen hatte Amor keine Chance. Und genau
das würde der zweite Punkt sein, den er ansprechen würde,
wenn er Gott zur Rede stellte, warum er einen zweiten Amor
engagierte. Aber Amor würde sie dennoch finden, das geboten
ihm alleine schon ihre Beine.
Lieber Nick, tippte Sven in seinen Computer ein, betätigte die
Maus und löschte Lieber weg. Nun stand Nick da. Sven
überlegte und schrieb Geliebter davor. Geliebter Nick, las er
sich selber vor. Er wiederholte es mehrmals, eher er mit dem
Cursor in die nächste Zeile sprang. Doch noch ehe er ein
weiteres Wort schrieb, löschte er Geliebter wieder weg.
Nick – oder die ornithologische Version der Zeit – saß auf der
Lehne von Svens Sessel und konnte daher genau mit lesen.
Krampfhaft überlegte er, das er kein solches Mail von Sven
erhalten hatte.
Nick,
du wirst dich sicher wundern, warum ich dir ein e-mail schicke,
schrieb Sven, und löschte dann wieder jeden Buchstaben
einzeln. Bis auf den Namen.
Nick,
vielleicht wirst du mich hassen, aber ich muss es dir einfach
sagen. Sven benutzte die Maus um den Text zu markieren und
drückte auf Entf.
Nick,
ich... begann Sven von neuem und stierte dann minutenlang auf
den blinkenden Cursor. Dann schrieb er weiter, langsam,
Buchstabe für Buchstabe, hielt immer wieder inne – liebe.
Wieder vergingen einige Minuten in denen Sven wie
hypnotisiert auf den Bildschirm starrte und klopfte schließlich
rasch Dich, in die Tastatur. Hätte Nick seine Beine dabei
gehabt, hätte er nun weiche Knie bekommen.
Schick es ab, schick es ab – beschwor er Sven, als könne er die
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Vergangenheit ändern, als wäre er mehr, als ein reiner
Beobachter. Plötzlich schien Sven Angst vor der eigenen
Courage zu bekommen und löschte die Zeile wieder.
Oh nein, bitte schreib es nochmal, sende es verdammt noch
einmal ab – flehte Nick.
Schließlich aber schien Sven die Muse zu küssen und er begann
energisch zu schreiben.
Nick,
ich hasse dich. Jeden Tag und jede Stunde die ich dich kenne,
jede Sekunde die du in meiner Nähe bist hasse ich. Denn ich
kann an nichts anderes mehr denken als daran, dich zu
berühren, zu umarmen, dich zu küssen. Ich möchte nichts
sehnlicher, als dir endlich sagen, dass ich mich in dich verliebt
habe – aber das geht nicht. Du würdest es nicht verstehen,
würdest entsetzt sein, du würdest mich hassen. Ich hasse mich
doch selber dafür, das ich so empfinde und damit alles zerstöre.
Aber ich kann nicht mehr so weitermachen. Auch wenn du dich
für immer von mir abwendest, so muss ich es dir sagen...
Svens liefen Tränen über die Wangen und Nick wünschte sich
nichts sehnlicher, als sie trocknen zu können. Als ihm sagen zu
können, das er keine Angst zu haben braucht. Er wollte ihn in
den Arm nehmen und ihm sagen, das er Sven nicht hasst – nein
– er wünschte sich, er könnte Sven sagen das er ihn auch geliebt
hatte. Liebte. Aber mehr als beobachten konnte er nicht und er
ahnte, wie unerträglich es noch werden würde.
War dies ein Abschiedsbrief? Oder hatte Sven tatsächlich
versucht, ihm seine Liebe zu gestehen? Warum hatte Sven es
nicht abgeschickt? War es tatsächlich einfacher zu sterben als
ihm zu sagen wie er fühlte? Nick war ja kein Mensch gewesen
der sich leichtfertig über andere lustig machte. Dass Sven ihm
so wenig vertraut hatte – das er ihn für so niederträchtig
gehalten hatte, dass er lieber gestorben war als sich ihm
anzuvertrauen, verletzte Nick. War er tatsächlich so unnahbar?
177
Nun... er war als ein Beobachter hier weil er so unnahbar war.
Zum ersten Mal, seit Nick in seiner Vergangenheit war, dachte
er an Sascha. Und auf einmal wurde ihm klar, warum er hier
war. Er musste dazu stehen. Das war es. Das war doch die
Erkenntnis die er gewinnen sollte. Konnte er nun zurück? Wie
konnte er zurück in die Zukunft aus der er gekommen war?
Nick hatte das Bedürfnis, sofort Sascha aufzusuchen. Doch
nichts tat sich. Kein Hinweis darauf, wie er aus der Situation
wieder heraus kam. Nick wollte unter keinen Umständen
erleben und zusehen müssen, wie Sven sich wegen ihm
umbrachte. Dieser löschte den geschriebenden Text wieder und
begann von neuem... und Nick kannte diesen Text. Ein Schauer
lief ihm über den Rücken, denn nie – bis jetzt – hatte er ihn so
verstanden wie in diesen Sekunden.
Lieber Nick,
Die Hände nach dir ausgestreckt,
greifen sie in Glaspaläste
um sich blutig zu schneiden.
Du – Elfenkönig – regierst,
ohne mein Blut zu sehen.
-Sven
Dieses Mail kannte er sehr wohl, aber er hatte es nie so gelesen,
wie er nun wusste, das es geschrieben worden war. Sven
überlegte noch eine weile, kreiste mit seinem Mauszeiger über
den Sende-Button, und entschloss sich, noch etwas hinzu zu
fügen:
Lies mal, habe ich heute geschrieben, wie findest dus?
Das fügte er zwischen Nicks Namen und den Text, löschte das
Lieber heraus und schickte das Mail ab. Nick hätte am liebsten
den Kopf gegen eine Wand geschlagen, wenn er bestimmen
hätte können, wie er sich bewegt. Mit nur einem Satz hatte
Sven eine Distanz hergestellt, die über dreizehn Jahre gehalten
hatte. Nick hatte immer gespürt, das da etwas drin steckte in
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den Zeilen. Nicht umsonst hatte er selbst sie an die Wand im
Treppenhaus geschrieben. Als ein Andenken, hatte er es
gedacht. Es war so klar, so logisch. Nick konnte nicht fassen,
dass er in all den Jahren – und er hatte den Text doch täglich
gelesen – nicht erkannt hatte, was er bedeutete. In diesen
Minuten schien es, als hätte der Text nie etwas anderes
bedeuten können.
Sven schien zu erwarten, das die Zeilen so ankamen wie er sie
gedacht hatte. Sobald das Mail raus war, begann er mit dem
Fuß zu wippen, seine Hände zitterten und er kaute an seinen
Fingernägeln. Und wie ein besessener klickte er alle zwanzig
Sekunden auf Mails Empfangen. Er schien alles, seine gesamte
Seele in das Mail gesteckt zu haben. Nick dachte angestrengt
nach, was er ihm geantwortet hatte.
Nastyboy labte sich.
Es herrschte ein reges Sterben in der Welt der Insekten im Park
an diesem langweiligen, wenn auch wunderschönen
Nachmittag. Mana krallte ihre Finger in ihre Emopuppe und
hypnotisierte Käfer, Ameisen, Fliegen und Wespen – kurzum
alles was zufällig an ihr vorbei krabbelte, als sie im Gras,
unweit eines reglosen Leibes saß. In der Folge warfen sich
Käfer auf Gehwege vor die Füße von Passanten, Wespen und
Fliegen stürzten sich in Spinnennetze oder Limonadedosen und
Ameisen suchten einen anderen Stamm auf.
Keine zwei Meter entfernt hatte Varis seinen enormen Leib auf
den Tisch einer Sitzgarnitur gewuchtet, ein Bein lässig auf die
Sitzbank gestemmt, das andere scharrte im Sand. Dort wachte
er nun schon seit Amor sich für einen Moment verabschiedet
hatte. Dieser hatte irgendetwas von langen Beinen und kurzen
Röcken gefaselt, dann innegehalten, das bockige kleine
Mädchen betrachtet und gemeint, das wolle er jetzt auch gar
nicht näher ausführen. Dann hatte er seinen Blick auf Varis
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ruhen lassen, der gerade damit beschäftigt war, seine
Brustmuskeln nach einer inneren Melodie im Takt zucken zu
lassen und hatte verächtlich gemeint, das dieser es noch
weniger verstünde.
Der Moment – wie Amor ihn genannt hatte – dauerte
mittlerweile schon einige Stunden an, und Nick lag nach wie
vor leblos im Gebüsch. Varis war in Sorge, das Nick noch nicht
wieder aufgewacht war – wobei die Sorge weniger Nick an sich
galt – sondern eher den Schwierigkeiten, die er mit Amor
bekommen würde.
Plötzlich durchbrach ein schnauben und röcheln die
sommerliche Stille des Nachmittags. Varis spannte jeden
Muskel an, ja, sogar Muskeln, die streng genommen gar keine
waren, und erhob sich vom Tisch. Sascha hielt die Leine mit
dem Terriermischling wie eine Wünschelrute vor sich, und
Buster stürmte direkt ins Gebüsch, direkt auf den leblosen
Körper von Nick zu.
Auch wenn Varis für Sascha unsichtbar war, sorgte er sich
zunächst darum, einen guten Eindruck zu machen, als darum,
zu verhindern das Buster Nick fand. Und so geschah es, das
Sascha mit einem heiseren Aufschrei des Entsetzens in die Knie
sank.
„Verdammt.“ sagte Varis und warf Mana einen
bedeutungsschweren Blick zu. Diese jedoch zuckte nur mit den
Schultern und suchte mit gelangweilter Mine ein weiteres
Geschöpf um ihm den Lebenswillen zu rauben.
Sascha hatte nicht wirklich erwartet, dass er einen Toten sucht.
In den Stunden der Suche hatte er diverse Vorstellungen, wie
dieses Treffen ausfallen würde. Von ergreifenden Szenen, in
denen Sascha Nick beherzt von Brückengeländern weg zerren
würde, über den alten Eifersuchtstraum – nämlich das er Nick
bei einem Liebhaber finden würde bis hin zu schwülstigen
Szenen aus stürmischen Liebesfilmen war so ziemlich alles
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darunter gewesen. Nicht jedoch hatte er tatsächlich daran
gedacht, Nick tot vorzufinden.
„Nein!“ stieß es daher heiser aus seiner Kehle, als Buster ihn
stolz vor Nicks leblosem Körper abstellte und sich eine üppige
Belohnung erwartete. Nick sah mitgenommen aus.
Besorgniserregend verdreht lag er auf dem Rücken, sein T-shirt
mit dem Aufdruck „Schwuchtel“ hatte deftige Grasflecken und
war von Erde verdreckt. Jemand hatte ihn wohl eine ganze
Strecke ins Gebüsch gezogen und versucht, ihn mit etwas Laub
und Gras zu bedecken. Zudem zeigten rote Flecken im Gesicht,
das ihn wohl jemand etwas malträtiert haben musste. Varis
stand, noch unsichtbar aber etwas unbeholfen daneben und
schaute etwas betreten drein. Ja, das ganze war etwas peinlich.
So sollte Sascha Nick natürlich nicht vorfinden. Gut, seiner
persönlichen Meinung nach sollte er ihn gar nicht finden, aber
er hätte die öden Stunden des Wartens dazu nutzen können ihn
etwas zurecht zu machen. War ja nicht nötig das man Nick so
liebevoll hier hin geworfen hatte wie ein altes Geschirrtuch.
Gut, ein Glassarg und ein Anzug hätten auch nicht gerade eine
bessere Grundstimmung erzeugt, aber es hätte doch etwas her
gemacht. Varis geriet beinahe ins Schwelgen – denn eine
ähnliche Situation – mit Glassarg und so – hatte er schon
einmal miterlebt.
„Was ist passiert? Was haben sie mit dir gemacht?“ fragte
Sascha mit zitternder Stimme, klaubte Gras und Laub von
Nicks Körper und strich ihm zärtlich über das Gesicht. Die
Haut war kalt und Sascha tastete rasch nach dem Puls. Er
konnte ihn nicht finden und neige seine Wange an Nicks
Lippen. Doch er konnte auch keinen Atem spüren. Kurz
überlegte Sascha, ob er Herzmassage und Beatmung machen
sollte – kam aber zu dem Schluß, dass er gar nicht wisse wie
lange Nick schon hier herum läge. Ohne Zeit zu verlieren zog er
sein Handy aus seiner Hosentasche um einen Notruf zu tätigen.
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Doch noch ehe jemand am anderen Ende der Leitung ran ging,
spürte Sascha, wie ihm jemand das Handy langsam vom Ohr
weg aus der Hand nahm. Es geschah so sanft und
selbstverständlich, das er gar keinen Widerstand leistete. Er sah
dem Handy nach, das von einer recht großen Hand umschlossen
wurde – so fest – bis es krachend zerbrach und schließlich
Plastiksplitter zu Boden bröselten. Erst da regte sich Empörung.
„Hey, was...“ und im nächsten Augenblick erkannte er, wem
diese Hand gehörte: Gott höchst persönlich. Beziehungswiese
dem, den er seit langem schon für Gott hielt. Gott pflegte wie
immer die Freikörperkultur und sein langes blauschwarzes Haar
wehte üppig im Wind wie der Umhang eines Helden.
„Ist er...?“ fragte Sascha. Immerhin hatte er hier die höchste
Instanz vor sich, die, zugegebener Maßen, unpassend erregt
war. Varis schloss langsam seine Augen und schüttelte weise
seinen Kopf.
„Er ist nicht tot, er schläft nur.“ grollte seine gewaltige Stimme
tröstend durch Mark und Bein. Sascha blickte wieder zu Nick
herab, hob ihn an den Schultern an und schüttelte ihn. Varis
legte eine Hand auf Saschas Schulter und machte
„Schschsch... nicht.“
„Aber er schläft so... so tief...“ gab sich Sascha beunruhigt, aber
auch entschlossen, Gott zu vertrauen.
„Es ist ein... äh... besonderer Schlaf.“ brummte Varis und Mana
schüttelte genervt ihren roten Schopf.
„Ein besonderer Schlaf?“ fragte Sascha nach.
„Warum sagst du ihm nicht einfach, dass er tot ist?“ zischte
Mana herüber.
„Weil er nicht tot ist!“ entgegnete Varis heftig und als er sah
dass Sascha zuckte fügte er rasch mit sanftem Ton hinzu
„Vertraue mir.“
„Das will ich tun, Herr.“ gab Sascha ehrfurchtsvoll von sich,
und dachte für Bruchteile einer Sekunde an gewisse Sequenzen
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in einer gewissen Nacht. Mana lachte zynisch.
„Herr!“ spöttelte sie für Sascha ungehört.
„Was ist geschehen?“ fragte Sascha. Varis warf Mana einen
hilfesuchenden Blick zu, diese aber verdrehte nur verächtlich
die Augen und zeigte Varis ihren Rücken.
„Er ist... gestolpert.“ meinte Varis rasch.
„Gestolpert?“
„Ja... äh... er ist im Stockdunkeln gegen einen Baum gelaufen.“
erklärte Varis. Sascha hob seinen Blick und sah sich um. Es gab
im Park zwar genug Bäume, nicht aber in der Nähe, sodass
jemand automatisch derartig spektakulär hier ins Gebüsch
fallen konnte, wenn er einen solchen beherzt anvisieren würde.
„Und wie kam er dann hier her?“ fragte Sascha.
„Ich bin ja gespannt wie du da wieder raus kommst.“ murmelte
Mana bösartig.
„Ich habe ihn hier her gebracht... damit keiner auf in drauf
tritt.“ erklärte Varis und verzog sein Gesicht.
„Damit keiner auf ihn drauf tritt?“ wiederholte Sascha und
blickte nun zu Gott direkt auf um ihm ins Gesicht zu sehen ob
er das wirklich ernst meinte. Varis versuchte mild zu lächeln
wie er es weisen Männern ab geschaut hatte. Er meint es ernst,
dachte Sascha, bei allen Dämonen die mir geläufig sind und
einem ziemlich geilen ihmselbst – viel Ahnung davon wie das
hier unten bei uns Menschen funktioniert, hat er ja nicht
gerade. Und dann fügte er in Gedanken hinzu: Das erklärt
einiges.
„Ich kann ihn hier nicht liegen lassen.“ erklärte Sascha
schließlich, schob einen Arm unter Nicks Knie, den anderen
unter dessen Achseln und stemmte sich mit ihm hoch. So ein
lebloser Körper war ganz schön schwer, Nicks Kopf sackte ins
Genick zurück und sein Kiefer klaffte auf.
„Ähm, könntest du...?“ bat Sascha Varis, und hielt ihm Nick
entgegen. Dieser hob behutsam Nicks Kopf und lehnte ihn
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sachte gegen Saschas Schulter.
Als Amor wenige Sekunden Später den Park betrat – oder
besser – beflog, bot sich ihm folgendes Bild:
Ein Mann trug einen anderen Mann durch den Park – quasi in
den Sonnenuntergang – als würde er ihn über eine Schwelle
tragen wollen. Dahinter stapfte Varis, der sich gelegentlich über
Sascha beugte und Nicks Kopf einen kleinen Schubs verpasste,
wenn dieser zurück kippte. Mana schleppte sich hinterher, den
Blick trotzig in den Boden verhaftet, ihre Emopuppe an ihren
kleinen Leib gepresst. Amor schwenkte in einem etwas zu groß
geratenen Bogen herum und schwirrte plump wie eine Hummel
hinter der Karawane her. Sascha ahnte indes von dieser
Begleitung nichts. Gott hatte sich in Luft aufgelöst, sobald er
mit Nick davon marschiert war.
Nichts. Gar nichts hatte Nick Sven damals geantwortet. Er hatte
das Mail erst entdeckt, als Sven bereits unter der Erde war. Und
diese Erkenntnis war derzeit nicht im Geringsten dazu geeignet,
ihn zu beruhigen.
Bei einem kleinen Rundumblick durch
das Zimmer bemerkte Nick das Seil, an dem Sven in wenigen
Stunden würde von der Decke baumeln – dort, wo im
Augenblick noch der Boxsack zur sportlichen Ertüchtigung
hing. Es war ein Kletterseil, das sich Sven auf seiner Suche
nach immer neuen Sportarten einmal zugelegt hatte. Benutzt
hatte er es aber nur ein einziges mal. Wenn Nick geahnt hätte
wofür, hätte er es ihm sicher - wenn auch nur unter einem
Vorwand – weg genommen.
Sven hatte sein Zimmer verlassen, und Nick hätte erwartet, das
sein beobachtender Vogelkörper ihm unbeirrt folgen würde.
Immerhin war es doch der Grund warum er hier war: um die
Situation zu begreifen. Er hatte begriffen, aber anstatt in seine
Gegenwart zurückzukehren steckte er fest. Und nun setzte der
Vogel die Beobachtung noch nicht einmal fort. Stattdessen
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spürte er, wie eine durchdringend böse Macht Besitz über den
Vogel erlangte. Eine Macht, die über die Zeit, über sein Leid
hinweg gewachsen war. Sie schien den Vogel zu lenken, sie
schien die Position der Beobachtung zu verlassen um zu
agieren.
Nick spürte, wie der Vogelkörper sich erhob und auf das
Keyboard zusteuerte. Wie bei jedem Flugversuch, auch wenn es
nur ein sehr kurzer war, wurde Nick übel. Als er ich wieder fing
und klar sehen konnte, traute er seinen Augen kaum: der
Vogelkörper bediente den Computer. Nicht nur, dass er begriff,
wie er seinen Schnabel auf das Keyboard hacken musste, um
Wörter zu bilden, er verfügte über das Wissen, ein Mail von
einer Website aus zu schicken. Und erst nachdem Nick diese
Überraschung verdaut hatte, stellte er zu seinem Entsetzen fest,
das die böse Macht im Vogelkörper Zugriff zu seiner
Erinnerung hatte. Oder, schlimmer noch, ihn über seine
Befürchtungen austrickste. Denn in der Sekunde da Nick
begriff, das diese böse Macht in der Lage sein könnte, in
seinem Namen eine fingierte Mail zu senden, schien er schon
sämtliche Zugangsdaten offen zu legen und der Vogel brauchte
nur noch abzutippen.
Nick versuchte sich zu wehren, versuchte seine Gefühle und
seine Gedanken zu schützen, doch Nastyboy war zu stark
geworden. Nick musste zusehen, wie der Körper mit dem er in
die Vergangenheit gereist war, jener Körper, der ohne ihm nie
her gewesen wäre, ein Mail verfasste, das so schwarz, so böse
war, das es Sven direkt in den Tod treiben würde. Als Nick
erkannte, das seine Weigerung in der Zukunft zu lieben, den
Tod seines Freundes in der Vergangenheit verursachen würde,
meinte er wahnsinnig zu werden. Es war eine Falle, man hatte
ihn in eine Falle gelockt. Nein, dieser Vogelkörper diente nicht
zur reinen Beobachtung – er konnte agieren, er konnte die
Vergangenheit manipulieren. Er war extra in die Vergangenheit
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gereist, um diese Tragödie in Gang zu setzen. Und Nick
erinnerte sich an ihn – erinnerte sich wie seltsam es gewesen
war, das dieser Vogel in Svens geschlossenem Zimmer
gewesen war. Nick merkte, wie er beinahe den Verstand verlor.
Konnte es sein, das sein feiges Verhalten dazu geführt hatte,
Sven zu töten? Doch wenn dieser böse Vogel agieren konnte, so
musste er doch auch selber dagegen ankämpfen können.
Da betrat Sven wieder sein Zimmer. Er war bleich. Er hatte sich
Nick offenbart und hatte nun eine Heidenangst vor seiner
eigenen Courage. Aus Svens Reaktion schloss Nick, das sein
Körper unsichtbar sein musste – ein Rabe neben der Tastatur
hätte Sven sicher irritiert. Doch in diesen Minuten wünschte
sich Nick, das er sichtbar wäre – denn das hätte Sven vielleicht
davon abgehalten, die Mail zu lesen. Und vielleicht hätte Nick
macht über den Körper erlangen und das Mail noch löschen
können. Doch die dunkle Macht war zu stark und hielt Nick
klein. Tatenlos musste er zusehen, wie Sven sich an seinen
Rechner begab, und wie sich die Pupillen weiteten, als er das
Signal war nahm, dass ein neues Mail angekommen war. Der
Körper des Vogels schien ein krankes Interesse daran zu haben,
die besonders argen Momente genau zu beobachten.
Sven stand augenblicklich ein leichter Schweißfilm auf der
Stirn und mit zittrigen Fingern hielt er die Maus fest.
Schließlich schloss er die Augen und sein Atem ging flach und
heftig, als er das Mail anklickte.
Hallo Sven,
du hast mich ja ganz schön erschreckt. Fast hab ich geglaubt, du
willst mir irgend so einen schwulen Kram andrehen. Puh. Lass
solche perversen Sachen in Zukunft sein, ja? Kümmere dich
lieber um deine heimliche Angebetete, anstatt mich mit solchen
kranken Sachen zu ärgern.
Grüße Nick
P.s: Lieber Tot als schwul.
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Nick beobachtete Sven, wie er fassungslos Wort für Wort las,
und in sich zusammenfiel. Dabei rief er immer wieder, das er
diesen Mist nicht glauben solle. Doch der Schnabel blieb
geschlossen. Als Sven die Zeilen fertig gelesen hatte, wozu er
ewig brauchte, begann er zu würgen. Rasch griff er nach dem
Papierkorb und übergab sich da hinein. Nick merkte, wie diese
düstere Kraft im Vogelkörper immer stärker wurde, je mehr
Sven litt. Und das sie auch sein eigenes Leid anzapfte. Nick
musste Sven irgendwie mitteilen, das dieses Mail falsch war,
das es nicht stimmte. Er versuchte seinen ganzen Willen
aufzubringen, um sich gegen die Bosheit zu stemmen und
Macht über den Körper zu erlangen. Nick wollte dieser Mail
einen entscheidenden Satz hinzufügen. Einen, der den
Selbstmord seines Freundes verhindern könnte. Doch wie sehr
er sich auch bemühte, er konnte den Körper keinen Millimeter
bewegen.
Nachdem Sven sich die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, las er
das Mail noch einmal. Er ballte die Fäuste und drehte sich auf
dem Drehstuhl um die eigene Achse, und schlug direkt in den
Boxsack. Er sprang vom Sessel und schlug in den nächsten
Minuten ununterbrochen auf ihn ein.
Nick hingegen versuchte verzweifelt, einen Flügel zu bewegen,
doch nichts passierte. Doch er spürte, das die boshafte Macht
im Vogelkörper in direktem Zusammenhang mit den
Emotionen von Sven und Nick stand. Je entschlossener Nick
kämpfte und seinen Willen mobilisierte, anstatt zu leiden, umso
schwächer wurde Nastyboy. Zwar war Sven eine reine Quelle
an Energie für diese Düsternis – doch Nick spürte, das er
stärker sein konnte. Ein unbändiger Wille wuchs in ihm, wie er
ihn noch nie gefühlt hatte. Er schaffte es, seine gesamte
Verzweiflung, sein Entsetzen und seine Trauer direkt
umzusetzen in positive Kraft und den Entschluss, Sven zu
retten, koste es was es wolle.
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Sven war unterdessen in Tränen ausgebrochen und umarmte
den Boxsack während er in die Knie sank und schluchzte. In der
Sekunde schaffte Nick den ersten Durchbruch – und zu
Nastyboys blankem Entsetzen schlug ein Flügel des Raben so
aus, das er gegen die Tastatur kippte. Sven hörte das klacken
der Tastatur und erhob sich. Doch anstatt Sven von der
grausamen Nachricht abzulenken, oder gar einen versöhnlichen
Satz hinzuzufügen, brachte er ihn nur dazu, sich die Nachricht
erneut anzutun.
In dem Moment da Nick sich kurz selber dafür verfluchte,
naschte Nastyboy wieder Kraft.
Nick nahm erneut Anlauf. Er bündelte seine Gedanken, und
dachte an Sascha. Und das er seinen Willen nicht nur
aufbringen wollte, um Sven zu retten, sondern auch, um zu
Sascha zurück kehren zu können. Und bei der Erinnerung an
den Kuss, spürte er, wie er wieder Macht über den Vogelkörper
erhielt. Er sprang und flatterte zwar unbeholfen wie ein
verletztes, flügellahmes Tier, doch es gelang ihm immerhin,
wenn auch nur für Sekunden, gegen Nastyboy anzukämpfen.
Nick verlor erneut die Kontrolle und die andere Macht
übernahm wieder den Körper. Nick musste stärker sein.
Sven begann schließlich wie besessen, wahllos Daten auf
seinem Rechner zu löschen. Genau genommen all jene Daten,
die irgend etwas über seine Neigung verraten konnten.
Nick bemerkte, das er auf dem Seil gelandet war. Das war die
Idee! Vielleicht konnte er wieder Kraft über den Vogelkörper
erlangen und das Seil verschwinden lassen. Er brauchte es dazu
nur soweit bis zur Wand schieben, bis es hinter die Kommode
rutschen würde. Sven könnte so zumindest nicht auf blöde
Gedanken kommen.
Und während Sven dazu überging, mit einem Kugelschreiber
irgendwelche Texte auf Zettel zu kritzeln, bäumte sich Nick ein
weiteres Mal gegen Nastyboy auf, um Kontrolle über den Vogel
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zu bekommen. Es gelang immer besser, je öfter er es schaffte,
je positiver er dachte und umso überzeugte er war, Sven damit
retten zu können und dem Ziel – Sascha – näher zu kommen.
Zwar schaffte er noch immer keine klaren und gezielten
Bewegungen, aber er stürzte bäuchlings voran und schleuderte
dabei so gegen das Seil, dass er es tatsächlich ein gutes Stück
auf den Schlitz zwischen Tisch und Wand zu bewegen konnte.
Durch das Geräusch wurde Sven aufmerksam. Zielsicher ergriff
er das Seil, ehe es in den Spalt rutschen konnte, und umwickelte
damit seine Fäuste. Oh nein, rief Nick innerlich, und genau
diese Gefühle stärkten Nastyboy wieder. Nick fühlte sich
innerlich fallen, verlor die Besinnung, als er begriff, dass er
selber soeben Sven auf das Seil aufmerksam gemacht hatte.
Als Nick wieder zu sich kam, hatte Sven den Boxsack bereits
demontiert und das Kletterseil effektiv um die Halterung
befestigt. Sorgfältig kontrollierte Sven den Knoten der
Schlinge, stieg auf den Drehsessel und legte seinen Kopf
hinein. Nichts an Sven wirkte mehr verzweifelt oder nervös.
Sein Gesicht war ohne Ausdruck und jede seiner Bewegungen
war entschlossen. Nick hatte Sven noch nie so gesehen, und es
jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Sven
schien abgeschlossen zu haben. Kein Leid, keine Qual, nur
noch nüchternes Beenden einer Sache, an die er ohnedies nicht
mehr glaubte. Damit raubte er Nastyboy Kraft. Kraft, die Nick
ihm jedoch in Massen lieferte, als er begriff, das er Sven hier
ein zweites Mal verlieren würde. Das er diesem schrecklichen
Moment beiwohnen würde.
Ich kann ihn retten – sagte sich Nick – unter aufbegehren seiner
ganzen Kraft. Noch ist es nicht zu spät.
Sven trat den Drehstuhl weg und sank tonlos in das Seil. Das
letzte was er sah, war ein Rabe, der aus dem Nichts auftauchte
und direkt auf ihn zuflog. Er hielt ihn für den Todesboten.
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Nick flog. Er vergaß, das er nicht fliegen konnte, breitete die
Schwingen aus und segelte auf Sven zu. Er krallte sich in das
Seil und bearbeitete es mit seinem Schnabel. Unaufhörlich
pickte er die Fasern aus dem Verbund, biss und riss Strang um
Strang aus dem festen Seil, bis es nachgab. Mit einem plumpen
Geräusch prallte Svens lebloser Körper zu Boden und blieb
unnatürlich verrenkt am Boden liegen. Nick segelte herab – er
beherrschte nun des Vogels Körper als wäre er seiner – und
setzte sich auf Svens Schulter. Mit seinem Schnabel versuchte
er, Svens blondes Haar aus dessen Gesicht zu ziehen, als er sein
jugendliches Selbst den Raum betrat.
Svens blonder Haarschopf ergoss sich über den graublauen
Teppich, in einer ungelenken Embryonalstellung lag er da,
einen Arm unnatürlich geknickt unter sich begraben. Auf der
verdrehten Schulter saß eine Krähe und Blickte Nick mit schräg
geneigtem Kopf an.
An den Schultern drehte er Sven zu sich herum, dessen Kopf
lose nach hinten kippte, er konnte bis in den Rachen sehen, als
sein Kiefer herunter klappte. Das blonde Haar klebte am
Speichel in den Mundwinkeln, war über das Gesicht gewirbelt.
Nick hielt den blonden, leblosen Schopf in seinem Arm. Er
strich immer wieder über Svens hohle Wange und ohrfeigte sie
dann. Sven würde gleich aufwachen. Sicher würde er gleich
aufwachen, er trieb nur einen dummen Scherz. Einen sehr
dummen Scherz. Doch Sven wachte nicht auf.
„Verschwinde, du scheiß Vogel.“ schrie Nick die Krähe an, die
lästig auf die Brust des Toten sprang, sich immer nur kurz
scheuchen ließ. Sie war lästiger als eine Fliege im
Hochsommer, die von Schweiß kosten möchte. Sie wetzte den
Schnabel an Svens Hemd, blickte Nick auffordernd an. Dieser
hob sachte Svens Kopf an und entfernte das Seil, indem er es
vorsichtig über den Kopf schob. Als er den gefiederten
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Aasfresser wieder scheuchen musste, bemerkte er ein Stück
Papier in der Brusttasche von Sven. Es war ein Abschiedsbrief.
Sven hatte kein Wort zu viel geschrieben. „Liebe ist
Aussichtslos“. Sie hatte ihn wohl nicht erhört. „Lieber ein
Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.“ stand noch
als reiner Zynismus dabei. Nick fühlte sich hin und her gerissen
zwischen Schmerz und Hass. Mal wiegte er den Toten in seinen
Armen – dann wieder hatte er den Wunsch, ihn zu schlagen.
„Wenn du nicht tot wärst – dafür könnte ich dich umbringen.“
schrie er, flüsterte er. Und dann fasste Nick den Entschluss. Er
wolle nie lieben. Nie wieder. Er schrie es hinaus, irgendeinem
gelangweilten Gott entgegen:
„Ich schwöre hiermit, nie wieder zu lieben.“ Und dann küsste
er den Toten. Ein erstes Mal. Ein letztes Mal.
Wenn man aus einem wirklich schlimmen Alptraum erwacht
und sich in seinem Bett wieder findet, benötigt es dennoch oft
ein paar Minuten, ehe man sich sicher ist – ganz sicher –
welcher Bewußtseinszustand der reale ist. Mitunter nämlich
nützt es nichts, sich am Kopfpolster fest zu krallen – die
Eindrücke des Traumes sind so nah, sind so fest gefressen ins
Gehirn. Manchmal muss man auch aufstehen und irgendetwas
ganz Gegenständliches machen. Etwas das so banal ist, dass
man sich dankbar daran festklammern kann. Wie etwa ein Glas
Wasser oder der Klodeckel.
Wir aber sprechen hier von einem wirklich schlimmen
Alptraum – genau genommen – nicht einmal von einem Traum.
Und Nick wachte nicht in seinem eigenen Bett auf. Sonne
schwirrte in den Raum, der das Licht, weiß, in weiß, in weiß,
reflektierte. An der Wand hing das Gemälde eines unbekannten
aber umso abstrakteren Künstlers, und am Bett saß ein sehr
großer und sehr nackter und extrem muskulöser Mann mit
langem Haar, der ihn nicht aus den Augen ließ. In einer Armada
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von Decken und Kissen sprang ein kleines Mädchen mit langen
roten Haaren, schwarzem Spitzenkleidchen und mitsamt ihren
Schuhen wild auf und ab. Sie wirbelte dabei eine ziemlich
zugerichtete Puppe herum und summte eine Melodie die
ziemlich disharmonisch klang. Kurz unter der Zimmerdecke
drehte ein kleiner dicker Mann in einem weißen Nachthemd
wackelig wie eine Wespe seine runden, wobei rosafarbener
Glitzerstaub herab rieselte.
Nick fühlte sich erbärmlich, während er diese Szene ein paar
Minuten aus seinen halb geschlossenen Augen beobachtete. Der
Verdacht drängte sich ihm auf, dass er im Himmel gelandet
war. Und nachdem er eine weitere Minute überlegte, hielt er die
Hölle für wahrscheinlicher.
„Na toll!“ sagte eine Stimme in seinem Inneren ziemlich
gefrustet. Nick realisierte nicht sofort, dass diese Stimme in
seinem Kopf war und riß seinen Kopf herum. Spontan sprang
ein erleichtertes Lächeln in das kantige Gesicht des nackten
Riesen:
„Guten Morgen.“ brummte seine beinahe abscheulich tiefe
Stimme. Kein Zweifel, dieser Person musste Satan sein. Nick
erkannte allmählich die Zirkusleute von neulich Nacht – doch
schien ihm erst jetzt der Zusammenhang klar zu werden. Nicht
dass er sich nicht ohnedies die letzten dreizehn Jahre irgendwie
wie am Rande der Hölle gefühlt hatte – nun – herzlichen
Glückwunsch – jetzt dürfte ihm der letzte Sprung gelungen
sein.
Des Teufels Gruß rief die anderen Gestalten auf den Plan. Das
Mädchen hielt mitten im Sprung inne, zog die Beine an und
Plumpste mit ihren spitzen Knien unsanft auf Nicks Arm. Dabei
schlug sie ihm zu allem Überfluss auch noch grob den
malträtierten Teddy ins Gesicht. Der fliegende Mann mit der
Halbglatze senkte sich sachte auf den Boden herab und
verschwand dadurch für einen Moment aus Nicks Gesichtsfeld,
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da er relativ klein war.
Drei Gesichter neigten sich nun über ihn und stierten ihn
erwartungsvoll an.
„Wo ist er?“ wandte sich der kleine Dicke an den großen
Kräftigen und Nick fragte sich umgehend, ob er – wie dereinst
im Vogelkörper – vielleicht unsichtbar war. Gegen diese
Theorie sprach, daß das kleine Mädchen das auf seinem Arm
saß erneut und ziemlich zielsicher mit ihrem Stofftier auf sein
Gesicht einschlug.
„Ja, genau! Wo ist er?“ rief sie in zorniger Enttäuschung.
Kinder die diesen Ton anschlagen liegen meistens im nächsten
Moment am Boden im Einkaufscenter, strampeln dabei mir
ihren Beinen so dass sie sich wie ein Breakdancer um die
eigene Achse drehen und erfreuen Eltern mit ihrer deutlichen
Äußerung eines Wunsches oder Nicht-Wunsches.
„Yummy“ zischte etwas in Nick und schmatzte beunruhigend.
Die drei Gesichter schenkten ihm wieder ihre volle
Aufmerksamkeit.
„Geht es dir gut, Nick?“ fragte schließlich der kleinere Mann,
der damals im Park ja ganz vertrauenswürdig gewirkt hatte. Das
Bild allerdings, wie er eben noch im Nachthemd durch den
Raum geflogen war hatte seinem Image einen deutlichen
Dämpfer verpasst. Nick wollte nicken, als er sah, wie der
schmutzige Teddy wieder auf sein Gesicht zu raste, schloss
seine Augen und seinen Mund. Doch der erwartete Schlag blieb
aus, und als er wieder einen Blick riskierte, sah er, wie Satan
den dünnen Arm des Mädchens in der Luft fest hielt.
„So eine blöde Göre.“ sagte eine Stimme, und Nick suchte nach
der fünften Person im Zimmer – aber da war keiner. Allerdings
fühle er ein gehässiges Lachen in seinem Bauch.
„Ich habe einen ziemlichen Muskelkater in...“ erklärte Nick und
hielt verschämt inne.
„Wo denn?“ brummte der Teufel. Nick bewegte sich testhalber
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ein bisschen um sich zu vergewissern.
„In... in...“ stammelte er und konnte nicht fassen was er sagte:
„...den Flügeln.“
Satan und der Mann im Nachthemd tauschen intensiv Blicke.
Amor schlug die weiße Decke zurück und gab das unsägliche
Shirt mit dem Schriftzug „Schwuchtel“ frei, während Varis
Nick an den Schultern packte und auf setzte. Nick fühlte sich
noch zu schwach um Widerstand zu leisten und ließ die
Prozedur über sich ergehen. Man glotzte schweigend hinter
seinen Rücken.
„Und?“ fragte er schließlich nervös, als sich die Türe öffnete
und ein sandfarbiger Schopf besorgt herein lugte. In Saschas
Gesicht ging die Sonne auf, als er Nick bei Bewusstsein vor
fand. Mit einem einzigen Satz stürmte er zu Nick und umarmte
ihn.
„Vorsicht!“ rief Nick leise aus, als er überrascht fest stellte,
dass Sascha durch Satan und dessen Gehilfen einfach so
hindurch greifen konnte. Er kann sie nicht sehen – schoss es
Nick durch den Kopf. Allmählich begann er sich daran zu
gewöhnen, dass manche Dinge für manche Menschen
unsichtbar waren. Angespannt fügte sich Nick in die
Umarmung und wartete ab, ob Sascha irgendetwas an seinem
Rücken ungewöhnlich fand. Doch Sascha schien nichts
seltsames zu bemerken – und Nick auch fürs erste nicht wieder
los lassen zu wollen. Irgendwo in seinem Inneren war etwas
ziemlich angewidert von dieser Zuneigung und eine gewisse
Übelkeit breitete sich aus. Kurz bevor Nick sich über Saschas
Rücken erbrochen hätte, riss er sich los und sagte
entschuldigend:
„Ich habe Schmerzen.“
Sascha riss enstetzt seine Augen auf:
„Ich bin so unaufmerksam – das hätte ich mir doch denken
können. Wo tuts denn weh?“
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„In meinen Flü... mein Rücken, mir tut mein Rücken weh.“
erklärte Nick rasch. Er fühlte sich schlagartig gestresst. In
diesem Raum waren sechs Personen. Eine konnte er nur hören
aber nicht sehen. Sascha konnte nur ihn sehen, nicht aber alle
anderen. Und die anderen schienen die sechste Person noch
nicht einmal hören zu können. Zudem wusste Nick noch immer
nicht, ob er Flügel hatte – diese aber vielleicht nur für Sascha
unsichtbar waren. Ebenso ungeklärt war, wo Nick sich
eigentlich befand – wobei er sich mittlerweile ziemlich sicher
war, doch nicht in der Hölle zu sein. Zumindest nicht räumlich
betrachtet.
„Oh doch, Herzchen, meiner Einschätzung nach bist du direkt
in der Hölle gelandet.“ sagte diese Stimme wieder. Nick sah
alle sichtbaren und für andere unsichtbaren Geschöpfen an und
stellte fest, dass keiner von ihnen diesen Satz gesagt oder gehört
hatte. Ich werde wahnsinnig, stellte er fest und sofort ging es
ihm besser.
„Hast du Hunger oder Durst, kann ich irgend etwas für dich
tun?“ fragte Sascha, sah Nick eine weile seufzend an und fügte
hinzu: „Ich bin so froh dass du hier bist.“ Bei diesen Anfall von
Glück wurde Nick wieder schlecht. Es war dieser dunkle
Abgrund, den er schon als Vogel gefühlt hatte, der ihn
irgendwie runter zog. Und genau dieses Böse schien regelrecht
allergisch auf positive Gefühle zu reagieren. Nick warf Varis
einen recht unglücklichen Blick zu. Vielleicht war er nun
tatsächlich so etwas wie ein Engel der Hölle? Geschichten von
Vampiren und Dämonen schwirrten durch Nicks Erinnerung,
und er fragte sich, ob er als ein Wesen der Verdammnis
überhaupt in der Lage war, menschliche Nahrung zu sich zu
nehmen.
„Ein Wasser.“ sagte Nick, überlegte kurz, dass in der Hölle
Feuer dominierte und es vielleicht keine so gute Idee war,
„Oder... doch etwas... hartes.“ bat Nick und hielt Sascha dabei
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am Unterarm fest. Dieser hielt erstaunt inne:
„Was?“
„Feuerwasser.“ erklärte Nick, „Schnaps, Likör oder irgend so
etwas.“
„Es tut mir leid, aber ich habe keinen Alkohol hier.“ erklärte
Sascha.
„Es geht auch Benzin oder Parfum.“ meinte Nick und als ihm
bewusst wurde, wie das klingen musste, setzte er ein
diabolisches Grinsen auf und sagte: „Tabasco. Ich möchte
Tabasco.“ Sascha brauchte eine Weile, ehe er begriff, das Nick
es ernst meinte. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen,
wandte sich Nick hektisch an Varis.
„Wer zur Hölle.... beziehungsweise was... WAS bin ich?“
„Oh Mann.“ stöhnte jemand genervt.
„Nun beruhig dich mal.“ sagte Hellen zu Sascha und tätschelte
Busters Schädel, der auf ihren Oberschenken lag und auch
beruhigt werden wollte – obwohl er eigentlich ganz ruhig war.
Kevin schritt mit Stiefeln – gewichtigen Stiefeln mit
entscheidender Imagefunktion – über den hellen Parkett und
ließ seinen langen Mantel hinter sich her wehen. Unter anderen
Umständen hätte Sascha das nervös gemacht, er wäre ihm mit
einem Wischmob gefolgt und hätte ihn darum gebeten, die
Schuhe doch bitte auszuziehen. Nun aber war er damit
beschäftigt, auf seine Knie zu stieren und erschüttert zu sein.
„So kenne ich ihn nicht.“ erklärte Sascha und schob seinen
Hemdsärmel soweit zurück, dass er auf eine alte Narbe blicken
konnte. Hellen fixierte einen Wirbel auf Saschas Hinterkopf,
der es derzeit besonders arg trieb und sprach aus was sie dachte:
„Mal ehrlich – du kennst ihn doch so oder so nicht.“
Sascha zuckte zusammen und starrte sie empört an.
„Natürlich kenne ich ihn!“ rief er aus. Aus dem Augenwinkel
registrierte er, wie Kevin vor den Bildern an der Wand stehen
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blieb und den Kopf zur Seite neigte – ähnlich wie Buster es als
Welpen getan hatte, wenn er versucht hatte, etwas neues zu
verstehen.
„Okay!“ meinte Hellen „Lieblingsspeise?“
„Was?“
„Hat er Geschwister?“
„Ich weiß nicht...“
„Wie alt ist er?“ fragte Hellen weiter
„Wer sind seine Eltern?“
„Was hört er für Musik?“
Kevin drehte den Kopf in die andere Richtung und Sascha
beobachtete die Schuhbandhaare, die wie Pendel einer Uhr sich
langsam damit Abwechselten, länger beziehungsweise kürzer
zu werden.
„Ich meine nicht so kennen.“ erklärte Sascha empfindlich.
Hellen begann ebenfalls, Kevin zu beobachten, der seinen Kopf
immer weiter drehte, dabei begann, seinen Oberkörper mit zu
neigen.„Ich meinte eher... naja... also man sieht sich an und
weiß einfach Bescheid.“ Hellen und Sascha neigten sich
instinktiv etwas mit Kevin mit.
„Sexuelle Orientierung?“ fragte Hellen streng, als Kevin sich
wieder in die aufrechte Position begab und sie sich wieder voll
auf ihren Bruder konzentrieren konnte.
„Okay... ich gebe zu, ich war anfangs etwas unsicher...“ und in
bestimmendem Ton fügte er hinzu: „Aber das hat gar nichts mit
dem zu tun, was heute passiert ist.“
„Er hat eine total kranke Vorliebe für Haferflocken.“ erklärte
Kevin, der sich vor das nächste Bild positionierte,
gedankenverloren „Er ist dreißig, Einzelkind und hat keinen
Vater.“ wieder begann er, seinen Kopf zu neigen. „Er verträgt
meine Musik und dass er schwul ist schlägt ihm glaub ich
ziemlich auf den Magen. Dennoch...“ Kevin drehte sich
langsam zu Sascha und Hellen herum, sich seiner wirklich
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abnormal coolen Stiefel und seines langen schwarzen Mantels
sehr bewusst – und verkündete: „Dennoch, daß er Feuer spuckt
ist auch mir neu.“
Nick fühlte sich wie der Kopf einer verdammten Höllengang.
Was genau mit ihm abging verstand er noch immer nicht. Er
hatte einen Muskelkater in seinen Flügeln, ohne zu wissen ob er
auch Flügel hatte, hatte eine Stimme in seinem Kopf die
ziemlich zynisch sein Leben kommentierte und es fing ihn jedes
mal zu recken an, wenn irgend etwas begann, nett zu werden.
Dabei hätte Nick derzeit eigentlich genug Probleme. Das
Erlebnis mit Svens Tod steckte ziemlich fest in den Knochen
und er hatte eigentlich den Wunsch, sich in seine Wohnung zu
begeben und in Selbstmitleid zu ertrinken. Stattdessen trabte er
zum zweiten Mal in wenigen Tagen durch die Gassen und führe
Selbstgespräche. Nun, es waren nicht wirklich Selbstgespräche,
aber das würde keiner der Menschen verstehen, die ihm
begegneten. Sie sahen weder den nackten Riesen, dessen langes
blauschwarzes Haar wie ein Umhang hinter seinem Rücken her
wehte, noch das kleine rothaarige Mädchen im Trauergewand,
das einen Sprachschatz beherrschte, der jede Erzieherin in
große Erklärungsnot gebracht hätte. Und sie sahen nicht den
kleinen dicken Mann im Nachthemd, der beständig Glitzerstaub
absonderte. Nick wusste nicht, in welcher Beziehung sie
zueinander Standen, aber sie waren ziemlich besessen davon,
ihm helfen zu müssen. Wenn er bedachte, in welcher Lage er
sich nun befand, nachdem sie ihm bereits einmal geholfen
hatten – lief ihm der kalte Schauer über den Rücken.
Er würde Sascha ein neues Bett besorgen müssen. Überhaupt:
Armer Sascha. Dem hatte er einen ganz schönen Schrecken
eingejagt. Sich selber im Übrigen auch. Seine Überlegungen,
dass Wasser ihm schaden könne, wenn er ein Geschöpf der
Hölle wäre, hatte er für recht pathetisch gehalten. Das hieß: er
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hatte nicht wirklich daran geglaubt. Er hatte irgendwie erwartet,
das er später einmal, wenn er über diesen Tag nachdachte, über
diese naive Idee lachen würde können. Sascha hatte sich große
Mühe gegeben. Auf einem silbernen Tablett hatte er eine
winzige weiße Porzellanschale gestellt in die er sorgfältig
Tabasco geträufelt hatte. Dazu hatte er zwei Scheiben
Weißbrot, ein Glas Wasser und eine Rose drapiert. Sascha hatte
sich zu Nick aufs Bett gesetzt und ihm das Tablett vor die Nase
gehalten. Nick war ganz anders geworden, als Sascha ihm so
direkt in die Augen gesehen hatte und sie quasi aus getestet
hatten, wer es länger aus hielt und darüber zu Lächeln
begannen. Ein ziemlich heftiges kribbeln war durch Nicks
Magen gewandert das plötzlich schrecklich widerlich zu
brennen begann. Nick versuchte erst, diese Hölle in seinem
Körper zu verbergen, sie zu verdrängen, doch schließlich
krümmte er sich doch zusammen. Reflexartig griff er nach dem
Glas Wasser, das Sascha unverlangt mitgebracht hatte. Sascha
rückte Nick näher und legte ihm besorgt einen Arm auf den
Rücken. Irgendetwas hatte er gefragt, doch es ging in der
Feuerfontäne unter, die Nick aus seinen Eingeweiden hervor
kotzte.
„Donnerwetter.“ hatte diese innere Stimme gesagt. Sowohl der
Teufel selber als auch das kleine Mädchen waren spontan zur
Seite gesprungen und der kleine Mann fasste sich mit beiden
Händen auf den Kopf. Sascha war so erschrocken, dass er
rückwärts auf den Boden kullerte und Nick anstarrte, als wäre
er der Leibhaftige.
„Bei allen Dämonen die mir geläufig sind, und einem ziemlich
geilen Gott...“ hatte er ausgerufen, war aufgestanden und aus
seinem Schlafzimmer gestürzt. Nick hatte ganze Arbeit
geleistet: in der Mitte des Bettes klaffte ein schwarz umrandetes
Loch in der Größe einer Badewanne und es roch widerlich nach
Pech und Schwefel.
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„Ups.“ hatte Satan gebrummt und das kleine Mädchen hatte
geschrien:
„Nastyboy du madenscheißender Fäkalpartikel, ich packs echt
nicht!“
Nun, irgendwie war nach diesem Vorfall die Luft raus und die
Zeit gekommen, einen anderen Ort aufzusuchen. Sascha hatte
kein Wort gesagt und sofort die Wohnungstüre aufgehalten, als
Nick aus der Schlafzimmertür gewankt war. Sie hatten sich
noch einmal intensiv in die Augen gesehen, aber als Nick
wieder dieses brennen die Kehle hoch klettern spürte, war er
gerannt was das Zeug hielt.
Seit diesem Vorfall schwafelten seine teuflischen Begleiter
irgend etwas von Dämonen, Kidnapping und Besessenheit. Das
alles war ja gar nicht so von der Hand zu weisen, aber es klang
reichlich abgedreht und verworren. Gut, die Erfahrung des
Feuerspeiens wollte Nick nicht unbedingt wiederholen – vor
allem weil er sich ein bisschen den Mehr-Tage-Bart angesengt
hatte und der Geschmack von verbrannten faulen Eiern im
Mund war auch keiner den er besonders vermissen würde. Aber
der Gedanke wiederum, sich ausgerechnet dieser seltsamen
Truppe anzuvertrauen brachte kein beruhigendes Gefühl.
Sein Erscheinungsbild vermittelte den Menschen auf der Straße
allerdings auch kein Gefühl von Behaglichkeit. Er hatte seit
Tagen nicht geduscht, sich seit fast zwei Wochen nicht mehr
rasiert und aus einem ihm unbekannten Grund zierten blaue
Flecken und Schürfwunden sein Gesicht und seinen Körper. Er
trug ein zerschlissenes T-shirt mit der Aufschrift „Schwuchtel“
das stellenweise versengt, durch Erde und Gras verdreckt und
sogar mit Blut vollgeschmiert war. Er verströmte einen Geruch
von dem ihm selber schlecht wurde und unterhielt sich angeregt
– regelrecht agressiv – mit sich selber, wobei er wild
gestikulierte und manchmal in fast zärtlichem Ton zu seiner
rechten Hand sagte:
200
„Hey, gurkennasiges Furzgesicht sagt man nicht.“ oder
„Zwirnloser Sandlwanst ist nicht besonders nett“ aber auch
„Könntest du den Ausdruck rotzriechender Gulaschgorilla bitte
unterlassen?“ dabei blickte er zufälligen Passanten
entschuldigend ins Gesicht und zuckte mit den Schultern.
Und dann trafen sie auf sie. Sie stand mitten auf der Straße, ihre
Beine wirkten durch ihre High Heels und den Minirock noch
länger. Wie ein Westernheld bei einem Duell stand sie
entschlossen da, mit einer atemberaubenden Körperspannung,
einen Pfeil im Anschlag. Hinter ihr ragten riesige lila Flügel
auf, die beeindruckend mächtig und fragil zugleich wirkten –
als wären sie da und zugleich auch nicht. Als bestünden sie
lediglich aus gut eingesetztes Licht. Sie selber war vollständig
in blendendes weiß gekleidet – nur ihr streng frisiertes Haar saß
wie ein schwarzer Helm auf ihrem Kopf. Nick war sich erst
nicht sicher, was er da eigentlich sah. Dann bemerkte er an den
Reaktionen seiner diabolischen Begleiter, das auch diese sie
wahr nehmen konnten, gewöhnliche Menschen aber würdigten
sie keines Blicks – was wirklich skurril wirkte, denn die Dame
machte etwas her. Gott, das muss Gott sein, schoß es Nick in
den Kopf. Unter anderen Umständen hätte ihn das ziemlich
positiv gestimmt – da er sich aber für einen Abgesandten der
Hölle hielt, spannte er jeden Muskel an und straffte seine
Schultern. Er versuchte auch seine Flügel auszubreiten – es
konnte nicht schaden, falls er welche hatte.
Satan selbst blieb von Gott erstaunlich unbeeindruckt, aber
Amor verlor ein wenig die kontenance. Nick rechnete sich noch
aus, welche Rolle er in diesem Kampf zwischen Himmel und
Hölle spielen würde, als Amor in Kopfhöhe an ihm vorbei
zischte – so gut er mit seinen kleinen Flügeln eben zischen
konnte. Und noch ehe Nick registrieren konnte, was geschehen
war, hielt Amor einen lila Pfeil in seiner Hand und das
blendend weiße Geschöpf rief:
201
„Heeeey!“ ließ verärgert den Bogen sinken und stemmte die
Faust in die Hüften.
„Das Spiel ist aus!“ rief Amor, und war sich nicht ganz sicher
ob er gerade in einem Krieg oder in einem Flirt steckte. Alles
das selbe, sagte er sich. Nick fand den kleinen Mann ziemlich
mutig, sich so mit Gott anzulegen.
„Von welchem Spiel redest du?“ herrschte sie Amor an.
„Olalà.“ sagte eine Stimme in Nicks Kopf. Ein gewisses
Bauchgefühl verbesserte sich.
„Ich weiß nicht, was dich geritten hat...“ rief Amor wütend
„Von wegen.“ sagte Nicks Stimme - zynisch synchron mit
Amors Gedanken - „Aber das hier.“ und damit hob Amor den
lila Pfeil „hat nun ein Ende!“
Hinter einer mit weißem Leder ausgeschlagenen Tür, die so
konstruiert war, das man eben nichts durch hören sollte, ertönte
herzhaftes Gelächter. Die langen, weißen Gänge entlang
ploppten nach und nach Schädel aus den Türen und sahen einer
grimmigen kleinen Person nach. Diese patschte mit nackten
Füßen und im Nachthemd auf die große weiße Tür mit dem
Silberbeschlag zu, und schwenkte einen lila Pfeil in seiner
Faust. Dabei rieselte beständig Glitzerstaub.
„Im Übrigen, ER lässt ausrichten, das du dich im Büro blicken
lassen sollst.“ hatte Gudrun überheblich gesagt, und Amor äffte
diesen Satz gerade missmutig nach. Das Zwinkern und den
Kußmund jedoch, mit dem Gudrun diese Botschaft untermalt
hatte, ließ er bleiben – aber sie nagten. Wars das jetzt? Soll er
mich doch raus hauen, dachte Amor aufsässig, ich hab sowieso
die Nase voll. Kein Interesse, mich noch länger von ihm
demütigen zu lassen. Soll er doch sehen was er von dieser...
dieser... Frau, hat.
Die Tür zu Gottes Büro wirkte phänomenal riesig im Verhältnis
zu Amor, der sich auf die Zehenspitzen stellen und seinen Arm
202
hoch recken musste, um den versilberten Türgriff zu erreichen.
Seine Flügel wollte er ganz bewusst nicht einsetzen. Wenn er
nicht mindestens ebenso irisiernde Flügel wie Gudrun
bekommen konnte, wollte er gar keine mehr haben.
Als wäre die Türe in der Lage, sich selber in Bewegung zu
setzen, sobald man ihren Griff berührte, öffnete sie sich
erstaunlich geschmeidig. Vielleicht aber auch stand Gott hinter
ihr und öffnete sie – sehen konnte man ihn aber nicht.
Als Amor wenige Minuten später wieder aus dieser Tür heraus
trat, stand er einem Meer von neugierigen Gesichtern
gegenüber. Amor räusperte sich geräuschvoll, hob seinen Kopf
und marschierte entschlossen an ihnen vorbei. Nichts hatte Gott
ihm erlassen, nach wie vor war er barfüßig, dick, klein, hatte
eine Halbglatze, trug ein Nachthemd und lächerliche Flügel.
Doch seine Körperhaltung hatte sich verändert, er stolzierte
regelrecht und in seinem Gesicht lag entschlossener Ernst.
Nicht dieser verbitterte und zynische Ernst, sondern
gewichtiger, verantwortungsbewusster – ja – heldenhafter
Ernst.
Sie sahen ihm alle nach, flüsterten hinter seinem Rücken. Das
Gerücht, das Gudrun als Amor arbeitete hatte sich rasch
verbreitet – und was das für den bisherigen Amor bedeuten
konnte, versuchte man sich mit blühenden Geschichten
auszumalen. Das diese offenbar in Mehrheit nicht positiv für
Amor endeten, zeigte sich in der Überraschung über Amors
stählernen Auftritt.
Im Köcher, den Amor trug, steckte ein Pfeil, größer als seine
bisherigen, dicker, massiver und aus purem Silber. Er glitzerte
nicht, verlor auch keinen Glitzerstaub, aber er hatte etwas
gewichtiges. Er hatte eine geradezu gefährliche Aura. Für wen
auch immer er bestimmt war, dessen Herz musste hart wie ein
Diamant sein.
203
Es lief darauf hinaus, dass sie den Friedhof aufsuchten. Wem
das genau eingefallen war, konnte keiner mit Bestimmtheit
sagen, vermutlich hatte jeder seinen Beitrag dazu geleistet.
Nick, der es seit dem Begräbnis vermieden hatte, Svens Grab
aufzusuchen, hielt es nun, nachdem er dieses traumatische
Ereignis gerade wieder durchlebt hatte – für angemessen, mal
doch vorbei zu schauen. Nastyboy hielt Besuche auf Friedhöfen
generell immer für eine blendende Idee, er war eben ein
Vielfraß – und er hoffte stets, dort auf ein unerwartet frisches
Buffet in Form einer Beerdigung zu treffen. Die Stimme in
Nicks Kopf meinte, prinzipiell nichts dagegen zu haben, merkte
aber auch an, das es ja sowieso keine Rolle spiele, wenn sie
dagegen wäre. Mana folgte Nick sowieso überallhin, als trüge
er einen Magneten in sich, der es ihr nicht ermöglichte, sich von
ihm zu entfernen. Nick hätte sich speziell vom Teufel irgendwie
mehr Engagement erwartet. Bei der Begegnung mit Gott hatte
er sich völlig raus gehalten und stattdessen jungen Männern
nach gesehen. Alles in allem eine Begegnung, die etwas
enttäuschend abgelaufen war. Nicht dass Nick darauf bestanden
hätte, als diabolischer Novize sofort in einen Krieg zwischen
Himmel und Hölle verwickelt zu werden – aber das sich die
beiden Großmächte so gar nichts zu sagen hatten. Nun,
vielleicht war über Äonen hinweg alles gesagt worden – und –
wie Eheleute, die Jahrzehnte zähe, endlose Schlachten hinter
sich haben, hatten sie sich darauf geeinigt, so zu tun als würde
es keine Rolle spielen, wer oder was der Andere war oder tat.
Wenn es wirklich nötig war, kommunizierte man über den
Nachwuchs – und das war in diesem Fall wohl der kleine fette
Mann. Zumindest war dieser nach Gottes Bitte ziemlich
gehorsam davon geflogen.
Nick fühlte sich müde und erschöpft. Er hatte das Gefühl, nur
diese dunkle Macht in ihm würde seinem Körper die nötige
Energie für halbwegs koordinierte Bewegungen geben. Er
204
fühlte sich eher wie eine Marionette die gezogen wurde. Zwar
unterschied sich das nicht wirklich gewaltig von seinem
bisherigen Lebensgefühl – doch es wurde ihm bewusst. Vor
allem, da er allmählich einen gewissen Konflikt zwischen dem
was er wollte und dem was er letztlich tat spürte. Was
bedeutete, das er erstmals in seinem Leben so etwas wie einen
Willen spürte. Einen Willen, der über die Verweigerung hinaus
ging und sich sogar einigermaßen deutlich formulieren ließ: Er
wollte Sascha. Oder zumindest wollte er zunächst mal nur in
seiner Nähe sein und vielleicht etwas reden. Doch sobald er an
ihn dachte und Schmetterlinge mit ihren leisen Flügelschlägen
seinen Magen hoch kribbelten, verwandelten sie sich in
erbarmungsloses Feuer. Es begann ihn zu recken und – so
seltsam das klang – nur wenn Nick an die schrecklich
schmerzhaften Stunden dachte, die er mit Sven durchgemacht
hatte, ließ dieser Schmerz nach. Zwar litt er auch dann, doch
dieses Leid stärkte ihn, es löschte das Brennen in seinem Bauch
und verlieh ihm Körperspannung. Und so tobte in Nick ein
ständiger ermüdender Kampf. Sascha drängte sich nämlich
immer wieder in sein Bewusstsein. Und als wäre das nicht
anstrengend genug, hatte er immer diese Stimme in seinem
Kopf. Sie klang vorwurfsvoll, zynisch, schien einen Streit mit
der negativen Macht haben, die immer stärker Kontrolle über
Nick erlangte. Der Nick immer bereitwilliger die Kontrolle
übergab, mit jedem mal, wenn er sich negative Erinnerungen
ins Bewusstsein rief. Somit begann die Stimme ihn sogar zu
ermahnen, versuchte, Nick dazu zu ermuntern, den körperlichen
Schmerz zu ertragen und positives zu denken. Sie hatte gut
reden, sie hatte die Erfahrung noch nicht gemacht, Feuer zu
speien.
„Wenn du wüsstest.“ meinte die Stimme seufzend.
Nick und seine Höllengang irrte von Grab zu Grab, doch nur
unter Nicks Schuhen knirschte der Kies. Es war zu lange her
205
das Nick hier war, um sich zu erinnern, wo genau sich Svens
Grabstätte befand.
„Du musst ihm Paroli bieten!“ lag die innere Stimme Nick
weiterhin im Ohr.
„Du hast ein ziemliches Talent, in Schwierigkeiten zu
gelangen.“ brummte Varis.
„Ich?“ fragte Nick.
„Nein... er spricht mit deinem Vogel.“ sagte Mana und
balancierte am Rand von Grabsteinen entlang.
„Er kann ihn hören?“ war Nick überrascht.
„Nein. Aber der Vogel kann ihn hören.“ erklärte Mana, die
damit erstmals seit Nick sie kannte zwei Sätze ohne
Schimpfworte aneinandergereiht hatte „Und ich! Und er hat
recht!“
Nick blieb stehen und starrte das düstere Mädchen an.
„Du kannst ihn die ganze Zeit hören und sagst nichts?“
„Nun scheiß dich nicht gleich an, Mann.“ maunzte sie und
setzte ihren Weg fort. Nick schoß ein weiterer Gedanke ein.
„Warum kann ich dich eigentlich ansehen?“
„Weil du Augen im Kopf hast.“ raunte der Vogel.
„Das meine ich nicht. Bei unserer ersten Begegnung durfte ich
sie nicht ansehen.“ erklärte Nick der Stimme in seinem Kopf.
„Weil du jetzt sowieso am Arsch bist.“ erklärte Mana, sprang in
einem weiten Bogen vom Grab einer offensichtlich reichen
Familie und stellte sich breitbeinig vor Nick. Sie stemmte ihre
Arme in ihre Hüften, hielt dabei den Teddy an der Schlinge um
den Hals fest und blicke Nick herausfordernd an:
„Sagmal, hast du Glimpfbirne uns eigentlich zugehört?“
„Jadoch.“ gab Nick zögernd von sich und vermisste unmittelbar
sein ruhiges ereignisloses Leben. Die letzten Stunden waren ein
einziger Alptraum der mit jeder neuen Sequenz komplizierter
und schlimmer wurde. Wer wollte ihm, verübeln, wenn es
einfach eine gewisse Zeit brauchte, bis sich setzen konnte, was
206
man ihm erzählte?
„Okay.“ sagte Mana „Was haben wir gesagt?“
Zum ersten Mal konnte Nick es schätzen, das er eine innere
Stimme besaß, die abgetrennt von seinem Bewusstsein
existierte. In Gedanken bat er den Vogel um Hilfe.
„Nicht einsagen!“ stellte Mana jedoch schon die Bedingung.
„Irgendwas mit einem... äh... Haustier?“ fasste Nick zusammen.
Mana verdrehte ihre Augen und stampfte wirklich bösartig in
den Kies – der jedoch keinen Mucks von sich gab.
„Lass ihn in Ruhe!“ sagte plötzlich jemand sehr entschlossen.
„Olalà.“ kommentierte die innere Stimme. Der kleine Mann
strahlte trotz seines Nachthemdes eine faszinierende
Kompetenz aus. Verschwunden war die ewig verzweifelte Aura
die ihm vor der Begegnung mit Gott noch angehaftet hatte. Die
Höllengang brauchte ein paar anerkennede Atemzüge, sich an
den neuen Amor zu gewöhnen, ohne dabei zu realisieren, was
genau sich verändert hatte.
„Hier“ donnerte Varis fulminanter Brustkorb als sein Blick an
Amor vorbei glitt.
Svens Grab sah ziemlich verwittert aus. Als Nick es zuletzt
gesehen hatte, hatten quasi noch die Späne daran geklebt, die
durch das ziselieren des Namens entstanden waren. Offenbar
hatte nicht nur Nick es vermieden, sich an ihn zu erinnern – und
etwas zu unternehmen, das an ihn erinnern könnte. Wie eben
der Besuch oder die Pflege des Grabes. Nun, da Nick sich
verantwortlich für seinen Tod fühlte, tat es ihm Leid, wie
verkommen es war. Umgehend notierte er für sich, das er sich
künftig darum kümmern wolle.
„Habt ihr schon eine Idee, wie wir Nastyboy da heraus
kriegen?“ fragte Amor und klopfte Nick auf den Bauch. Wie
immer wenn Amor etwas sagte, fühlte sich zunächst Varis
angesprochen, und wie immer, stierte er verlegen auf seine
207
Zehen.
„Nicht wirklich, wir wissen ja noch nicht einmal, wie er da
hinein gekommen ist.“ und damit klopfte auch er seine
mächtige Hand gegen Nicks Bauch.
„Hey.“ beschwerte sich Nick und machte einen Schritt zurück,
doch Mana war schon zur Stelle. Sie ballte ihre kleine Hand zu
einer Faust und rieb ordentlich auf um Nick in den Bauch zu
boxen.
„Sympathische Leute, hm?“ sagte die innere Stimme, als Nick
sich zusammenkrümmte.
„Du sagst es.“ stöhnte Nick „Nastyboy ist dieses Haustier,
oder?“ fragte er unbestimmt in die Runde.
„Dämon.“ erklärte Amor „Es ist ein Dämon der sich von
negativen Gefühlen ernährt.“
„Und ein ziemlicher Gierrammel.“ kommentierte die innere
Stimme. Nick zog sein Notizbuch aus der Hosentasche, blätterte
ein wenig darin herum und zeigte dann auf die Zeichnung, die
er damals im Cafe angefertigt hatte.
„Ist er das?“
Die Höllengang stierte ihn überrascht an.
„Wann hast du das gezeichnet?“ fragte Amor.
„Nicht so wichtig.“ meinte Nick und ließ zu, das Amor das
Notizbuch in seine Hand nahm. Varis und Mana steckten ihre
Köpfe zusammen, um ebenfalls auf die Zeichnung sehen zu
können.
„Du bist talentiert!“ erklärte Amor.
„Das ist in diesem Cafe!“ erkannte Mana die festgehaltene
Situation.
„Kann ich mal?“ fragte Varis und griff über Amors Kopf um
das Notizbuch an sich zu nehmen.
„Ja, das ist er.“ bestätigte Amor. Varis begann im Notizbuch zu
blättern.
„Ich habe ihn gesehen als ich in die Vergangenheit gereist bin.“
208
erklärte Nick.
„Dieser gierige Fäkalparasit.“ sagte Mana.
„Danke auch.“ sagten Nick und der Vogel synchron.
„Was hast du diesmal für einen Pakt geschlossen?“ scholt Amor
Nick.
„Ich habe nicht... ich habe keinen Pakt geschlossen. Im
Gegenteil, ich war doch unterwegs um einen aufzuheben.“
„Der meint nicht dich, Schätzchen.“ erklärte die innere Stimme,
„aber sag ihm, dass ich auch nichts dafür kann.“
„Ähm.“ Nick zeigte mit seinem Zeigefinger auf seine Stirn
„Er... sie, sagt es hat auch nichts damit zu tun.“
„Kidnapping.“ sagte Mana streng „Nastyboy ist zu blöd um
einen Pakt auszuhandeln.“ dann machte sie einen Schritt auf
Nick zu und brüllte ihm in den Bauch „Hast du gehört, zu blöd,
zu dämlich, zu dumm.“
„Ich weiß nicht ob es gut ist, was sie da macht.“ erklärte Nick
„Er wird stärker, wenn sie sich so auf führt.“
„Jetzt hast dus!“ sagte die innere Stimme.
„Er ist wirklich nicht besonders klug, aber er wird immer
stärker, wenn negative Gefühle im Spiel sind.“ sagte Nick
„Sogar wenn sie sich gegen ihn richten.“
„Du bist wirklich talentiert.“ brummte Varis, und durchblätterte
das Notizbuch mit glänzenden Augen, „Wer ist das?“. Nick
spürte ein brennen in seinem Bauch.
„Sven.“ sagte er rasch, griff sich an den Bauch und schaute
Varis erstaunt an.
„Was ist?“ fragte Amor.
„Er mag es nicht wie ihre Hoheit fühlt.“ erklärte Nick.
„Wer?“ fragte Amor.
„Hoheit. Köstlich.“ amüsierte sich die innere Stimme.
„Er.“ deutete Nick auf Varis, den er nach wie vor für den Fürst
der Finsternis hielt. Nick holte sofort wirksame Medizin in
seine Erinnerung und schielte auf Svens Grabstein.
209
„Warum tust du das?“ fragte die innere Stimme erbost.
„Was tu ich?“
„Du fütterst ihn!“
„Was macht er da?“ fragte Hellen und bohrte ihre langen
Fingernägel in Kevins Mantel.
„Er redet.“ sagte Kevin, der seine Hände mit dem Fernglas auf
einen Grabstein gelegt hatte. Sein Schuhbandhaar wetzte an der
Inschrift, und der Saum seines langen Mantels breitete sich
malerisch auf dem Grab aus.
„Mit wem?“ fragte Sascha. Er kauerte mit seiner Schwester
hinter Kevin, vermied jedoch jeglichen Kontakt mit diesem –
oder irgendeinem anderen Grab.
„Das kann ich nicht sehen. Ich sehe keinen.“ sagte Kevin.
„Gib her!“ zischte Hellen und entriss Kevin das Fernglas um
sich selbst zu überzeugen.
„Und?“ fragte Sascha sie „Tut er... also... macht er es wieder?“
„Er redet.“ schilderte Hellen was sie sah. „Vielleicht betet er.“
„Das klingt plausibel.“ erklärte Kevin „Wenn ich plötzlich
Feuerwerfer spielen würde, würde ich auch beten.“ dann ließ er
kurz seinen Kopf kreisen und fügte rasch hinzu: „Also ich
würde nicht beten... aber ich würde verstehen wenn jeder
andere es täte.“
„Er schaut ganz schön fertig aus.“ meinte Hellen.
„Ja. Das tut er.“ nickte Kevin. „Das ist auch ziemlich plausibel.
Mich würde das auch mitnehmen wenn ich plötzlich... also,
naja, nicht mich, aber jeden anderen würde es auch ziemlich
mitnehmen, wenn er plötzlich Feuer speien würde.“
„Wessen Grab ist das?“ fragte Sascha.
Hellen schraubte am Fernglas herum, ihr Raubvogelnest von
Haar ragte weit über die Deckung hinaus, die der Grabstein bot.
Allerdings hatte es den Vorteil, tatsächlich wie ein Vogelnest
auszusehen. Niemand würde Verdacht schöpfen.
210
„Das ist nicht zu erkennen. Ein ziemlich vernachlässigtes Grab.
Vielleicht von seinem Vater?“ mutmaßte Hellen.
„Ja.“ nickte Kevin wissend „Das kann sein.“ Hellen und Sascha
hielten den Atem an. „Das klingt ziemlich...“
„Plausibel.“ sagte das Geschwisterpaar synchron.
Amor drehte den silbernen Pfeil zwischen seinen Fingern und
grübelte. Varis blätterte wie besessen in Nicks Notizbuch. Mana
trat gegen Svens Grabstein. Nick hatte ihnen erzählt was bei der
Zeitreise vorgefallen war. Das genau diese Rückkehr in die
Vergangenheit erst Svens Tod ausgelöst hatte. Das, wenn er
nichts unternommen hätte, Sven vielleicht sogar noch leben
könne, und so weiter. Alles in allem kristallisierte sich heraus,
das Nick erst am Anfang stand, sich vor Schuldgefühlen
zerfressen zu lassen. Wenn sich die erste Aufregung und alles
erst einmal gelegt hätte, und Nick Gelegenheit haben würde,
über alles nachzudenken, gäbe er ein fortwährendes Festbankett
für Nastyboy ab. Er war – im wahrsten Sinne des Wortes – ein
gefundenes Fressen. Jene Schuldgefühle die auf ihn zukommen
würden, würden alles in den Schatten stellen, was er in den
letzten dreizehn Jahren gelitten hatte. Schlimmer noch, sie
würden sich effektiv zwischen Nick und Sascha stellen.
Amor wog den massiven, gewichtig silbernen Pfeil in seinen
Händen und ermahnte sich seiner Verantwortung.
Seine Mission, aus Nick und Sascha ein Paar zu machen war
durch Nastyboys feindliche Übernahme in weitere Ferne
gerückt als je zuvor. Nick würde immer besser darin werden,
alle positiven Gefühle für Sascha zu unterdrücken. Vielleicht
sogar würde er anfangen ihn zu hassen, weil er jedes mal
Schmerzen bekäme. Welche Macht konnte dagegen schon
ankommen? Amor ließ das Sonnenlicht spielerisch auf dem
Pfeil reflektieren und seufzte tief.
„Nastyboy wird dich nicht freiwillig aufgeben.“ erklärte Amor
211
schließlich.
„Du bist einfach zu lecker.“ sagte die innere Stimme.
„Zwei Dinge.“ sagte Amor und erhob sich. „Nastyboy muss
sich sicher sein, das bei dir nix zu holen gibt. Man müsste also
die ganze Scheiße aus dir raus bringen.“
„Und zweitens?“
„Wie hat es sich angefühlt, als du Feuer gespien hast?“
„Ganz Ehrlich? Ich will so etwas nie, nie wieder.“ gab Nick zu.
„Das dachte ich mir.“ schüttelte er resigniert den Kopf.
„Ein Ende mit Schrecken, oder ein Schrecken ohne Ende?“
fragte die innere Stimme.
„Was?“
„Ich häng dir die Leine um, ich schwörs!“ sagte Mana böse.
Nick begriff nicht richtig. Oder anders: er weigerte sich noch,
zu begreifen.
„Entweder alles bleibt so wie es jetzt ist, und zwar ganz genau
so – oder... tja.“ erklärte Amor.
„Oder was?“
„Du drückst die Sache durch! Ich kann dich von den ganzen
miesen Dingen heilen, die dich jetzt und in naher Zukunft
quälen werden – und glaub mir – der heutige Tag ist dagegen
noch ein wirklich guter Tag. Du stehst unter Schock und hast
noch nicht die Möglichkeit gehabt, dich mit deinen Parasiten
anzufreunden – aber ich kann dir versichern – nach dem
heutigen Tag wirst du dich noch sehnen.“
„Sollte ich mich jetzt, ähm, besser fühlen?“ fragte Nick
betreten. Das es einen schlimmeren Tag als den heutigen geben
könnte, konnte er sich nicht vorstellen.
„Oh doch.“ sagte die zynische Stimme in ihm „Aber das liegt
nicht an mir.“
„Du könntest das ganze aber auch heute beenden.“ stellte Amor
in Aussicht. „Die Sache mit dem Feuerspeien wird dir da aber
noch wie – hm - Urlaub vorkommen.“
212
„Das heißt: Entweder ich mach heute das Schlimmste durch
was ich mir nur vorstellen kann, oder ich mache für den Rest
meines Lebens nur etwas halb so Schlimmes durch?“ fragte
Nick.
„Fast!“ sagte Mana „Du kannst dir nicht vorstellen wie schlimm
das sein wird, was du heute durch machen müsstest. Und von
dem die Hälfte müsstest du andernfalls bis in alle Ewigkeit
ertragen. Und Ewigkeit ist wirklich lang.“
„Das heisst ich kann nicht sterben?“ fragte Nick und sah seinen
heimlich aufkeimenden dritten Lösungsweg davon schwimmen.
„Sowohl der Dämon als auch ich machen dich Unsterblich.“
erklärte die innere Stimme.
„Auch wenn ich... nun... mich bemühen würde?“ fragte Nick.
„Selbstmord ausgeschlossen!“ sagte Mana bestimmt.
„Und sie muss es wissen.“ sagte der Vogel der Zeit.
„Das ist Scheiße!“ rief Nick lauter als er beabsichtigt hatte.
„Das klingt nicht wirklich nach beten.“ gab Sascha zu
bedenken. Kevin nickte wissend.
„Plausibel.“ sagten sie alle drei zusammen.
„Das ist nicht fair!“ Nick war noch nie in seinem Leben
wirklich laut geworden. Er war eher der Typ der zu Schweigen
begann, wenn es an der Zeit war, laut zu werden. Doch diese
Zeiten waren vorbei. Und die Aussicht, so oder so Qualen zu
leiden, machte ihn richtig sauer. Davon hatte ihm keiner etwas
gesagt, als sie ihm Verheißungsvoll die Reise in die
Vergangenheit angeboten hatten. Im Gegenteil. Als die Lösung
all seiner Probleme, hatten sie es beworben. Nick begann sich
über seine eigene Dummheit zu ärgern. Er hatte das alles für so
Unmöglich gehalten, das er sich über Risiken und
Nebenwirkungen nicht hatte aufklären lassen. Alle Filme über
das Zeitreisen hatten recht, stellte er finster fest, es wird alles
213
nur schlimmer. Egal wie trostlos einem die Gegenwart vor
kommt, egal wie sehr man sich wünscht, in der Vergangenheit
anders entschieden zu haben: wenn man daran rüttelt wirds erst
richtig deftig! Einen Moment lang erwog Nick tatsächlich,
lieber für alle Ewigkeit in Verdammnis zu leben. Doch diese
Taktik hatte er schon einmal angewandt, und die hatte ihn hier
her gebracht. Vielleicht sollte er es Mathematisch angehen.
Wenn die Schmerzen der Ewigkeit halb so schlimm waren, wie
die, die die Austreibung des Dämons mit sich bringen würde,
hätte er bereits nach dem dritten Tag ohne Dämon einen
Gewinn gemacht. Das klang Vernünftig – auch wenn Nick sich
nicht sicher war, ob man Schmerz so mathematisch messen
könne. Nicht umsonst lebten so viele Menschen lieber in
lebenslang mäßigen Schmerzen – seelisch wie körperlich – als
sie einmal dem großen Schmerz hinzugeben der sie heilen
könnte.
„Okay.“ sagte er schließlich „Ich machs.“
„Schenkst du mir das Buch?“ fragte Varis.
Amor stellte seine Bogentasche vor sich auf den Boden.
„Du bist dir sicher?“ fragte er Nick.
„Nein, verdammt noch einmal, ich bin mir nicht sicher!“ sagte
dieser gehetzt und beobachtete, wie Amor den Bogen
zusammen schraubte. Vielleicht hätte er genau nachfragen
sollen, wie genau die Hilfe aus sah die Amor anbot.
„Was wird das?“
„Das ist mein Bogen. Ich bin Schütze.“ erklärte Amor
geschäftig und prüfte die Sehne. Nick begann zu schwitzen. Er
versuchte abzuwägen um wieviel schlimmer sich ein Pfeil
durch den Körper gegenüber Feuerspeien anfühlen könnte.
Wirklich Hoffnung das es sich zumindest die Waage halten
könnte, hatte ihm die Höllengang ja nicht gerade gemacht.
„Wie, äh, wie genau schaut denn dieser – ähm - Exorzismus
aus?“ fragte Nick mit großen Augen und machte einen Schritt
214
zurück, als Amor begann, den massiven silbernen Pfeil
einzuspannen. „Vielleicht nämlich... also, vielleicht nämlich
überlege ich es mir noch.“
Amor senkte den Bogen und warf Nick einen genervten Blick
zu. Er brauchte nichts zu sagen, Nick verstand das Ultimatum
genau. Für alle Ewigkeit, sagte er sich. Im Moment nämlich, da
jetzt gleich der Schmerz einsetzen sollte, klang es gar nicht mal
so schlimm, für alle Ewigkeit etwas weniger zu leiden. Wobei
Ewigkeit war ja doch lang.
„Einen Moment noch.“ bat Nick. Augen zu und durch, dachte
er. Ein Pflaster musste man auch schnell abziehen. Und je
länger man wartet, um so schlimmer wird etwas. Wer hatte
noch gesagt, dass das schlimmste in allen Dingen immer die
Angst wäre, nie die Sache an sich?
„Okay.“ sagte er schließlich, schloss die Augen und die
zynische Stimme in ihm sagte:
„Na, ob die Angst wirklich schlimmer ist?“ Noch ehe Nick sich
beschweren konnte, das der Vogel der Zeit es ihm nicht gerade
leichter machte, hörte er, wie die Sehne anschlug und der Pfeil
swirrte.
Oh, da hatte die Höllengang aber ganz schon übertrieben. Er
spürte gar nichts. Nicht mal einen Piks. Na das war ja einfach
gewesen. Erleichtert blinzelte Nick, um sicher zu gehen das der
Pfeil auch wirklich abgeschossen worden war. Er erblickte
Amor, dessen Bogen leer war. Allerdings hatte er nicht
getroffen. Zumindest nicht Nick. Er hatte auf den Grabstein
gezielt – und dort steckte der silbrige Pfeil auch fest.
„Willst du auch mal?“ fragte Hellen ihren Bruder. Nachdem
sowohl Kevin als auch Hellen eine bis dato harmlose
Berichterstattung von sich gegeben hatten, fühlte Sascha sich
sogar soweit, einfach so zu Nick hin zu gehen. Offenbar war
soweit alles normal. Dennoch, sie hatten ihn nicht gesehen wie
215
er ausgesehen hatte als er das Schlafzimmer in Brand setzte.
Beherzt also nahm er das Fernglas entgegen, sich auf den
Grabstein zu knien kam für ihn nicht in Frage. Ein bisschen
hatte er Bauchkribbeln, als er im Fernglas eine verschwommene
Gestalt erkannte, die Nick sein musste. Mit zittrigen Fingern
drehte er am Zahnrädchen um das Objektiv scharf zu stellen.
„Was ist los?“ fragte Hellen, als sie Sascha beobachtete, der
noch einmal mit freiem Auge in Richtung Nick sah und dann
wieder ins Fernglas blickte. Das Kribbeln im Bauch mutierte zu
einem Handfesten Schmerz. Was er sah bestätigte alle
Befürchtungen die er je in Bezug auf Nick gehabt hatte.
Einerseits wollte er das Fernglas sofort zu Boden werfen, er
wollte nicht sehen was sich ihm zeigte. Zugleich aber konnte er
den Blick nicht abwenden.
Er hatte diese Person schon einmal gesehen. Nein, nicht
lebendig, nicht im echten Leben. Er hatte sie auf sämtlichen
Zeichnungen in Nicks Notizbuch gesehen. Das schulterlange
blonde Haar, diese großen Augen, die hohen Wangenknochen,
unverkennbar war es jene Person, hinter der er all die Zeit
Nicks heimlichen Freund vermutet hatte.
Das erste was Sven sah, war ein nackter muskelpepackter Riese
mit einem kleinen Notizbuch und einem großen Ständer, der ihn
anglotzte als wäre er der Messias höchst persönlich. Dann erst
sah er seinen alten Freund Nick.
„Wie siehst du denn aus?“ fragte er ihn. Nick schien um Jahre
gealtert. Er war um Jahre gealtert. Allerdings sah er neben
dieser Tatsache tatsächlich bemerkenswert zerstört aus, und das
lag nicht nur daran, das er aus sah als würde er einen Geist
sehen. Neben den Wunden, dem versengten Mehr-Tage-Bart
und den Schmutzflecken fand Sven speziell die Aussage auf
dem T-Shirt bemerkenswert.
„Was soll das?“ fragte er gerade heraus und zeigte auf Nicks
216
Brust. Er schien der Einzige in der zugegebenermaßen etwas
skurrilen Runde zu sein, dem es wirklich gut ging. Nick blickte
an sich herab. Das er dieses Shirt trug hatte er bereits vergessen,
doch das er es ausgerechnet hier, in dieser Situation, nach dem
was er wusste, trug, fand er gelungen. Und in der Sekunde, da
er von dem Schriftzug auf seinem T-shirt zu Sven auf blickte
bekam er den ersten Vorgeschmack darauf, was die Höllengang
mit ihren Visionen von Schmerz gemeint hatten. Na klar, was
war natürlicher, als das er sich freute, das er Sven endlich als
Mensch gegenüberstehen konnte. Das er ihm endlich sagen
konnte, das dieses Mail das Sven erhalten hatte nicht von ihm
selbst gewesen war. Das er für Sven ebenso empfunden hatte,
wie dieser für ihn? Er würde ihn endlich umarmen können,
würde ihn spüren können. Ach, was gab es nicht alles zu
bereden, zu fühlen nach all den Jahren und nach den
Erkenntnissen der letzten Tage? Nicht länger musste er sich die
Schuld an seinem Tod geben, sie konnten Freunde sein. Wie
sehr hatte er es vermisst, einen besten Freund zu haben. Und,
ach ja, die Liebe. Was hatten sie nun nicht alles gemeinsam?
Das alles waren positive Gefühle, überwältigende Gefühle,
großartige Visionen. Das alles konnte Nastyboy nicht ertragen.
Das brennen im Bauch, das Nick an diesem Tag mehrmals
gefühlt hatte, war nichts gewesen gegen das, was jetzt in ihm
begann Fuß zu fassen. Er hatte das Gefühl, das jede Pore auf
seiner Haut langsam aufgerissen würde, sich die Haut
zusammen kringle wie ein ein Stück Papier. Ihm war, als
bohrten sich langsam feine metallene Späne in sein Fleisch, in
jede noch so empfindliche Stelle, und als wäre diese Stelle
bereits durch kochendes Wasser verbrannt und aufgeschwollen.
In seine Organe zog zunächst eine bleierne Schwere, ehe es sich
anfühlte, als würden sie wachsen, sich aufblähen, immer
ekelhaft größer werden und einander behindern. Nick hatte sich
nie besonders dafür interessiert, wo seine Leber oder sein
217
Magen saß, nun aber fühlte er sie genau, sie waren sich im Weg
und wuchsen doch weiter. Sie klemmten aneinander, pressten
sich zusammen, quetschten sich unaufhörlich gegenseitig, und
zogen sich mit einem Schlag zusammen, wurden winzig klein,
zerrten damit an Blutgefäßen und Nerven, hingen im Nichts.
Als würden alle seine Nerven zu porösen Eis gefrieren zischte
ein Blitz durch jeden einzelnen und noch so feinen
Nervenstrang. Nastyboy leistete volle Arbeit. Er fügte Nick den
größtmöglichen Schmerz zu, den er einem Wirtskörper zufügen
konnte, ohne ihn zu töten. Er war überzeugt – er war besessen
davon – Nick klein zu kriegen. Er kannte seinen Lebenslauf, er
kannte seine Angst vor der eigenen Courage – bei nichts war
Nastyboy so sicher, wie dabei, das Nick irgendwo in seinem
Wesen, in seiner Seele noch etwas düsteres finden würde, das er
einen negativen Grund finden würde, um Nastyboy zu füttern,
um den Schmerz zu beenden. Und er lag damit auch gar nicht
so daneben. Mana hatte recht gehabt – es hatte sich im Traum
nicht vorstellen können, so Leiden zu können.
„Halte durch!“ rief die innere Stimme, der Vogel der Zeit.
„Ich kann nicht!“ presste Nick hervor und hatte dabei das
Gefühl, er spräche ohne Haut in seinem Mund. Als wären ihm
Nerven in den Blutbahnen gewachsen, spürte er nun, wie bei
jedem Herzschlag jeder einzelne Tropfen Blut an den
Gefäßwänden entlang zischte. An offenen, an aufgeschundenen,
an verbrannten Gefäßwänden. Sechs Liter Blut, er spürte jedes
Milligramm, und es war ihm, als bestünde es aus Tabasco der
geschäftig – Nicks Herz raste – über offene Gefäßwende
wetzte, hin und zurück, hin und Zurück, 190 mal in der Minute.
Lieber litt er sein Leben lang, dachte Nick, wobei jeder
Gedanke sich anfühlte, als rollen zu große Steine durch seine
Gehirnwindungen.
Nick konnte kaum etwas sehen, so beschäftigt war er mit dem
Schmerz. Kam es in Frage, jetzt aufzugeben? Wie schlimm
218
konnte es noch werden? Wollte er den bisherigen Schmerz
umsonst gelitten haben?
Nick zitterte am ganzen Leib, als er seine Hände nach Sven aus
streckte. Er war entschlossen, Nastyboy Paroli zu bieten. Er
hätte es als Vogel schon machen sollen. Er selbst war kaum in
der Lage, positive Gefühle zu entwickeln, aber er wusste, das
Nastyboy auch auf die Gefühle von anderen reagierte. Nick
ahnte, was es für Sven bedeuten würde, wenn er ihn umarmte,
mehr noch, wenn er ihn küssen würde. Auch wenn er dazu
eigentlich nicht mehr imstande war, so machte Nick einen
Schritt auf Sven zu und auch wenn es sich anfühlte, als wäre er
ohne Haut, als wäre es das bloße Fleisch das sich an Sven
drückte, so umarmte er ihn, drückte sich an ihn. Bingo, Sven
freute sich tatsächlich spürbar und begann Nick zu küssen. Nick
erwiderte den Kuss leidenschaftlich und Nastyboy bäumte sich
ein letztes Mal auf, doch er hatte keine Macht mehr. Er riß Nick
das Rückgrat auf, brach die Wirbelsäule entzwei und kroch
umständlich aus ihm heraus, direkt in Manas Fangschlinge.
Nick merkte, wie der Schmerz sich schlagartig aus seinem
Körper verflüchtigte. Nach und nach gewann er sein normales
Körpergefühl zurück, konnte die Umarmung spüren, und den
Kuss. Sven schien dreizehn vergeudete Jahre aufholen zu
wollen – und wenn er so weitermachte, könnte es ihm gelingen.
Mit Nastyboy verließ aber nicht nur der Schmerz Nicks Körper,
sondern auch Kraft. Kraft, die ihn über den ganzen Tag
geschleift hatte. Kaum also das er den Kuss richtig genießen
konnte, verlor Nick das Bewusstsein.
Sascha schleuderte das Fernglas auf das Grab auf dem Kevin
und Hellen es sich gemütlich gemacht hatten, und rannte aus
dem Friedhof.
„Was hat er denn?“ fragte Hellen und Kevin untersuchte das
Fernglas. Nachdem er entschieden hatte, das man es noch
219
würde gebrauchen können, auch, wenn das eine Objektiv
zersprungen war, prüfte er, was Sascha so aufgewühlt hatte.
„Oha.“ meinte er, als er seinen Chef in einer ziemlich
leidenschaftlichen Umarmung vor fand. Es war eine Sache, zu
wissen das er schwul war – eine andere Sache hingegen, es zu
sehen. Wortlos reichte er Hellen das Fernglas, welche es sofort
anlegte.
„Verstehe. Ich würde sagen, das mit der sexuellen Orientierung
hätten wir geklärt.“
3 Monate später
Nick öffnete langsam seine Augen. Das Laken hatte, nicht nur
durch seinen unruhigen Schlaf und der Tatsache, noch nie
richtig gespannt worden zu sein, einen dicken Wulst gebildet
der Nick in den Rücken drückte. Der Polster lehnte sich lässig
gegen den Scheitel, und stützte sich auf Nicks Stirn ab. Einen
Moment. Nick brauchte nur einen Moment. Von draußen drang
das emotionslose Kichern vergeblicher Startversuche an sein
Ohr. Der alte Citroen AX des Nachbarn verweigerte wieder
einmal seinen Dienst. Mit einem tiefen Seufzen drehte er seinen
Kopf und betrachtete das lange blonde Haar, das sich malerisch
über den Kopfpolster ergoss. Nicht nur das Haar war malerisch.
Nick drehte sich zur Seite und stützte seinen Kopf in eine Hand,
sodaß sein Arm quasi ein Dreieck bildete. Da lag er also. Sven.
Wie eine nordische Gottheit. Er war seit damals keinen Tag
gealtert. Das hieß, die letzten Wochen alterte er natürlich schon
wieder, aber das konnte man noch nicht wahr nehmen. Sven
nutzte jede Minute seines Lebens voll aus. So als hätte er eine
beklemmende Erinnerung an dreizehn Jahre tot sein. Ständig
war er auf der Suche nach neuen aufregenden Sportarten –
worauf sein jugendlicher Körper sehr gut ansprach. Nick ließ
seinen Blick über den perfekt gebräunten und atemberaubend
gemeißelten Körper gleiten. Zweifellos – ohne Zweifel –
220
beneidete ihn die gesamte schwule Szene darum, ihn in seinem
Bett liegen zu haben. Gemeinsam hatten sie in den letzten
Monaten jeden Winkel der Umgebung aufgesucht, der auch nur
im entferntesten das Etikett schwul verdiente. Sie hatten in der
Tat beide viel aufzuholen. Sie hatten so viel zu besprechen und
so vieles gemeinsam zu entdecken. Wie in einem Rausch waren
die letzten Wochen davon gezogen und es gab keine Stelle in
Nicks Wohnung, an der sie nicht unaussprechliche Dinge
getrieben hatten, und keine Schwulenbar oder Schwulendisko
die sie nicht heimgesucht hatten – süchtig nach erleben. Sie
galten als das Traumpaar der Szene – wobei eher Sven für das
Etikett Traum zuständig war. Es gab keinen Ort, wo nicht
mindestens ein Mann sich den ganzen Abend aus der Ferne
nach Sven verzehrte.
Nachdem Kevin gekündigt hatte um sich ganz auf seine
Karierre als Rockstar zu konzentrieren, arbeitete Sven bei Nick
im Geschäft. Das hieß, auch dort reduzierten sich die Flecken,
die nicht mit unaussprechlichen Erinnerungen verknüpft werden
konnten.
„Guten Morgen, mein Prinz.“ schnurrte Sven, der wohlwollend
bemerkte, wie Nick seinen Körper bewunderte. Nick jedoch
fragte sich, wie sich ein riesiges Tatoo auf diesem Körper
machen würde. Vielleicht ein großer Drache. Seufzend rollte er
sich auf den Rücken. Sven verstand das sofort als
Aufforderung.
Nick kratze gähnend über das Chaos, das der Sex mit seinem
schwarzen Haar angestellt hatte und erzeugte mit der anderen
Hand ein kleines Keramikkonzert im Küchenschrank. In einer
Garfield-Müslischale, die daraus hervorging, ertränkte er
Haferflocken mit Sojamilch als Sven herein gesprungen kam,
ihn überschwänglich von hinten umarmte und munter fragte:
„Und? Was machen wir heute?“
221
Nichts, dachte Nick, gar nichts, fernsehen, essen, schlafen,
wirklich schlafen. Er war es müde, das Leben eines Teenagers
zu führen. Gut, Sven war Teenager. Ein Teenager der dreizehn
Jahre warten musste, eher er einer sein durfte, aber Nick war
ein erwachsener Mann. Nicht das man mit dreißig ein alter
Mann war, aber Nick war noch nie der Typ dafür gewesen, sich
die Nächte in Discos und Bars um die Ohren zu schlagen. Er
wollte Ruhe. Es wäre schön, gemeinsam essen zu gehen, ein
Candle Light Dinner vielleicht, und dann einen Film anzusehen.
Aber so etwas fand Sven regelrecht gruftig. Nick seufzte. Er
verlor das Interesse an seinem Müsli und an Sven, wand sich
aus der Umarmung und blieb ihm die Antwort schuldig.
Auf dem Weg ins Bad knirschte es unter seinen nackten
Fußsohlen und das erste Stück Stoff das er fühlte – eine Socke –
nutzte er, um zumindest auf diesem Bein voran zu schlittern.
Damit schlug er zwei Fliegen mit einer Klappe. Er musste das
widerliche Gefühl von Krümel auf nackter Haut nicht ertragen,
und die Socke konnte in die Nähe der Waschmaschine bugsiert
werden.
Nick ballte seine Fäuste und bremste mitten in einem Passanten
auf dem Zebrastreifen. Oder besser gesagt in dessen
Terriermischling, der aufjaulte und sich dann knurrend im
Vorderreifen seines sonnengelben Fahrrads verbiss. Für den
Bruchteil einer Sekunde sahen sich Nick und der junge Mann
an der Leine entsetzt an – als wäre nicht klar, wer einen Fehler
begangen hatte. Eine plötzliche Invasion tausender
Schmetterlinge durchflatterte Nicks Bauch und machten seine
Knie weich. Erinnerungsfetzen. Er seufzte. Aus dem silbrig –
von Kalkflecken matten - Hahn schoß Wasser in
unterschiedlich dicken Strahlen in mannigfaltige Richtungen
und traf gelegentlich in das klebrig mit Zahnpasta verkrustete
Waschbecken. Nick bildete mit seinen Händen Schaufeln und
warf sich eiskaltes Wasser ins Gesicht, um die sentimentalen
222
Gedanken an Sascha weg zu spülen. Er hob seinen Kopf und
betrachtete sein Spiegelbild. Dabei sah er nicht wirklich sich
selber oder die unzähligen vertrockneten Spritzer, sondern nur
Fragmente, wie etwa seine Bartstoppeln, über die er mit seinen
Fingern rieb, um abzuschätzen ob er mit dem Rasieren noch
einen Tag warten könne. Oder seine dichten Augenbrauen die
wie schwarze Balken die Stirn von seinem restlichen Gesicht
trennten. „Buster!“ Sascha zog kurz an der Leine ohne Nick
aus seinen Augen zu lassen und der Mischling ließ auf der
Stelle los, würgte den Geschmack des Gummis hoch, und
himmelte sein Herrchen sabbernd an. Eilig setzten die Beiden
den Weg auf die andere Straßenseite fort, wobei sich Sascha
noch zweimal verunsichert nach Nick umdrehte, und der Buster
hechelnd die Nase unablässig in die Knie seines Begleiters
rammte. In Nicks Magen spannte sich eine Saite und riss dabei.
Er beugte sich über die Badewanne, mit einer Hand stützte er
sich an der gekachelten Wand gegenüber ab – mit der anderen
betätigte er den Knauf mit dem blauen Punkt. Wasser stürzte
aus der Brause und trümmerte eiskalte Nadelstiche auf Nicks
Schädel. Das weiße T-shirt sog sich voll und legte sich wie ein
Schild kalt und schwer über seinen Rücken. Nick konzentrierte
sich auf den nassen Vorhang der rings um sein Gesicht in den
kleinen Stausee mündete, der sich wegen des chronisch
verstopften Abfluss bildete. Gerade als er fest stellte, das er das
erstaunlich lange aushalten konnte, reichte es ihm auch schon.
„Wir könnten heute auf das Konzert von Killerkev gehen.“ rief
Sven von der Küche herüber. Ach ja, Kevins Konzert, erinnerte
sich Nick, also nichts mit ruhigem Abend. Er hätte so oder so
keinen ruhigen Abend bekommen.
„Dannach könnten wir...“ flötete Sven und hielt an der
Badezimmertüre inne „Was machst du denn?“
Nick stand in einer ziemlich großen Pfütze, zitterte verfroren
und grinste, wie er immer grinste.
223
Der Raum war weiß in weiß in weiß. Nun. Nicht ganz. Über
einen Teil der Wand und die Decke erstreckten sich schwarze
Rußwolken. Auf dem Nachtkästchen tanzte surrend ein
Mobiltelefon wie ein sehr großer flügellahmer Käfer. Mit
einiger Verzögerung begann es eine ziemlich nervtötende
Melodie zu spielen, und als diese endlich vorbei war,
wiederholte sie sich einfach. Nach dem siebenten Mal kroch ein
Arm aus der Armada aus Decken und Polster, tastete nach dem
Gerät und verschleppte es in die kuschelige Höhle.
„Hallo Hellen.“ brummte Sascha.
„Was? Nein, ich...“ Sascha schlug die Decke zurück und ließ
prüfend seinen Blick über das etwas zugerichtete Bett
schweifen. Niemand da außer er selbst und Buster, der
aufmerksam seinen Kopf hob.
„Ich habe nicht mit Busters leiblichen Vater,... das geht dich
außerdem überhaupt nix an. Zudem ist er nicht der leibliche...
nein, ich bringe dir die verdammten Pläne nicht in den
Copyshop... Hältst du mich für so dämlich? ... Nein, ich halte es
für keine gute Idee... Hellen... Hellen... Stop!“ Sascha setzte
sich entschlossen auf. „Er arbeitet jetzt auch da.“ erklärte er
eindringlich „Ich bin kein Masochist, dass ich mir das junge
Glück geben muss.... nein... nein... doch, die sind sehr wohl
zusammen... können wir von etwas anderem reden bitte? ...
Heute? ... Wann? ... Ich weiß nicht. Sie werden sicher auch da
sein... ja... ja... so viele? okay... du hast natürlich recht, bei
achttausend Leuten sollte es uns gelingen, uns aus dem Weg zu
gehen. ... ja. JA! Ja ich komme. Nein, ich sag das nicht nur so.
Wirklich.“ Sascha seufzte genervt „Ich schwöre. Bei allen
Dämonen die mir geläufig sind und einem ziemlich geilen Gott.
Ja! Bis am Abend dann.“ damit drückte er auf die rote Taste
und schleuderte das Handy aufs Bett.
224
Das Büro war todschick! Ein Schreibtisch aus Walnußholz, die
Wände aus mit Silberfäden durchwirktes Milchglas, der
Fußboden ein aus weitgehend legal erworbenen Engelsfedern
gewebter Teppich. Amor trug einen weißen Nadelstreifanzug
mit Lackschuhen und einen mafios coolen Hut.
„Sir?“ sagte eine weibliche Stimme aus einem Mikrofon. Ja,
man sagte jetzt Sir zu ihm. Amor machte eine kurze Pause um
den Eindruck zu erwecken, er wäre sehr beschäftigt, drückte
dann gewichtig auf die Taste, neigte sich vor und sagte:
„Ja, Mathilda?“ dabei grinste er anzüglich. Er hatte sich
aussuchen dürfen, wen er beschäftigen wollte.
„Amor ist da.“ sagte sie, und dem Sachbeauftragten in
Schicksalsfragen entging der eifersüchtige Unterton nicht.
„Bitten Sie sie doch herein.“ sagte er. Er liebte diesen Apparat.
Natürlich war er nicht wirklich nötig – aber er wirkte so wichtig
und der Sachbeauftragen in Schicksalsfragen schätzte
Spielereien die etwas her machten. Nach einer kurzen Pause
drückte er noch einmal auf die Taste, bewegte seinen Mund
nahe auf das Mikrofon zu und sagte:
„Und,... Mathilda!“ er ließ los und wartete ihr schmollendes
„Ja?“ ab.
„Sie kommen doch bitte auch gleich mit herein.“ damit lehnte
er sich zurück und erfreute sich daran, wie sich die Türe zu
seinem Büro öffnete und zwei sehr große, schlanke Frauen im
mittleren Alter, mit schwarzem Pagenschnitt und weißen
Minikleidern auf kriminell hohen Absätzen herein starksten und
ihm zu zwinkerten. Das versprach ein Nachmittag ganz nach
seinem Geschmack zu werden.
Achttausend Leute waren eine verdammte Menge. Kevin stand
hinter der Bühne und konnte durch einen Spalt hindurch nur
einen Ausschnitt genießen. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn
– was nicht alleine daran lag, das er bei hochsommerlichen
225
Temperaturen Stiefel und einen langen Mantel trug. Er hatte die
Hosen so etwas von voll. Hellen war ein Genie. Es war fast
beängstigend, mit welchem Wissen über die Branche sie
brillieren konnte – und besser noch – wie sie es einsetzen
konnte. Offenbar kannte sie die dreckigen Geheimnisse
sämtlicher Macher im Musikbusiness – und damit jonglierte sie
wie eine Akrobatin – mühelos und zielsicher. Bei seinem
letzten Konzert vor einigen Monaten war er ein Künstler unter
vielen gewesen. Der Auftrittsort ein Raum, der klein genug war,
dass zweihundert Leute nach viel ausgesehen hatten. Es hatte
fast mehr Musiker als Publikum gegeben und wenn man es
versaute, dann gab es ein duzend Bands, die das Publikum
wieder versöhnten. Zudem war der Eintritt gratis gewesen. Nun
aber stand er auf der einen, und achttausend zahlende Leute auf
der anderen Seite des Bühnenverhaus. Die Vorbands waren nur
dazu da, um das Publikum für ihn aufzuwärmen – und sie
waren verdammt gut.
„Alles okay?“ fragte ein Roady, der den Schweißfilm auf
Kevins bleichem Gesicht bemerkte.
„Na klar!“ schmetterte Kevin dem Mann entgegen und löste
sich vom Blick auf die Menschenmenge. Die zweite Vorband
hatte gerade ihren letzten Song beendet, und Kevins großer
Auftritt stand an.
Nick trottete über das Gelände, wühlte sich durch die Menschen
und sah sich einfach nur ein bisschen um. Sven war wenige
Minuten nachdem sie das Konzertgelände betreten hatten in den
vorderen Reihen untergetaucht, wo er sich austoben konnte.
Gelegentlich sah Nick, wie seine blonde Mähne aus der
brodelnden Menge stob, wenn er wiedermal jemandem ziemlich
auf die Zehen hüpfen oder einen Ellenbogen ins Schlüsselbein
stoßen musste. Sven hatte eine Lebenskraft in sich, die
bemerkenswert war. Nick mochte das Gewühl nicht so
226
besonders und genoss es eher, sich die Musik aus einiger
Entfernung anzuhören, während er durch die Gegend lief und
Leute beobachtete.
So ein Konzert war irgendwie immer auch ein Kostümball für
Menschen, die im Alltag ihre musikalische Neigungen nicht so
nach außen tragen konnten. Fasziniert betrachtete Nick diverse
T-Shirt aufdrucke und Kappen. Er spielte sich seit einiger Zeit
mit der Idee, sich kreativ in diese Richtung zu entwickeln. Also
Fanshirts zu entwerfen – aber auch Comics zu zeichnen. Die
wenigen Minuten die er vom atemlosen Leben mit Sven
abzweigen konnte, setzte er die Eindrücke um dessen Rettung
um. Zwar hatte er es noch keinem gesagt, aber er zog es
durchaus in Erwägung, aus seiner Geschichte – oder besser
Svens Geschichte – ein Comic zu machen.
Die Vorgruppen waren gut. Nick musste schmunzeln, wenn er
daran dachte, wie nervös Kevin gerade sein musste, und wie
verzweifelt er dabei wäre, das zu verbergen.
Plötzlich sah er Sascha. Sein Körper reagierte völlig überzogen
darauf. Erst beendete er sämtliche Herzaktivitäten, und dann
preschte er richtig los. Nick bekam weiche Knie, sein Magen
drehte sich um und ihm wurde sogar schwindlig. Wie
angewurzelt blieb er stehen, überlegte gar, sich
sicherheitshalber auf den Boden zu setzen. Sascha stand einfach
so herum, inmitten der Menschenmenge und ließ seinen Blick
über die Köpfe hinweg schweifen. Nick hoffte so sehr, das er
hersehen würde, wie er auch Angst davor hatte. Was sollte er
dann tun? Immerhin hatte er ihm bei der letzten Begegnung das
Schlafzimmer in Brand gesetzt.
Und auf einmal sahen sie sich in die Augen. Über all die Köpfe
hinweg, gute sieben Meter voneinander entfernt, und sahen sich
einfach an. Nick versuchte durchaus, seinen Blick abzuwenden,
ihn nicht so schamlos an zu starren – aber es gelang nicht.
Sascha dürfte es ähnlich ergangen sein. Und weil es irgendwie
227
blöd war, sich einfach nur minutenlang anzusehen, und es
ziemlich zu stören begann, dass ständig Menschen zwischen
ihnen hin und her trabten und offenbar nichts von diesem
magischen Moment bemerkten, ging Nick einfach auf Sascha
zu. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, und ohne sich durch das
Gerempel aus dem Konzept bringen zu lassen, verringerte er
nach und nach den Abstand zwischen ihnen, und mit jedem
Meter den er zurück legte, ging er ein bisschen schneller, so als
habe er Angst, Sascha könne sich in Luft auflösen, wenn er zu
langsam wäre. Dabei schossen ihm Sätze durch den Kopf, den
er sagen könnte. Von wegen, wie schön es wäre ihn zu sehen.
Das er gut aus sähe. Nein, wirklich gut sah Sascha nicht aus.
Das hieß, es sah natürlich blendend aus – aber er dürfte keine
gute Zeit hinter sich haben. Schließlich stand er direkt vor ihm
und es war an der Zeit, die tausend Sätze heraus zu lassen, die
er ihm in Gedanken über all die letzten Wochen hinweg gesagt
hatte. Doch kein Satz war der richtige für diesen Moment. Nick
entschloss sich dazu, zu sagen das er Sascha ja immer noch
etwas schulde (Bett), doch als er seinen Mund aufmachte, hatte
dieser (sein Mund) nichts besseres zu tun, als sich Saschas
Lippen zu bemächtigen. Ziemlich überwältigt von Nicks
Reaktion, stieß Sascha ihn von sich weg. Auch Sascha hatte in
den letzten Wochen ein paar Anthologien formuliert, die er
allesamt imaginär zu Nick gesprochen hatte. Erst würde sich
Nick diese anhören müssen. Jawohl. Entschlossen blickte er in
diese braunen Augen, stellte fest, wie sehr er alleine schon die
Art vermisst hatte, wie Nicks dichte Augenbrauen über der
Nasenwurzel zusammengewachsen waren und erst dieses
Lächeln, das so schüchtern wirkte, und so verschmitzt. Ach,
was solls, dachte Sascha, packte Nick am Tshirt, zog ihn zu sich
her und küsste ihn. Sie küssten sich, als die zweite Vorband die
Bühne räumte, und sie küssten sich, während die Roadies die
Bühne für Kevins Auftritt vorbereiteten. Sie küssten sich noch
228
immer, als Kevin die Bühne betrat und als er nach einem
zweistündigen Spektakel die Bühne zum ersten Mal verließ.
Auch seine Zugaben hindurch küssten sie sich, und sie küssten
sich nach wie vor, als die Fans und Metalheads langsam das
Feld räumten. Auch als Sven Nick auf die Schulter klopfte,
küssten sie sich, und Sascha nahm einfach die Hand des
Jünglings und schob sie weg, ohne den Kuss zu unterbrechen.
Erst als Sven einen Trichter aus seinen Händen formte, sie an
Nicks Ohr setzte und ziemlich laut:
„Können Sie sich ausweisen?“ brüllte, lösten sich die Beiden
aus ihrer Umschlingung. Wie benommen hielten sie sich an den
Händen, sahen sie sich um und stellten fest, das fast alle
gegangen waren. Noch ehe Nick sich überlegen konnte, wie er
das alles Sven beibringen sollte, fuhr ihm der leise Schock in
die Knochen. Neben Sven stand ein ziemlich großer, ziemlich
muskulöser Mann in zu engen Jeans, dessen blauschwarzes
Haar wie ein Umhang über den Rücken wehte, und ziemlich
verknallt grinste. Mit Sven, der sich für seinen braun
gebrannten und athletischen Körper nicht zu schämen brauchte,
und dessen blondes lockiges Haar nicht mindere Tendezen
aufwies, heroisch durch die Nacht zu wehen, sah es ein
bisschen so aus, als hätten sich die Beiden auf einer GötterKonvention kennen gelernt. Sascha war nicht weniger
beeindruckt davon, ihn hier wieder zu sehen.
„Darf ich euch jemanden vorstellen?“ fragte Sven.
„Gott!“ rief Sascha.
„Satan!“ rief Nick.
Irgendwo, und das muss geschrieben werden, weil es nun
einmal zu einem verdammt guten Ende dazu gehört, lief ein
kleines Mädchen in einem schwarzen Kommunionskleid und
langen roten Zöpfen über eine Klatschmohnwiese gegen
Sonnenuntergang. Unter ihrem linken Arm hatte sie ihre Emo229
Puppe geklemmt, an der rechten Hand führte sie ein ziemlich
abscheuliches Geschöpf an der Leine, das ungelenk und
schmierig an ihrer Seite entlang sprang und versuchte, sich von
der Leine zu lösen. Sie waren unterwegs um irgendwo irgend
eine noch ganz zufriedene Seele in den Freitod zu treiben. In
Vorfreude darauf, machte das kleine Mädchen einen kleinen,
zaghaften Sprung und würgte Nastyboy dabei etwas....
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