Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh
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Sigg • Der Unterführer als Feldherr im Taschenformat Zeitalter der Weltkriege Begründet vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Band 12 Marco Sigg Der Unterführer als Feldherr im Taschenformat Theorie und Praxis der Auftragstaktik im deutschen Heer 1869 bis 1945 FERDINAND SCHÖNINGH 2014 Umschlagabbildung: Deutsche Soldaten vor Beginn eines Angriffs. Der Zugfuehrer gibt die notwendigen Anweisungen. Anfang Oktober 1941 (ullstein bild – Weltbild) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706 © 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Redaktion und Projektkoordination: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Schriftleitung Koordination: Wilfried Rädisch Lektorat: Cordula Hubert (Olching) Satz: Carola Klinke, Christine Mauersberger Karten, Grafiken, Tabellen: Daniela Heinicke, Frank Schemmerling Bildredaktion und -lizenzen: Knud Neuhoff (Berlin) Bildseiten- und Umschlaggestaltung: Knud Neuhoff (Berlin), Maurice Woynoski Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Herstellung: Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg ISBN 978-3-506-78086-7 Inhalt Vorwort........................................................................................................ IX I. Einleitung............................................................................................... 1. Problemstellung................................................................................. 2. Forschungsstand................................................................................ 3. Fragestellung, Methode und Aufbau der Arbeit................................. 4. Quellenlage....................................................................................... 5. Sprache und Begriffe.......................................................................... 6. Dank................................................................................................. 1 1 6 13 19 23 26 II. Die preußisch-deutsche militärische Führungsdoktrin 1869 bis 1945 – Analyse des Phänomens Auftragstaktik................................................. 29 1. Das Kriegsverständnis der preußisch-deutschen militärischen Denkschule....................................................................................... 33 a) Einordnung und Rezeption von Clausewitz’ Kriegstheorie........... 36 b) Das spezifische Wesen des Krieges bei Clausewitz......................... 41 c) Das Kriegs- und Führungsverständnis von Moltke d.Ä................. 47 2. Das Kriegs- und Führungsverständnis in preußisch-deutschen Heeresdienstvorschriften bis 1945..................................................... 54 a) Führungs- und Ausbildungsvorschriften des Heeres 1869 bis 1945.............................................................................. 54 b) Kontinuitätslinien in der deutschen militärischen Führungsdoktrin 1869 bis 1945................................................... 67 Das Kriegsverständnis in den Dienstvorschriften des Heeres........ 69 »... und Kühnheit ist der Kriegskunst immanent« – Zum Wert der moralischen Faktoren im preußisch-deutschen Führungsdenken.......................................................................... 72 Offensivgeist und stetiger »Drang nach vorwärts«?....................... 88 Die Selbstständigkeit der Unterführer – »eine etwas zweischneidige Sache«.................................................................. 95 Disziplin und Gehorsam – »der erste und wichtigste Grundsatz in jeder brauchbaren Armee«........................................................ 118 »Die Einheitlichkeit der Kampfführung muss gewahrt bleiben« – Zur Bedeutung von straffer Führung, Nachrichtenverbindungen und dem Führen von vorn........................................................... 130 »Die Truppenführung ist eine Kunst, in ihr gibt es keine Schablone«.......................................................................... 144 Inhalt VI »Gut zu befehlen ist eine Kunst« – Der Führungsvorgang im deutschen Heer....................................................................... 152 3. Zusammenfassung.................................................................................. 173 III.Zwischen Selbstständigkeit und Eigenmächtigkeit – Auftragstaktik von Moltke d.Ä. bis Guderian.......................................... 177 1. Auftragstaktik in der Zeit der »Reichseinigungskriege«...................... 178 a) Der Deutsch-Dänische Krieg 1864.............................................. 181 b) Der Deutsche Krieg 1866............................................................ 182 c) Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71.................................... 188 d) Die Reichseinigungskriege, der Moltke-Mythos und der Kult der Selbstständigkeit – Eine Beurteilung......................... 195 2. Auftragstaktik im Ersten Weltkrieg.................................................... 202 a) Die Grenzschlachten im Osten 1914............................................ 203 b) Die Grenzschlachten im Westen 1914.......................................... 207 c) Von Falkenhayn zu Ludendorff.................................................... 213 d) Die deutsche Operationsführung 1914 bis 1918 im Urteil der deutschen Militärpublizistik der Zwischenkriegszeit............... 219 3. Die Entwicklung des Heeres in der Zwischenkriegszeit...................... 229 4. Der Westfeldzug 1940 – Richtungsstreit zwischen »Traditionalisten« und »Progressiven«................................................ 231 a) Überblick zum operativen Verlauf des »Sichelschnitts«................. 231 b) Planung und Organisation der Offensive..................................... 233 c) Der Vorstoß an die Maas.............................................................. 235 d) Der Maasübergang und der Panzerraid an die Kanalküste............ 239 e) Der »Fall Gelb« – Eine Wertung................................................... 249 5. Zusammenfassung............................................................................. 250 IV.Der Krieg im Osten 1942/43 – Das taktische Führungsverhalten am Beispiel von drei Divisionen.............................................................. 253 1. Die militärische Gesamtlage an der Ostfront 1942............................ 254 a) Ausgangslage und Planung........................................................... 254 b) Der zweite Feldzug gegen die Sowjetunion................................... 259 2. Fallbeispiel 1: Die »letzte Reserve« – 385. Infanteriedivision.............. 262 a) Aufstellung und Gliederung der Division..................................... 262 b) Das Personalgefüge und die Offizierstellenbesetzung der Division................................................................................. 265 Das Personalprofil der 385. Infanteriedivision.............................. 265 Die Divisionsführung................................................................... 267 Der Divisionsstab......................................................................... 269 Das Führerkorps in den Verbänden der Division.......................... 271 c) Die Vorbereitung der Division auf den Kriegseinsatz.................... 273 d) Kriegsverwendung 1942/43......................................................... 280 Der Weg der Division.................................................................. 280 Die Führung der 385. Infanteriedivision im ersten Einsatz........... 283 Der Ersteinsatz aus der Retrospektive des Divisionskommandos................................................................... 290 Inhalt VII Die »Bewährungsprobe der Division« – Der Vorstoß nach Voronež............................................................................... 293 Standhaft »wie rocher de bronze« – Die Kampfhandlungen der Division in der Donstellung................................................... 311 e) Personallage und Ausbildungsmaßnahmen im Krieg.................... 320 f ) Resümee: Das Führungsverhalten in der 385. Infanteriedivision................................................................. 327 3. Fallbeispiel 2: Die »eiserne Division« – 10. motorisierte Infanteriedivision.............................................................................. 329 a) Aufstellung und Gliederung der Division..................................... 329 b) Das Personalgefüge und die Offizierstellenbesetzung der Division................................................................................. 333 Das Personalprofil der 10. Infanteriedivision (mot)...................... 333 Die Divisionsführung................................................................... 336 Der Divisionsstab......................................................................... 341 Das Führerkorps in den Verbänden der Division.......................... 344 c) Kriegsverwendung 1942/43......................................................... 351 Der Weg der Division.................................................................. 351 Das Jahr des Stellungskrieges vom Mai 1942 bis April 1943......... 352 d) Personallage und Ausbildungsmaßnahmen im Krieg.................... 385 e) Resümee: Das Führungsverhalten in der 10. Infanteriedivision (mot)......................................................... 394 4. Fallbeispiel 3: Der Eliteverband des Heeres – Die Kriegsfreiwilligen-Division »Großdeutschland«........................... 396 a) Aufstellung und Gliederung der Division..................................... 396 b) Das Personalgefüge und die Offizierstellenbesetzung der Division................................................................................. 401 Das Personalprofil der Infanteriedivision (mot) »Großdeutschland«...................................................................... 401 Die Divisionsführung................................................................... 405 Der Divisionsstab......................................................................... 408 Das Führerkorps in den Verbänden der Division.......................... 410 c) Kriegsverwendung 1942/43......................................................... 416 Der Weg der Division.................................................................. 416 Unternehmen »Blau« – Der Wettlauf nach Voronež und zum unteren Don......................................................................... 419 Abwehrkämpfe im Frontbogen bei Ržev....................................... 432 d) Personallage und Ausbildungsmaßnahmen im Krieg.................... 444 e) Resümee: Das Führungsverhalten in der Division »Großdeutschland«........................................................ 450 5. Zusammenfassung............................................................................. 452 V. Schlussbetrachtung und Ausblick............................................................ 457 Abkürzungen................................................................................................ 465 Quellen- und Literaturverzeichnis................................................................ 469 Personenregister........................................................................................... 499 Vorwort Die hohe Leistungsfähigkeit deutscher Verbände und die taktisch-operativen Erfolge des deutschen Heeres im Zweiten Weltkrieg werden in der Literatur gerne mit der »typisch deutschen« Führungskunst begründet. Zentrales Element der scheinbar überlegenen deutschen Führungsgrundsätze war die sogenannte Auftragstaktik. In diesem »bewährten« Führungsprinzip sahen schon Zeitgenossen wie Erich von Manstein oder Theodor Busse das deutsche »Geheimnis des Sieges«. Erstaunlicherweise ist die Geschichte der Auftragstaktik – gerade hinsichtlich des Zweiten Weltkrieges – und das Konzept, das hinter diesem vermeintlichen Erfolgsrezept steckt, noch nie wissenschaftlich fundiert untersucht worden. An diesem Punkt setzt die Studie von Marco Sigg an. Ausgehend vom Kriegsverständnis des preußischen Kriegsphilosophen Carl von Clausewitz und der Führungskonzeption des älteren Moltke filtert der Autor durch die eingehende Analyse deutscher Führungs- und Ausbildungsvorschriften zwischen 1869 und 1945 die Elemente heraus, die den eigentlichen Kern der Auftragstaktik ausmachten. Mit diesem idealtypischen Gerüst spiegelt er sodann den militärischen Alltag auf taktisch-operativer Stufe und liefert hierzu eine Detailstudie über die Geschichte dreier deutscher Divisionen an der Ostfront 1942/43, die nebenher neue Einblicke in die Kampfhandlungen im Rahmen des »Unternehmens Blau« bietet. Das Buch zeigt, dass Auftragstaktik nicht an einem Element festgemacht und ebenso wenig mit Selbstständigkeit gleichgesetzt werden kann. Es verdeutlicht darüber hinaus, dass es Auftragstaktik als Doktrin und Ausbildungsziel zwar gab, sie in der militärischen Praxis jedoch nicht die Regel, sondern einen Ausnahmefall darstellte. Ob nach Auftragstaktik geführt wurde, hing von verschiedenen Faktoren ab, nicht zuletzt vom Führungsverständnis und der Persönlichkeit des jeweiligen Vorgesetzten. Zugleich liefert der Autor bei seiner Untersuchung der taktischen Führungsstufe eine weitere Begründung für die Leistungsfähigkeit der deutschen Verbände, indem er die große Bedeutung des Dialogs und der Nachrichtenverbindungen für den Führungsvorgang aufzeigt. Erst diese Einbindung der Untergebenen in die Lagebeurteilung und Entscheidungsfindung ermöglichte die geistige Mitarbeit auf allen Stufen und – falls nötig – das Handeln nach dem Prinzip der Auftragstaktik. Dr. Hans-Hubertus Mack Oberst und Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr I. Einleitung 1. Problemstellung Das Bild der Wehrmacht war nach 1945 stark von Mythen geprägt: Die Wehr macht als Zufluchtsort unpolitischer »Nur-Soldaten«1, die sich dem ideologischen Zugriff des NS-Regimes verwehrt hätten; die »saubere« Wehrmacht, die im Gegensatz zum NS-Regime und zur SS den Krieg völkerrechtskonform und ehrenvoll geführt habe und am Vernichtungskrieg nicht beteiligt gewesen sei; die Wehrmacht, die sich aufopfernd dem Ansturm der Roten Armee und damit dem Kommunismus entgegengestellt und so die abendländische Kultur verteidigt habe; die Wehrmacht, die bis zuletzt mit ungebrochenem Einsatzwillen und in militärischer Ordnung gekämpft habe; und schließlich die Wehrmacht, die als exzellente militärische Organisation für ihre Professionalität und die taktischoperativen Führungskünste ihrer Generale und Offiziere bewundert wurde. Seit den 1960er Jahren begann die westdeutsche Geschichtswissenschaft dieses schöngefärbte Bild kritisch zu hinterfragen und besonders die Rolle der Wehrmacht im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg an der Ostfront eingehend aufzuarbeiten2. Viele der Mythen sind heute widerlegt. Deutlich gilt dies etwa für den Mythos der »sauberen« Wehrmacht. Die sogenannten Wehrmachtsausstellungen hatten in der breiten Öffentlichkeit zunächst noch kontroverse Diskussionen nach sich gezogen3. In der Folge erfuhr die Erforschung der Mittäterschaft der Wehrmacht im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg sowie des Holocausts seit den 1990er Jahren einen wahren Aufschwung. Dies führte endgültig zu einer Dekonstruktion des Mythos von der sauberen Wehrmacht4. In diesem Zusammenhang und teilweise an ältere Forschungsliteratur anknüpfend wurden auch sozial- und mentalitätshistorische Gesichtspunkte untersucht5. Es gelangte 1 2 3 4 5 Hürter, Hitlers Heerführer, S. 98 f. Richtungsweisend waren z.B. die Schriften von Andreas Hillgruber, Manfred Messer schmidt oder Klaus-Jürgen Müller. Bis in die 1980er Jahre folgten weitere wichtige For schungsarbeiten. Einen Überblick bietet: Römer, Der Kommissarbefehl, S. 15‑20. Vgl. Heer, Von der Schwierigkeit, einen Krieg zu beenden, S. 1086‑1100; Thamer, Vom Wehrmachtsmythos zur Wehrmachtsausstellung, S. 123‑131. Einen Überblick bietet: Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. Das Thema bleibt zentral, wie z.B. das unlängst abgeschlossene Forschungsprojekt »Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur« des Instituts für Zeitgeschichte zeigt. Z.B. Browning, Ganz normale Männer; Bartov, Hitlers Wehrmacht; Fritz, Frontsoldaten; Kühne, Kameradschaft. 2 I. Einleitung vermehrt auch der »Krieg des kleinen Mannes« in den Fokus der Forschung6. Für den genuin militärischen Aspekt gilt die Entmystifizierung allerdings nur bedingt. Zwar sind die Kriegsursachen, sein operativer Verlauf auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen oder die Schlachten des Zweiten Weltkrieges ereignisgeschichtlich größtenteils aufgearbeitet – gerade zum Krieg gegen die Sowjetunion, der für Adolf Hitler und das Heer der wichtigste Kriegsschauplatz war, gibt es eine kaum mehr zu überblickende Menge an Forschungsliteratur7. Auch das Verhältnis von NS-Staat und Wehrmacht, ihre Sozial- und Strukturgeschichte, die Professionalität der Wehrmachtsführung sowie ihr strategisches Denken und Handeln sind breit untersucht8. Gleichwohl blieben zentrale Aspekte der militärischen Organisation und ihr eigentliches Arbeitsfeld, die Kampfführung im Gefecht, vielfach unterbelichtet9. Dies zeigt sich z.B. bei den militärischen Schlüsselelementen Ausrüstung, Führung, Ausbildung und Doktrin, die nach James S. Corum die Voraussetzungen für militärischen Erfolg bilden. Corum machte darauf aufmerksam, dass die Aspekte Ausrüstung und Führung in der Geschichtswissenschaft breit untersucht worden seien, während die Aspekte Doktrin und Ausbildung nicht annähernd die Aufmerksamkeit erfahren hätten, die ihrer Wichtigkeit für die Kriegführung entspräche10. Es stellt sich die Frage, ob die Aussage Corums nicht sogar noch schärfer formuliert werden müsste. Tatsächlich bleiben nämlich selbst für die Aspekte Ausrüstung und Führung weiterhin viele Fragen unbeantwortet, z.B. gerade was die Interdependenz von Waffentechnik, Taktik und Führung betrifft. Die vorliegende Arbeit wird u.a. noch aufzeigen, welche zentrale Bedeutung die Nachrichtenverbindungen für die taktisch-operative Kampfführung besaßen. Trotzdem gibt es zu den deutschen Nachrichtenmitteln und deren Verwendung im Gefecht bislang keine wissenschaftliche Untersuchung. Gerade im Bereich der Taktikgeschichte stellt sich deshalb die Frage, ob denn die Wehrmacht wirklich »weitgehend erforscht« sei11. Bei der Ausklammerung militärspezifischer Aspekte mag eine Rolle gespielt haben, dass gerade in der deutschen Geschichtswissenschaft eine gewisse Furcht davor herrschte, die einmal überwunden geglaubte amtliche Kriegsgeschichte 6 7 8 9 10 11 Der Krieg des kleinen Mannes; Latzel, Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg?; Rass, »Menschenmaterial«; Koch, Fahnenfluchten. Dabei nicht zu vergessen ist die Thema tik »Frauen und Wehrmacht«. Vgl. dazu Kundrus, Nur die halbe Geschichte. Einen Überblick bietet Müller/Ueberschär, Hitlers Krieg im Osten. Vgl. auch Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 11. Für die neuere Literatur siehe Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht, S. 7‑11. Z.B. Wette, Die Wehrmacht; Die Wehrmacht. Mythos und Realität; Förster, Die Wehr macht im NS-Staat; Hartmann, Verbrecherischer Krieg, S. 1‑75; Creveld, Kampfkraft; Megargee, Hitler und die Generäle. Förster, Die Wehrmacht im NS-Staat, S. 19. Vgl. auch Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg?, S. 287‑308; Müller, Hitlers Wehrmacht, S. 11. On the German Art of War, S. IX. Vgl. auch Murray, The German Response to Victory in Poland, S. 285‑298. So bildet z.B. die Ausbildungsorganisation der Wehrmacht im Kriege so etwas wie eine historische terra incognita. Diese Meinung vertritt z.B. Jürgen Förster. Vgl. Förster, Die Wehrmacht im NS-Staat. Ein »grauer Fels in der braunen Flut«?, S. 264 (Zitat). Vgl. auch Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 11. Nach Hürter stellt der Ostkrieg »weder im Ganzen noch im Detail ein bestelltes Feld der historischen Forschung« dar. Hürter, Hitlers Heerführer, S. 14. I. Einleitung 3 und den ihr zugrunde liegenden applikatorischen Ansatz wiederzubeleben12. Eine solche Sichtweise bringt indes zwei problematische Aspekte mit sich: Zum einen darf die Beurteilung der militärischen Leistungsfähigkeit der Wehrmacht nicht nur eine Frage sein, die Militärs interessiert – dafür ist sie historisch und politisch zu brisant. Schließlich waren es gerade die militärischen Erfolge der Wehrmacht, die es dem NS-Regime ermöglichten, die eigene Bevölkerung an sich zu binden. Erst im »Sog des Krieges«13 vermochte dieses auch den Rassenkrieg umzusetzen. Auch die Tatsache, dass das Deutsche Reich den Alliierten personell und materiell hoffnungslos unterlegen war und trotzdem erst im Frühjahr 1945 militärisch besiegt werden konnte, verlangt nach einer historischen Erklärung14. Zum anderen darf die Beurteilung der Wehrmacht als militärische Organisation nicht einfach der »Erlebnisgeneration« überlassen bleiben. Die vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse verfolgte Verteidigungsstrategie der angeklagten deutschen Akteure ist längst als solche entlarvt worden, ebenso wie die darin zugrunde liegende Absicht, sich selbst, dem Generalstab und den deutschen Truppen ein »literarisches Denkmal«15 zu setzen. Auch die zahlreichen Memoiren, Rechtfertigungsschriften und kriegsgeschichtlichen Studien bezweckten hauptsächlich, die militärische Leistung der Wehrmacht hervorzuheben, während Aspekte des Vernichtungskrieges bewusst verschwiegen wurden16. So entstand in den Jahren nach 1945 nicht nur die Legende des unbefleckten Ehrenschildes der deutschen Wehrmacht, auch das Bild einer exzellenten militärischen Organisation und der taktisch-operativen Virtuosität ihres Führerkorps wurde gefestigt17. Da die Mehrheit des deutschen amtlichen Schriftgutes erst Ende der 1960er Jahre nach Deutschland zurückgeführt war, erhielten diese Schriften in militärischen Belangen ein erhebliches Gewicht, waren sie doch lange die einzigen Quellen, auf welche die Geschichtswissenschaft zurückgreifen konnte18. Die in weiten Teilen der heutigen deutschen Geschichtswissenschaft vorherrschende Ausblendung von Krieg und Kampfhandlungen und die damit zusammenhängende »Verengung der Militärgeschichte auf die Kulturgeschichte und die Holocaustforschung« (Sönke Neitzel) bewirkten jedoch, dass sich das Bild von der militärischen Leistungsfähigkeit der Wehrmacht noch heute vielfach 12 13 14 15 16 17 18 Zum Umgang der deutschen Geschichtswissenschaft mit der Wehrmachtsgeschichte vgl. Müller, Die Wehrmacht, S. 3‑35. DRWK, Bd 10/2, S. 7 (Beitrag Kunz). Herbert, Wehrmacht, S. 644; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd 4, S. 870; Groß, Das Dogma der Beweglichkeit, S. 143. Brief Halders an Blumentritt, 9.1.1958, BArch, N 252/8. Ebenso: Georg von Küchler, Weisung vom 7.3.1947, BArch, ZA 1/70. Hürter spricht in diesem Zusammenhang von der »Halderschen Geschichtsklitterung«. Hürter, Hitlers Heerführer, S. 345 f. Messerschmidt sprach diesbezüglich von einer »gereinigte[n] Erinnerung«. Zit. nach: Thamer, Vom Wehrmachtsmythos zur Wehrmachtsausstellung, S. 126. Vgl. z.B. Millett/Murray/Watman, The Effectiveness of Military Organizations, S. 52‑70; Ziemke, Military Effectiveness, S. 309; Kellett, Combat Effectiveness, S. 556; Creveld, Die deutsche Wehrmacht, S. 331‑345. Diese »Geschichtsschreibung der Besiegten« beeinflusste die öffentliche Meinung weit stärker als lange angenommen. Siehe Gerstenberger, Strategische Erinnerungen, S. 620‑629; Wegner, Erschriebene Siege, S. 287‑299. Solche Werke sind als Quelle nicht kategorisch abzulehnen, müssen wegen ihres apologetischen Grundtones aber kritisch hinterfragt werden. 4 I. Einleitung mangels alternativer Forschungsergebnisse aus den Aussagen ehemaliger Akteure nährt19. Dies zeigt sich gerade auch in Bezug auf die Bedeutung, den Inhalt und die Anwendung der Auftragstaktik. Zu Beginn seiner Studie über den Westfeldzug von 1940 und die »BlitzkriegLegende« stellte Karl-Heinz Frieser fest: »In der nüchternen militärischen Sprache gibt es kaum ein anderes Wort, das von so schlaglichtartiger Prägnanz und gleichzeitig so irrlichternd missdeutbar ist wie ›Blitzkrieg‹20.« Dasselbe könnte man von der Auftragstaktik sagen, herrscht in der Forschung doch eine ähnliche »Interpretationsanarchie«21 vor, wenn es darum geht, dieses Führungsprinzip zu definieren. Es ist Stephan Leistenschneider zuzustimmen, wenn er festhält, dass zum Thema Auftragstaktik »leider allzu viel behauptet [wird], ohne dass sich feststellen ließe, woher diese Behauptungen ihre Aussagekraft beziehen«22. Dafür lassen sich folgende Gründe ausmachen: An erster Stelle steht das Problem, dass der Begriff Auftragstaktik oder ein sinngemäßer Ausdruck in den preußisch-deutschen Dienstvorschriften nicht zu finden ist. Auftragstaktik wird darin lediglich umschrieben. Die Behauptung, wonach der Begriff erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgetaucht sei, lässt sich hingegen nicht halten23. Tatsächlich ist er seit den 1890er Jahren in der deutschen Militärpublizistik nachzuweisen und gehörte nach 1900 als terminus technicus zum festen militärischen Sprachgebrauch24. Das Definitionsproblem sowie die schwierige Quellenlage nach 1945 führten zweitens dazu, dass die Geschichtswissenschaft auch bei der Auftragstaktik auf die Aussagen ehemaliger Akteure angewiesen war. Diese behandelten das Thema ebenfalls in ihren Studien und Memoiren. Dadurch prägten sie nicht nur das Bild der Wehrmacht, des Generalstabs und der Leistungsfähigkeit des Offizierkorps, 19 20 21 22 23 24 Neitzel plädiert deshalb für die Rückbesinnung auf den »Kern des Krieges« bei gleichzeitiger Berücksichtigung sozial-, mental- und kulturhistorischer Gesichtspunkte. Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg?, S. 293, 302, 307 f. Umgekehrt führte der wohl zu unkritische Umgang der angelsächsischen Geschichtswissenschaft mit dieser Art von Quellen dazu, dass die Wehrmacht und ihr Offizierkorps in diesem Sprachraum über ein überhöhtes Ansehen verfügen, während der Faktor Ideologie lange ausgeklammert oder marginalisiert wurde. So halfen nach 1945 Autoren wie Basil H. Liddell Hart, Albert Seaton, Earl F. Ziemke oder Samuel P. Huntington tatkräftig mit, die Legende der institutionellen und fachlichen Überlegenheit der Wehrmacht und ihrer Generale international zu verbreiten. Vgl. z.B. Liddell Hart, Jetzt dürfen sie reden, passim; Huntington, The Soldier and the State, S. 98‑100, 122 f. Hürter spricht sogar von einer »langen Tradition angelsächsischer Bewunderung für die Wehrmacht«. Hürter, Selbstentlarvend, S. 8. Vgl. auch Göller, Seltsame Bewunderung, S. 12. Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 6. Raudzens, Blitzkrieg Ambiguities, S. 77‑79. Leistenschneider, Auftragstaktik, S. 9. Auch Antulio J. Echevarria bemerkte: »The term Auftragstaktik has been greatly abused in military publications in recent years. Some analysts and historians have upheld it as the key to the German army’s long record of success on the battlefield; others maintain that it had no ›official‹ existence.« Echevarria, After Clausewitz, S. 38 (Hervorhebung im Original). Caspar/Marwitz/Ottmer, Tradition in deutschen Streitkräften, S. 171 (Beitrag Ottmer); Uhle-Wettler, Höhe- und Wendepunkte, S. 239. Leistenschneider, Auftragstaktik, S. 100‑106. I. Einleitung 5 sondern auch das Verständnis vom Inhalt und der Bedeutung der Auftragstaktik. Ehemalige Generale schilderten dabei die Auftragstaktik so, dass im Wesentlichen in einem Auftrag »Zweck und Ziel«25 bzw. »das was soll ich tun«26 festgelegt wurden, während »die Art der Ausführung [dem Unterführer] überlassen wurde«27. Auftragstaktik stand damit primär für Selbstständigkeit sowie Entschluss- und Handlungsfreiheit und war dem »starre[n] Befehl und straffer zentraler Lenkung«28 – der sogenannten Befehlstaktik29 – entgegen gesetzt. Geradezu definitorischen Wert erhielt die Ausführung Erich von Mansteins, wonach »es [...] immer die besondere Stärke der deutschen Führung gewesen [sei], der Selbständigkeit der Unterführer einen weiten Spielraum zu gewähren, ihnen Aufträge zu geben, die Art der Durchführung jedoch den betreffenden Führern zu überlassen«30. Mit dieser Aussage wurde Auftragstaktik vielfach in der Forschungsliteratur belegt und umschrieben31. Darüber hinaus wurde die so verstandene Auftragstaktik, d.h. die »Selbständigkeit der Führer bis zum Unterführer und bis zum Einzelkämpfer der Infanterie herab« als das deutsche »Geheimnis des Erfolges« bezeichnet32 – und als an die Stelle der »bewährten ›Auftragstaktik‹« ab der Winterkrise 1941/42 der starre Befehl Hitlers getreten sei, habe das die Niederlage zur Folge gehabt33. Die 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Kesselring, Kurzvorschrift für Führung und Kampf in den niederen Einheiten, BArch, ZA 1/1960, S. 30. Munzel, Kriegsnahe Ausbildung von Panzertruppen, BArch, ZA 1/1997, S. 17 (Hervor hebung im Original). Guderian, Zur Geschichte des deutschen Generalstabes, BArch, ZA 1/1877, S. 28. Müller-Hillebrand, Deutsche und sowjetrussische militärische Führung, BArch, ZA 1/2162, S. 131; Guderian, Zur Geschichte des deutschen Generalstabes, BArch, ZA 1/1877, S. 28. Der Begriff Befehlstaktik steht für zentrale Führung, die dem Unterstellten keinen Raum für flexibles und initiatives Handeln lässt, sondern die Befehlsausführung detailliert regelt. Die Gegenüberstellung von Auftrags- und Befehlstaktik ist wenig sinnvoll, da sie impliziert, dass es bei Auftragstaktik keine straffe, einheitliche Führung gibt. Die vorliegende Studie wird aufzeigen, dass es durchaus regulierende Aspekte gab und sich straffe Führung sowie Auftragstaktik nicht gegenseitig ausschließen. Grob vereinfachend und falsch ist zudem die Auffassung, wonach die deutsche Führung Aufträge erließ, die alliierten aber Befehle erteilte, da ein Auftrag immer im Rahmen eines Befehls erfolgt. Vgl. z.B. Mönch, Entscheidungsschlacht, S. 75. Manstein, Verlorene Siege, S. 413 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Maizière, Füh ren im Frieden, S. 270. Z.B. Toppe, Militär und Kriegsvölkerrecht, S. 235; DRWK, Bd 8, T. 2, S. 166 (Beitrag Frieser); Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 421. Manstein, Verlorene Siege, S. 57. Vgl. auch Busse, Befehl und Weisung, S. 293 f. Warlimont, Im Hauptquartier, S. 61 (Zitat); Guderian, Zur Geschichte des deutschen Generalstabes, BArch, ZA 1/1877, S. 28; Weichs, Erinnerungen, Bd 5, BArch, N 19/9, Bl. 38; Middeldorf, Führung und Gefecht, S. 69; Meyer, Adolf Heusinger, S. 297, 304 f.; Praun, Nachrichtenverbindungen im Osten, BArch, ZA 1/2100, S. 227. Vgl. auch DRWK, Bd 4, S. 618 (Beitrag Klink [u.a.]); Stein, Zur Geschichte der Gefechtsarten, S. 152; Stein, Führen durch Auftrag, S. 11 f. Dirk W. Oetting spricht ebenfalls von einem »Tendenzwandel« während des Krieges. Oetting, Auftragstaktik, S. 307. Vgl. auch Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 52. Gerd Niepold stellt für 1944 und die mittlere Ostfront fest, dass »wegen der unerhörten Unterlegenheit auf deutscher Seite« nicht mehr nach Auftragstaktik geführt werden konnte, sondern die »wenigen verfügbaren Kräfte [...] zwangsläufig von den höchsten Stäben scharf zusammengehalten und mit bis ins einzelne gehenden Befehlen geführt werden« mussten. Niepold, Mittlere Ostfront, S. 256. I. Einleitung 6 retrospektiven Äußerungen der ehemaligen Akteure des Krieges sollen nicht a priori verworfen werden. Es wird in den folgenden Kapiteln jedoch noch kritisch zu überprüfen sein, in welchen Bereichen sie mit den normativen Vorgaben der Dienstvorschriften und dem tatsächlichen Führungsverhalten im Krieg übereinstimmten und wo sie davon abwichen. Eine dritte und letzte Problematik ergibt sich daraus, dass die Auftragstaktik nicht nur ein historisches Untersuchungsobjekt darstellt, sondern zugleich auch ein aktuelles Führungsprinzip abbildet, nach dessen Leitgedanken verschiedene heutige Streitkräfte verfahren. Wie sich noch zeigen wird, schlägt sich dies auch im Forschungsstand nieder. So attraktiv das Thema für das militärische Umfeld zu sein scheint, so problematisch ist jedoch die Vermischung von historischem und aktuellem Führungsprinzip, da dadurch ein älterer Aspekt durch einen jüngeren definiert zu werden droht. Dies verdeutlicht sich z.B. beim Führungsprinzip Führen mit Auftrag der Bundeswehr, das untrennbar mit dem Konzept der Inneren Führung und dem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform verbunden ist34. Grundlegend sind dabei ethische, rechtliche, politische und gesellschaftliche Aspekte, d.h. wertrationale Kriterien35. Für die Bundeswehr bildet die Auftragstaktik primär deshalb das richtige Führungsprinzip, weil es »dem Bild vom ›Staatsbürger in Uniform‹ am besten entspricht«36. Aus diesem Grund sind Vergleiche post festum und definitorische Rückgriffe heikel. In deutschen Streitkräften vor 1945 richtete sich die Anwendung der Auftragstaktik ausschließlich an zweckrationalen Kriterien aus. Im Zentrum standen nicht Aspekte der Menschenführung oder ethische Prinzipien, sondern ausschließlich die militärischen Leistungen der Truppenführung, d.h. die Steigerung der militärischen Effektivität. Folgerungen, die vor dem aktuellen Hintergrund für die Zeit vor 1945 gezogen werden, verzerren zwingend die historische Realität und sind irreführend37. 2. Forschungsstand Obschon die Auftragstaktik wie gesehen offenbar eng mit der militärischen Leistung der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zusammenhing und gemäß den erwähnten Ausführungen ehemaliger Wehrmachtsoffiziere sogar das entscheidende Element überhaupt darstellte, erweist sich der Forschungsstand als erstaunlich dürftig. Noch 2003 stellte Martin Rink in einer Rezension fest, dass »merk34 35 36 37 Vgl. z.B. Widder, Auftragstaktik and Innere Führung, S. 3‑9; Freudenberg, Auftragstaktik versteht jeder, S. 43‑45. Siehe Zentrale Dienstvorschrift (ZDv) 10/1, Nr. 316. Auf den »Bedeutungswandel« der Auftragstaktik im Laufe der Zeit wies bereits Loquai, Die Auftragstaktik, S. 443, hin. ZDv 10/1, Nr. 613. Ebenso: Heeresdienstvorschrift (HDv) 100/100, Nr. 2002. Vgl. auch Millotat, Auftragstaktik, S. 4. Vgl. z.B. die Argumentation des damaligen Generalmajors Jürgen Reichardt, der in der Auftragstaktik ein »Kulturerbe der Wehrmacht« sah, dessen Grundlagen das »christlichabendländische Menschenbild« und die Ethik bildeten. Reichardt, Auftragstaktik und Dienstaufsicht, S. 311 f. Zur Kritik an der Vermischung von Auftragstaktik und Innerer Führung vgl. Keller, Mythos Auftragstaktik, S. 141‑163. I. Einleitung 7 würdigerweise [...] das Konzept hinter diesem ›Zauberwort‹ bisher noch keiner historisch befriedigenden Untersuchung unterzogen« worden sei38. Dies verwundert umso mehr, da sich die Geschichtswissenschaft der Argumentation der ehemaligen Wehrmachtsoffiziere weitgehend anschloss und in der Auftragstaktik »ein Erfolgsgeheimnis der deutschen Kampfkraft« (Peter Hoeres) oder gar »das erfolgreichste Führungskonzept der neueren Militärgeschichte« (Dieter Storz) sah39. Entsprechend wird das Thema Auftragstaktik in der Forschungsliteratur zum preußisch-deutschen Militär des 19. und 20. Jahrhunderts häufig angesprochen, etwa wenn es um die Entwicklung des preußisch-deutschen Offizierkorps oder um das preußisch-deutsche Führungs- und Kriegsverständnis geht40. Besonders im Zusammenhang mit den deutschen Einigungskriegen und der »Kriegskunst« Helmuth von Moltkes d.Ä. wird Auftragstaktik thematisiert41. Alle diese Erwähnungen haben gemeinsam, dass sie nur als kurze Beiträge in Form von Zeitschriftenartikeln verfasst oder in einen Abschnitt oder ein Kapitel einer Monographie eingebettet sind, vielfach jedoch überhaupt nur beiläufig auf die Auftragstaktik hinweisen. Breit abgestützt waren solche Äußerungen jedoch nicht. Ohne das Thema umfassend behandelt zu haben, blieben sie in der Mehrheit der Fälle sogar äußerst vage42. Augenscheinlich zeigt sich dies bei der vorherrschenden Konfusion darüber, was denn das Prinzip der Auftragstaktik darstelle und wie es entstanden sei. Einige Autoren vertreten die Meinung, Auftragstaktik habe sich als »Teil eines allgemeinen Lebensstils« (Franz Uhle-Wettler) bzw. aus einer besonderen »German social and cultural tradition« (John L. Silva) heraus entwickelt43. Auftragstaktik stellt dieser Argumentation folgend das »Ergebnis eines langen historischen Prozesses« dar, der durch das besondere politische und gesellschaftliche System in den deutschen Streitkräften des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt war44. Den Ursprung für die Entstehung der Auftragstaktik sehen die38 39 40 41 42 43 44 Rink, Rezension zu Führungsdenken, S. 212. Vgl. auch Hughes, Auftragstaktik, S. 331. Hoeres, Das Militär der Gesellschaft, S. 340; Storz, Kriegsbild und Rüstung, S. 48, Anm. 57. Vgl. auch Fiedler, Moltke und das Auftragsverfahren, S. 15; [Königer], Zum Auftragsverfahren, S. 5. Z.B. Craig, Die preußisch-deutsche Armee; Borgert, Grundzüge der Landkriegführung, S. 428; Ose, Der »Auftrag«, S. 264 f.; Caspar/Marwitz/Ottmer, Tradition in deutschen Streitkräften, S. 171 (Beitrag Ottmer); Wawro, Warfare and Society. Vgl. auch Rosinski, Die deutsche Armee, S. 21 f.; Dupuy, A Genius for War, S. 307; Transfeldt, Wort und Brauch, S. 130; Uhle-Wettler, Höhe- und Wendepunkte, S. 110; Zabecki, The German 1918 Offensives, S. 62. Z.B. Kessel, Moltke, S. 449, 510 f.; [Königer], Zum Auftragsverfahren, S. 4; Fiedler, Moltke und das Auftragsverfahren; Dupuy, A Genius for War, S. 307; Creveld, Command in War, S. 270 f.; Creveld, Kampfkraft, S. 43; Foerster, Das operative Denken Moltkes des Älteren, S. 19‑42; Meier-Dörnberg, Moltke, S. 45‑47; Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 421; Samuels, Directive Command, S. 25‑27; Beaumont, The Nazis’ March to Chaos, S. 88; Millotat, Das preußisch-deutsche Generalstabssystem, S. 66‑80; Citino, The Path to Blitzkrieg, S. 13; Wawro, The Franco-Prussian War, S. 152; Zuber, The Moltke Myth, z.B. S. 100; Schößler, Clausewitz – Engels – Mahan, S. 235‑259. Vgl. den Überblick zur Forschungsliteratur bei Leistenschneider, Auftragstaktik, S. 7‑10. Uhle-Wettler, Auftragstaktik, S. 132‑134; Uhle-Wettler, Höhe- und Wendepunkte, S. 335‑339; Silva, Auftragstaktik, S. 9. Millotat, Das preußisch-deutsche Generalstabssystem, S. 41; Millotat, Auftragstaktik (ÖMZ), S. 309. 8 I. Einleitung se Autoren in dem durch die Werte der Aufklärung beeinflussten freiheitlichen Menschenbild45. Deutlich drückt in einer solchen Argumentation das Konzept der Inneren Führung durch und es ist wohl kein Zufall, dass die Mehrheit dieser Autoren ehemalige Bundeswehroffiziere sind. Indes sprechen auch Historiker bei der Auftragstaktik von einem »liberale[n] Führungsprinzip« (Christian Hart mann) oder von »kollektive[r] Führung« (Storz), die Politologin Elizabeth Kier vermag in der Auftragstaktik sogar eine »democratic command structure« zu erkennen46. Den Schlusspunkt einer solchen Argumentation setzte Robert Allan Doughty, der in Umkehrung von Ursache und Wirkung festhielt, dass die in deutschen Streitkräften übliche Gewichtung von dezentralisierter Führung und Initiative die Folge einer »tradition of auftragstaktik« gewesen sei47. Insgesamt gibt es lediglich zwei Monographien, die sich eingehend mit dem Thema Auftragstaktik beschäftigen. Die von Dirk W. Oetting verfasste Gesamt darstellung beansprucht für sich, »die lange Geschichte der Konzeption« der Auftragstaktik von 1806 bis in die Gegenwart nachzuzeichnen48. Dies geschieht zwar sehr facettenreich, methodisch und handwerklich vermag die Arbeit jedoch nicht zu überzeugen. Oetting wollte sich explizit nicht »frühzeitig bei theoretischen Überlegungen« aufhalten, sondern wählte nach eigenen Worten ein »mehr beschreibendes Verfahren«, da Auftragstaktik »zu komplex« sei, »um sie in griffige Formeln zu fassen«. So bleibt die Darstellung insgesamt deskriptiv, selbst dort, wo er sich explizit mit der Konzeption beschäftigt49. Grundsätzlich problematisch ist sein unkritischer Umgang mit Quellen und Literatur. Dies führt dazu, dass tendenziöse Aussagen nicht als solche erkannt, sondern sogar »bedenkenlos übernommen werden«50. Letztlich versucht Oetting in Form einer Kompilation zahlreicher Beispiele und Aussagen aus Quellen sowie Literatur zu belegen, dass es in deutschen Streitkräften des 19. und 20. Jahrhunderts eine Tradition der Auftragstaktik gegeben habe, um daraus Folgerungen für die Bundeswehr abzuleiten. Die zweite Monographie zum Thema ist Leistenschneiders Darstellung zur Entwicklung der Auftragstaktik im preußisch-deutschen Heer zwischen 1871 und 191451. Leistenschneider gelang es, die Vorgeschichte der Auftragstaktik und ihre Entwicklung als Führungskonzeption darzustellen. Er konnte aufzeigen, dass sich die Auftragstaktik als Konsequenz aus der komplexer werdenden Kriegführung 45 46 47 48 49 50 51 Oetting, Das Chaos beherrschen, S. 352; Reichardt, Auftragstaktik und Dienstaufsicht, S. 312. Oetting betont an anderer Stelle ebenfalls die technisch-taktischen Innovationen. Oetting, Auftragstaktik, z.B. S. 90‑94. Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 52; Storz, Kriegsbild und Rüstung, S. 87; Kier, Imagining War, S. 153. Doughty, The Breaking Point, S. 32. Oetting, Auftragstaktik, S. 24. Dort auch das Folgende. Ebd., S. 251‑306. Ebd., S. 112. Oetting übernimmt z.B. Aussagen Uhle-Wettlers talis qualis, obwohl dieser unverhohlen die Absicht verfolgt, in seinen Schriften ein ausschließlich positives Bild zu zeichnen. Die mangelnde Quellenkritik zeigt sich auch in der Analyse des Krieges von 1870/71. Die Existenz der Auftragstaktik belegt Oetting mit Moltkes retrospektiv verfassten und beschönigten Schriften oder mit Aussagen des russischen Generalleutnants Karl Vojde, dessen tendenziöse Grundhaltung bereits in der deutschen Militärpublizistik der Zwischenkriegszeit kritisiert wurde (siehe Kap. III.1 und III.2.d). Leistenschneider, Auftragstaktik. I. Einleitung 9 entwickelte. Dabei konnte er auch beleuchten, dass die Auftragstaktik nicht einfach eingeführt und umgesetzt wurde, sondern von einer heftigen Kontroverse innerhalb des deutschen Militärs begleitet war. Beide Arbeiten können hinsichtlich der Auftragstaktik als Führungskonzeption einige Impulse liefern, verfügen ansonsten jedoch nur über eine beschränkte Aussagekraft für den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie52. Die neben diesen Monographien einzige größere Arbeit zum Thema Auf tragstaktik ist von Hans-Peter Stein verfasst und erschien 1985 als Beiheft zur Militärzeitschrift Truppenpraxis53. Darin wurde die Auftragstaktik vor dem Hintergrund der Entwicklung der deutschen Militärgeschichte seit dem 18. Jahr hundert und anhand zahlreicher Beispiele nachgezeichnet. Die Arbeit bietet einen guten Überblick über das Thema und vermag einige interessante Aspekte aufzuwerfen, wie z.B. die Problematik der Nachrichtenmittel, konzentriert sich jedoch ausschließlich auf die operative Ebene und dringt nicht in die Tiefe vor54. Neuerdings erschien von Jochen Wittmann eine weitere Darstellung zur Auftragstaktik, die eine publizierte Version seiner an der Naval Postgraduate School Monterey verfassten Examensarbeit darstellt. Sie reiht sich in den üblichen Kanon ein: Wittmann will »belegen«, dass Auftragstaktik »ein umfassendes Führungs- und Managementkonzept« und der »Grundpfeiler« für die Beherrschung operativer »Führungskunst« sei55. Anhand verschiedener Ansätze aus der Organisationstheorie zeigt er den Nutzen der Auftragstaktik für Militärs in den heute aktuellen Konfliktformen auf, was durchaus interessante Perspektiven ergibt. Unverständlich sind allerdings die völlig unkritische Sichtweise und das methodisch an Selbstreferenzialität grenzende Vorgehen, das nur dazu dient, die vorgefasste These zu bestätigen. Nicht unerwartet verfängt sich das Buch in der üblichen Dichotomie von Auftragstaktik und Befehlstaktik (bzw. der »deutschen« und »russischen« Methode), Hinweise auf mögliche inhärente Problemfelder fehlen. Im Zusammenhang mit der kontroversen Entstehungsgeschichte der Auftragstaktik ist auch Antulio J. Echevarria zu nennen. Er analysierte ähnlich wie Leistenschneider die Auseinandersetzung zwischen den sogenannten »Normaltaktikern« und »Auftragstaktikern« über den »richtigen« Ansatz für die 52 53 54 55 Leistenschneiders Arbeit wegen der Fokussierung auf die Zeit vor 1914. Seine Überlegungen zur Auftragstaktik dienten aber als Grundlage für die Analyse der Führungsdoktrin im Kap. II. Die Ausführungen Oettings zur Wehrmacht und dem Zweiten Weltkrieg beschränken sich hingegen auf die üblichen Aspekte: Das Führungsdenken der Wehrmacht wird hauptsächlich anhand der H.Dv. 300/1, Truppenführung 17.10.1933 (TF) erklärt und erfolgt keineswegs wie behauptet »im Spiegel der Vorschriften«. Die Analyse der Führungspraxis beschränkt sich weitgehend auf das Handeln der Panzergenerale Heinz Guderian und Erwin Rommel im Westfeldzug 1940, wobei es Oetting nicht gelingt, das grundsätzliche Spannungsfeld von Auftragstaktik und Eigenmächtigkeiten sowie dessen Auswirkungen auf die Operationsführung aufzudecken (siehe Kap. III.4.), auf die Einnahme Eben Emaels, auf Hitlers Rolle als Oberbefehlshaber sowie auf den Fall des Generalleutnants Hans Graf von Sponeck. Eine solche selektive Sichtweise auf das Thema will die vorliegende Studie überwinden. Stein, Führen durch Auftrag. Dies war allerdings auch nicht beabsichtigt, sollte das Beiheft doch als »Anregung und Hilfe« für die »historisch[e] Aus- und Weiterbildung der Offiziere der Bundeswehr« dienen. Ebd., S. 1. Wittmann, Auftragstaktik, S. 18 f. 10 I. Einleitung Führung des modernen Infanteriegefechts. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag zwar auf dem Diskurs deutscher Militärtheoretiker bezüglich deren Einschätzung eines kommenden Krieges und der Kriegführung darin, vermag aber auch wichtige Hinweise auf grundsätzliche Aspekte der Auftragstaktik zu geben, z.B. auf das Spannungsfeld zwischen Selbstständigkeit und Einheitlichkeit im Handeln56. Auch Ralf Raths untersuchte die deutsche Landkriegstaktik von 1906 bis 1918, ging dabei aber viel stärker auf die Weiterentwicklung der Dienstvorschriften ein57. Ebenso sprach Christian Stachelbeck im Rahmen seiner Ausführungen zur taktischen Innovation im deutschen Heer vor 1914 das Thema Auftragstaktik kurz an58. Etwas eingehender betrachtete Gerhard P. Groß die Auftragstaktik im Rahmen seiner Arbeit zum deutschen operativen Denken. Er verortete die Ursachen, Rahmenbedingungen und Probleme dieses Führungsprinzips im breiteren Kontext und hielt in pointierter Art und Weise fest, dass Auftragstaktik letztlich als »ein System der Aushilfen« zu verstehen ist59. Martin Samuels verglich in seiner Studie die Führungs- und Ausbildungsmethode sowie die Landkriegstaktik der britischen und deutschen Armee von 1888 bis 1918 miteinander. Dabei untersuchte er auch die Auftragstaktik (»directive command«) und zeigte auf, dass diese als eine spezifische deutsche Reaktion auf die Komplexität des modernen Gefechtes zu verstehen sei60. Samuels erkannte insbesondere, dass die dezentralisierte deutsche Führung zu einer Beschleunigung des Führungsvorganges führte und die deutsche Truppenführung rascher agieren ließ als die britische61. Die Auftragstaktik selbst verstand er aber v.a. als »theoretisches System«, das lediglich als »a pure extreme« aufgefasst werden dürfe. Das deutsche »Führungssystem« basierte Samuels zufolge zwar auf dem Konzept der Auftragstaktik, in der Realität sei jedoch ein Mittelweg zwischen »directive command« und »restrictive control« angewendet worden62. Einen komparatistischen Ansatz wählte auch Jörg Muth in seiner Studie zur Offizierausbildung in den USA und Deutschland zwischen 1901 und 1940. Er erkennt in der Auftragstaktik einen »Eckpfeiler« deutscher Militärkultur und betont zu Recht den wichtigen Zusammenhang 56 57 58 59 60 61 62 Echevarria, After Clausewitz, S. 32‑42, 94‑105. Vgl. auch Echevarria, On the Brink of the Abyss, S. 23‑40. Vgl. auch Storz, Kriegsbild und Rüstung, S. 27‑32. Raths, Vom Massensturm zur Stoßtrupptaktik. Die konzeptionellen Erkenntnisse Raths’ flossen ebenfalls in die Analyse der Führungsdoktrin ein. Stachelbeck, Militärische Effektivität, S. 57‑59 und S. 16, Anm. 65. Groß, Mythos und Wirklichkeit, S. 23 f., 40 f., 83 (Zitat), 259 f. Samuels, Command or Control? Vgl. auch Groß, Das Dogma der Beweglichkeit, S. 147; Groß, Mythos und Wirklichkeit, S. 40 f. Samuels illustriert dies anhand des Modells von John Boyd (»Boyd loop«). Samuels, Command or Control?, S. 13 f. Ebd., S. 6. Ähnlich Niepold, Mittlere Ostfront, S. 256: »Man darf auch nicht den Eindruck erwecken, als ob in jeder Lage die Auftragstaktik in gleicher Weise anwendbar sei und als ob nur sie der Schlüssel zum Erfolg sei [...] Man kann also sagen: Je freier der Operationsraum und je geringer der Feindwiderstand, desto ungebundener die Auftragstaktik; je stärker der Feind und je enger der Handlungsspielraum, desto mehr muss die Auftragstaktik dem bindenden Befehl weichen.« Niepold bringt einen wichtigen Aspekt zur Sprache: Die situative Anpassung der Auftragstaktik an die Lage. Allerdings wird sich noch zeigen, dass das Prinzip Auftragstaktik flexibler zu verstehen ist und nicht primär von der Gefechtsart oder vom Gegner abhängt. Auf die irreführende Gegenüberstellung von Auftragstaktik und bindendem Befehl (Befehlstaktik) wurde bereits hingewiesen. I. Einleitung 11 zwischen Erziehungssystem und Auftragstaktik63. Muth unterstreicht, wie wichtig die Einheitlichkeit im Denken und der Einbezug der Untergebenen in den Führungsvorgang auf deutscher Seite waren. Definitorisch bewegt er sich allerdings im üblichen Rahmen, wonach Auftragstaktik primär als Zielvorgabe mit Umsetzungsspielraum zu verstehen sei. Auch Muths Argumentation basiert auf Leitsätzen aus den Vorschriften und prominenten Beispielen deutscher Generale. Dabei blendet er die negativen Folgen sowie die Problematik der Eigenmächtigkeiten ganz aus und bleibt zuweilen plakativ. Gerade seine Heraushebung der Führungsqualitäten der mittleren und unteren Offiziere hält dem Urteil der Quellen nicht stand. Vor einem wesentlich breiteren Zeithorizont untersuchte Robert M. Citino die deutsche Kriegführung und dabei auch die Auftragstaktik. Er sah in der Flexibilität und Selbstständigkeit die entscheidenden Elemente des deutschen Führungsprinzips64. Allerdings erkannte Citino nicht die gesamte Tragweite des Prinzips und setzte dadurch zuweilen falsche Akzente. So hielt er zwar richtig fest, dass das Prinzip der Auftragstaktik Freiraum für den »officer on the spot«65 vorsah, damit dieser seine Aufträge an die rasch wechselnden Lagen angleichen und selbstständig handeln konnte. Bei Citino erhält die Selbstständigkeit jedoch den Wert von Unabhängigkeit und völliger Autonomie. Entsprechend setzt er Auftragstaktik primär mit einer »independence authority of the higher commander« gleich66. Diese Überzeichnung eines einzigen Elements der Auftragstaktik führt letztlich selbst für die Zeit der deutschen Einigungskriege zu absurden Zügen, wenn Citino z.B. die Truppenführer ab Korpsstufe als »free agents« bezeichnet, die während einer Operation »absolutely independent in spirit and behavior« hätten agieren können67. Dabei verstrickt sich Citino in Widersprüchlichkeiten. So behauptet er einerseits, Auftragstaktik habe in der Realität nie stattgefunden, sondern sei »completely mythological«. Andererseits macht er drei Gründe für »the death of Auftragstaktik« aus, nämlich Hitlers Führungsverständnis, technologische Entwicklungen und die Entwicklung der Luftwaffe zu einer strategisch operierenden Teilstreitkraft (»air power«)68. Auch bei anderen Autoren fallen die übertriebenen Auffassungen von Selbstständigkeit auf bzw. die Verkürzung des Prinzips Auftragstaktik auf die Dezentralisierung der Initiative bei gleichzeitiger Festlegung von lediglich all63 64 65 66 67 68 Muth, Command Culture, S. 22 (Zitat), 173 f. Citino, Quest for Decisive Victory, S. 20; Citino, The German Way of War, S. 307 f.; Citino, Death of the Wehrmacht, S. 4. Citino, The German Way of War, S. 307. Ebd., S. 302. Ebd., S. 308. Dort auch das Folgende. Dabei widerspricht sich Citino selbst, denn er bezeichnet als »Todesursache« der Auftrags taktik einmal Hitler und die Rahmenbedingungen des modernen Krieges, ein andermal die technischen Nachrichtenmittel (»Hitler did not kill the concept of flexible command [...] Radio did.«), dann Halder »and the rest of the General Staff«, um schließlich festzuhalten, dass »the Wehrmacht [!] killed the old command style because it no longer corresponded to modern realities«. Ebd., S. 303, 310; Citino, Death of the Wehrmacht, S. 306. Auch Ernst Klink glaubt, dass die Auftragstaktik wegen der modernen Nachrichtenmittel und der »Abhängigkeit der Landkriegsführung von der unterstützenden Luftwaffe« nur noch eine »fromm[e] Legende« war. DRWK, Bd 4, S. 618 f. (Beitrag Klink [u.a.]). Ähnlich: Caspar/Marwitz/Ottmer, Tradition in deutschen Streitkräften, S. 172 (Beitrag Ottmer). 12 I. Einleitung gemeinen Handlungsrichtlinien69. Gelegentlich wurde dabei sogar eine Kultur des militärischen Ungehorsams als Grundlage der Auftragstaktik erkannt70. Das eigentliche Charakteristikum der Auftragstaktik, das Mitdenken im Sinne der übergeordneten Führung, das erst die Rahmenbedingung für das selbstständige Handeln bildet, wird dabei häufig gar nicht oder lediglich am Rande berücksichtigt71. Martin van Creveld hatte hingegen völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass Auftragstaktik nicht bedeute, »dass jeder machen kann, was er will«, sondern vielmehr »die Verbindung von Initiative und Disziplin« erfordere72. Die Disziplin – und damit der Gehorsam – fristet im Zusammenhang mit der Auftragstaktik häufig ein Schattendasein, obwohl dieser Aspekt in Wirklichkeit bereits in den Diskussionen der 1890er Jahre von zentraler Bedeutung war73. Vielmehr wird die Vorstellung eines »absoluten« Gehorsams gerade nicht mit Auftragstaktik in Verbindung gebracht. So betonte Johannes Hürter z.B. dass »die Tradition der Auftragstaktik dem einzelnen Offizier eine gewisse Selbständigkeit in der Ausführung von Befehlen ließ«74. Hürter verstand darunter allerdings nicht nur eine lagebedingte Adaption von Aufträgen, sondern auch »die Verweigerung von fragwürdigen Befehlen«, wenn diese ethisch verwerflich waren75. Damit verknüpft er das sachlogisch begründete Führungsprinzip Auftragstaktik mit den weiter oben angesprochenen wertrationalen Inhalten, in diesem Fall mit der traditionellen Betonung des Ethos im preußisch-deutschen Offizierkorps, und hebt es auf eine moralische Ebene empor, die so nie bestanden hat76. Insgesamt fällt auf, dass das Führungsprinzip Auftragstaktik in der Forschungs literatur eine Art Allgemeingut darstellt. Einhellig wird Auftragstaktik als be69 70 71 72 73 74 75 76 Hayward, For God and Glory, S. 109: »Put simply – Directive Control means teaching subordinates mastery of their individual jobs and collective tactics, trusting them to act responsibly and with initiative, telling them what result is intended [...], then leaving them with the freedom and confidence to determine how best to attain it.« Völliges Unverständnis brachte J.F.C. Fuller dem deutschen Führungsprinzip entgegen: »Moltke brought his armies to their starting point and then abdicated his command and unleashed them.« Zit. nach: Rothenberg, Moltke, Schlieffen, and the Doctrine of Strategic Envelopment, S. 300 f. Z.B. Dupuy, A Genius for War, S. 116; Scheurig, Insubordination als Gebot. Anders: Meier-Dörnberg, Moltke, S. 45; Creveld, Kampfkraft, S. 52; Frieser, BlitzkriegLegende, S. 422; Millotat, Auftragstaktik (ÖMZ), S. 308; Millotat, Auftragstaktik, S. 23; Megargee, Hitler und die Generäle, S. 9. Creveld, Die deutsche Wehrmacht, S. 333. Vgl. auch Echevarria, Auftragstaktik, S. 52; Kessel, Moltke, S. 449. Vgl. Storz, Kriegsbild und Rüstung, S. 31, 167; Echevarria, After Clausewitz, S. 40, 102; Leistenschneider, Auftragstaktik, S. 95‑98. Hürter, Hitlers Heerführer, S. 62. Ebd., S. 354. Vgl. auch Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 52: »Jeder Soldat [...] trug Verantwortung, mitunter auch für Gut und Böse, schon weil die Auftragstaktik ursprünglich auch die Verweigerung fragwürdiger Befehle legitimiert hatte.« Diese Ansicht entspricht weder den normativen Vorgaben der Führungsdoktrin noch der zeitgenössischen Rezeption. Zudem räumt sie dem einzelnen Offizier und sogar Soldaten einen Handlungsspielraum ein, den dieser in Wirklichkeit kaum hatte. Dies zeigt sich etwa in dem von Hürter angefügten Beispiel des Johann Friedrich Frhr. von der Marwitz, dessen Befehlsverweigerung im Siebenjährigen Krieg allein durch das Kriterium der persönlichen Ehre motiviert war. I. Einleitung 13 sondere Art der Befehlsgebung beschrieben, die mittels Auftrag ein Ziel vorgibt und die Umsetzung des Auftrags den Führern vor Ort überlässt. Dabei wird die Gewichtung der Selbstständigkeit, Initiative und Flexibilität besonders betont, einige Autoren heben zusätzlich noch das Element der Entschlossenheit als besonders entscheidend hervor77. Wie gesehen werden hingegen inhaltlich teilweise sehr unterschiedliche Akzente gesetzt. Auffallend ist zudem, dass die Auftragstaktik fast ausschließlich normativ beurteilt wird, d.h. nach der Vorstellung, wie es sein sollte, nicht aber nach dem Ist-Zustand, also nach der wirklichen Umsetzung der normativen Vorgaben in der Truppe bzw. im Krieg78. Nur wenige Darstellungen belegen ihre Ausführungen aufgrund von Truppenquellen; wenn doch, handelt es sich dabei um Akten der operativen Führungsebene79. Auch konzentriert sich das Forschungsinteresse auf die Entstehungsgeschichte der Auftragstaktik und ihre Konsolidierungsphase bis zum Ersten Weltkrieg sowie auf die Folgerungen für die Bundeswehr80. Für den Zeitraum der Wehrmacht von 1935 bis 1945 fehlen hingegen eingehende historisch-kritische Untersuchungen, erst recht wenn es um die taktische Führungsebene geht. Einzige Ausnahme bildet in gewisser Weise die Studie von Frieser zur »Blitzkrieg-Legende«, in der mehrmals auf die Auftragstaktik als einen der »traditionelle[n] Führungsgrundsätze« Bezug genommen wird81. Auftragstaktik stellt darin aber einen Nebenaspekt dar, weshalb Friesers Ausführungen auch keine konzeptionellen Überlegungen zugrunde liegen. Letztlich konzentriert sich die Forschungsdiskussion zur Auftragstaktik in der Wehrmacht fast ausschließlich auf die operative Ebene und die Rolle Hitlers, der sich als Oberbefehlshaber von Wehrmacht und Heer zunehmend in die Operationsführung einschaltete. Die Aussagen zum Prinzip Auftragstaktik und dessen Anwendung auf taktisch-operativer Stufe während des Zweiten Weltkrieges basieren deshalb vielfach auf Mutmaßungen, Verallgemeinerungen oder auf den erwähnten Ausführungen ehemaliger Wehrmachtsoffiziere. Wie Sönke Neitzel für das Bild der Waffen-SS festgehalten hat, gilt deshalb auch für die Auftragstaktik, dass das bisherige Urteil zumindest »teilweise auf Sand gebaut ist«82. 3. Fragestellung, Methode und Aufbau der Arbeit Wie gesehen sieht die Geschichtswissenschaft in der Auftragstaktik einen der wichtigsten Gründe für die militärischen Erfolge der Jahre 1939 bis 1941. Eine wis77 78 79 80 81 82 Groß, Das Dogma der Beweglichkeit, S. 159; Kleemeier, Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges, S. 269; Mönch, Entscheidungsschlacht, S. 64‑74; Gyldenfeldt, Entschlossenheit, S. 26‑29. Dies geschieht in der Regel anhand der Analyse der TF. Siehe z.B. Oetting, Auftragstaktik, S. 169‑187; Creveld, Kampfkraft, S. 52‑54; On the German Art of War, S. 3‑5. Z.B. DRWK, Bd 4, S. 618 f. (Beitrag Klink [u.a.]); Stein, Führen durch Auftrag; DRWK, Bd 6, S. 885 (Beitrag Wegner). Vgl. z.B. Abenheim, Bundeswehr und Tradition, S. 150, 159, 227. Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 421 f. Neitzel, Des Forschens noch wert?, S. 409. Zur Sachlichkeit der Diskussionen über die Wehrmacht bzw. zur Problematik von Verallgemeinerungen vgl. Hartmann, Verbrecheri scher Krieg, S. 71; Hughes, Auftragstaktik, S. 331. 14 I. Einleitung senschaftlichen Ansprüchen genügende Untersuchung dieses Führungsprinzips fehlt für den genannten Zeitraum jedoch noch. Darüber hinaus hat Groß konstatiert, dass noch eingehend untersucht werden müsste, ob Hitlers Übernahme des Oberbefehls über das Heer im Dezember 1941 und seine zunehmenden Eingriffe in die Gefechtsführung auch wirklich »das formale Ende der Auftragstaktik« bedeuteten oder ob lediglich die operative, nicht aber die taktische Führungsebene davon berührt war83. Stachelbeck hat schließlich im Ausblick seiner Studie darauf hingewiesen, dass noch geklärt werden müsste, wie sich die Entwicklung vom Führerheer der Reichswehr zum Massenheer der Wehrmacht sowie der Einfluss der technisch immer leistungsfähigeren Nachrichtenmittel auf die konkrete Anwendung der Auftragstaktik ausgewirkt haben84. Bei diesen Punkten will die vorliegende Arbeit einsetzen. Ausgehend von dieser Problemstellung liegt das Hauptanliegen dieser Studie darin, Wesen und Inhalt der Auftragstaktik zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen. Diesem Ziel entsprechend wird den folgenden zwei Leitfragen nachgegangen: Wie wurde Auftragstaktik im deutschen Heer definiert bzw. welche Elemente lassen sich unter diesem Führungsprinzip subsumieren? Und in welchem Ausmaß wurde auf taktischer Stufe nach Auftragstaktik geführt? Die Wehrmacht gliederte sich in die drei Wehrmachtteile Heer, Marine und Luftwaffe. Die vorliegende Studie beschränkt sich auf die Untersuchung des Führungsverhaltens im Heer, dem größten dieser drei Teile. Das Heer war zudem der am stärksten in der Tradition des preußisch-deutschen militärischen Denkens stehende Wehrmachtteil. Dies ist gerade in Bezug auf die Auftragstaktik als Untersuchungsobjekt nicht unbedeutend, war diese doch stark vom Mythos der deutschen Einigungskriege und der eng damit verknüpften Aura um die Person Moltkes d.Ä. geprägt. Aus diesem Grund untersucht die vorliegende Studie zwar das Thema Auftragstaktik im deutschen Heer für den Zeitraum von 1935 bis 1945. Sie leitet jedoch mit dem Clausewitz’schen Kriegsverständnis und dem Moltke’schen Führungsdenken ein. Während Carl von Clausewitz’ Vorstellungen vom Krieg durch Moltke tradiert wurden, war Letzterer selbst bis in den Zweiten Weltkrieg hinein ein »zentraler Bezugspunkt« für das deutsche Offizierkorps85. Sein Denken und Handeln bildete eine wesentliche Grundlage für das Kriegsverständnis, die Führungsdoktrin und Führungsausbildung der preußisch-deutschen Denkschule86. Dieses Vorgehen hat einen entscheidenden 83 84 85 86 Groß, Das Dogma der Beweglichkeit, S. 164. Stachelbeck, Militärische Effektivität, S. 356. Raths, Vom Massensturm zur Stoßtrupptaktik, S. 20. Vgl. auch Meier-Dörnberg, Moltke, S. 47; Kessel, Moltke, S. 503; Foerster, Das operative Denken Moltkes des Älteren, S. 38‑42. Das preußisch-deutsche Offizierkorps brachte zwischen 1806 und 1945 zwar verschiedene Denkrichtungen hervor, wie etwa die Kontroverse zwischen »Normaltaktikern« und »Auftragstaktikern« in den 1890er Jahren oder der Streit zwischen »Schlieffenjüngern« und -kritikern belegt. Vgl. hierzu neuerdings Groß, Mythos und Wirklichkeit. Allerdings unterschieden sich diese Denkrichtungen bezüglich ihres Kriegs- und Führungsverständnisses nicht grundsätzlich voneinander, sondern nur durch eine unterschiedliche Akzentuierung. Bezogen auf das Führungsdenken und die Führungsgrundsätze lässt sich in den wesentlichen Punkten hingegen eine Kontinuität erkennen, die durchaus unter dem Etikett einer preußisch-deutschen militärischen Denkschule subsumiert werden kann. So spricht z.B. auch Burkhart Müller-Hillebrand von der »deutsche[n] Schule«. Müller-Hillebrand, I. Einleitung 15 Vorteil: Erst die auf dieser Grundlage erfolgende Analyse der Führungs- und Ausbildungsvorschriften über den Zeitraum von 1869 bis 1945 ermöglicht es, die Entwicklung der Führungsdoktrin nachzuverfolgen und die Auftragstaktik in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Erst ein solches Vorgehen zeigt folglich Kontinuitätslinien auf und lässt dadurch die Gewichtung der einzelnen Elemente der Auftragstaktik deutlich hervortreten. Das zentrale methodische Problem der bisherigen Forschungsliteratur lag darin, dass die Diskussionen zur Auftragstaktik stark von Verallgemeinerungen geprägt waren. Auf der normativen Ebene wurden in der Regel einige wenige Vor schriften – häufig solche aus der Zeit vor 1914 – als Grundlage genommen, um Auftragstaktik zu definieren87. Auf der empirischen Ebene wurde als Beweis für die Existenz der Auftragstaktik und deren Anwendung im Krieg zudem immer auf Beispiele von Einzelhandlungen verwiesen. Die Aussagekraft eines solchen historisch-induktiven Verfahrens bleibt letztlich sehr beschränkt, da das deutsche Heer wie auch die Wehrmacht als Ganzes ein heterogenes, »fast amorphes Gebilde« darstellte, das sich personell, strukturell und materiell in ständigem Fluss befand88. Einzelbeispiele können deshalb keine Antwort auf die Frage nach dem Grad der Konzeptualisierung der Auftragstaktik im deutschen Heer geben. Tatsächlich lassen sich auch bei anderen Streitkräften Beispiele finden, die der Form nach mit Auftragstaktik gleichgesetzt werden könnten, wie etwa die Seekriegführung des britischen Admirals Horatio Nelson, die Art der Befehlsgebung bei General Ulysses S. Grant als Oberbefehlshaber der Unionstruppen im US-Bürgerkrieg oder das Führungsverständnis von General George S. Patton89. Die Tatsache, dass sogar in französischen und sowjetischen Führungsvorschriften in der Befehlsgebung von Aufträgen und Direktiven die Rede war und von den Offizieren Initiative und entschlossenes Handeln gefordert wurden, verdeutlicht nochmals die Notwendigkeit einer systematischen Untersuchung dieses Führungsprinzips90. 87 88 89 90 Deutsche und sowjetrussische militärische Führung, BArch, ZA 1/2162, S. 52. Vgl. auch Holborn, The Prusso-German School, S. 281‑295. Neben der TF und deren Vorgängervorschrift, der D.V.Pl. Nr. 487, Führung und Gefecht der verbundenen Waffen vom 1.9.1921 (FuG), dienten besonders die Moltke’schen Ver ordnungen für die höheren Truppenführer von 1869 sowie die Exerzierreglemente für die Infanterie von 1888 und 1906 als Definitionsbasis, auch für die Zeit der Wehrmacht. Vgl. z.B. Oetting, Auftragstaktik, S. 169‑187; Stein, Führen durch Auftrag, S. 8‑11. Zu den erwähnten Vorschriften siehe Kap. II.2. Hürter, Die Wehrmacht in Leningrad, S. 377. Auch Hartmann wies darauf hin, dass Begriffe wie Wehrmacht oder Heer lediglich »Sammelbegriffe« sein könnten. Hartmann, Verbrecherischer Krieg, S. 65. In einem Brief an General William T. Sherman wies Grant diesen z.B. an: »Ich habe nicht im Sinn, Ihnen einen Plan für den Feldzug vorzuschreiben; ich gebe Ihnen lediglich die Aufgabe, die Sie zu erfüllen haben, und überlasse es Ihnen, sie auf Ihre Art zu lösen.« Zit. nach: Marshall, Soldaten im Feuer, S. 205. Von Patton ist die Aussage überliefert: »Never tell people how to do things. Tell them what to do and they will surprise you with their ingenuity.« Zit. nach: Vogelaar/Kramer, Mission Command, S. 217 (Hervorhebung im Original). Zu Nelson vgl. Hayward, For God and Glory. Vgl. Müller-Hillebrand, Deutsche und sowjetrussische militärische Führung, BArch, ZA 1/2162, passim; Vorläufige Felddienstordnung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee (PU 36), z.B. S. 10 f., 61, 72 f.; Instruction sur la conduite des Grandes Unités. Instruction sur l’emploi tactique des Grandes Unités, z.B. S. 32, 38. Vgl. auch Caspar/Marwitz/ 16 I. Einleitung Für die vorliegende Arbeit ist somit der Vergleich von Theorie und Praxis zentral. Durch die Konfrontation von Führungsleitbildern mit konkretem Führungsverhalten soll aufgezeigt werden, welche normativen Vorgaben existierten und ob nach diesen gehandelt wurde bzw. wie sie gehandhabt wurden. Während die Untersuchung der normativen Quellen dabei mittels hermeneutischer Methode durchgeführt wird und Aufschluss über die Auftragstaktik als Organisationsprinzip bringen soll, wird die Frage nach der systematischen Anwendung der Auftragstaktik im Gefecht anhand von drei empirisch ausgewerteten Fallbeispielen beantwortet, die miteinander verglichen werden. Der Untersuchungszeitraum dieser Fallbeispiele bezieht sich schwergewichtig auf das Jahr 1942, mit Ausblicken in das Jahr 1943. Örtlich beschränkt sich die Untersuchung auf den Ostkrieg, den bei weitem wichtigsten deutschen Kriegsschauplatz. Dieser Fokus ergibt sich aus den eingangs erwähnten Vorstellungen, wonach ab Winter 1941/42 nur noch nach starrem Befehl und nicht mehr nach Auftragstaktik geführt worden sei. Generalfeldmarschall Maximilian Frhr. von und zu Weichs an der Glon sprach diesbezüglich nachträglich von dem »verhängnisvollen Wendepunkt der deutschen Führungsgrundsätze«; dass die operative Führungsebene davon unmittelbar betroffen war, ist unbestritten91. Für die taktische Führungsebene ist dies wie erwähnt noch nicht eingehend untersucht worden. Aus diesem Grund werden in den Fallbeispielen die Divisionsstufe und soweit möglich die Führungsebenen der unteren taktischen Verbände und Einheiten betrachtet – als Nebenprodukt werden sich dabei auch Rückschlüsse auf die operative Führungsebene ergeben. In den Fallbeispielen wurden drei Divisionen untersucht, deren Auswahlkriterien eine möglichst unterschiedliche Qualität (d.h. ein unterschiedlicher »Professionalisierungsgrad«), ähnliche Einsatzräume sowie eine gute Quellenlage waren. Dementsprechend wurden folgende Divisionen ausgewählt: – Die 385. Infanteriedivision steht als Verbandstyp für die Linienformationen der Infanterie des Jahres 1942. Als Division der 18. Aufstellungswelle kurzfristig und unter hohem Zeitdruck aufgestellt, gehörte sie zu den sogenannten »Rheingold«-Verbänden, mit denen die schwierige Lage an der Ostfront im Frühjahr 1942 stabilisiert werden sollte. Als Improvisation entstanden, existierte diese Division nur während eines Jahres. Sie wurde im Januar 1943 zerschlagen und nicht wieder aufgestellt. – Ganz andere Voraussetzungen und Rahmenbedingungen brachte die 10. In fanteriedivision (mot) mit. Dieser Großverband war noch im Frieden als aktive Heeresdivision aufgestellt worden und verfügte 1942 über eine breite Kriegserfahrung aus verschiedenen Feldzügen. Als motorisierte Infanterie division gehörte dieser Großverband ferner zu dem kleinen Kreis privilegierter Divisionen, die zusammen mit den Panzerdivisionen »die Speerspitze der 91 Ottmer, Tradition in deutschen Streitkräften, S. 172 (Beitrag Ottmer); Foerster, Das operative Denken Moltkes des Älteren, S. 30; Oetting, Auftragstaktik, S. 349. Diesbezüglich interessant ist etwa die Aussage Friedrich Hoßbachs, wonach »zum selbstverständlichen Wissen der höheren deutschen militärischen Führer [...] die Kenntnis [gehörte], dass die allgemeinen Führungsgrundsätze, die operativen und taktischen Lehren der Russen vielfach mit den unseren übereinstimmten«. Hoßbach, Infanterie im Ostfeldzug, S. 14. Weichs, Erinnerungen, Bd 5, BArch, N 19/9, Bl. 38 (Zitat). Vgl. auch Hürter, Hitlers Heerführer, S. 349 f. I. Einleitung 17 Elitetruppen«92 in den Blitzfeldzügen der Wehrmacht bildeten. Die Division steht folglich für einen erfahrenen und qualitativ hochwertigen Kampfverband, der »ein gutes Zehntel der Wehrmachtsverbände« repräsentierte und deshalb »als etwas Besonderes« galt93. – Die Infanteriedivision (mot) »Großdeutschland« (GD) übertraf dies nochmals. Mit diesem Großverband wird der Eliteverband des Heeres schlechthin untersucht. Die Division »GD« stand für hohe Professionalität und moderne Ausstattung. Sie bietet sich besonders als Fallbeispiel an, stellte der Ausbil dungsstand eines Führerkorps neben seiner Homogenität doch gerade eine entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren der Auftragstaktik dar. Im Jahr 1939 als verstärktes Infanterieregiment (mot) »GD« aufgestellt, hatte sich dieser Verband in verschiedenen Feldzügen bewährt. Im Frühjahr 1942 wurde das Regiment »GD« zur Division erweitert. Der im Heer einzigartige und bevorzugt behandelte Großverband hatte in der Umbildung zwar nicht die gleichen Probleme wie etwa die 385. Infanteriedivision zu bewältigen. Allerdings wird sich noch zeigen, dass die schwierige Gesamtlage der Ostfront auch an ihm nicht spurlos vorbei ging. Eine der größten methodischen Herausforderungen der vorliegenden Arbeit lag darin, dass Auftragstaktik zugleich Untersuchungsobjekt und Begriffsmodell ist. Die Schwierigkeit bestand darin, Auftragstaktik trotz fehlender Definition als solche in den Quellen zu erkennen. Eine Befehlsgebung mittels Aufträgen oder selbstständiges Handeln allein sind jedenfalls nicht als hinreichende Belege für Auftragstaktik zu werten. Zunächst wurde deshalb die preußischdeutsche Führungsdoktrin systematisch über den Zeitraum von 1869 bis 1945 untersucht und daraus auf der Basis der normativen Vorgaben ein Modell der Auftragstaktik gebildet, das gleichsam als Idealtypus im Sinne Max Webers zu verstehen ist94. Dies ermöglichte es, nicht nur wie bisher in der Forschung üblich einzelne Elemente der Auftragstaktik aufzulisten, sondern zusätzlich die Interdependenzen dieser Elemente aufzuzeigen. Auf der Grundlage dieses Modells konnte in einem zweiten Schritt auch die Anwendung der Auftragstaktik im Gefecht analysiert werden. Dies geschah, indem untersucht wurde, in welchen Bereichen das Führungsverhalten im Krieg mit dem aus den normativen Vorgaben der Führungsdoktrin gebildeten Modell übereinstimmte. Dabei verdeutlicht sich nochmals die einleitend angesprochene Problematik in der heutigen Militärgeschichte. Die fast ausschließliche Fokussierung der militärhistorischen Forschung auf die Aspekte des Holocausts und des Vernichtungskrieges brachte es mit sich, dass dies »mehr oder weniger getrennt von der Erforschung von Krieg und Wehrmacht« erfolgte95. Sobald es aber darum geht zu untersuchen, ob deutsche Truppen die Auftragstaktik anwandten oder nicht, muss der angesprochene Kern des Krieges, d.h. in diesem Fall der Führungsvorgang und die Gefechtsführung, analysiert werden. Es braucht folglich einen operationsgeschichtlichen Ansatz, um herausfinden zu können, welcher »Zusammenhang zwi92 93 94 95 Frieser, Blitzkrieg-Legende, S. 415. Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 84. Siehe Weber, Die »Objektivität«, S. 190‑214; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1‑11; Korte, Einführung in die Geschichte der Soziologie, S. 109‑111. Thamer, Vom Wehrmachtsmythos zur Wehrmachtsausstellung, S. 130. I. Einleitung 18 schen ›Sprache‹ und ›Handlung‹« bestand96. Befehle allein sagen zwar aus, wie etwas beabsichtigt war, nicht aber, wie diese Absichten in die Tat umgesetzt wurden. Umgekehrt kann die Tat eines militärischen Führers erst dann vollständig bewertet und eingeordnet werden, wenn sein Handeln mit der Absicht des Befehls reflektiert wird. Gerade dieser Zusammenhang verdeutlicht die bisherige methodisch problematische Vorgehensweise in der Forschungsliteratur, allein jedes dem vordergründigen Anschein nach selbstständige Handeln direkt als Tatbeweis für die Existenz von Auftragstaktik anzunehmen. Dies zeigt sich besonders, wenn die Leistungen deutscher Truppenführer über eine längere Zeitachse verglichen werden. Dies geschieht im Kapitel III, dem eine Scharnierfunktion zukommt und vom Theorieteil mit dem Modell der Auftragstaktik (Kapitel II) zu den Fallbeispielen auf taktischer Stufe (Kapitel IV) überleiten soll. Auf einer mehrheitlich operativen Ebene werden dabei die Nuancen zwischen Auftragstaktik und eigenmächtigem Handeln aufgezeigt und in einen Gesamtzusammenhang gebracht. Damit wird auch auf das Problem der Rezeption der Auftragstaktik in der bisherigen Forschungsliteratur verwiesen. Vor dem Hintergrund der idealtypisch erarbeiteten normativen Elemente der Auftragstaktik wird deutlich, dass das Spannungsfeld zwischen den normativen Vorgaben und dem konkreten Handeln von Truppenführern die deutsche Operations- und Gefechtsführung seit den deutschen Einigungskriegen weit stärker prägte, als dies die Geschichtswissenschaft bisher wahrgenommen hat. Aufschlussreich ist dies auch, weil diesem Aspekt in der zeitgenössischen Diskussion ein viel höherer Stellenwert beigemessen wurde. Letztlich ermöglicht die Kombination der normativen Analyse der Auftragstaktik mit der Untersuchung der operativen Führungsebene über eine längere Zeitachse und der Analyse von Fallbeispielen auf taktischer Ebene eine sehr präzise Einordnung des Führungsprinzips in die deutsche Führungsdoktrin. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass der vorliegenden Studie zur Auftragstaktik verschiedene methodische Ansätze zugrunde liegen. Weiter liegt der primäre Beobachtungszeitraum der Untersuchung zwar auf dem Zweiten Weltkrieg; um das Führungsprinzip der Auftragstaktik ganzheitlich erfassen und einordnen zu können, musste der Zeitraum jedoch zwingend ausgedehnt werden. Die vorliegende Studie analysiert zudem mit der militärischen Führungsdoktrin einen genuin militärischen Aspekt und versteht sich in diesem Sinne auch als Beitrag zur Taktikgeschichte des deutschen Heeres. Die methodischen und thematischen Erläuterungen konnten sich an dieser Stelle nur auf die grundsätzlichen Aspekte beschränken. Die drei Hauptteile werden deshalb jeweils mit einer kurzen themenorientierten methodischen Einführung eingeleitet und fassen in einem Fazit die wichtigsten Aspekte des Kapitels zusammen. Insgesamt stellt sich der Aufbau der vorliegenden Studie somit wie folgt dar: Im ersten Hauptteil wird die Auftragstaktik als Organisationsprinzip untersucht. Dazu wird zunächst auf einer Systemebene das Kriegsverständnis bei Clausewitz und Moltke d.Ä. betrachtet. Darin liegt ein wichtiger Schlüssel, um den Sinn der Auftragstaktik zu verstehen. Anschließend wird auf einer Begriffs ebene die Auftragstaktik anhand der preußisch-deutschen Führungs- und Ausbil dungsvorschriften von 1869 bis 1945 analysiert und in einem Modell synthetisiert. 96 Neitzel, Zwischen Professionalität, Gehorsam und Widerstand, S. 260. I. Einleitung 19 Im zweiten Hauptteil wird das Spannungsfeld zwischen Selbstständigkeit und Eigenmächtigkeit thematisiert. Dies geschieht chronologisch über drei verschiedene Zeiträume: Von den deutschen Einigungskriegen über den Ersten Weltkrieg zum Westfeldzug von 1940. Die Untersuchung der taktisch-operativen Gefechtsführung ist stark ereignis- bzw. operationsgeschichtlich orientiert. Im Anschluss an die drei thematischen Blöcke wird deshalb jeweils eine kurze Zwischenwertung erfolgen, die für die beiden ersten Blöcke auch das Urteil in der zeitgenössischen Rezeption wiedergibt. Der dritte Hauptteil befasst sich schließlich mit der Anwendung der Auf tragstaktik auf taktischer Führungsebene. Dies erfolgt ebenfalls in drei Blöcken, die allerdings nicht mehr chronologisch, sondern wie erwähnt als Fallbeispiele angelegt sind. Anhand des Modells der Auftragstaktik soll darin ebenfalls die Gefechtsführung der erwähnten Divisionen untersucht werden. Einleitend und den Fallbeispielen vorangestellt, werden kurz die militärische Lage an der Ostfront 1942 sowie die Planung und der Grobverlauf der deutschen Sommeroffensive thematisiert, die den Kriegshintergrund für alle drei Fallbeispiele bildet. 4. Quellenlage Wie beim methodischen Ansatz stützte sich die vorliegende Studie je nach thematischer Ausrichtung des Hauptteils auf unterschiedliche Quellen. Im Wesentlichen befinden sich die relevanten Archivalien im Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv (BArch) in Freiburg im Breisgau. Die Quellenlage hinsichtlich des Themas Auftragstaktik ist als relativ schwierig, zumindest aber als herausfordernd zu bezeichnen. So wenig wie es im BArch einen Quellenbestand zur Auftragstaktik gibt und wohl auch gar nicht geben kann, so schwierig gestaltet sich auch die Suche danach mit den vorhandenen Findmitteln. Ohne ein gewisses Maß an Vorwissen und das Verständnis für militärische Führungsvorgänge und Ausbildungsabläufe lassen sich die relevanten Quellenbestände nur schwer ausmachen. Selbst unter dieser Voraussetzung blieb anfangs nichts anderes übrig, als die Führungs- und Ausbildungsunterlagen verschiedener Dienststellen zu durchkämmen. Für die Analyse der Führungsdoktrin wurden so schwerpunktmäßig die Bestände des Generalstabs des Heeres, des Allgemeinen Heeresamtes, des Generalinspekteurs der Panzertruppe sowie der Inspektionen der Kriegsschulen und der Infanterie und schließlich der Kriegsakademie sowie der Schulen des Heeres durchgesehen. Weiter wurden exemplarisch Truppenakten höherer Kommandobehörden und Akten des Wehrkreiskommandos VII (München) herangezogen, das über einen gut überlieferten Bestand verfügt und gerade für Ausbildungsbelange eine wertvolle Ergänzung darstellte. Zentral für die Analyse der preußisch-deutschen Führungsdoktrin waren selbstredend die Amtsdruckschriften, d.h. alle Heeresdruckvorschriften, Merkblätter und waffentechnischen Dienstvorschriften, wobei sich die Analyse auf die Führungs- und Ausbildungsvorschriften beschränkte97. Als Ergänzung der normativen Quellentypen wurde auf offiziöses 97 Für die Einordnung und inhaltliche Abgrenzung der verschiedenen Vorschriftstypen siehe Kap. II.2.a). 20 I. Einleitung Schrifttum, Militärzeitschriften und retrospektive Dokumente zurückgegriffen. Bei Ersterem stich v.a. das von der einflussreichen Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften (DGWW) initiierte und 1936 unter Leitung von Generalmajor a.D. Hermann Franke herausgegebene halbamtliche Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften hervor98. Darin werden alle grundsätzlichen Aspekte der Kriegführung und des Heerwesens behandelt. Winfried Mönch bezeichnete es deshalb »als Zusammenstellung des militär wissenschaftlichen Wissens [...], mit dem die deutsche Wehrmacht in den Zweiten Weltkrieg gezogen ist«99. Ein solches Werk bietet einen reichhaltigen Fundus an Hintergrundinformationen über Inhalt und Sinn verschiedener Führungs-, Erziehungs- und Ausbildungsaspekte, die rein aus den normativen Quellen nicht ersichtlich werden, da solche in der Regel keine Begründungen für ihre Anweisungen mitliefern100. Einen Artikel zum Thema Auftragstaktik gibt es allerdings auch in diesem Handbuch nicht101. Zeitgenössische deutsche Militärzeitschriften bildeten ebenfalls einen wichtigen Quellentyp, da darin z.B. neu erlassene Ausbildungsvorschriften vorgestellt und ihr Inhalt reflektiert wurden. Darüber hinaus – und für die vorliegende Studie besonders interessant – werden auch Führungsaspekte diskutiert. Die Artikel in den Militärzeitschriften lassen dadurch nicht nur Rückschlüsse auf das Verständnis des jeweiligen Verfassers zu, sondern verdeutlichen auch, in welchen Belangen die normativen Vorgaben der Führungsdoktrin in der Truppenpraxis Probleme verursachten oder welche Aspekte kontrovers diskutiert wurden. Dies ist in Bezug auf die Auftragstaktik nicht unwesentlich, herrscht heute in der Geschichtswissenschaft doch die Meinung vor, dass sich Auftragstaktik bis 1914 zum unangefochtenen und nicht mehr hinterfragten Führungsprinzip entwickelt hatte102. Auf eine systematische Untersuchung musste aus arbeitsökonomischen Gründen allerdings verzichtet werden. Retrospektive Dokumente stellten schließlich für die vorliegende Studie ein ebenfalls äußerst interessantes Quellenmaterial dar, lassen sie doch Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der Verfasser zu und ermöglichen dadurch das normative Bild abzurunden. Auf den tendenziösen und häufig apologetischen Charakter der Erinnerungs- und Memoirenliteratur wurde bereits in der Problemstellung hingewiesen. Hürter hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass es falsch wäre, »diese Quellen grundsätzlich als unglaubwürdig zu verwerfen«103. Mit ausreichend quellenkritischer Distanz betrachtet, eignen sich solche Dokumente jedenfalls geradezu optimal, um das Selbstbild der ehemaligen Akteure nachzuzeichnen. Dies gilt in besonderem Maße auch für die Studien der deutschen Arbeitsgruppe der Historical Division. Diese waren zum einen zwar ebenfalls 98 99 100 101 102 103 Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften (HdbWW). Zur DGWW vgl. Toppe, Militär und Kriegsvölkerrecht, S. 212; Hürter, Hitlers Heerführer, S. 114; Pöhlmann, Von Versailles nach Armageddon, S. 327. Mönch, Entscheidungsschlacht, S. 10. Dies gilt etwa auch für die Schriften Erich Wenigers oder Friedrich Altrichters. Vgl. Weniger, Wehrmachtserziehung und Kriegserfahrung; Altrichter, Der soldatische Führer. Kayser, Verantwortungsfreudigkeit, S. 646, erwähnt lediglich – ohne nähere Erläuterung – den Begriff »Auftragsverfahren«. Vgl. Borgert, Grundzüge der Landkriegführung, S. 428; Leistenschneider, Auftragstaktik, S. 123‑137; Oetting, Auftragstaktik, S. 121‑137. Hürter, Hitlers Heerführer, S. 18.