- Pester Lloyd

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- Pester Lloyd
Träume deutsch
mit ungarischen Untertiteln
Georg Kövary
Kaffeehaus-Geschichten
PESTER LLOYD VERLAG
BUDAPEST
Träume deutsch mit ungarischen Untertiteln
Georg Kövary - Kaffeehaus-Geschichten
Träume deutsch
mit ungarischen Untertiteln
Georg Kövary
Kaffeehaus-Geschichten
PESTER LLOYD VERLAG
BUDAPEST
2002
Tr ä u m e d e u t s c h
mit ungarischen Untertiteln
Georg Kövary
Kaffeehaus-Geschichten
Herausgeber:
PESTER LLOYD VERLAG
Buda-Pester-Lloyd GmbH
Falk Miksa utca 30
H-1055 Budapest
Herausgeber und Chefredakteur:
GOTTHARD B. SCHICKER
Verlagsleiterin:
ANIKÓ HALMAI
Verantwortlicher Redakteur:
ULI BROCKMEYER
Fotos: NPL-Archiv/Gábor Nagy/Julia Ucsnay/privat
Grafik : RITA KELEMEN CZAKÓ
Layout: ATTILA MAGYAR
Budapest 2002
ISBN 963-009529-7
Druck: Gyomai KNER Nyomda Rt., Gyomaendrôd
© by Buda-Pester-Lloyd GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Nachnutzung in jeglicher Form, auch auszugsweise,
nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
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G
eorg Kövary alias Eric Corda wurde am 21. Februar 1922 in Budapest wahrscheinlich schon zweisprachig - geboren, hat in Ungarn und in Berlin
gelebt, geliebt, geschrieben und ist 1956 unwiederbringlich nach Wien abgehauen. Davor und danach hat er, hier wie dort, hauptsächlich in Kaffeehäusern
herumgesessen, die nach eigenem Eingeständnis schon immer ein essentieller
Teil seines Lebens waren, sein zweites Zuhause - obwohl er schon als Dreikäsehoch zum ersten Mal von einem renommierten Kaffeehaus mit Lokalverbot
belegt wurde.
In diesen letzten Refugien der k.u.k.-Zeit hat Kövary viele seiner Werke
geschrieben, viele bekannte oder durch ihn bekannt gewordene Persönlichkeiten
getroffen sowie über Gott, die Welt und über sich schreibend nachgedacht.
Seine biographischen Notizen, die nun als Kaffeehaus-Geschichten in diesem
Büchlein vorliegen, sind somit eine Art Melange eines auf wunderbare Weise
aufregenden Lebens, um das ihn so mancher beneiden dürfte.
Da er seine Lebensgeschichte auf den folgenden Seiten in kleinen
Geschichten selbst erzählen wird, wollen wir uns biographische Daten über den
Dichter, Journalisten, Kinderbuch-, Hörspiel-, Drehbuchautor, Musicallibrettisten
und Feuilletonisten, den Romancier, Filmdramaturgen und Theaterstückeschreiber, Übersetzer, Kabarett-Texte-Verfasser, Conférencier, Kinonarren,
Jazzfan, Hobbyschauspieler, Theater- und Konzertmanager, Musikliebhaber... und PESTER-LLOYD-Autor Prof. Kövary ersparen. Erinnern will ich lediglich an den
„Literarischen Selbstmordversuch“, den er mit seinem Bestseller „Ein Ungarn
kommt selten allein“ in gekonnt satirischer Weise an seinem Volk und an sich
selbst verübte. Nun, er hat auch diesen - mittlerweile in der 7. Auflage und inzwischen auch auf Ungarisch - lachend überlebt. Denn ein Überlebenskünstler ist der
Künstler Kövary sowieso. Sein Humor ist ansteckend und unverwüstlich, wie er
selbst.
Als er uns vor ein paar Wochen wieder einmal in der Redaktion besuchte,
fragte ich unseren zweisprachigen Autor beim heiteren Abschiednehmen, „Sag
mal, Georg, träumst du eigentlich immer noch Deutsch?“, da meinte er: „Ja, aber
mit ungarischen Untertiteln“. Einen besseren Titel konnte er uns zu seinem Buch
wahrlich nicht schenken...
Budapest, im Februar 2002
Gotthard B. Schicker
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D
er Anlaß zu diesen Memoirensplittern ist die neue Blüte, in der die Kaffeehauskultur in Ungarn steht. Diese Auferstehung war längst fällig, die Fastenzeit dauerte viel zu lange. Buda-Pest hat wieder einen Riesenschritt in Richtung europäische
Metropole getan. Das alte, freie Lebensgefühl ist erwacht. Auch das persönliche
Wohlbefinden des Schreibers dieser Zeilen ist äußerst angenehm berührt davon, daß
die ungarische Hauptstadt wieder zur Kaffeehausstadt wird.
Das Kaffeehaus gehörte immer schon zu meinem Leben wie Ginger Rogers zu
Fred Astaire. Ach nein, das stimmt nicht ganz, hat doch der geniale Leichtfuß in seiner späteren Phase gar manchen Partnertausch vorgenommen. Ach, es stimmt doch,
denn meine Wenigkeit frönte auch häufig der Abwechslung. Doch dies betraf nur
die Etablissements; der Institution Kaffeehaus bin ich stets treu geblieben. Es war und
ist mein zweites Heim, meine Arbeitsstätte, früher mein Hauptquartier, heute zum besseren Verständnis mein Headquarter. Jedenfalls mein liebster Aufenthaltsraum. Die
Liebe zu diesem Ambiente habe ich von meinem Vater geerbt, und in Wien hat sie
sich noch verstärkt. Alfred Polgars Bonmot ist auf mich zugeschnitten. Es lautet sinngemäß: „Der Wiener liebt das Kaffeehaus, denn da ist man nicht zu Hause und doch
nicht an der frischen Luft.“
Das Kind im Café
I
n den zwanziger Jahren war meine Mutter Pächterin eines Kartenzimmers im
damals besten Kaffeehaus Budapests, dem New York. Ich war im besten Babyalter,
konnte noch kaum sprechen, da nahm sie mich einmal mit, offenbar in der Absicht,
mich früh genug an den Ernst des Lebens zu gewöhnen. Ich saß auf ihrem Schoß,
vor meiner Nase die Karten, welche sie in der Hand hielt. Sie dürften mir nicht gänzlich unbekannt gewesen sein, ich hatte ja meine Mutter schon zuvor als Kartenspielerin erlebt, wenn ihre Freundinnen zu Besuch gekommen waren. Mutti setzte
mich also auf ihren Schoß,
breitete die Karten in der
Hand aus, ich zeigte auf
eine von ihnen und rief
verständlich, so gut es
mein
Sprechvermögen
zuließ:
„Dsoker!“
Die verratene Glückskarte Joker brachte mir
kein Glück. Ich war vermutlich der jüngste Besucher eines Vergnügungslokals, der je mit HausKaffeehaus New York - Kartenzimmer, um 1920
verbot belegt wurde.
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***
Schauplatzwechsel, doch wir bleiben noch bei meiner Mutter als Hauptheldin. Mein
Erzeuger wirkte fünf Jahre lang auf Berliner Kabarettbühnen und in ebendortigen
Filmstudios, die man seinerzeit noch Ateliers nannte. Ich vertrieb mir zugleich die Zeit
mit dem Besuch der Volksschule. Hätte ich das nicht getan, wäre ich nicht zweisprachig geworden und die gegenwärtige Lektüre wäre dem geschätzten Leser
erspart geblieben, aber nun kann ich Ihnen nicht mehr helfen.
Zeit des Geschehens: Anfang der Dreißiger, als die Weimarer Republik sich
ihrem Ende näherte, während die Schatten des nationalsozialistischen Wahnsinns
sich mit freiem Auge sichtbar ausbreiteten. Nazis und Kommunisten lieferten sich vor
den herannahenden Wahlen tagsüber ein Kopf-an-Kopf-Rennen, abends auf den
Prachtstraßen Aufmärsche, Fackelzüge, Straßenschlachten, anders ausgedrückt
Schädel-an-Schädel-Rennen, bei denen sie einander regelmäßig dieselben einrannten. Die Atmosphäre war unheimlich wie in einem späteren Hitchcock-Film, doch war
es weder Kunstgenuß, noch Unterhaltung, nur die miese Wirklichkeit.
Das Stammlokal der Bohèmiens war zu jener Zeit das Romanische Café, unsere Landsleute dieser Spezies bevorzugten das Kaffeehaus Heßler in der unmittelbaren Nachbarschaft. Adresse: - wo denn sonst? - Budapester Straße.
Eine kleine Kostprobe aus der Liste der prominenten Stammgäste: die Opernsängerin und Operettenprimadonna Gitta Alpár, die Ufa-Soubrette Rosy Bársony, der
Komponist Paul Ábrahám, der Drehbuchautor Karl Nóti, der Filmregisseur Stefan
Székely, die Filmschauspieler Iván Petrovics, Ernst Verebes, Tibor von Halmay und,
und, und... Eigentlich hätte man es gleich Magyarisches Café benamsen können.
Im Heßler hatte also mein Vater eines Abends eine wichtige Verhandlung mit
den leitenden Leuten einer Filmproduktion. Erst nach Eröffnung der Besprechung
bemerkte er, daß das Manuskript, um das es ging, zu Hause auf seinem Schreibtisch
liegen geblieben war. Er rief meine Mutter an und bat sie, es ihm schleunigst nachzubringen. Sie war kein Kind der Furchtsamkeit, fackelte nicht lange und dachte
gewiß auch nicht daran, daß es auf den Straßen zwielichtige Elemente gerade tun.
Es kam ihr auch nicht in den Sinn, ein Taxi zu bestellen. Mag auch sein, daß sie sich
zwar der Gefahr für eine schutzlose Fußgängerin bewußt war, aber meinte, ein
Fuhrwerk käme nicht durch in diesem Wirrwarr gerade in der tumultuösen Gegend
der Gedächtniskirche.
Unterwegs begannen allerdings angesichts der Hunderte von stapfenden
Beinen ihre eigenen zu zittern und ihr Herzklopfen trat den Wettbewerb an gegen
die Lautstärke der Sprech- und Schreichöre, denen sie ausgesetzt war. Da schickte
ihr der Zufall, das Schicksal, das Glück - nichtgewünschtes bitte streichen, ich tue es
mit dem ersten, an den glaube ich nicht - einen Helfershelfer. Der Mann, der sie
ansprach, hatte ursprünglich gewiß andere Absichten, seine Hoffnungen bewegten
sich vermutlich eher in Richtung Beischlaf als Beistand. Er machte von dem 0/8/15Text Gebrauch:
„Wohin des Weges, schöne Frau? Darf ich Sie begleiten?“ Meine Mutter sah
den Fremden an, stellte fest, daß es sich um ein stattliches Mannsbild handelte, welches sich als Leibwächter vorzüglich eignete. Sie ging auf sein Begehr ein und ließ
ihn nebenher laufen.
Auf Anhieb so ermutigt, stellte er ihr die Frage:
„Trinken wir irgendwo einen Kaffee?
(Um das Abenteuer wortgetreu wiederzugeben, präzise wie meine tapfere
Mama es mir nach etlichen Jahren erzählt hatte, korrigiere ich mich: der Herr
Salonwegelagerer sagte nicht Kaffee, sondern Kaffe, auf der ersten Silbe betont,
richtig berlinerisch.)
Mutti antwortete mit einer Gegenfrage:
„Paßt Ihnen das Heßler?“
Es paßte dem vermeintlichen Kavalier. Ihr paßte es aus uns bekannten Gründen
ebenfalls. So kam sie mit Geleitschutz durch den Mob an ihr Ziel. An der
Kaffeehaustür wandte sie sich zu ihrem Begleiter:
„Mein Mann wird sich aber freuen, wenn ich in Gesellschaft eines fremden
Herrn ankomme…“
Wie es dem Niemehrgesehenen gelang, gleichsam Wurzeln schlagend zu
erstarren und sich im selben Moment in Luft aufzulösen, kann ich mir nicht erklären,
aber so in etwa endete die Erzählung meiner Mutter.
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Berlin, Potsdamer Platz, 1930
***
D
as Heßler war ein Umweg, eine Ausnahme. Nach dem Abenteuer meiner Mutter
schalte ich auf eigene Erlebnisse zurück.
Meinen ersten bewußten Kaffeehausbesuch absolvierte ich - erst oder bereits als Filmschauspieler in Budapest. Der Zeitsprung ist allerdings kein Weitsprung,
wenn man bedenkt, daß der Künstler damals zwölf Jahre alt war. Ich stellte in dem
deutschsprachigen Film „Kleine Mutti“ (ungarischer Titel: „Kismama“) einen Hotelboy
dar, welcher sogar einen Satz zu sagen hatte. Der Satz ging zwar im Getümmel der
Hotelhalle unter, aber ich durfte ihn sagen. Außerdem kam ich noch in mehreren
Szenen vor; ich eilte hin und eilte her, salutierte und nahm stumm Befehle entgegen,
stieg in den Aufzug und führte noch einige ähnlich wichtige Aufgaben aus. Die
Aufnahmen fanden im Hunnia Filmstudio (auf Ungarisch filmgyár = Filmfabrik) statt.
Die Haupt- und Titelrolle war mit Franziska Gaál, einem Superstar der dreißiger
Jahre, besetzt. Wenn diese Bezeichnung seinerzeit auch noch nicht bekannt war die dazu gehörigen Launen und Allüren besaß sie schon in hohem Maß. Sie erschien
fortwährend zu spät, wodurch der Drehplan immer wieder geändert werden mußte,
sie legte andauernd Arbeitspausen ein, wenn ihr danach war, also mußte man den
ohnehin schon gekippten Fahrplan erneut auf den Kopf stellen. Bei solchen Anlässen
schob man Szenen ein, die ursprünglich zu ganz anderen Zeiten eingeteilt gewesen
waren, um die Kosten nicht ins Unermeßliche steigen zu lassen. Die Dreharbeiten
gestalteten sich demnach noch anstrengender als üblich.
An dem Tag, den ich hier zu beschreiben mich bemühe, waren alle Beteiligten
heilfroh, als irgendwann in den Nachmittagsstunden endlich die Mittagspause ausgerufen wurde. Eigentlich wollte ich in der Kantine einen Happen essen, doch war
das Angebot einiger älterer Edelkomparsen-Kollegen, mich ins benachbarte Kaffeehaus mitzunehmen, zu verführerisch. Ihre Einladung verlieh mir das Gefühl des Erwachsenseins, schließlich waren die
Jungen schon 17, 18 Jahre alt.
Sie wollten sich beim Billardspiel entspannen und mich zusehen lassen. Es war mir klar,
daß ich da etwas lernen konnte
für mein späteres Leben, auch
wenn ich einstweilen nicht viel
verstand davon, was sich vor
meinen Augen abspielte. Ich
fand es sympathisch, daß sie
den Stock, mit dem sie die verschiedenfarbigen Kugeln anstießen, so nannten, wie mein
Name anfängt. Und fand es
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aufregend, daß es öfter zu Unfällen kam, denn sie sprachen von Karambolage. Ich
unterhielt mich köstlich bei dem Spiel mit den Kugeln, die manchmal zu kurz rollten,
dann wiederum mehrmals am Tischrand aneckend, einander anrempelnd in ein Loch
fielen oder auch nicht. Bald verstand ich die Regeln und drückte selbstvergessen die
Daumen für jeden Spieler gegen jeden anderen. Daß dabei die Zeit nicht stehen
geblieben war, merkte ich ebenso wenig wie die Großen. Ich wachte erst auf aus
meiner Trance, als mich jemand beim Schlafittchen packte und wüst beschimpfte. Die
Garderobenpredigt über Tagediebe, die einer internationalen Filmgesellschaft hohen
Schaden zufügen, indem sie die Mittagspause verbotenerweise nach Lust und Laune
ausdehnen, um ihrer Spielleidenschaft zu frönen, während der gesamte Stab seit einer
dreiviertel Stunde auf die dringend vor der Kamera gebrauchten Nichtsnutze wartet,
galt freilich der ganzen Gruppe, aber den Großteil bekam ich ab, der Knirps, der sich
anmaßte, vor den anderen als Billardchampion zu protzen. Belämmert lief die Jungschar ins Studio zurück, einer weinte ein bißchen. Ich glaube, der Betreffende war ich.
Der deutsche Regisseur Heinrich Kosterlitz konnte die Arbeit fortsetzen. Erinnern
Sie sich an ihn? Nicht ganz? Vielleicht, weil er später in Hollywood, wo er viele
Erfolgsstreifen drehte, sich den Namen Henry Koster zulegte. Er war es auch, der
einige Jahrzehnte später Publikumsliebling O. W. Fischer zum Hollywoodstar
machen wollte. Schließlich war er dafür verantwortlich, daß Oweh nach dem ersten
Drehtag abreiste. Sie verstanden einander nicht. Die Arbeitsmethoden des Regisseurs
waren für den österreichischen Künstler zu hollywoodesk, zu mechanisch-herzlos.
Nebenbei - die Person, die uns im Kaffeehaus abgeholt und mich höchstpersönlich am Schlafittchen gepackt hatte, war nicht irgend ein Laufbursche, sondern
der Produzent, der Gottöberste selbst: Joe Pasternak. Sagt Ihnen der Name etwas?
Eher wohl ja, denn er änderte auch später in den USA nicht den Namen. Es genügte ihm, bereits in jungen Jahren für den englischen Vornamen gesorgt zu haben. Joe,
dessen ungarische Abstammung sein Geburtsort Szilágysomlyó beweist, wurde zu
einem der populärsten Produzenten und Talentesucher Hollywoods; er entdeckte
unter anderen Elvis Presley.
Frigyes Karinthy
E
ines der erinnerungswürdigsten Treffen meines Kaffeehauslebens war ein
Rendezvous mit dem literarischen Giganten Frigyes Karinthy. Mit dem Mann, der
von seiner Jugend bis zu seinem Tod an einer Enzyklopädie gearbeitet, wunderbare
Gedichte sowie Bücher voller tiefgründiger Philosophie geschrieben und den Gulliver
fortgesetzt hat, weshalb er auch der ungarische Swift genannt wurde. Die Öffentlichkeit zollte ihm ausschließlich als Humorist und Satiriker Anerkennung. Alle aus
dem Magyarenland stammenden Autoren dieser Sparten weltweit sind wir samt und
sonders seine Epigonen.
Der heimische Leser hat von ihm lachen gelernt, im Ausland ist er der breiten
Öffentlichkeit so gut wie unbekannt. Schuld daran trägt sein von Sprachwitz und
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Wortspielen durchsetzter souveräner
Stil, der in der Übersetzung kaum wiederzugeben ist.
Aber auch bangen gelernt hat
der heimische Leser von Karinthy. In
seinem letzten Roman „Reise um meinen Schädel“ hat er meisterhaft,
äußerst plastisch geschildert, wie er
die Symptome seines Gehirntumors an
sich entdeckte. Jedes einzelne, noch
vor den Ärzten. Der zweite Teil befaßt
sich mit den Untersuchungen in
Budapest und Wien, welche die
Selbstdiagnose des Laien bestätigen.
Zum Schluß erfolgt das Happyend,
die geglückte Operation, durchgeführt
vom weltberühmten Gehirnchirurgen
Professor Olivecrona in Stockholm.
Der durchschlagende Erfolg des
Buches führte zu der Konsequenz, daß
eine wahre Panik in Budapest ausbrach - der Großteil der Leser bildete sich ein, an
Gehirntumor erkrankt zu sein.
(Viele Jahrzehnte später übertrug mein Sohn den Roman ins Deutsche. Ein literarischer Agent hatte ihm den Auftrag dafür gegeben, aber er fand keinen Verleger.
Das einstimmige Argument lautete: Friedrich Karinthy ist im deutschen Sprachraum
ein Unbekannter, im Falle eines biografischen Romans muß jedoch der Leser den
Helden kennen. Ist doch logisch, oder? Um einen Schriftsteller eines gewissen Landes
auf einem anderen Fleckchen der Erde bekannt zu machen, muß man ihn übersetzen. Man kann es jedoch nicht tun, wenn er unbekannt ist. Weil er unbekannt ist.
Die Katze hatte sich in den Schwanz gebissen!)
…Nun, ich darf mich sogar der näheren Bekanntschaft des Onkel Frici, eines
der besten Freunde meines Vaters, rühmen. Er war mittelbar schuld daran, daß Vati
bei meiner Geburt nicht anwesend sein konnte. Er drehte nämlich gerade einen Film.
Er war der „Kinonarr“ im gleichnamigen Filmsketsch. Diese Gattung, die abwechselnd aus Filmszenen und live auf der Bühne des Lichtspieltheaters dargestellten
Einlagen bestand, lebte nicht lange. Karinthy hat jedenfalls für einige das Drehbuch
verfaßt. In drei davon hat er die Hauptrolle meinem Vater auf den Leib geschrieben.
Durch diesen gesellschaftlichen Kontakt kam es zu Familienbesuchen beiderseits, bei denen ich auch zugegen war. Das Leben ist ungerecht: Ich mußte mit seinen Söhnen spielen, anstatt ihrem Vater zuhören zu dürfen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß ich damals die Dinge noch anders gesehen habe und die Gesellschaft meiner Altersgenossen ohnehin bevorzugte…
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Unsere letzte Begegnung bleibt mir in unauslöschlicher Erinnerung. Meine Eltern
hatten, wie man heute sagen würde, ein Date mit Frigyes Karinthy an einem frühsommerlichen Sonntagnachmittag im Café Dunakorzó. Wir schrieben das Jahr
1937, und ich führte meine erste lange Hose aus. Meine Mutter machte den gerade eintreffenden großen Mann aufmerksam auf dieses weltbewegende Ereignis. Sie
formulierte es so, wie Ärzte mit alten Patienten, die in ihren Augen unmündig sind,
zu sprechen pflegen:
„Schauen Sie, Onkel Frici, wir tragen schon lange Hosen!“
Karinthy streifte mich und meine Hose mit einem geringschätzigen Blick und
bemerkte:
„Ich auch.“
Dann setzte er sich zu uns und begann auf der Stelle die Runde zu unterhalten.
Er brachte das aktuelle Thema Nazigefahr aufs Tapet.
„Hitler ist kein menschliches Wesen…“ sagte er. „Ich hielte ihn in einem Zoo,
sperrte ihn in einen Käfig, Fütterung zu angegebenen Zeiten, zweimal am Tag führte ich ihn dem p. t. Publikum vor und forderte ihn auf: ,Na jetzt zeig mal, Adolf, wie
du brüllen kannst!’“
Später fragte er, ob wir sein kürzlich erschienenes Buch gelesen hätten. Mein
Vater gestand, noch nicht dazu gekommen zu sein. Daraufhin erzählte er in einem
etwa einstündigen Vortrag seinen Roman „Reise um meinen Schädel“. In seiner individuell originellen Art malte er die Handlung aus, hob die Aussage hervor, zitierte
wichtige Sätze.
Ich bin auf wenige Begebenheiten in meinem Leben so stolz wie darauf, daß
ich dieses Meisterwerk nicht erst mittels seiner niedergeschriebenen, sondern der
lebendigen Worte aus Karinthys Mund kennenlernen durfte.
Doch zu Hause
F
rüh übt sich, was ein Kaffeehausfan werden will. Am besten schon
in der Kindheit, wie aus dem Vorangegangenen hervorgeht. Der Übergang vom kleinen Mitbringsel zum
Stammgast war gar nicht fließend;
die erste selbständige Verabredung in
einem Café mit einem anderen
Erwachsenen stellte eine Zäsur dar.
Es spielte sich unmittelbar nach meiner Matura ab und fiel in die Sparte
berufliche Besprechung. Ort des
Geschehens: das Café Baross an der
József körút.
Café Baross
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Die Vorgeschichte: Ich wollte Schriftsteller werden, seitdem ich denken konnte,
fühlte mich aber auch zum Film hingezogen. Längst war ich das, was mein Vater im
Karinthy-Filmsketsch verkörperte: ein Kinonarr. Als Realist war ich mir im klaren darüber, daß die Schriftstellerei ein brotloser Beruf sei. Als Träumer fragte ich mich, ob
ich nicht lieber das Fach eines Filmregisseurs ergreifen und damit viel Geld verdienen sollte. (Daß ich mich schließlich für den brotlosen Beruf entschieden habe, dürfte dem geneigten Leser allmählich dämmern.) Der Filmproduzent Dezsô Németh hatte
sich bereit erklärt, mich als Volonteur in seinen Stab aufzunehmen, damit ich das
Handwerk von der Pike auf lerne. Um die Einzelheiten meines Jobs zu erörtern, hatten wir uns im Baross verabredet.
Németh stand vor der Verfilmung des Lustspiels „Egér a Palotában“ („Mäuschen
im Palast“). Es ging um ein junges Mädchen in einem großen Hotel. Die Dreharbeiten sollten in ein paar Tagen mit Außenaufnahmen in Lillafüred, einer der malerischsten Gegenden des Landes, beginnen. Dort spielte nämlich die Story im Palota
Szálló, zu deutsch Palast Hotel. Es gab nur eine Komplikation um mein Engagement,
nämlich daß ich zwar meine Matura hinter mich gebracht hatte, das Schuljahr
jedoch auch für Maturanten noch nicht ganz zu Ende war, da die Schulabschlußfeier
mit der Verteilung der Maturazeugnisse noch bevorstand. Ich war also mit Bauchweh
zur Besprechung gegangen, die voraussichtlich daran scheitern würde, daß mich die
Schule noch nicht „freigibt“.
Zu meinem Glück teilte mir der Produzent mit, er habe am Vormittag mit meinem Gymnasium telefoniert und der Direktor Verständnis gezeigt. Ich sei von der
Anwesenheitspflicht bei der Abschlußfeier befreit, meine Eltern dürften an meiner
Stelle das Maturazeugnis abholen, ich könne sofort nach Lillafüred abdampfen.
Meine erste Kaffeehausverhandlung war also ein Erfolg. Wenn auch nicht hundertprozentig. Nachträglich kann ich es ja verraten: der Kaffee schmeckte mir nicht. Den
Kleinen Schwarzen, den zu bestellen ich als Erwachsener wohl doch verpflichtet war,
fand ich trotz mehrmaligem Zuckernachschub zu bitter. Ich mußte mich daran erst
gewöhnen, wie ein Junge in seinen Flegeljahren an die Zigarette, die erst ekelhaft
schmeckt, bevor man ihr verfällt, aber da muß man durch.
Meine große Filmkarriere endete nach zwei, drei Wochen. Ich hatte mich als
Mädchen bzw. Bursche für alles bewährt, aber ich suchte keine Kontakte mehr in
dieser Richtung. Wenn ich mich auch in meinem späteren Verlauf (ich verlief mich oft
im Dschungel meiner Berufszweige…) zeitweise als Filmdramaturg, als Drehbuchautor, als Kleindarsteller in Kinofilmen betätigte, verschrieb ich mich endgültig dem
Schreiben. Die nächsten Male sahen mich die Kaffeehäuser nicht mehr als angehender Filmer, sondern als Journalist und Schriftsteller. Ich folgte den Spuren meines
Vaters, der sein Büro im Kaffeehaus eingerichtet hatte. Ich frequentierte dieselben
Plätze wie er. Zum Beispiel das Dunakorzó, wo mein Onkel wirklich ein Büro hatte.
Das kam so: Von Beruf war er Buchhalter und arbeitete für den Inhaber dieses beliebten Treffpunkts am Donaukai. Er hatte mehrere Lokale zu betreuen, die alle dem
Besitzer, seinem Chef, gehörten. Gyula bácsi brauchte natürlich eine zentrale
Arbeitsstätte, und die fand er
im Dunakorzó.
Ich ging meinem Vater
ins Kaffeehausparadies New
York nach, ins Japán, an dessen Stelle heute der Buchladen der Schriftsteller residiert, schließlich neben
anderen in zwei Cafés, die
von Kôváry senior (seinerzeit
zu seiner Zeit gebührte dieser Titel noch meinem Vater)
aus praktischen Erwägungen
am Dunakorzó um 1910
zu seinen Stammplätzen ernannt wurden. Es waren diese das Bucsinszky im Nachbarhaus von unserer
Wohnung Ecke Erzsébet körút (Elisabethring) und Wesselényi utca, ferner das
Terminus neben der Terézkörúti Színpad (Bühne am Theresienring), der Stätte seines
Wirkens über ein Jahrzehnt. Dort kehrte er nach den Proben oder vor den Abendvorstellungen ein, um seine Kabarettsketsches zu schreiben. In der Stille fehlte ihm die
Inspiration; er benötigte das Gesumme, das Schwirren in der Luft um sich; die von
Zigarrenrauch benebelten Gesichter, das Gelächter, von Rufen unterbrochen wie
„Zahlen!“ oder „Herr Soundso zum Telefon!“ - kurz die Kaffeehausatmosphäre.
Er genoß sie als Lebensraum, die an sein Ohr drängenden Gesprächsfetzen mit
Tassengeklirr als Untermalung zum Theaterstück des Titels „Leben“. Nur ansprechen
durfte ihn keiner, da war die Konzentration dahin.
Außer es passierte vor seinen Augen eine typische Kaffeehausgeschichte, die
er dann „verewigte“. Soll heißen, er verarbeitete die Idee, welche dem Ereignis
zugrunde lag, baute sie aus und verwandelte das ganze, indem er seinen Senf
Marke Humor & Phantasie dazugab, in eine Satire für ein Theaterblatt, einen Sketsch
für das Kabarett oder einen Musikalischen Einakter für ein Theater. In einem Fall
kamen sogar alle drei Varianten zustande. Das Thema: In den meisten Kaffeehäusern
gab es keine Garderobe, die Leute hängen ihre Mäntel leichtsinnig auf die Ständer,
und auf einmal, wie der Text eines alten Couplets lautete, „ist der Überzieher weg“.
Manteldiebe gingen um. Mein Vater war Augenzeuge, als ein Täter entlarvt wurde,
und mit ihm gleich die ganze Bande, mit der er zusammengearbeitet hatte. Es stellte sich heraus, daß jedem Mitglied eine spezifische Rolle zugeteilt worden war, von
der Mantelauswahl über die Beobachtung der auserkorenen Beute und deren
Eigentümer bis zur Ausführung des Deliktes. Die Tatsache, daß das Vorhaben im einzelnen derart präzise organisiert war, hatte es dem Autor - es ist noch immer von meinem alten Herrn die Rede - angetan.
In der künstlerischen Umsetzung der Story engagiert ein einschlägiger Gangster
einen Tolpatsch mit wenig Hirn und viel Herz, der im Laufe der Geschichte nicht nur
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zuläßt, daß fremde Langfinger die Oberbekleidung seiner gesamten Mannschaft stibitzen, sondern auch noch selbst den wertvollen Pelzmantel seines Chefs an einen
bedürftigen Zechpreller verschenkt. Die Handlung bereicherte der Verfasser zusätzlich mit verschiedenen Kaffeehaustypen und einem Liebespaar.
„Der Manteldieb“ wurde sogar ins Deutsche übersetzt und in einer Berliner
Illustrierten abgedruckt sowie auf einer Kabarettbühne aufgeführt.
Der Regenschirm
N
Am letzten Freitag ist mir im Kaffeehaus ein peinlicher Irrtum unterlaufen. Ich war
im Aufbruch, gezahlt hatte ich schon, nahm meinen Hut vom Ständer, fischte meinen
Knirps aus dem Schirmbehälter und strebte dem Ausgang zu. Da sprang ein Herr von
seinem Tisch auf und rief und lief mir nach: „He, Sie da! Geben Sie mir meinen
Regenschirm zurück!“
Ich erstarrte zur Salzsäule. Es stellte sich heraus, daß ich diesmal gar keinen
Schirm mitgebracht hatte, beim Weggehen jedoch automatisch zum Aufbewahrer
dieser Utensilien getreten war und mich eines Knirpses bediente, der genauso aussah wie meiner. Verlegenheit, Entschuldigungen gestammelt, alles aufgeklärt, freundliche Verabschiedung, kann ja mal vorkommen, nicht wahr… Am nächsten Tag war
ich wieder im selben Kaffeehaus, diesmal mit meiner Frau. Es regnete in Strömen, so
daß wir beide beschirmt waren. Wir waren schon zur Tür hinausgegangen und ich
wollte meinen Knirps aufklappen, da fiel meiner besseren Hälfte ein, daß sie muß.
Nämlich nochmals zurückgehen, um aus der Telefonzelle jemanden anzurufen, oder
Händewaschen oder was man so eben sagt, wenn man die Erwähnung der Toilette
oder gar des Klos vermeiden will. Aber das tut auch nichts zur Sache, wichtig ist nur,
daß mein Weib mich bat, ihren Schirm für ein paar Minuten zu übernehmen. Da
kam der Mann von gestern, mit dem ich das peinliche Mißverständnis bezüglich seines Knirpses erlebt hatte, auf mich zu. Offensichtlich war er gleichfalls ein Stammgast, denn er wollte ins Kaffeehaus durch die Eingangstür, neben der ich mich
postiert hatte. Mit einem vernichtenden Blick maß er mich, wie ich dastand, an einem
Arm der Kurzschirm, am anderen der elegante schlanke Damenschirm baumelnd. Ein
höhnisches Grinsen erschien in seinem Gesicht, als er mich fragte:
„Na, heute ging das Geschäft wohl besser?“
atürlich ahmte ich meinen Vater auch darin nach, im Kaffeehaus zu schreiben
und mich ebendort nach Themen umzusehen. Wenn ich nun in einer Erinnerung
die Ideen Revue passieren lasse, welche mir im Kaffeehaus zugeflogen sind, greife ich
als Beispiel jene Kurzgeschichte heraus, in der Regenschirme die Hauptrolle spielen.
Der Einfall mußte beim Zufliegen keinen allzu weiten Weg zurücklegen; sein Kern war
in meinem eigenen Charakter zu finden. Die Vergeßlichkeit und Zerstreutheit, die dazu
Pate stand, ist nämlich bei mir keine Alterserscheinung; die schleppe ich schon seit
meiner Jugend mit, eben wie einen Regenschirm. An Regentagen oder bei bewölktem
Himmel, aber oft auch bei Sonnenschein, einfach weil mir danach und ich ein
bißchen anglophil war und meinte, ein Gentleman habe stets einen Schirm bei sich
zu tragen, betrat ich mein Kaffeehaus mit einem solchen. Heraus kam ich dann meistens ohne. Manchmal auch mit, jedoch nicht immer mit dem eigenen. Abwechselnd
vergaß und/oder vertauschte ich im Lauf meines kaffeehäuslichen Lebens eine stattliche Anzahl an Regenableitern. (Nein, gestohlen wurde mir kein Schirm; in meiner
Originalstory kommt kein Dieb vor.)
Der Ausgangspunkt zu einer lustigen
Szene oder sowas war also gegeben; ich mußte nur den Faden weiter
spinnen, mir verstellen, was für
Situationen sich aus solch chaotischem Charakter ergeben könnten,
und mein Werkchen war geboren.
Wie angedeutet, kein Großformat,
eher eine Anekdote, immerhin. Ich
nahm sie in mein ständiges Repertoire
als Conférencier auf. (Für die
Generationen nach mir: Conférencier
nannte man die Moderatoren im urgeschichtlichen Vorfernsehzeitalter.)
Ich versuche den Spaß hier aus
meinem Gedächtnis vermittels EDV
(Ehdu‘svergißt www.weißich‘snoch?)
Köváry liest im Hotel schweizerhof in Gyôr
abzuladen:
ie nächste Episode finde ich typisch ungarisch. Ich meine es durchaus positiv,
und es würde mich wundern, wenn nicht jeder Leser sich meiner Ansicht anschlösse.
Im Sommer 1944, genau zum Staatsfeiertag am 20. August, erschien in Budapest ein neues Antinazi-Witzblatt! Unglaublich, aber wahr. Es hieß Pesti Posta (Pester
Post). Der mutige Mann, der dieses Presseorgan ins Leben rief und auch durchsetzte, war der Arzt und Karikaturist (!) Dr. István Pesthy. Wenn man ihn bei seinem
Kosenamen rief, hieß er fast so wie sein Blatt: Pesthy Pista.
Man bedenke: Ungarn war von seinen deutschen „Freunden“ seit dem 19. März
des Jahres besetzt, der Bombenkrieg tobte auch in der Hauptstadt, und auf der
Terrasse des Negresco, eines der bekannten Kaffeehäuser am Donaukai, saßen
abends die Mitarbeiter eines regierungsunfreundlichen satirischen Wochenblattes
und brüteten bis zur Verdunkelung Witze aus. Und was für welche!
Einige Ergebnisse unseres Brainstorming verbreiteten sich in der Hauptstadt wie
ein Lauffeuer. Ein Spruch, ausgeklügelt im Negresco, abgedruckt in der Pesti Posta,
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Krieg und Frieden
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wurde nicht nur berühmt, er wurde zur Legende. (Die ursprüngliche Bedeutung dieses Begriffs hat ja etwas mit Lesen zu tun. Darüber hinaus wurde das geflügelte Wort
vom Ruhm auf seine Schwingen genommen und in die Lüfte gehoben.) So, jetzt kommen wir bitte wieder herunter aus den Lüften - der Ausspruch hieß schlicht und einfach: „Vigyázz Malvin, jön a kanyar!“ („Paß auf Malvine, es kommt die Kurve!”).
Was soll das, fragt gewiß so mancher Leser. Ich wiederhole: man bedenke.
Nämlich den historischen Hintergrund. Die Wehrmacht näherte sich der Ohnmacht.
Stalingrad war schon passiert, die Invasion der Alliierten ist in vollem Gange; wer
anstelle des Hirns kein
Vakuum hat, sieht klar
und deutlich, wieviel es
geschlagen hat, die
Wende ist da, Hitler
hat den Krieg verloren.
Und nebenbei mit ihm
seine
Verbündeten,
also auch wir. Nicht
mehr und nicht weniger
bedeutete diese sich
über vier Spalten hinziehende Zeile in der
Pester Post.
Auch eine gelungene Karikatur war eine Zeit lang Gesprächsstoff in aller Munde. Sie stellte den
Führer der Pfeilkreuzler Szálasi so dar, als ob sich eines seiner Beine vorwärts
bewegte, das andere hingegen rückwärts gewandt war. Die Unterschrift: „Szálasi,
aki úgy jön, mintha menne.” („Szálasi, der so kommt, als ob er ginge.”) Als
Wettervorhersage war die Zeichnung völlig mißlungen. Die Wolken verdüsterten
sich, er kam anstatt zu gehen und übernahm am 15. Oktober, wenige Stunden nach
dem Absprungversuch von Horthy, die Herrschaft. Da war das Schicksal des
Witzblattes endgültig besiegelt. Der Alptraum der Witzekonferenzen war vorbei.
Wie bitte, Sie verstehen nicht, wieso ich die Sommerabende auf der Terrasse des
Café Negresco einen Alptraum nenne? Keine Bange, liebe Lesergemeinde, nicht Sie
sind schwer von Begriff, es scheint, daß ich schwer im Begreiflichmachen bin!
Ich habe nämlich eine Kleinigkeit zu erwähnen vergessen. Zuweilen gab es,
während wir mittendrin im Witzeerfinden und so richtig in Fahrt waren, Fliegeralarm.
Bei solchen Gelegenheiten unterbrachen wir unsere Arbeit und gingen alle außer
einem von uns in den Luftschutzkeller. Unser Chef Dr. Pesthy begab sich über die
nächstgelegene Donaubrücke zum Gellértberg, wo in einer Höhle ein Operationsraum für die zu erwartenden Opfer der Bombenangriffe eingerichtet war, um dort seinen Beruf als Chefredakteur und Zeichner abzulegen, seinen weißen Kittel anzuziehen und seiner Berufung als Mediziner genüge zu tun.
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Der Schulkamerad
D
ie Muse der Geschichtsschreibung, die ungnädige Frau Klio, hat mich bald darauf wieder besucht. Am Abend des … Oktober klingelte es an unserer Wohnungstür. Das genaue Datum kann ich nicht hinschreiben, weil ich‘s nicht mehr auswendig weiß, es ist jedoch unschwer zu eruieren, handelt sich‘s doch um den Vorabend eines unrühmlichen Tages der ungarischen Politik. Jedenfalls muß es nach dem
15. gewesen sein, da die Pfeilkreuzler die Macht schon an sich gerissen hatten.
Der unerwartete Gast war Z., mein ehemaliger Schulkamerad und einer meiner
besten Freunde. Er schaute erbärmlich aus, abgerissen, ungepflegt, ja unsauber,
stand kaum auf den Beinen. Seine Stimme versagte beinahe, als er uns erzählte, daß
er aus dem Arbeitslager in der Nähe der Hauptstadt geflüchtet war. Er bat uns um
Asyl. Meine Mutter bereitete ihm ein heißes Bad und stellte ihm ein Bett zur Verfügung. Nach eigenen Angaben schlief Z. diese Nacht nach langer Zeit zum ersten
Mal durch wie ein Murmeltier.
Am nächsten Morgen ertönte wieder die Türklingel. Mein Vater ging etwas nervös nachsehen, wer da in dieser frühen Stunde stört. Auf unangemeldete Besucher
waren wir gerade nicht eingerichtet. Es war nur der Nachbar, der sich erkundigte,
ob wir die nächtliche Razzia gut überstanden hätten.
„Was für eine Razzia?” fiel mein Vater aus allen Wolken.
„Ja, waren denn die Pfeilkreuzler gar nicht bei Ihnen?”, war nun der Nachbar
an der Reihe mit dem Staunen. „Sie haben doch an jeder Tür geklingelt. Wenn sie
nicht schnell genug hereingelassen wurden, haben sie mit dem Gewehrkolben
gepumpert. Sie haben nach versteckten Juden gesucht!”
Mein alter Herr mußte all sein schauspielerisches Können zusammennehmen,
um seinen Schreck nicht zu verraten. Obwohl es seit seiner Jugend zu seinem Beruf
gehörte, sich zu verstellen, fiel es ihm nicht leicht. Nachdem er verneinte und sich auf
den tiefen, gesunden Schlaf der gesamten Familie berief, lachte der Nachbar anerkennend.
„Das hätte ich mir eigentlich denken können, Herr Künstler. (Diese Anrede
gebührt in der ungarischen Sprache den Ausübenden des Berufsstandes, dem mein
Vater angehörte.) Bei Ihrem Bekanntheitsgrad, bei Ihrer Beliebtheit trauen die sich gar
nicht, Sie zu stören. Und schon gar nicht, Sie zu verdächtigen, daß Sie gewissen
Elementen Unterschlupf gewähren!”
Nach dieser Information, in der uns der Überbringer, ohne darüber selbst
Bescheid zu wissen, mitgeteilt hatte, daß wir an einer tödlichen Gefahr vorbei
gerutscht waren, sahen wir eines klar: Z. konnte unmöglich auch nur eine weitere
Nacht bei uns bleiben. Es wurde ein kurzer Familienrat abgehalten, die Lösung war
schnell gefunden. Wir hatten eine Bedienerin, die mehrere Male pro Woche Hausarbeit in unserer Wohnung leistete. Sie wohnte mit ihrem Lebensgefährten in der Kis
Diófa utca, in der Nähe der Király utca. Meine Eltern gaben ihr Geld und sie erklärte sich bereit, Z. ab heute nacht bei sich aufzunehmen.
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Nach Einbruch der Dunkelheit ging ich mit meinem Freund los, um ihn an der
angegebenen Adresse abzuliefern. Für Uneingeweihte in Sachen Geographie von
Budapest empfiehlt es sich, an dieser Stelle einen Stadtplan zur Hand zu nehmen.
Diejenigen, die Schwierigkeiten mit der Beschaffung dieses Hilfsmittels haben, müssen sich mir anvertrauen und sich der Hoffnung hingeben daß es mir gelingen wird,
den Schauplatz der Krimihandlung, die nun folgt, plastisch zu beschreiben…
Unsere Route begann auf der Ringstraße, wo wir die Dob utca überquerend bis
zur Király utca blieben. Dort mußten wir links einbiegen und dann immer weiter geradeaus bis zur Kis Diófa utca, die als eine der Querstraßen der Király utca parallel
zur Ringstraße verläuft. Da würden wir wieder links einbiegen; unser Ziel dürfte das
zweite oder dritte Haus sein. Aber wir sind noch nicht dort.
Die gruselige Wegstrecke begann erst an der Ecke Király utca und erste
Querstraße. Ein ungewöhnliches, ja man kann sagen unwirkliches Bild bot sich unseren Augen. Angehörige des Pöbels, des Abschaums in Uniform, um die Pfeilkreuzler
einmal zu umschreiben, zimmerten quer über die Nebengasse, Fahrdamm und Gehsteige mit eingeschlossen, ein Holztor!
„Die sind ja verrückt”, dachte ich bei mir „jetzt sperren Sie nicht nur Häuser
nach Lust und Laune zu, jetzt schließen sie eine ganze Straße ab.” Ich war bestürzt,
wollte aber unbeirrt weitergehen. An unserem Vorhaben ist nicht zu rütteln, es geht
um Lebensrettung, es gibt keine Alternative.
Z. war jedoch erstarrt. Er spürte mehr als eine unerklärliche, morbide Atmosphäre. Er hatte augenblicklich verstanden, daß dieser Spuk ihm persönlich gilt, daß
er sich nicht aus einer Gefahrenzone entfernte, sondern einem Todesstoß näherte,
und das noch dazu freiwillig. Er verweigerte die Fortsetzung des Weges. Seine
Entschlossenheit steigerte auch meine
Entschlußkraft, nur eben in die
falsche Richtung. Ich griff nach seiner
Hand und zerrte ihn weiter.
An der Ecke zur nächsten Nebengasse erwartete uns die gleiche
gespenstische Szene; Pfeilkreuzler
machten eine Straße zu, verfremdeten sie durch ein Holztor. Z. setzte
sich auf das Trottoir und war nicht
zum Weitergehen zu bewegen. Ich
unterbrach meine Schritte nicht, setzte meinen Weg im Glauben, mehr
noch, in der Gewißheit fort, daß er
mir folgen würde. Was blieb ihm
anderes übrig?
Er kam mir nach. Er hatte wohl
eingesehen, daß ich ihn zu einem
sicheren Versteck führte, wo er gut aufgehoben sei während des Zwischenspiels der
Pfeilkreuzlermacht, abgesehen davon, was auf abgesperrten Straßen draußen sich
abspielte. Das dachte ich wenigstens. Er, Z., hatte sich dem Schicksal ergeben.
Apathisch schritt er neben mir einher, an der Ecke zur Kis Diófa utca angekommen, machte er gleich mir eine Wendung nach links, und wir passierten das
Holztor, das auch diese Straße verunzierte, vorbei an den Horrorfiguren, die
Soldaten spielten und sich nicht um uns kümmerten.
Wir fanden das Haus. Hinterhof. Dritter Stock. Klingel kaputt. Klopfen an der
Tür. Von drinnen Gespräch, Geschrei, Hin- und Hergeschiebe von Möbelstücken und
der Teufel weiß was für Gegenständen. Hämmern an der Tür meinerseits.
Eine Frauengestalt öffnet. Das Gesicht unserer Bedienerin erscheint erst einige
Sekunden später, denn sie hat beide Hände voll von Wäschestücken; der Haufen
reicht bis zu ihrer Kopfhöhe. Sie schaut uns entgeistert an:
„Ach, Sie sind doch gekommen?”
Ihr Partner erscheint. Er zieht einen offenen Koffer hinter sich her.
„Siehst du?” sagt er zu ihr „Ich hab‘s doch gesagt, daß sie‘s nicht von selber
wissen können!”
„Was denn?” frage ich.
„Wir müssen bis Mitternacht ausziehen, mit unserem ganzen Gut und Hab. Alle
aus der ganzen Gegend.”
Der Mann übernimmt das Wort. Die Pointe wird stets vom Mann übernommen.
„Hier wird das Ghetto errichtet!”
Als wir den Rückweg antraten, war es völlig ungewiß, ob es einen solchen
gab. Wir saßen in der Mausefalle. Da hinein zu gelangen wird der Maus sogar mit
Speck schmackhaft gemacht, aber hinaus kann sie nicht mehr. Und ich habe sogar
ohne Speck, ohne jegliches Lockmittel, ganz auf freiwilliger Basis meinen Kameraden
in diese Mördergrube, die gerade ausgehoben wird, hineingestoßen. Um nicht
davon zu reden, daß ich für den gegenständlichen Fall auch keine Lebensversicherung abgeschlossen habe. Werden wir hier herausklettern können?
Jedenfalls machten wir uns auf den Weg. Natürlich nicht in der Richtung, woher
wir gekommen sind. Nun wußten wir, daß die Király utca und ein Teil der Ringstraße
die Begrenzung des geplanten Ghettos werden würden. Deshalb der Torbau, aus
dem die Kontrollpunkte entstehen. Wir schlugen die entgegengesetzte Richtung ein,
die uns unserem Heim näher bringen sollte. Es war klar, daß wir früher oder später
auf die Grenzen des gegenüber liegenden Teiles stoßen würden. Ungefähr konnte
ich es mir ausrechnen, wo diese sich befänden. Offensichtlich haben die eingebildeten Stadtplaner einen viereckigen Abschnitt des VI. Bezirkes für das Ghetto vorgesehen, begrenzt von der Király utca, wozu rechtwinkelig die Ringstraße passen
würde; doch eine der Hauptverkehrsstraßen und Prachtboulevards der Hauptboulevards der Hauptstadt mit dem Judenviertel in Verbindung zu bringen wäre nicht vornehm. Also wird wohl die nördliche Begrenzung eine Parallelstraße des Ringes sein.
Ich tippte auf die Kertész utca, die damals anders hieß, aber heute hat sie ihren alten
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Namen wieder bekommen, also bleiben wir dabei. Ich bestimmte also den
Kurs auf die Kertész utca. Wie wir die
Hürde nehmen würden, die in jener
Gegend mit Sicherheit auf uns wartete,
das wußte ich allerdings nicht. Ich ließ
mich von meinem Gefühl leiten. Z. ließ
sich von mir führen. Wenn er mich überhaupt wahrnahm. Er ging willenlos an
meiner Seite wie in Trance.
Von weitem erblickte ich das
Unglück: An der Kreuzung Dob utca
(die wir eben entlang gingen) und
Kertész utca, in der Straßenmitte stand,
als wäre er ein Verkehrspolizist, ein uniformierter Pfeilkreuzler. Augenscheinlich
waren die Torbauarbeiten noch nicht
In der Wesselényi utca steht heute neben
der Synogoge ein Denkmal
bis hierher gediehen, und er vertrat die
für die Opfer des Holocaust
Obrigkeit als Kontrolleur. Er waltete seines Amtes, indem er ein Pärchen, welches aus unserer Richtung gekommen war, um
seine Ausweispapiere bat. Da gibt es kein Durchkommen!
…Aber wann soll einen eine rettende Idee überfallen, wenn nicht in höchster
Not?
Ich wußte freilich die ganze Zeit, ich wußte es sogar seit meiner Kindheit, daß
eines der vier Eckgebäude jener Kreuzung den nicht nur in Ungarn berühmten
Künstlerklub Fészek beherbergte. Ich verband mein Wissen nur nicht mit unserer
Geschichte. Erst als ich unsere ausweglose Situation in der Gestalt des amtswaltenden Pfeilkreuzlers verinnerlichte, ging mir ein Licht auf. Das Fészek ist unsere Rettung!
Ich erteilte Z. den knappen Befehl, den Uniformierten an seinem Kontrollpunkt
nicht zu beachten, keineswegs in Blickkontakt mit ihm zu treten, seine Schritte zu
beschleunigen und mir nach! So gingen wir zwar auf die „Grenzregion” zu, traten
aber mit einer eleganten Kehrtwendung zur Tür des Fészek-Klubs ein. Der PseudoVerkehrspolizist sah uns an und stellte fest, daß wir nicht zu seinem Aufgabenbereich
gehören. Wir haben ja das Ghetto nicht verlassen, sondern sind in den Klub gegangen.
Drinnen gaben wir unsere Mäntel in der Garderobe ab und begaben uns in
den ersten Stock ins Kaffeehaus. Dort bestellten wir zweimal Kaffee, ich begrüßte an
verschiedenen anderen Tischen sitzende Bekannte und wir plauderten auch lebhaft
mit Z., weil ich ihm mitgeteilt hatte, wir könnten auffallen, wenn wir stumm dasäßen
und sorgenvolle Gesichter schnitten. Aber fragen Sie mich bitte nicht, wie der Kaffee
geschmeckt hat, wen ich da getroffen habe und worüber wir gesprochen haben.
Könnte es vielleicht sein, daß ich auch nicht ganz bei mir war?
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Obwohl ich die zwanzig, dreißig Minuten, die Z. und ich da verbrachten, nie
mehr nacherzählen konnte, war es mir bewußt, daß dieser Cafébesuch etwas einmaliges in meinem Leben war. Das Kaffeehaus hatte mir diesmal Asyl geboten…
Wir schlenderten zur Garderobe, warteten ab, bis eine Gesellschaft sich zum
Aufbruch sammelte, schlugen uns dazu und verließen den Klub. Der Pfeilkreuzler sah
uns, grüßte und stellte offenbar abermals fest, daß wir nicht zu seinem Aufgabenbereich gehörten. Wir waren ja nicht aus dem Ghetto gekommen, sondern aus dem
Fészek.
So hatte ich meinen lieben Freund Z. aus dem Ghetto geholt, bevor es noch
errichtet wurde.
***
D
er Frieden brach dann bekanntlich nicht auf einmal aus, sondern in Raten. Am
18. Januar 1945 fiel die Pester Hälfte der Hauptstadt und die Bewohner dieses
Stadtteils wähnten sich frei. Daß sie es nicht waren, kann ich als Zeitzeuge bestätigen. Ich könnte die Hausdurchsuchungen der Roten Armee beschreiben, deren
Zweck es war, versteckte Nazisoldaten oder Waffen zu finden. Bei mir wurden die
Sowjets fündig: Sie nahmen mir mein Akkordeon ab. Ein wackerer Russe betätigte
die Waffe gleich; dies zeugte von Mut - die Tangoharmonika hätte ja losgehen können… Bevor ich‘s vergesse zu erwähnen, nebenbei nahmen sie auch gleich die
männlichen Hausbewohner mit, wie es hieß, zur Ausweisleistung. Wie ich ihnen ein
paar Stunden später entwischt bin, ergäbe auch eine Geschichte, wenn auch nicht
in der Größenordnung des Ghetto-Abenteuers. Es war jedoch immerhin auch eine
Lebensrettung. Diesmal ausschließlich der eigenen Person gewidmet. Womöglich,
vielleicht. Denn einige Hausnachbarn aus unseren Reihen sind erst viele Jahre später
aus Sibirien zurückgekommen, andere überhaupt nie mehr. Aber dieses Erlebnis
gehört nicht in meine Reportage, weil sie nichts mit Kaffeehaus zu tun hat.
Vor meinen geistigen Augen sehe ich manchen Leser sich an den Kopf greifen.
Wie kann man die Tatsache, daß die Russen ihre Kriegsgefangenen auch unter der
Zivilbevölkerung einsammelten, mit dem Kaffeehaus in Zusammenhang bringen?
Nun: In den ersten Tagen nach dem Fall der Pester Seite gab es für mich kein
Halt mehr, ich unternahm Erkundungsspaziergänge in den Straßen voller Schutt, zwischen den Ruinen, zuweilen über eine herumliegende Leiche stolpernd, ein, zweimal
knapp einem Kanoneneinschuß entkommen, welcher ein paar Schritte vor oder hinter mir einen anderen traf, dessen Zeit in dem Moment abgelaufen war. Ich war jung
und lebte in der Gewißheit, noch lange nicht sterben zu müssen, es gar nicht zu können. Es hat nichts mit Mut zu tun, ich war immer feige (vielleicht ausgenommen in
Augenblicken höchster Gefahr); es war Fatalismus gepaart mit überdimensionalem
Selbstbewußtsein der Jugend.
Im Zuge meiner „Recherchen” schlenderte ich auch über die Ringstraße und
sah, daß im Haustor des New-York-Gebäudes ein russischer Soldat stand. Er war
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Unterwegs nach Szeged
D
Die zerstörte Margarethenbrücke im Jahre 1945
en echten Friedensausbruch bedeutete für mich der Fall von Buda am 15. Februar
desselben Jahres. Einem Ruf des alten Oscar Beregi, eines Stolzes der ungarischen Schauspielkunst folgend, ging mein Vater nach Szeged. Er tat es teils mit der
Eisenbahn, teils per Bauernwagenstop, teils zu Fuß. Bekleidet war er folgendermaßen:
Pyjama unter dem Anzug, darüber als Bühnengarderobe Smoking, schließlich Wintermantel mit Hut, in der Hand ein Regenschirm. Er sah aus wie der Held eines Romans
von P. Howard. (Unter diesem Pseudonym schrieb der Kabarettautor Jenô Rejtô groteske, absurde Kolportageparodien, die meines Wissens bis zum heutigen Tag Bestseller sind.) Als ihm auf der Landstraße ein Tatare, der mit seinem herunter hängenden
Schnurrbart, Umhang und Pelzmütze wie ein Donkosake aussah, zu Pferd entgegenkam, verstellte ihm dieser den Weg.
„Parapluie?” zeigte der auf den Schirm, und setzte verächtlich hinzu: „Burshuj!”
Mein Vater verstand, daß es das umgangssprachliche Idiom für Bourgeois war und
aus dem Mund eines Rotarmisten keinesfalls als Kosename gemeint sein konnte. In
seiner Angst trat er die Flucht nach vorne an und fuchtelte, bedrohliche und in keiner
Sprache der Welt verständliche Flüche ausstoßend, mit dem Regenschirm. Der Reiter
staunte einige Sekunden, winkte ab, ließ meinen Vater in Ruhe, und beide setzten
ihren Weg fort.
gerade dabei, einen Vorbeikommenden (offenbar gab es außer mir noch andere
Neugierige!) anzuhalten, ihn aufzufordern, sich zu legitimieren und ihn zu veranlassen, durch die Tür nebenan ins Kaffeehaus einzutreten. Es schaute nicht nach freundlicher Einladung aus, denn sonst hätte er den widerstrebenden Mann nicht hineingeschubst. Ich lauerte noch eine Weile auf der gegenüber liegenden Seite hinter
einem Mauervorsprung und beobachtete zwei Wiederholungen derselben Szene.
Naivlinge haben sich wohl gedacht, nach dem Ende der Belagerung von Budapest
hätten sie nichts mehr zu befürchten. Wie gefehlt! Sie begaben sich leichtsinnig in
Gefahr durch ihr gedankenloses Herumstrolchen in der vor kurzem befreiten, aber
noch lange nicht freien Stadt.
Na ja, ich Feigling war eigentlich selbst wagemutig, geradezu verwegen, wie
ich mich dort herumtrieb, wo gestern noch die Front verlief. Aber in mir steckte irgendwo eine Alarmglocke, deren Schrillen ich mit meinen geistigen Ohren hörte, bevor
ich eine Gefahrengrenze überschritt. Mein Instinkt gebot mir Vorsicht. Tiere und
Journalisten haben ihren Instinkt noch bewahrt, während er bei den übrigen Wesen
verkümmert ist. (Liebe Kollegen, ich habe nicht die Absicht, Euch zu beleidigen, ich
bin selber einer von Euch, und mir gegenüber kann ich doch so grob sein, wie es
mir behagt, oder?)
Später habe ich dann erfahren, daß das Kaffeehaus New York als Sammelplatz für Passanten mißbraucht wurde, die auf der Straße in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren. Nach einigen Stunden Herumstehen im leeren Lokal wurden sie zu ein bißchen Zwangsarbeit geführt, zuerst in der Stadt, dann irgendwo auf
dem Land, von wo es irgendwann nach Sibirien ging.
Nachdem sie im New York festgenommen wurden, konnten die meisten für
eine lange-lange Zeit kein Café mehr betreten. Für manche war es überhaupt ihr letzter Kaffeehausbesuch.
ein Vater ging also nach Szeged, unterschrieb einen Jahresvertrag und kehrte
zurück, um uns nachzuholen. Die zweitgrößte Stadt Ungarns hatte sich nämlich
ergeben und ließ die Russen ohne Kampf einziehen. Dadurch wurde die Stadt nicht
zerstört. Im Gegenteil, sie zeigte sich unserer Familie als das Kanaan schlechthin.
Wahrlich flossen Schlagobers und Honig in der Konditorei Virág.
Doch nicht die Virág
cukrászda spielt die
Hauptrolle in dieser Episode, die keine Episode
blieb. Eher schon die
Kantine des Theaters, wo
ich die Soubrette, die
gerade die Stasi in der
Csárdásfürstin
spielte,
kennenlernte. Jemand stellte uns einander vor und
sie sagte als erste ihren
Namen. Ihren KünstlerKonditorei Virág in Szeged
namen: „Éva Ádám.”
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Mein Mohács
M
Ich erwiderte prompt:
„Freut mich, Luzifer.”
Sie reagierte nur mit dem Wort:
„Tatsächlich?” - und quittierte meinen dummen Spaß nicht eindeutig mit einem
Lachen. Im Theater ist schließlich alles möglich, wer weiß, vielleicht benütze ich dieses Pseudonym beruflich. Ich aber fühlte mich gekränkt, daß meine Pointe nicht so
gut angekommen ist. Der Vorfall trug zu meinem Entschluß bei, niemals eine Schauspielerin zu heiraten.
Ich heiratete Éva Árpád erst 1949. Da hatte sie schon ihren neuen Künstlernamen nach einer Romanheldin von mir gewählt. (Das Buch, in dem die Mädchenfigur so heißt, ist unter dem Titel „Das Schülerstreichquintett” 1957 in Wien erschienen.) Die Gewerkschaft im proletardiktatorischen Ungarn hatte ihr nämlich die
Benutzung des ursprünglichen Künstlernamens untersagt, weil eine andere Schauspielerin sich auch so nannte. Und die war ein braves Parteimitglied.
Aber wir müssen noch zurück nach Szeged. Nicht unbedingt in die Kantine,
obwohl die auch als Mittelpunkt eines Kapitels geeignet wäre, ist doch eine
Werkskantine wenigstens teilweise auch als eine Art von Kaffeehaus zu betrachten.
Der zentrale Aufenthaltsort meines Jahres in Szeged war aber das Café Hungária.
Dort schrieb ich nicht nur meine Beiträge für Budapester Tageszeitungen, deren
Korrespondent ich wurde, sondern hatte mit wenigen Ausnahmen jeden Nachmittag
mein Rendezvous mit Éva. Die gesamte Künstlergarde konnte unsere Liebesgeschichte verfolgen, der ganzen Stadt bot sich das Liebespaar zur Ansicht dar. Als
Vorläufer noch nicht existierender Fernsehserien konnte man zum fixen Nachmittagstermin mit dem Programm der jungen Soubrette und des angehenden Schreiberlings
rechnen.
Wir saßen nämlich im Schaufenster. Bei unserem ersten Stelldichein wählten wir
einen Fensterplatz, und der blieb dann selbstverständlich unser Lieblingsstandort. So
wurde - ich versuche, bescheiden zu werden: - die halbe Stadt Zeuge unseres
anfänglichen Flirts, Händchenhaltens, hie und da
eines verstohlenen, dann
gar nicht mehr heimlichen
Küßchens, und als wir
dann die erfüllte Liebe
erlebten, dachten wir gar
nicht mehr an unsere Zuschauer. Die sahen im vorgerückten Stadium nur
noch ein und dasselbe
Bild: Eva saß da, die beiden Arme auf den Tisch
gestützt und hörte mir zu,
ich aber redete und redete. Ich erzählte ihr aus meinem Leben und entwarf das
Szenario unserer gemeinsamen Zukunft. Es war Lebensplanung.
Für jedermann ersichtlich, daß wir nicht mehr voneinander loskommen würden.
Auch ich selber sah der Gefahr ins Auge und taufte Szeged in „mein Mohács” um.
(Die Stadt der Katastrophe mit den Türken, die unsere Leute in einer Schlacht vernichtend geschlagen haben und anschließend das Land besetzten.)
Nachtrag zur Hungária-Episode: Nach unserer Hochzeit stellte mein Vater, der
schon zwei Ehen hinter sich hatte, als er meine Mutter heiratete, Éva jedem so vor:
„Die erste Frau meines Sohnes.”
Wir lachten viel über dieses geistreiche Bonmot. Wir konnten ja nicht wissen,
daß es eine Prophezeiung war. Éva starb nach langer Krankheit 1981 in Wien.
Bis dahin hatten wir natürlich bereits unsere Stammkaffeehäuser in der neuen
Heimat. Aber in den 70er Jahren fuhren wir noch einmal nach Szeged, um unsere
einstigen Lieblingsplätze aufzusuchen. Nicht im Café Hungária, sondern in der Konditorei Virág kamen wir mit einer netten Serviererin ins Gespräch. Wir verrieten ihr, daß
wir in Österreich leben und daß wir im Nachkriegsjahr in Szeged wohnten. Als wir
dann in Nostalgie verfielen, die Schönheit ihrer Stadt lobten und für die süßen Waren
ihrer Konditorei Komplimente fanden, sprach sie mit einem Tadel in der Stimme:
„Sehen Sie - warum mußten Sie weggehen von hier?!”
Ich nickte zustimmend. Die Energie fehlte mir, ihr an Ort und Stelle ein weltpolitisches Seminar zu eröffnen.
Von Szeged in meine Geburtsstadt zurückgekehrt, durfte ich noch zwei Jahre parlamentarische Demokratie im westlichen Sinn genießen. Die Reihen der Intellektuellen
und besonders der Bohèmiens hatten sich gelichtet, aber es gab wieder, besser
gesagt noch immer ein großes, freies Kaffeehausleben. Außer den altbekannten
literarischen Cafés existierten solche, die Maler, Schauspieler, Sänger zu ihren
Stammplätzen auserkoren, etliche wurden von Geschäftsleuten frequentiert, wieder
andere boten künstlerische Programme. So zwei namhafte Nachbarkaffeetempel am
Oktogon: das Abbazia und das Savoy. Ersteres engagierte das 3-Personen-Kabarett
„Die Optimisten”, die mich als ihren Hausautor beschäftigten, ihr Gegenüber wartete mit einer musikalischen Sensation auf: Der beliebte Jazzpianist Fejér György gab
allabendlich ein Konzert. Für Leser, die einerseits Jazzfans, andererseits älteren Jahrgangs sind: Es war derselbe Künstler, der nach 1956 in New York als George Feyer
zu Ruhm und Ehren kam. Das Café Savoy war abends restlos ausverkauft. Ich bat
einmal meinen Namensvetter, wenn‘s irgend geht, für mich an dem und dem Abend
einen Platz zu reservieren. Es ging nicht. Es war so bummvoll, daß man sich kaum
bewegen konnte. Er empfing mich mit der überraschenden Frage:
„Bist du bereit, neben mir zu sitzen?”
Obwohl ich nicht verstand, wie er das meinte, war ich zu allem bereit.
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Wieder in Budapest
Kaffeehaus Abbazia 1946
G.F. hatte einen zweiten Klavierstuhl herbeischaffen lassen, so einen kleinen
runden Drehstuhl, und stellte ihn neben sich ans Klavier. Ich durfte ihn aus unmittelbarer Nähe erleben, in Großaufnahme, wie man die auf den Tasten dahin gleitenden Finger eines Flügelzauberers im Film zeigt. Mein Blick konnte sein Spiel aus einigen Zentimetern Entfernung verfolgen, aber ich glaube, seine Finger waren flinker als
mein Blick.
Ich war so nah, fühlte mich so eingebunden in die Produktion, daß ich Lust
gehabt hätte, vierhändig mit ihm zu spielen. Allein, ich war zu bescheiden, um mich
aufzudrängen. Und ich konnte nicht Klavier spielen.
***
Kaffeehäuser und Konditoreien, die ihren Betrieb noch nicht eingestellt hatten,
mußten „Parasitenrazzien” über sich ergehen lassen. Es wurde nach unerwünschten
Elementen, nach Schädlingen gefahndet, nach Parasiten eben, die es sich leisten
konnten, in Kaffeehäusern herumzusitzen.
Das war der Moment, in dem ich vielen Künstlerkollegen gleich den unwiderstehlichen Drang fühlte, mich in ein unselbständiges Arbeitsverhältnis mit Monatslohn
zu flüchten, mit festem Wohnsitz in einem Büro. Ich wurde Filmdramaturg.
Nebenjobs wurden noch geduldet, so gab ich mich hin und wieder auch der
Tätigkeit des Conférenciers hin. Eine meiner langen Conférencen - diese war die
Hauptproduktion des Ansagers etwa in der Mitte des Programms - persiflierte den
Kaffeehausschwund und die an ihrer Stelle aus dem Boden schießenden Espressi.
Letztere wurden von dem Regime geduldet, da sie zur Aufnahme größerer Versammlungen nicht geeignet waren, infolge ihrer unbequemen Enge nicht zu längerem
Aufenthalt einluden und somit die Gefahr von Konspirationen nicht so groß war wie
im Kaffeehaus. Muß sich die Regierung wohl gedacht haben. Wozu wäre denn
sonst die Umstellung gut gewesen?
Eben diese Enge, die Unbequemlichkeit, die hektische Stimmung des Espresso
war der Inhalt meiner Conférence, in der ich einen Besuch meinerseits schilderte. Ich
erzählte, wie ich mit meiner Liebsten in trauter Zweisamkeit sein möchte, jedoch die
Kellnerin mir den Kaffee in den Schoß gießt, wo ein fremdes Mädchen sitzt, weil es
im Vorbeigehen an meinem Tischlein gestolpert und gefallen ist; wie ich statt mit meiner Liebsten mit dem Feuerwehrmann am Nebentisch Händchen halte undsoweiter.
Ich habe natürlich niemals mit einem Feuerwehrmann Händchen gehalten, so wie ich
auch zu Zeiten meiner Regenschirm-Conférence, wenn Sie sich daran noch erinnern,
gar nicht verheiratet war. Es war dichterische Freiheit. So weit durfte man diese ausnützen anno dictatur.
Beim Film
W
as New York hieß schon längst Hungária. Wenn sie die Umbenennung mir
zuliebe vorgenommen haben, dachte ich bei mir, wegen ihrer Schwesterinstitution in Szeged, dann hätten sie es beim alten Namen bewenden lassen können.
Obwohl ich nach wie vor gern hinging, hauptsächlich wegen der SchauspielerKarikaturen an den Wänden. Eine stellte meinen Vater dar. Doch eines unschönen
Tages verschwand sein listig-lustiges Porträt. Und nach ihm alle anderen bürgerlichen
Lieblinge.
Nach der Wende (zum Schlimmen) 1948 sperrte ein Kaffeehaus nach dem
anderen zu. Sie wurden reihenweise ent- oder verfremdet, kurzum für fremde Zwecke
mißbraucht. Das Café New York oder, wenn‘s beliebt, Hungária, öffnete sein Hinterteil (das Bild ist derb - aber so hat es auch ausgeschaut…) als Sport-Schuhgeschäft!
o war ich sitzen geblieben? Stehen geblieben kann es ja nicht heißen, denn
ich saß täglich neun Stunden an meinem neuen Arbeitsplatz, der MafilmDramaturgie, aus welcher dann das Magyar Szinkronfilmgyártó Vállalat (kurz und
verständlich Synchronfilmunternehmen) wurde, das sich später in Pannónia Filmstudió
umtaufte. Acht Stunden Arbeitszeit mußte ich absitzen, dazu kam eine halbe Stunde
Mittagspause als Belohnung, plus vor Arbeitsbeginn eine halbe Stunde Besprechung
des Parteiblattes als… nein, es war kein Muß, wo denken Sie hin, im Bolschesozialismus geschah alles auf freiwilliger Basis, wie uns eingehämmert wurde.
Mich störte schon allein der Begriff der Arbeitszeit. Und daß wir eine Norm zu
erfüllen hatten wie die Bergarbeiter oder die Maurer, machte mich geradezu verrückt.
Nicht, daß mich mein Beruf größenwahnsinnig gemacht hätte; ich bilde mir nicht ein,
daß Künstler, Schriftsteller und ähnliche Musenabhängige wertvoller oder größer sind
als all ihre Kollegen Gewöhnlich-Sterbliche. Sie sind nicht mehr, nur anders. Sie sind
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Gaststube des Baross
in den 20er Jahren
brauchen, und uns zu genehmigen, daß wir nur mit unserer Arbeit und nicht mit unserer Arbeitszeit verrechnen müssen.
Wenn ich auch an anderer Stelle die Behauptung aufgestellt habe, ich sei feige
- und dazu stehe ich! -, darf ich es mir in diesem Fall vielleicht zugute halten, daß ich
ganz schön frech, ja ein bißchen sowas wie mutig war. Dieses autoritäre Regime
sieht es nicht gern, wenn ein Genosse Untertan aus der Reihe tanzt. Sich gegen
Verordnungen auflehnen? Schön und gut, aber dann macht man es so, wie es jeder
Zweite tut: mit niedergeschlagenen Augen in den Bart gemurmelt. Ich aber habe eine
Rebellion „kanalisiert”, sie in den Bahnen eines Bittgangs ausgetragen. Mit offenem
Visier sozusagen. Eigentlich sehr undiplomatisch, nicht?
Im Gegenteil, es hat sich als diplomatisch erwiesen. Genosse Obrigkeit, der
Hauptabteilungsleiter, hat an der überraschenden Offenheit der Delegation Gefallen
gefunden und ist uns entgegengekommen. Die für jedes volksdemokratische Lebewesen gleichermaßen geltenden Normen konnte er selbstverständlich nicht abschaffen, dafür hätten wir vermutlich ganz bis zum Generalissimus Stalin in den Kreml vorstoßen müssen, aber er ermöglichte es uns, diese auch außerhalb des Büros zu erfüllen oder sogar außerhalb der Bürozeiten zu übererfüllen. An unserer Arbeitsstätte
wurde ein dickes Buch ausgelegt, in das wir einzuschreiben hatten, wenn wir am
nächsten Tag nicht zu erscheinen gedachten, wo wir zu finden sein würden. Wir
mußten immer erreichbar sein wie die Ärzte, obwohl wir nur Ingenieure der Seele
waren. (Die schöne Bezeichnung für Schriftsteller stammte aus der Sowjetunion.
Allein dieses Wortbild zeigt, daß unser Berufsstand auch dortzulande besonderen
Respekt genoß.) Arbeitsvorgänge, die nicht nur im Studio zu verrichten waren, wie
beispielsweise der Großteil der Synchrontexte, die man am Schneidetisch schrieb,
um dabei die Lippenbewegungen der fremdsprachigen Schauspieler beobachten zu
können, durften wir ab diesem Zeitpunkt nach eigenem Ermessen daheim oder wo
auch immer ausführen. Im Kontrollbuch gab es dann solche und ähnliche
Eintragungen:
„Heute, am 21. Juni, gehe ich um 14 Uhr nach Hause und bin ab 14.30 Uhr
in meiner Wohnung zu erreichen. Morgen vormittag arbeite ich im Café Soundso,
Adresse: … Telefon: … Mittagspause 13 bis 15 Uhr zu Hause. Um 15.15 Espresso
X, wo ich mich mit dem Sportreporter György Szepesi treffe, der mich als Konsulent
für meinen Kommentar zur Defa-Sportdokumentation berät. Adresse: … Tel.: …”
Es ist mir gelungen, die offizielle Anerkennung für das Kaffeehaus als Arbeitsplatz zu erkämpfen.
anders geschraubt. Haben eine Schraube mehr, und die sitzt locker. Doch darauf ausführlicher einzugehen wäre Themenverfehlung. Vielleicht ein andermal.
Worum es mir dabei ging, war folgendes: Sogar das System anerkannte, daß
unsere Tätigkeit gewissermaßen, wenigstens teilweise, ein ganz klein bißchen in den
künstlerischen Bereich gehörte. Meiner Meinung nach sollte man also uns, Texte verfassende und übertragende, Liedtexte dichtende und umdichtende Dramaturgen nicht
etwa mit Texte einstanzenden oder auf Zelluloid einkopierenden Labortechnikern
über einen Kamm scheren. Nicht, als ob die Mühen der Letzteren weniger wichtig
wären als die unseren, sondern weil es möglich ist vorzuschreiben, wieviel Zeilen sie
in welcher Zeit zu Filmuntertiteln verarbeiten sollen, es hingegen keineswegs bestimmbar ist, wieviel Worte ein Schreibkundiger in x Stunden y Minuten zu Papier bringt.
Das Publikum ist nur an dem Ergebnis interessiert; keiner fragt danach, ob der Dichter
für eine gewisse Zeile eine Minute oder drei Monate gebraucht hat. Und wie und
wo er es geschafft, bei Meisterwerken mit feinem Unterschied sogar geschaffen hat.
Nur das Ergebnis zählt.
Das war der springende Punkt. Ich hielt mit meinen Gedanken nicht hinter dem
Berg und steckte auch meine Mitarbeiter an. Nach einer geraumen Zeit, als ich mir
mit der Synchronisierung sowjetischer Lieder, mit Untertiteln zu italienischen Opernfilmen und ostdeutschen oder tschechischen Komödien schon einen kleinen Namen
gemacht hatte und mit Wohlwollen seitens der Obrigkeit rechnen konnte, erwirkte ich
beim für Filmangelegenheiten zuständigen Hauptabteilungsleiter im Kultusministerium
eine Audienz. Als Anführer einer dreiköpfigen Delegation trug ich ihm den Wunsch
der künstlerischen Belegschaft vor, uns nicht an Bürotische zu nageln, uns nicht als
Beamte zu betrachten, sondern als schöpferische Werktätige, die gewisse Freiräume
m Herbst 1956 unterschrieb ich einen Vertrag, der mich zum künstlerischen Leiter
eines neu zu gründenden Kabaretts machen sollte. Die vorgesehene Heimstätte der
Kleinkunstbühne: die Café-Konditorei Béke im Gebäude des gleichnamigen Hotels
auf der Ringstraße. Ich engagierte ein fünfköpfiges Ensemble. Pardon, einen Kopf
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Oktober 1956
I
weniger; der fünfte sollte ich selbst sein, in meiner Doppeleigenschaft als Autor und
Conférencier.
Das Programm war schon fertig geschrieben, der Titel stand fest: „Nincs rá
keret”. Dieser Satz bedarf nicht nur einer Übersetzung, sondern einer Erklärung. „Es
gibt dafür keinen Rahmen” hat zweierlei Bedeutungen in Ungarn. Einerseits steht
Rahmen auch im Ungarischen für Bilder-, Tür- und ähnliche Rahmen, andererseits hat
es mit dem Budget zu tun. Ist für irgend einen Posten kein Geld vorgesehen, heißt
es… siehe oben.
Die vorherrschende politische Situation trug seit Stalins Tod den Namen Tauwetter. Der ungarische Statthalter des Tyrannen, der allgemein verhaßte Rákosi, hatte
bereits seinen Ministerpräsidentensessel räumen müssen. Die Atmosphäre war aufgelockert; die Narrenfreiheit für Kabarettisten blühte - wir hatten also vor, ein mutiges, wenn nicht sogar wagemutiges Programm zu präsentieren.
(Ein Einschub für Leser, die einen Widerspruch zwischen meiner mehr als einmal betonten Feigheit und dem behaupteten Mut orten: Glauben Sie mir bitte, in
jenen schweren Zeiten konnten Leute, die in der Öffentlichkeit standen, abwechselnd
oder sogar zugleich verwegen und feige sein. Ein Beleg hierfür ist das Bonmot, welches Dezsô Kellér, der Conférencier Nr. 1. der Ära, im Freundeskreis von sich gab:
„Ich traue mich nachmittags im Kaffeehaus nicht mal unter vier Augen Dinge auszusprechen, die ich am Abend auf der Bühne vor Hunderten sage!”)
Mein Programm begann mit einer Szene, in der ich ein Rákosi-Bild von der
Wand nehme, weil: „Es gibt dafür keinen Rahmen!”
Jetzt, da ich den vorigen Satz niedergeschrieben habe und lese, scheint mir das
ganze gar nicht so ach wie mutig zu sein. Nun, damals war es das. Die Mörder
waren noch unter uns und wie es sich bald herausstellte, gierten sie noch immer nach
Macht…
Die erste Probe war für
den 23. Oktober nachmittag 3 Uhr anberaumt. Wir
saßen an diesem schönen
sonnenbeschienenen Altweibersommertag bei offenen
Türen und Fenstern in unserem zukünftigen Theater,
momentan noch Café-Konditorei, und nahmen die Texte
durch.
Von der Straße her
drangen Geräusche an unsere Ohren. Laute von Gesängen und Sprechchören
Demonstration in Budapest am 23. Oktober ‘56
füllten die Luft, dahinter der
sich steigernde Lärm einer wogenden Menge, die immer näher rückt. Um bei Heine
Anleihe zu nehmen: „Es braust darunter, wie ein Meer...”
Ich brach die Probe ab. Wir stellten uns in die Tür und schauten den endlos
scheinenden Reihen zu, wie sie an uns vorbeimarschierten. Wir hatten etwas läuten
gehört, daß heute eine Demonstration geplant sei, aber solch eine mächtige Bewegung, die ja nahezu die ganze Stadt mitgerissen haben muß, hätten wir uns nicht
mal in unseren kühnsten Träumen vorgestellt.
Es riß uns auch mit. Ich schloß mich mit meiner kleinen Truppe dem Zug an,
welcher des polnischen Generals Bem, der markanten Leitfigur des ungarischen
Freiheitskampfes vom 19. Jahrhundert, an seiner Statue gedenken wollte, jedoch kein
Halt mehr kannte, bevor er an einem neuen Markstein der magyarischen Geschichtsschreibung angelangt war.
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...und doch frische Luft
D
ie Überschrift des Kapitels über mein Wiener Kaffeehausleben ist nicht nur symbolisch gemeint. Im Frühling, der in Österreich ein Frühjahr ist, habe ich - bleiben wir Wienerisch - ein Platzerl entdeckt, das ich bis heute bevorzuge. Es ist kein
Kaffeehaus mit Garten, sondern eines im Garten. Das Café Volksgarten im Park selbigen Namens ist kein Terrassencafé, sondern eine große Fläche mit Tischen im
Freien plus ein Häuschen mit einem einzigen Innenraum.
Diese Terrasse kann man nicht, wie in Wien üblich, Schanigarten nennen, weil
sie echt ist. Die österreichische Variante leitet ja ihren Namen von einer Anekdote
ab, nach der ein Kaffeesieder einmal bei Schönwetter zu seinem Piccolo gesagt
haben soll: „Schani, trag den Garten hinaus!” (Dies vermerke ich nur der Ordnung
halber, um keine Information in Bezug auf unser Thema wissentlich auszulassen. Im
Übrigen bin ich aber ziemlich sicher, daß dieser angebliche Ursprung der Straßendependance Wiener Kaffeehäuser sich allmählich herumgesprochen hat.)
Am liebsten hielt ich mich am unteren Teil des Gartens auf, wo ein Bächlein die
Grenze dieses Terrassenabschnitts markierte. In den ersten Monaten und auch noch
Jahre lang wurde mein Tisch am Ufer des plätschernden Wassers der Ort meiner
geheimen Sommerfrische inmitten der Großstadt. Alle
Besucher aus meiner Heimatstadt führte ich zu meinem
Stammcafé am Minibach
aus. Manch nette Stunde
verbrachte ich da in
Gesellschaft von Schauspielerfreunden wie Rátonyi
Robi, Pécsi Sanyi, Horváth
Schanigarten
Tivi und viele andere.
Eines nachmittags saß ich mit einer jungen Schauspielerin am Bachrand unter
einem Baum und es begann zu regnen. Der Baum schützte uns vor der Nässe und
so blieben wir sitzen, während um uns rundherum alle flüchteten. Es war ausgesprochen romantisch. „Ein Schuft, der Arges dabei denkt.” Ich schleudere nicht dem Leser
eine Grobheit ins Gesicht, ich habe mir nur erlaubt, den Wahlspruch des englischen
Hosenbandordens aus dem merkwürdigerweise französischen Original ins Deutsche
zu übersetzen. Schließlich war ich verheiratet!... Wie bitte, hat da jemand „Na und”
gesagt? Das will ich nicht gehört haben.
In den Jahreszeiten ohne Sommerfrische war mein erstes Wiener Stammkaffeehaus ein Espresso. Das ist doch wohl legitim, auch das kleinere Format des Kaffeegenußheimes für vollwertig zu betrachten. Jawohl, es hat ebenso seine Daseinsberechtigung, vor allem, wenn es nicht aufgezwungen, sondern selbstgewählt ist. Das
Espresso Mariahilf suchten wir anfangs sozusagen allabendlich auf, Eva und ich, und
zwar aus mehreren Gründen. Erstens lag es in der Nähe unserer zu jener Zeit aktuellen Wohnung, einer von neun Untermieten. (Erst die zehnte Bleibe war unsere erste
Hauptmiete.) Zweitens stand in dem Raum eine Jukebox, die uns mit den neuesten
Schlagern bekannt machte. (Damals durfte man noch Schlager sagen zu den Hits,
ohne daß sie sich deshalb beleidigt fühlten.) Es kostete uns keinen Groschen, denn
die Gäste wetteiferten miteinander den ganzen Abend, Münzen einzuwerfen. Bald
summten wir die Melodien mit und kannten auch Teile der Texte, von Diana, vorgestellt von dem noch nie gehörten Elvis Presley, bis zu Harry Belafontes Banana Boat
Song. Dazu tranken wir Milchfrappés. Wir fühlten uns wie - im Westen.
Musik war nicht die einzige Sparte im Doppelsektor Bildung/Vergnügen, in
welcher ich Nachholbedarf hatte. Ein „Nachsitzen”, wenn es gestattet ist, diesen terminus technicus einmal im positiven Sinn zu benutzen, war auch in Sachen Film unerläßlich. Daß mein Vater am Tage meiner Geburt Karinthys Filmsketsch „Der Kinonarr”
drehte, färbte auch auf mich ab. Ich war seit meinen Anfängen der Kunst der zehnten Muse, dem Leinwandzauber, verfallen.
Schön und gut, aber was hat das mit unserem Thema, dem Kaffeehaus zu tun?
Hier die Lösung: zu Beginn meiner Emigrantenzeit entdeckte ich etwas Einmaliges,
Einzigartiges - eine Symbiose zwischen einem Kino und einem Kaffeehaus. Ein
Kaffeehauskino! Ein Kinokaffeehaus! Es nannte sich Rondell, verfügte über eine
Leinwand, sonst wären es ja keine Lichtspiele gewesen, doch anstelle der üblichen
Sitzreihen standen im Zuschauerraum kleine Tische, auf jedem ein Lämpchen und ein
Knopf. Wenn man auf den drückte, kam auf leisen Sohlen die Bedienung und man
konnte Kaffee oder auch alkoholische Getränke bestellen und dazu nach Lust und
Laune rauchen. Eine Anhäufung von Genüssen! Das Rondell war ein Nachspielkino
und brachte infolgedessen fast alle versäumten Filme des letzten Jahrzehnts in seinem
Programm. So oft es mir möglich war, saß ich in meinem Kinocafé. Bis eines Tages
eine einschneidende Programmänderung eintraf: Das Rondell Kino war zu einem
Pornokino verkommen. Danach habe ich es anderen Zuschauern überlassen, die
auch einiges nachzuholen hatten.
Sowohl dem Nachholen des
Alten als der Aufnahme des Neuen
war mir mein geliebtes Ambiente
dienlich.
Eine alte Vision der Menschen war Wirklichkeit geworden,
obwohl sie nach wie vor Vision
hieß. Die Television, das Fernsehen. Das Kino ist ins Zimmer gekommen. Hatte man noch keinen
Café Museum heute
eigenen Apparat, dann eben ins
Fernsehzimmer eines der geschäftstüchtigen Kaffeehäuser, die einen Sonderraum für
diesen neumodischen Genuß zu Kaffee und Kuchen eingerichtet hatten. Ich wohnte
abends im TV-Zimmer des Café Museum und glotzte gebannt auf den viel zu kleinen
Leinwandersatz, der sich für einen Schirm ausgab, aber nichts gegen den Regen auszurichten vermochte, der zuweilen das Bild bedeckte.
Es liegt auf der Hand, daß ich mich im Endeffekt der Faszination dieses Störenfriedes, welcher mich oft ärgert, meine Freizeit beschränkt und mich zu verdummen
droht, ebenso wenig entziehen konnte wie der Rest der Menschheit. Ich wurde
Konsument des Molochs, diente dem Götzen als Autor und schaute sogar manchmal
nicht ins, sondern aus dem Fernsehkästchen. Dennoch gehört mein Herz dem Kino.
Und dem Kaffeehaus. Wie schade, daß sie keine Einheit mehr bilden, wie in vorpornografischen Zeiten im Rondell.
m Kaffeehaus des Grand Hotel auf der Ringstraße, welches nach einem Zwischenspiel als Atombehörde heute wieder auferstanden ist, war an einem Vormittag
gegen Ende des Jahres 1957 eine seltsam zusammengewürfelte Gesellschaft anzutreffen. Zwei Weltberühmtheiten saßen unter einem Dutzend Ungarnflüchtlingen. Es
war ein Casting für den amerikanischen Film „The Journey”. Der anwesende
Hollywoodregisseur russischer Abstammung Anatol Litwak hatte den Drehbuchautor
George Tábori, ebenfalls zugegen, gebeten, Kleindarsteller für die Aufnahmen zu
requirieren. Aber nicht irgendwelche beliebige Personen - es mußten alles Ungarn
sein! Das Drehbuch basierte nämlich auf einer Novelle von Maupassant, in der eine
Kutsche durch das Paris der Revolution fährt und mit einem Aristokraten durchkommen
muß, um ihn außer Landes zu bringen. Die Grundidee wurde für das neue Filmprojekt
aktualisiert, die Handlung ins Ungarn des Jahres 1956 verlegt, aus der Kutsche ein
Bus, aus den Insassen eine internationale Gesellschaft gemacht, und der Aristokrat
hatte sich in einen verwundeten Freiheitskämpfer verwandelt. Die Hauptrollen waren
schon besetzt: Yul Brynner spielte einen russischen Major, Deborah Kerr eine englische Lady, in die er sich verliebt, Jason Robards jr. war der Freiheitsheld, Anouk
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Wieder beim Film
I
Aimée eine aufständische Ungarin, und die Busgesellschaft wurde von amerikanischen, englischen, französischen, japanischen und deutschen Stars verkörpert.
Alle eingeladenen Landsleute wurden von Tábori empfohlen und von Litwak
engagiert. Mein Vater wurde in einer bedeutungsvolleren Rolle eingesetzt; er hatte
mehrere Außenaufnahmen und das war höchst erfreulich, wurden doch die Gagen
pro Aufnahmetag gezählt und gezahlt - je mehr vor der Kamera, desto mehr Geld.
Als alter Aufständischer mußte er einmal den im Mittelpunkt stehenden, bzw. über die
Landstraße fahrenden Bus aufhalten, aber hauptsächlich in mehreren Szenen durch
die Landschaft schleichen und Yul Brynner auflauern, bis er den Sowjetmajor schlußendlich erschoß. Ich stellte einen Flughafenbeamten dar, der den ankommenden Bus
empfängt, später den Wartenden mitteilt, daß die Flüge eingestellt sind. Künstlerisch
habe ich den Meisterregisseur nicht enttäuscht, er wies mich nur als Tolpatsch
zurecht, als ich Deborah Kerr mit meiner Rechten beim Aussteigen behilflich war und
das Salutieren mit der linken Hand erledigte. Dabei wußte der Schlingel, daß auf
der Leinwand sowieso nicht viel von mir zu sehen sein würde. Mit dem Anrollen des
Busses und meiner Figur daneben fing nämlich der Film an. Ich gab den Hintergrund
zum Titelvorspann ab. Noch dazu ziemlich im Dunkeln, denn das Gefährt erreichte
den Flughafen in der Morgendämmerung.
Übrigens schauspielerten nicht alle Teilnehmer des Castings vom Café im
Grand Hotel. Ein Journalist bekam eine hochinteressante Rolle: Für die Dauer der
Aufnahmen wurde er als Butler für Mr. Brynner angestellt. Dieser Berufswechsel blieb
jedoch nur eine Episode in seinem Leben - bald war er der außenpolitische Ressortleiter einer angesehenen Tageszeitung, und das Jahrzehnte lang. Der Historiker Tibor
Simányi wiederum wurde als politischer Sachverständiger bestellt. Nur, fürchte ich,
hörte man nicht in allen Details auf ihn als Konsulenten. Daß die Aufständischen im
Film allesamt rotweiße Armbinden trugen, war gewiß nicht auf seinem Mist gewachsen. Aber Hollywood hat seine Spielregeln. Die Guten müssen gekennzeichnet sein,
um sie von den Bösen unterscheiden zu können.
eine Phobie gegen jegliches Angestelltenverhältnis blieb mir auch in Wien treu.
Den ersten Vertrag, den ich mit einem bescheidenen Monatslohn beim Kurier
erhielt, kündigte ich bald. Nicht um freier Schriftsteller zu werden, das traute ich mir
einstweilen nicht zu; vom kleinen Angestellten wurde ich Partner eines der erfolgreichsten Presseorgane des Landes. Eigentlich zu schön, um wahr zu sein, aber auch
zu wahr, um schön zu sein, denn ich war so ebenbürtig, daß ich auf diesem
Managerposten (um einen solchen handelte es sich) nicht nur Gewinne, sondern
auch Verluste mit dem Partner teilen mußte.
Nun wird es Zeit, daß ich verrate, worüber ich da überhaupt spreche. Es passierte einfach so: ein Flüchtling kam, ein Auswanderer ging. Einige Monate vor meiner Ankunft hatte ein ehemaliger Theaterdirektor dem Kurier das Angebot gemacht,
einen „Theaterring” ins Leben zu rufen, der es den Lesern ermöglicht, zu ermäßigten
Preisen ins Theater zu gehen. Er kaufte gewisse Theatervorstellungen oder übernahm
eine Anzahl Karten in Kommission, machte für den Termin Reklame im Blatt, bekam
dafür von den Theatern eine größere Ermäßigung, gab einen Teil ans Publikum weiter und teilte sich den Rest mit dem Kurier. Dieser Mann plante die Gründung einer
Textilfabrik in Südafrika und suchte einen Nachfolger. Nach einer Weile kam er
drauf, daß einige Redaktionsräume weiter ein junger Ungar sitzt, der in Sachen
Theater nicht ganz unbeleckt ist, und übergab mir sein Kind nach dem Aufbau zum
Ausbau.
Ins Café Savoy zum Häusserman-Stammtisch kam ich also schon als Theatermensch. Der dem Tisch Vorsitzende, Ernst Häusserman, Theaterdirektor, Professor,
Hofrat, mit allen Titeln geschmückt und mit allen Wassern gewaschen, war eine schillernde Persönlichkeit. Als Sohn eines Burgschauspielers machte ihn in seiner amerikanischen Emigration Max Reinhardt zu seinem Assistenten. Zurückgekehrt berief
man ihn an die Spitze des einstigen Reinhardt-Theaters in der Josefstadt. Daneben
werkte er als Konsulent in Dr. Polsterers Imperium. Der Genannte war der Eigentümer
des Kurier, sowie der Filmproduktions- und -vertriebsfirma Cosmopolfilm. So kamen
wir einander näher. Daß er nach der Josefstadt zehn Jahre lang Burgtheaterdirektor
war und vor seinem Tod nochmal an die Josefstadt zurückkehrte, gehört nicht mehr
zu unserer Geschichte.
Dem Wiener Häusserman hatte in den USA offenbar das Kaffeehaus gefehlt;
nun holte er es nach. Im Café Savoy in der Himmelpfortgasse fühlte ich mich alsbald
ebenso zu Hause wie früher bei seinem Namensvetter am Oktogon. E.H. hielt sich
vom frühen Nachmittag bis zum späten Abend im Kaffeehaus auf. Es war nicht nur
sein Heim, sondern sein Büro. Am Stammtisch neben seinem Stuhl stand ein Extratischlein mit einem Telefonapparat drauf. Der Stammtischpräsident hatte seine Bürostunden, in denen er unter dieser Nummer zu erreichen war. Selbstverständlich nur
für diejenigen, von denen er erreicht werden wollte. Aber es dürfte eine stattliche
Anzahl solcher Eingeweihter gewesen sein, denn das Telefon klingelte häufig. Und
der Besitzer des Anschlusses tätigte auch eine Reihe von Anrufen. Und machte
Notizen. Gab Instruktionen, fällte Entscheidungen, suchte und
fand Ideen. Versprach viel. Erfüllte
auch Versprechen
vom Vortag. Plante.
Führte aus. Er arbeitete. Er dirigierte von
seiner Kommandozentrale aus. Dem
Café Savoy.
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Der Theaterring
M
Zwei Kaffeehausbesuche aus meiner Managerzeit halte ich für erwähnenswert.
Die Geschäftsstelle des Theaterrings war im Kurier-Eck in der Kärntnerstraße
untergebracht. Mein Kassier, von meinem Vorgänger geerbt, war ein einfacher alter
Mann. Er verkaufte die Karten und machte die Abrechnungen. Ich war sehr zufrieden mit ihm. Aber was soll‘s? Eines Tages wurde er krank, er kam ins Krankenhaus
und starb. Ich mußte einen Nachfolger für ihn suchen.
Ich inserierte - erraten! - im Kurier. Als erster meldete sich eine forsche männliche Stimme am Telefon. Ich bestellte die dazu gehörige Person ins Café Servus in
der Mariahilferstraße, zwischen der Haydnkirche und dem Haydnkino. In der lockeren Atmosphäre eines Kaffeehauses würde ich den Kandidaten menschlich besser
kennenlernen, habe ich mir gedacht.
Er sah genauso aus wie seine Stimme sich anhörte. Hochgewachsene Statur,
energische Bewegungen, überbordendes Selbstbewußtsein. Auf meine Frage, was
er denn bisher so gemacht habe, sprudelten aus ihm seine Kriegserlebnisse heraus.
Um präzise zu sein, ein Kriegserlebnis. Er verkündete stolz, daß er zu Otto Skorzenys
Truppe gehörte und an Mussolinis Befreiung beteiligt gewesen sei.
Zum Abschied verwendete ich jene geflunkerte Redewendung, welche nach
Vorstellungsgesprächen alle Durchgefallenen zu hören bekommen: „Sie hören von
uns. Sie werden benachrichtigt.”
Ob er wohl bis heute noch immer auf die Antwort wartet? Und welcher Partei
er wohl heute angehört?
Nach einer erfolgreichen Anlaufzeit erweiterte ich den Theaterring. Mit dem
neugegründeten Zweig, dem Konzertring, mischte ich bei Ereignissen im Bereich der
leichten Muse mit. Es dauerte nicht lange, bis diese Einrichtung sich eigener Veranstaltungen rühmen konnte. So brachte ich Udo Jürgens im Großen Saal des
Wiener Konzerthauses zum ersten Mal „groß” heraus. Auch den Liedermacher
Reinhard Mey holte ich aus Deutschland ins Konzerthaus. Als Jazzfan war jedoch
meine Herzensangelegenheit Nr. 1, zum Zustandekommen von Gastspielen ein
wenig beizutragen, welche Weltgrößen in Österreich absolviert haben. Harry James
und sein Orchester, Louis Armstrong, Ella
Fitzgerald, Duke Ellington, Ray Charles,
Stan Kenton waren auf meinem Programm, und ich könnte die Reihe noch
beliebig fortsetzen.
Im Zuge dieser Tätigkeit kam ich
auch mit Norman Granz zusammen, dem
Impresario all dieser Stars, dem Agentenpapst, dem Mann, der dem Jazz nicht nur
in den Vereinigten Staaten einen gleichrangigen Platz neben der Klassik mit seiner Veranstaltungsreihe „Jazz at the Philharmonic” erobert hat. Ich traf ihn in der
Cafeteria des Vienna Intercontinental,
wo er abgestiegen war.
Der harte Kaufmann merkte
sofort, daß er es mit einem Greenhorn auf diesem Gebiet zu tun hat.
Unsere Verhandlung hatte den
Modus der Auszahlung zum Gegenstand. Gemäß den Richtlinien meines
Seniorpartners zahlte ich die vereinbarte Summe jeweils erst nach dem
Konzert aus. Granz wollte sie diesmal vorher haben, da er vor dem
Event abreisen mußte. Er sträubte sich
dagegen, die Übernahme einem
Künstler des Orchesters aufzutragen.
(Um ein solches handelte es sich nämlich. Ich bitte um Verständnis, daß ich den Klangkörper bzw. dessen Chef nicht
namentlich nenne.) Ich beging den Fehler, meine Gutmütigkeit ins Spiel zu bringen,
indem ich die Frage stellte:
„Vertauen Sie denn Ihren Musikern nicht?”
Er musterte mich mit einem unsäglichen Blick und erwiderte: „Of course not.
Natürlich nicht.” Dann fügte er hinzu: „What’s the matter with you? Was ist los mit
dir?”
Schließlich einigten wir uns, indem er mich eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben ließ, daß ich einer Person seines Vertrauens (?) obengenannte Summe
nach der Vorstellung auszahle, der Übernehmer mußte ebenfalls eine eidesstattliche
Erklärung abgeben, daß er das Entgelt übernommen haben wird, nachdem ich es
ihm überreicht haben werde; die eidesstattlichen Erklärungen mußten einen Notar
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Im Café Central in Wien
passieren und zum Schluß noch vom Bundespräsidenten gegengezeichnet werden.
Oder so ähnlich…
Noch einige Male fragte mich Norman Granz, was the matter mit mir sei, und
als ich mich noch dazu verstieg, unsinnigerweise seine Torte, die er verzehrt hatte,
zu bezahlen, obwohl er es natürlich auf seine Zimmerrechnung hätte setzen können,
nahm er achselzuckend an, doch anstatt höflich thank you zu sagen, fragte er kopfschüttelnd:
„What’s the matter with you, George?”
lle Wiener Kaffeehäuser aufzuzählen, in denen ich verkehrte, würde den
Rahmen dieses Büchleins sprengen. Anfangs, zu Zeiten unserer Invasion 1956, die
auch noch in das 57er
Jahr hinüber reichte,
bevorzugte ich selbstverständlich jene Lokale, welche uns Magyaren - einige nannten uns auch Hunnen - als Treffpunkte dienten. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, daß die
200.000 Flüchtlinge, welche durch Wien fegten, die Einnahmen der einschlägigen
Betriebe in bis dato unbekannte Höhen jagten. Der einzelne Beitrag war unscheinbar, der Preis eines kleinen Schwarzen war läppisch, doch wie man hierorts sagt:
„Es läppert sich zusammen”.
Das Rondo, das kleine Café in der Opernpassage, hatte ich schon vor der Revolution kennengelernt, vom 1. bis zum 3. Oktober ‘56, anläßlich einer Schiffsreise,
vom Ungarischen Schriftstellerverband organisiert. (Stichwort Tauwetter.)
Meine Kollegen, die das Rondo bevölkerten, sahen mich seinerzeit über eine
Rolltreppe von der Straße herunterhetzen und über eine andere wieder auf den Ring
hinaufrennen, und dies mehrere Male am Tag. Ich nutzte nämlich den Dreitageausflug dazu, Kontakte zu knüpfen. Als zweisprachiger Schriftsteller hoffte ich naiverweise, ich könnte als Übersetzer für einen Verlag, als Korrespondent einer Zeitung
oder in ähnlichen Tätigkeitsbereichen von Budapest aus für Wien arbeiten. Ja, wenn
das Wörtchen „Wenn“ nicht wär‘, meinten die Angesprochenen. Nämlich die
Kleinigkeit namens Eiserner Vorhang.
Einen Monat später konnte ich mit meinen Schicksalsgenossen als freier Mann
im Rondo herumsitzen, wenn es meine Zeit erlaubte. Aber ein Jünger dieser
Lebensform, in der das Kaffeehaus eine zentrale Rolle spielt, wird immer den täglichen Abstecher in seine heiligen Hallen einzuteilen wissen.
In dem turbulenten Zeitabschnitt im Herbst 56 und noch ein paar Monate
danach hatten die Kinos den Kultfilm „Scheidung auf Italienisch” noch nicht im
Repertoire, dafür aber die Kaffeehäuser den Renner „Stelldichein auf Ungarisch”
schon auf ihrem Programm. An den Aufführungsorten hörte man nur die schöne, exotische, zungenbrecherische und ohrenbetäubende Sprache des Volkes, welches auszog, das Fürchten zu verlernen. Obwohl das nicht viel aussagt, denn wo in einem
Raum - es kann auch ein Freiraum sein - zwei Ungarn zusammenkommen, hört man
nur noch Ungarisch. Die Haßliebesgeschichte um die Begegnung zweier oder mehrerer Ungarn miteinander im Café wurde bis heute nicht abgesetzt, aber der
Massenandrang hat sich verflüchtigt, nachdem der Großteil der Protagonisten weitergezogen ist, und mit ihnen die Geheimdienstleute, die sich unter die Flüchtlinge
gemischt hatten. Ich berichtige: die Ávó-Mannen, die ungarischen Stasi-Fachkräfte,
hatten sich zurückgezogen. Zurück nach Budapest.
Die Hochburgen der Emigrantenlehrlinge waren das Café Mészáros, einerseits
weil es so einen anheimelnden, aussprechbaren Namen hatte, andererseits am
Mittelpunkt der Erde, auf dem Stephansplatz kinderleicht zu finden war, sowie davon
unweit das Europa und das Europe. Diese Ähnlichkeit der beiden Namen führte
regelmäßig zu Mißverständnissen. Die auf der Kärntnerstraße Rendezvous habenden
landeten oftmals auf dem Graben und vice versa. Bei manchen Landsleuten dauerte
es eine verlängerte Schrecksekunde, bis sie bemerkten, daß eines der Etablissements
unseren Erdteil mit einem e am Ende schreibt, also Französisch, daher „Öropp“ ausgesprochen wird.
Im „Öropp“ hatte ich mein erstes und - Moment, ich muß auf Holz klopfen - Gott
sei dank bisher letztes Tete-à-tete mit einem Ávó-Bediensteten. Bevor ich noch ahnte,
daß ich ein waschechtes
Scheusal vor mir sehe, hatte
er mich in den Büroräumen
der Ungarnhilfe für Bühnenkünstler aufgesucht. Diese
Organisation war von
Dr. Polsterer gegründet worden und er hatte mich als
deren Leiter bestellt. Es war
eine Anlaufstelle für frisch geflüchtete Theaterleute, darunter auch Prominente. Verständlicherweise eine interessante Stelle für einen
Agenten, nach Informationen und Daten zu schnüffeln.
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Treffpunkte
A
Und so ist es eigentlich auch logisch, daß der ältliche, schlecht aussehende, abgerissene Ungar sich mir zur Tarnung als - Agent vorstellte. Als Theater- und Filmagent, der
eine große Wohltätigkeitsveranstaltung mit meinen Schäfchen plant. Um dieses Vorhaben in die Tat umsetzen zu können, bat er mich um ein Gespräch, welches dann
im Europe stattfand.
Ich bin ihm hereingefallen. Erst im Café ging mir ein Licht auf, daß er es allein
auf Adressen und Telefonnummern abgesehen hatte. Nach zwei, drei leichtsinnig
bekannt gegebenen Anschriften oder Nummern machte ich den Laden zu. Ich
behauptete, selber keine weiteren Daten zu haben. Und keine Zeit mehr für ihn.
Es erwies sich als überflüssig, meinen Mitarbeitern den Ukas ausgegeben zu
haben, daß diese Gestalt nicht mehr empfangen werden dürfe; er zeigte sich nie
mehr. Bei einigen ehemaligen Stars meldete er sich jedoch, um sie nach Ungarn zu
locken. Er sicherte ihnen sogar Straffreiheit zu. Woher hatte er wohl die Berechtigung
dazu?
***
D
em anderen Europa blieb ich eher treu. In dieser Kärntnerstraßenlokalität traf ich
mich mit einem Schauspielerfürsten und der Bühnenkünstlerin Nr. 1 ihrer Generation. Anläßlich ihres Wiener Gastspiels bat ich Iván Darvas und Éva Ruttkai zu
einer Jause. Er ist bekanntlich ein Sprachgenie, sie sprach kein Sterbenswörtchen
Deutsch. Sie hatte ihre Mutter mitgebracht, die aus Wien stammte und Ungarisch mit
einem liebenswerten Akzent radebrechte.
Zur Zeit meiner Neugeburt in Wien gab es noch das legendenumwobene
Herrenhof, seitdem zu einem Espresso verkümmert. Ich bin noch drin gesessen, in diesem literarischen Kaffeehaus, als es noch seine Originalgröße hatte. Natürlich nur
äußerlich; die berühmten Gäste der 30er Jahre lebten nicht mehr. Die anderen beiden unheiligen Hallen
der österreichischen
Literatur des 20. Jahrhunderts hatten längst
aufgehört zu existieren, sie wurden erst
später wieder aufgebaut. Das Griensteidl
an einer anderen Stelle, das Central am
Originalschauplatz.
Das Café mit dem
lustigen jüdischen Namen gehört zu jenen
Das Griensteidl um 1900
Häusern, welche ich
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favorisiere, in dem anderen, welches seinen Ruf dem Budapester Namensvetter
gleich durch die Beherbergung der Dichter erwarb, wurde ich nach vielen Interviews,
die ich in verschiedenen Kaffeehäusern mit Künstlern machte, selbst interviewt. Und
das gleich zweimal. Einmal für die Wiener Zeitung (zugleich Amtsblatt), einmal für
die Salzburger Nachrichten, das prominenteste österreichische Tageblatt außerhalb
Wiens. Beide Male von dem hungarophilen Publizisten Gunther Martin. Aus dem
einen Gespräch wurde sozusagen ein Exklusivinterview, das andere war ein Beitrag
zu einer Reportage über ungarische Humoristen und Satiriker. Die Überschrift lautete: „Ihr seid das Paprika der Erde!”
Das Elsahof in der Neubaugasse ist längst verschwunden, an seiner Stelle steht
heute ein gewöhnliches Geschäft. Das Adjektiv ist nicht abwertend gemeint, es soll
nur ausdrücken, daß das Kaffeehaus für mich etwas außergewöhnliches darstellt,
einen höheren Rang einnimmt. Im Elsahof verkehrte ich aus aktuellen Anlässen als
Drehbuchautor, da dieses Lokal die Heimat der Filmleute war.
Das exquisite Kaffeehaus im Hotel Imperial besuchte ich eine lange Zeit hindurch nicht nur aus Snobismus. Auch deshalb, hatte doch Königin Elisabeth von
England nach ihrem Staatsbesuch in der ehemaligen Kaiserstadt vermerkt, es sei das
schönste Kaffeehaus der Welt. Aber hauptsächlich aus Freundschaft. Es war das
Stammcafé eines guten Freundes von mir, den ich regelmäßig zu einem Kaffeeplausch traf. Der dürfte ein Snob gewesen sein.
***
I
n meiner Eigenschaft als Journalist nahm ich oft an Pressekonferenzen im Café
Landtmann teil. Privat setzte ich mich anfangs gern auf die Terrasse, mit Sicht auf
das Burgtheater. Bis ich draufkam, daß diese an einen Parkplatz angelegt ist. Das
heißt, es war eher umgekehrt: die Autos hatten sich, nein, nicht mit der, sondern an
die Terrasse angelegt, vielleicht, um das Burgtheater besser zu sehen. Wie dem
auch sei, Jahrzehnte lang mied ich Kaffeehausterrassen wegen des Straßenverkehrs
und der Autoabgase. Heute gilt allerdings dieses Selbstverbot nicht mehr. Eines
Tages habe ich verstanden, daß wir Großstädter nun einmal in einer verpesteten Luft
leben, und damit müssen wir leben. Wir Kaffeehausfanatiker sollen übrigens den
Mund halten, mit unserer Vorliebe für die von Zigarrenrauch durchtränkte miese
Kaffeehausluft.
Gegen eine kleinere Terrasse hatte ich nichts. Wenn ich nun die ErzherzogRainer-Diele erwähne, weine ich der Zeit nach, als die alten, großen, Schatten spendenden Lindenbäume die ganze Wiedner Hauptstraße bevölkerten. Seitdem sind
Teile der Gegend baumfrei, andere weisen junge Bäumchen auf. Auf dieser Terrasse
interviewte ich einmal den ungarischen Operettenkomponisten Mihály Eiseman, dessen Liedertexte seines erfolgreichen musikalischen Lustspiels „Ein Kuß und sonst gar
nichts” ich ins Deutsche übersetzte. Das Interview erschien im Kurier mit dem
Berlinerisch anmutenden Titel: „Gespräch mit einem Komponisten unter den Linden”.
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Erich Kästner
D
Theo Lingen
I
as Hotel, welches zwar nicht äußerlich, aber seinen weltweiten Ruhm betreffend
mit Alt-Wiener Patina behaftet ist, das Sacher nämlich, kann als Geheimtipp gelten unter Liebhabern der braunen Bohnen. Es hat ein Kaffeehaus mit einem größeren
Teil rechts, mit einigen wenigen Tischen links vom Eingang, daneben ein espressoartiges Sacher Stüberl und als drittes einen Roten Salon, welcher der Gattung Café
Bar zuzuordnen ist. Dieser Saal gehört für mich zu einem der unvergeßlichsten
Kapitel meines Curriculum vitae. Dorthin lud mich mein Idol Erich Kästner stets ein,
wenn er in Wien war.
Im Roten Salon des Hotel Sacher
fragte ich den einzigartigen Dichter,
den überragenden Jugendautor, den
sympathischsten Romancier, den Moralisten, als den er sich einschätzte,
den geistreichen Publizisten, einen der
seltenen bedeutenden deutschen Humoristen - der in einem Epigramm behauptete, die Deutschen hätten keinen
Humor -, woran er gerade arbeite.
Meistens wich er mit einer Kurzantwort
aus und wollte eher von mir wissen,
was ich schreibe, wie ich und meine
Landsleute im Westen behandelt werden, was meine Meinung über die
Erich Kästner
Lage in meiner Heimat wäre...
Mit dem Politisieren hörten wir alsbald auf, es ergab keinen Gesprächsstoff,
waren wir doch auf derselben Seite. Höchstens in einem Punkt teilte ich seine
Meinung nicht: Ich war überzeugt davon, daß die Frage des Nationalsozialismus
abgehakt sei, während er unablässig vor der rechtsextremen Gefahr warnte. Erst als
es mein großes Vorbild nicht mehr gab, lehrte mich das aktuelle Zeitgeschehen in
eskalierendem Ausmaß, wie recht er hatte...
Als P.S. gehört noch ein Abenteuer zu meiner Erich-Kästner-Story. Einmal, ziemlich am Anfang unserer Bekanntschaft, unterdrückte mein magyarisches Gastfreundschaftsgen alle anderen Bausteine in mir, und ich bat meinen überlebensgroßen
Kaffeehauspartner, für diesen Nachmittag die Rollen zu tauschen. Mutmaßlich aus
Höflichkeit und um mein Selbstwertgefühl zu stärken, nahm Kästner meine Einladung
an. Sein doppelter Whisky kostete rund zehnmal soviel wie mein Kleiner Brauner; es
gelang mir, die Summe gerade auf den Groschen genau zusammenzukratzen. Dies
war die Gelegenheit, die gute alte österreichisch-ungarische Gewohnheit, über die
eigenen Verhältnisse zu leben, abzulegen. Ob ich es wohl tat? Nicht daß ich
wüßte...
m größeren Teil des Café Sacher - Sie wissen, wenn man eintritt, rechts vom
Eingang - habe ich eine längere Zeit hindurch wöchentlich einmal mit Theo Lingen
gefrühstückt. Ich kannte den herrlichen Komiker schon aus Budapest persönlich; bei
den Filmaufnahmen für die „Frühlingsparade” wurde ich ihm vorgestellt. Er spielte
eine der komischen Hauptrollen, ich lief als Schusterbub tänzelnd vor der marschierenden Militärkapelle, in der der Vater von Romy Schneider, Wolf Albach-Retty, als
er noch längst nicht der Vater von Romy Schneider war, die Pauke schlug. In Wien
heimisch geworden, entdeckte ich, daß Theo Lingen ein durchaus ernst zu nehmender Bühnenkünstler war und stattete ihm nach dem einen oder anderen Auftritt
Garderobenbesuche im Theater in der Josefstadt und im Akademietheater ab. Näher
kamen wir einander 1964, als ich von ihm für mein Witzblatt Joker Humoresken
erbat und auch brachte. (Die Monatszeitschrift lebte ein halbes Jahr lang - die
Wiener sind im Gegensatz zu den Budapestern kein witzblattfreudiges Völkchen.)
Eines Morgens begegneten wir uns hinter der Oper. Ich weiß beim besten
Willen nicht mehr, was ich an jenem Ausnahmetag um diese Tageszeit auf der
Straße zu suchen hatte, anstatt mich im Bett auf die andere Seite zu drehen, bin ich
doch ein unverbesserlicher Spätaufsteher. Lingen schlug mir vor, mit ihm im Café
Sacher zu frühstücken. Ich nahm die Einladung dankend an, und daraus entwickelte
sich das Ritual unseres gemeinsamen Frühstücks wöchentlich einmal beim Sacher.
Diese Zusammenkünfte dauerten so lange, bis unser Gespräch einmal auf das Thema
Lebensrhythmus und Schlafgewohnheiten kam und ich ihm verriet, daß ich ein
Nachtmensch sei. Da strich er unser Stück „Frühstück um acht” vom Programm. Nicht
gekränkt, sondern aus Toleranz. Danach empfing er mich, ebenfalls in Wochenabständen, in seiner Wohnung.
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Eine ältere Dame, seine Gattin, öffnete mir die Tür und zog sich jedesmal diskret in ihr Zimmer zurück, wo sie Patiencen legte. Der Hausherr las mir aus seinem
letzten oder auch aus dem geplanten nächsten Buch vor - er war ein Autor des
Verlagshauses Piper. Einmal borgte er mir eine Plattenaufnahme, auf der Bert Brecht
vor der McCarthy-Kommission zu hören war. Nach jenem Verhör war B.B. aus den
USA geflohen. Ich verheimlichte nicht, daß ich diesen Dichter nicht besonders mag,
er verursacht mir Brechtreiz. Erstens, weil er seine außergewöhnliche Begabung dazu
nutzte, kommunistische Ideologie zu verbreiten. Zweitens, weil er ein Wasserprediger und Weintrinker war. Warum ist er nicht in die Sowjetunion emigriert, sondern nach Finnland? Daraufhin eröffnete mir mein Gastgeber, daß er am Ende des
Krieges Brecht bei sich versteckt habe. Daß seine Frau, die Patiencelegerin, Bert
Brechts erste, geschiedene Frau war, erfuhr ich von anderen, später.
Dennoch wurde unsere Beziehung immer freundschaftlicher. Als ich einmal
krank wurde, empfahl er mir seinen Arzt und besuchte mich auch im Krankenhaus.
Er setzte sich an mein Bett, zündete sich eine Zigarette an und plauderte drauf los.
Als die Oberschwester ins Krankenzimmer kam und ihn mit allem Respekt darauf aufmerksam machte, daß im Krankenzimmer Rauchverbot herrsche, bedankte er sich
ebenfalls mit allem Respekt, und rauchte ungeniert weiter, wie im Kaffeehaus...
***
I
zweifelsfrei begabt und immer linientreu. Auch in Wien, das er als Tourist besuchte.
Er betonte gleich eingangs, daß der Chefportier ein Verwandter von ihm sei, anders
könnte er es sich nicht leisten, im Sacher zu wohnen. Er sprach anerkennend von den
Wiener Sehenswürdigkeiten, aber... Es fiel ihm ein gewisser Wohlstand auf, aber...
Er lobte die Wiener Luft, verstand jedoch darunter ausschließlich das Gasgemisch
um uns, nicht die Atmosphäre. Er fand immer ein Haar in der Suppe, während drüben in Ungarn, wo wieder Ruhe eingekehrt ist, nicht wahr...
Ich hörte ihm schweigend zu, von Zeit zu Zeit nickte ich sogar höflich. Dabei
war mir danach zumute, ihm ins Gesicht zu schleudern, er müsse nicht mehr spielen,
ich kaufe ihm sein Gehabe nicht ab, ich habe auch daheim seinen zur Schau gestellten Glauben an die einzig heilbringende Lehre stark bezweifelt und ihn für einen
gehalten, der selbst im Stehen, Sitzen oder Liegen ständig mitläuft. Man hat eine
Nase dafür, ob einer aus Idealismus oder Dummheit tatsächlich ein Jünger des
Systems ist oder, wie das nicht ins Gewicht fallende 90 Prozent der Leute tun, nur so
tut als ob. Doch außer meiner Nase hatte ich keinen Beweis und man kann nie wissen. Also war ich auf der Hut.
Er war schon dabei, die Zustände im nachrevolutionären Land in den prächtigsten Farben auszumalen und stellte mir unversehens die Suggestivfrage:
„Du bist doch nicht vor dem Kommunismus geflüchtet!?”
Ich antwortete erschrocken, opportunistisch, automatisch, wie aus der Pistole
geschissen (kein Druckfehler!):
„Selbstverständlich nicht!”
Nach diesem Abend zermarterte ich mir in vielen schlaflosen Nächten mein
Hirn, wovor ich denn um Himmels willen geflüchtet sein könnte.
m Zusammenhang mit dem alterwürdigen Haus ließen sich gewiß noch Episoden
erzählen, wie zum Beispiel eine Besprechung mit einem Filmgewaltigen im Kleinen
Sacher, also im Stüberl, wo ich etwas verspätet eintraf und vermutlich mit den letzten
Schritten wenigstens einige Sekunden aufholen wollte, so daß ich mit voller Wucht
gegen die Glastür gerannt bin. Soviel von der Beule auf meiner Nase, die ich seither
mit mir herumtrage. Oder mein Treffen im großen Café mit Gábor von Vaszary, der
auf die Filmleute schimpfte, weil sie seine Bücher beim Verfilmen verfälschen.
Aber ich berichte von meinem Rendezvous mit einem
Kollegen, den höchstens ungarische Leser
kannten, unter denen
auch eher die älteren.
T.L. war einer der drei
bekanntesten „sozialistischen” Humoristen,
außerdem war er Bühnenautor, WitzblattChefredakteur und
Conférencier. Er war
icht nur im Volksgarten gab es frische Luft im Kaffeehaus. Anläßlich eines Interviews, dessen Objekt Leon Askin war, der österreichische Schauspieler mit
Hollywood-Karriere - damals befand er sich auf Kurzbesuch in seiner Heimat, bevor
er endgültig zurückkehrte; wenn ich diese Zeilen schreibe, steht er im zehnten
Jahrzehnt seines Lebens -, entdeckte ich einen Innenraum der Gattung Café Bar, in
dessen Mitte ein Baum stand. Askin logierte im traditionsreichen Hotel aus der
Monarchie mit dem (wenigstens für mich) einnehmenden Namen König von Ungarn.
Wir führten unser Gespräch in der Bar, die in den Vormittagsstunden keine anderen
Gäste hatte; wir waren unter uns: der Filmstar, ich und der Baum. Er reichte bis ans
Glasdach, dessen Klappen nach Belieben zu öffnen oder zu sperren waren. Diesmal
standen sie offen und so war ich, ätsch Alfred Polgár, doch an der frischen Luft!
Da ist also in einem Kaffeehaus die Natur eingebrochen. Und genau dort ist
meine Natur ausgebrochen. Ist dies zu sehr verschlüsselt, oder verständlich, daß ich
von Liebe spreche? Ich bat die Schöne, für die ich entflammt war, zu unserem ersten
Rendezvous in die romantische Café Bar des Königs von Ungarn.
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In der Mitte ein Baum
N
Brigitte war eine junge geschiedene Frau, ich ein um 21 Jahre älterer Witwer,
aber zu meinem Glück hatte sie einen schlechten Geschmack. Oder vielleicht paßte
ich einfach in ihr Schema. In mir ist nämlich später der Verdacht gereift, sie muß ein
Gelübde abgelegt haben, wonach sie nur Ungarn heiratet, die seit 1956 in Österreich leben und mit dem Vornamen Georg bzw. György heißen, Kosename Gyuri.
Im Jahre 1987 heiratete ich Brigitte. Sie hörten eine Romanze, die mit dem König
von Ungarn anfängt und mit Georg dem Zweiten aufhört.
G e o r g K ö v a r y m i t G a t t i n B r i g i t t e i n d e r R e d a k t i o n d e s P E S T E R LLOYD
Arabia Eck, Siller, Schönburg usw. Nicht alle verwandelten sich in Banken; das
Opern Café bei der Staatsoper in der Operngasse vor der Opernpassage (das
war’s schon, es wird nicht mehr weiter geopert) wurde zu einem Autohaus umgestaltet. Die größte Sünde gegen uns Liebhaber dieses Genres war der Mord der
renommierten Casa Piccola in der Mariahilferstraße. Dieser Umbau machte den traurigen Anfang. Es bleibt mir unvergeßlich, wie ich aus dem Caféfenster eine herrliche
Stiege entlang hinunterschauen konnte. Es erinnerte mich entfernt, in einer beschei-
Café Siller
uch in Österreich kam es zur Kaffeehauskrise, nur hatte die keine politischen, sondern wirtschaftliche Ursachen. Um die Mitte der sechziger Jahre war der Wohlstand so weit gediehen, daß die Lebensgewohnheiten sich drastisch veränderten.
Von Meinesgleichen, unregelmäßig hereinschneienden Bohèmiens, konnten die
Kaffeehäuser nicht leben. Ihr Publikum rekrutierte sich eher aus den kleinen Leuten,
den ärmeren Schichten, die sozusagen den ganzen Tag im Café hausten, die
Zeitungen auslasen und vom preiswerten Mittagstisch Gebrauch machten. Inzwischen waren sie in hellen Scharen vom Zeitunglesen aufs TV-Glotzen vor dem
eigenen Apparat umgestiegen, von Kaffeehausbesuchern zu Stubenhockern geworden. Und die Ehefrauen sind in Gegenrichtung der Emanzipation zum Herd zurückgekehrt und haben die Herren der Schöpfung bekocht. Aber man konnte sich auch
hie und da ein teureres Restaurant leisten. Wie und weshalb auch immer, das
Verschwinden von Kaffeehäusern, das Eröffnen von neuen Bankfilialen an ihrer Stelle
war nicht zu übersehen. Momentan fallen mir folgende Tempel des köstlichen
Gebräus ein, von denen ich Abschied nehmen mußte: Promenaden, Schottentor,
***
deneren Variante an die Spanische Treppe in Rom. (Dies ist gar nicht so abwegig Wien ist schließlich auch auf Hügel gebaut!) Heute residiert in der Casa Piccola ein
Schuhgeschäft. Eines mit schöner Aussicht.
Doch die allgemeine Regel besagte: wo Kaffeehäuser standen, haben Bankfilialen hinzukommen, an die Stelle von Kinos gehören Supermärkte. Ja, mein zweites Lieblingsspielzeug, das Filmtheater, machte zur gleichen Zeit eine Wandlung mit.
Das Fernsehen hatte gesiegt, die Nachspielkinos an der Ecke sind überflüssig geworden. Sie erholten sich allerdings schneller als die Kaffeehäuser. Superhypermegamoderne Kinos mit vielen Sälen entstanden. Heute heißen die meisten Multiplex; die
Zuschauer halten sie bereits für selbstverständlich und sind gar nicht mehr perplex.
Was die Kaffeehäuser betrifft, kamen sie ja gottlob wieder, noch bevor sich bei
mir Entzugserscheinungen eingestellt hätten. Wieso und warum, traue ich mich nicht
zu analysieren. Wurden die Menschen so schnell fernsehüberdrüssig? Wurden sie
wieder zu Zeitungslesern? Sind sie abermals verarmt? Das letzte keinesfalls, das
begann erst später und dauert an, bis in unsere Tage, in denen nach der Benennung
des Publizisten DDr. Günther Nenning der Brutalokapitalismus herrscht.
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A
er Kaffeehausmann ist in der Regel kein Hausmann. Diese Wahrheit schwante
meiner frisch angetrauten Gattin Brigitte gleich anfangs, doch die Auswirkungen
ihrer Konsequenz mußte sie erst erfahren, als sie sich anschickte, meine - nunmehr
unsere - Wohnung zu renovieren, umzubauen, neu einzurichten. Ich war völlig einverstanden damit, ich war ihr sogar ausgesprochen dankbar dafür, aber ich teilte ihr
mit, daß sie während der Restaurierungsarbeiten nicht mit meiner Anwesenheit rechnen könne. Ich würde vor den Installateuren, Elektrikern, Anstreichern, Fliesenlegern
etc. die Flucht ergreifen, selbstverständlich nebst Hinterlegung meiner Kaffeehausadresse und Telefonnummer. Mein Weib brachte zuerst meinem Plan Verständnis entgegen, allerdings nur zuerst und nur dem Plan. Als mein Wort dann unerbittlich in
die Tat umgesetzt wurde, nahm sie es mir übel. Und sie wird es mir bis zu meinem
letzten Atemzug vorwerfen. Aber der Gegenstand dieser Abhandlung ist ja nicht die
weibliche Logik.
Ich nahm das mir bekannte größte Opfer auf mich und stand eine Zeit lang in
aller Herrgotts Früh auf, nahm meine mit den wichtigsten Schätzen wie Büchern,
Arbeitsutensilien und Finanziellem vollgestopfte große Aktentasche zu mir, verließ das
Haus und kehrte erst in den Abendstunden heim. Den Tag verbrachte ich im Café
oder auch in zwei meiner Stammhäuser, unterbrochen von einer Nachmittagsvorstellung in einem Kino.
An einem dieser ersten
Chaostage wählte ich das Café
Kammerspiele gegenüber dem
gleichnamigen Theater zu meinem Refugium. Das Programm
klappte wie am Schnürchen; ich
las, ich arbeitete, ich aß zu
Mittag, danach schrieb ich noch
eine Weile weiter, alles mit
äußerster Präzision und Disziplin.
Das Wort Chaos bezog ich ja
nur auf daheim, wo alles Kopf
stand. Ich hingegen hatte erreicht, daß ich meine Aufgaben in Ruhe, ungestört ausführen konnte. Stets die Aktentasche vor Augen, auf dem Tisch vor mir oder neben mir auf der Sitzbank. Ich nahm
sie sogar auf das stille Örtchen mit, welches ich aufsuchte, bevor ich das Kaffeehaus
verließ, um mir in einem der neumodischen Kinos mit mehreren Sälen, am Fleischmarkt
um die Ecke, die 4-Uhr-Vorstellung anzusehen.
Kaum hatte ich im Saal 3 Platz genommen - die Werbung lief noch -, da fühlte ich plötzlich einen Stich. Oder einen Schlag. Der Schreck war mir in die Glieder
gefahren. Das Entsetzen hatte mich gepackt. Die Aktentasche!!!
Nun muß ich wohl endlich verraten, welcher Natur
die Schätze waren, die ich
hineingestopft hatte. Was ich
unter „Finanziellem” verstand.
Drüben, in Ungarn, herrschte
noch der Sozialismus bzw.
das, was die Kommunisten
darunter verstanden. Das Regime hatte sich bereits den
Namen der lustigsten Baracke
im Lager erkämpft und ihn
auch verdient, aber die Barackenbewohner hatten noch
etwa zehn Jahre abzusitzen,
und Lager bleibt Lager, Baracke bleibt Baracke. Die Gestraften trauten dem System
nicht. Und so kam es, daß drei
meiner Freunde mich unabhängig voneinander baten,
ihre Sparbücher, die sie in
Wien anläßlich ihrer Touristen- Köváry liest im Budapester Café Vista aus dem Manuskript
reisen angelegt hatten, für sie seiner Kaffeehaus-Geschichten
aufzubewahren. Vertrauensvoll gaben sie mir die Losungsworte ihrer Bücher an. Die
drei Bücher wurden von drei verschiedenen Bankinstituten ausgegeben. Die Codes
bewahrte ich schriftlich auf, die Banken wußte ich, aber die Bücher selbst waren...
Nein, sie durften nicht futsch sein! Ich rannte zurück ins Kaffeehaus, schnurstracks zur Toilette - sie war frei und leer. Kein Mensch, keine Aktentasche weit und
breit. Gespräche mit dem gesamten Bedienungspersonal erbrachten auch nichts.
Niemand hatte etwas gesehen, gehört, geargwöhnt, nichts wurde abgegeben. Einer
scheint nach mir ausgetreten zu sein, um sich zu erleichtern, und hat sich beladen.
Mit Schuld. Zwischen dem Deponieren der Aktentasche am falschen Örtchen und
der Gewißheit, bestohlen worden zu sein, waren fünf bis zehn Minuten vergangen.
Am nächsten Tag habe ich freilich alle drei Sparbücher sperren lassen, so daß
der Dieb keinen Nutzen aus dem Unterfangen ziehen konnte. Außer vielleicht dem
Spaß und dem Erfolgserlebnis, daß es ihm gelungen ist, einem Idioten einen Streich
zu spielen.
Banken haben strenge Gesetzmäßigkeiten und Vorschriften, an meinem Fallbeispiel zeigte es sich jedoch, daß auch das Menschliche einen kleinen Spielraum hat.
Die drei Bankdirektoren, die ich ab dem nächsten Tag „abgegrast” habe, reagierten unterschiedlich. Der erste tauschte auf mein Wort das seinem Institut gehörende
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Das Refugium
D
Buch aus; es enthielt genau die Summe des verloren gegangenen Buches. Durch
meine Mitteilung des Losungswortes konnte er ja die Nummer des Sparbuches und
die Höhe der Spareinlage feststellen. Nr. 2. machte bürokratisch Schwierigkeiten
und setzte eine Frist fest, nach der überhaupt die Sache irgendwie zu bereinigen sein
würde. Sie wurde, aber es dauerte. Der Letzte ließ nicht mit sich reden - kein Buch,
kein Geld, aus, basta.
Bei unseren nächsten Begegnungen händigte ich meinen Freunden das Geld,
welches ihnen gebührte - es waren immerhin einige -zigtausend Schilling -, aus. Ich
mußte nicht nur die Summe des einen nicht anerkannten Buches aus eigenem ersetzen, sondern hielt es für meine Pflicht, ihnen die Zinsen zu verrechnen, die in der
inzwischen vergangenen Zeit für sie angelaufen wären.
War es die Strafe dafür, daß ich die Sorgen und Strapazen, die mit der
Aufsicht einer Wohnungsrenovierung einher gehen, nicht mit meiner Frau geteilt
habe? Wie dem auch sei, es wurde eine teure Instandsetzung.
Maxi Böhm
D
as Café Eiles dürfte auch dem ungarischen Publikum bekannt sein, wenn es sich
dessen auch nicht bewußt ist. István Szabó drehte dort einige Szenen seines
Hanussen-Films mit Brandauer. Károly Eperjes war auch dabei. Und ich mit meiner
Brigitte als Zuschauer.
Café Eiles um 1900
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Doch darüber wollte ich gar nicht berichten. Das dient nur als Einleitung zum
Kaffeehaus Eiles in der Wiener Josefstadt, welches ich zeitweise gern besuchte.
Unter anderem in Gesellschaft von Maxi Böhm, dem großartigen Komiker.
Das Beisammensein mit diesem Künstler allerersten Ranges verlief immer heiter
bis überschäumend lustig. Die Pointen sprudelten nur so heraus aus ihm; wenn er eine
Pause einlegte, füllte er diese mit Witzeerzählen. Niemals alte, bekannte - woher er
diese stets neuen Späße nahm? Waren sie am Ende alle seine Erfindungen? Er nannte sich selbst gern Witzepräsident. Dabei störte es ihn, eine der Säulen des traditionsreichen Simpl, nicht ganz ernst genommen zu werden. Er sehnte sich nach
etwas... wie soll ich es ausdrücken? Nach etwas höherem wäre nicht zutreffend, er
hielt das Kabarett sicherlich nicht für etwas minderwertiges, niedrigeres, wogegen
ich auch protestieren würde. Jedenfalls fühlte er sich am Ende seiner Laufbahn am
richtigen Platz, nachdem er ans Theater an der Josefstadt engagiert wurde und somit
zum Nachfolger von Max Reinhardts Künstlern aufgestiegen war. Seinem neuen
Rang zuliebe ließ er sogar das Diminutiv, das i nach seinem Vornamen, weg.
Es wird schon so gewesen sein: Man nahm ihn nicht so ernst, wie er es verdient hätte. Nur wenige Eingeweihte wußten von seinem Streben nach Ernsthaftigkeit, kannten sein geistiges Niveau, bekamen sein wahres Gesicht zu sehen. Er zeigte es nicht gerne her, in der Öffentlichkeit trug er eine Narrenkappe. Die muß ich
jetzt beiseite legen, denn die Geschichte, die ich mit Max(i) Böhm im Café Eiles
erlebte, ist nicht komisch, sondern traurig. Eine Szene aus einer Tragödie.
Der liebenswürdige Komiker hatte eine liebreizende Tochter. Ich kannte Christine
schon als kleines Kind; mit den Jahren wuchs sie zu einer begabten jungen Schauspielerin auf. Ihr Talent kann ich bezeugen, weil ich mit ihr zusammengearbeitet habe
- sie spielte in mehreren Hörspielen von mir mit.
Um zum Vater zurückzukehren: Max Böhm spielte seine letzte Rolle im Schwankklassiker „Raub der Sabinerinnen”. Wie es in Theaterkreisen heißt, bei der Premiere
„war ich drin” und besuchte den gefeierten Hauptdarsteller in seiner Garderobe. Er
erzählte mir von seinem Sommerurlaub in den Schweizer Bergen mit seiner Tochter,
den er wegen seiner Theaterverpflichtung unterbrechen mußte, aber Christine sei
noch für ein paar Tage dort geblieben. Sie habe auch viel vor, berichtete er stolz,
eine Filmhauptrolle in Deutschland erwarte sie. Viel mehr als eigener Erfolg hat es ihn
gefreut, daß seine Tochter offenbar am Beginn einer großen Karriere stand.
Am übernächsten Tag stand in sämtlichen Tageszeitungen auf Seite 1 die
Schlagzeile: „Maxi Böhms Tochter tödlich verunglückt!” Sie war bei einem Ausflug
auf einem Felsvorsprung ausgerutscht und in den Wasserfall gestürzt.
Der Schauspieler Böhm ging seinem Beruf gewissenhaft nach, hundertprozentig.
Abend für Abend. Er sagte keine einzige Vorstellung ab. Der Vater Böhm schirmte sich
ab, wie man von seinen Kollegen hörte. Beileidsbezeugungen wich er aus. Seine
Trauerarbeit wollte er alleine bewältigen und nicht nach außen tragen.
Etwa ein, zwei Wochen nach dem furchtbaren Ereignis betrat ich wieder einmal das Café Eiles. Der erste Gast, den ich gleich von der Tür aus entdeckte, war
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Maxi Böhm. Er saß in der Loge genau gegenüber dem Eingang. Ich ging auf ihn zu,
er sah mir in die Augen, in dem Augenblick war mir klar, daß er das, was auf ihn
zukommt, vermeiden will. Er streckte mir eine aufgeblätterte Illustrierte entgegen und
sagte:
„Haben Sie das da schon gelesen? Diesen Witz finde ich großartig!”
...Die Kaffeehausszene endet hier. Das weitere gehört streng genommen nicht
mehr zu unserer Story. Aber ich runde sie ab:
Bald nach Christines Tod hat Max Böhm auch seinen Sohn verloren. Der junge
Mann hatte Selbstmord begangen. Böhm ließ sich weiterhin nichts anmerken, spielte seine Rollen und brachte die Leute zum Lachen. Er sagte keine Vorstellung ab. Eine
einzige Nachmittagsvorstellung versäumte der bis dahin überaus gewissenhafte
Schauspieler. Im Theater dachten sie, er würde sich verspäten, Auto im Stau stecken
geblieben und so. Sein Telefon meldete sich nicht. Als sie zu ihm in seine Wohnung
rasten, fanden sie ihn tot vor. Medizinische Diagnose: Herzinfarkt. In diesem Fall
gebe ich der poetischen Diagnose den Vorrang: sein Herz war gebrochen.
Wir haben Geschichte gemacht
D
ie nächste Episode ist Gott sei Dank nicht so traurig ausgegangen, aber lustig
ist sie eben auch nicht.
Aller guten Dinge sind drei. Ich habe noch ein Freiluftlokal gefunden, das in den
erträglichen Jahreszeiten (ich bin kein Winterfan) zu meinem Stammkaffeehaus
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wurde. Obwohl es sich Teehaus nennt. Es wird schließlich überall neben dem Kaffee
auf Wunsch auch Tee ausgeschenkt, und hier eben neben Tee auch Kaffee.
Das Haas Teehaus - nicht zu verwechseln mit dem umstrittenen Haas Haus
gegenüber dem Stephansdom - steht hinter dem Dom, in einer verschwiegenen Ecke.
Allzu verschwiegen dürfte es da allerdings doch nicht sein, denn bei entsprechendem Wetter ist der mit Planen überdachte Garten im Hof immer voll. Vielleicht haben
mich die Gegensätze beeindruckt: Ein Treffpunkt so im Mittelpunkt gelegen, daß es
zentraler gar nicht mehr geht, und doch diskret in einer kleinen abgelegenen Ecke
des Stephansplatzes; eine Terrasse in einem Garten, welche sich in einem Hof befindet; als Dach eine langgestreckte Plane, die zwar die fürs Lesen benötigte Helligkeit
beeinträchtigt, dafür aber vor dem Regen schützt. Aber wieso rechtfertige ich mich
eigentlich? Das Geheimcafé mit dem Pseudonym Teehaus gefällt mir einfach, ich
fühle mich wohl dort.
Ursprünglich galt das gleiche für Brigitte. Oft kam sie mit zu meinem Stammplatz,
manchmal machte sie Besorgungen in der Stadt und holte mich anschließend ab an
meinem Standplatz. Eines brühheißen Sommerfrühnachmittags scheint ihr die Einkaufstour zu anstrengend geworden zu sein, sie taumelte in den Terrassenhofgarten, setzte
sich fast zwischen zwei Stühle und ließ den Kopf auf den Tisch fallen. Sie war ohnmächtig geworden. Und ich war völlig ratlos, was ich mit ihr machen sollte. Ich hatte
davon gehört, daß kleine Klapse auf das Gesicht in solcher Situation helfen, aber
wenn ich jetzt anfange, meine Frau zu ohrfeigen, und das vor fünfzig oder mehr Zeugen, findet sich sicher mindestens einer unter ihnen, der die Polizei holt. Und morgen
steht in der Zeitung: „Alter Wüstling schlägt Sexbombe, weil sie ihm nicht zu Willen
war!” Wenn ich dann zu meiner Verteidigung vorbringe, daß ich mit ihr verheiratet
bin, werde ich verhaftet und sie ins Frauenhaus gebracht. Ich tätschelte sie ein bißchen,
das nützte zum Glück auch, aber ihr war schlecht. Ihr Kreislauf hatte immer schon
etwas gegen Hitze. Zwei Kellner stützten sie von rechts und... ich war so aufgeregt,
daß ich es nicht genau sah, aber ich glaube, der andere von links, und sie schleppten sie in den kleinen Gästeraum, der leer war. Mir half niemand, trotz meiner Nähe
zu einem Nervenzusammenbruch vor Sorge um mein Weib mußte ich auf eigenen
Füßen mitgehen. Der eine Ober telefonierte die Rettung herbei; während wir warteten,
lag meine Liebste auf einer Sitzbank, sie hatte alle Bequemlichkeit der Welt, konnte
sogar die Füße hochlegen, aber irgendwie fühlte sie sich nicht richtig wohl. Die
Ambulance kam wirklich in wenigen Minuten, hielt vor dem Fenster zum Hof und half
ihr in den Wagen, wo sie eine Spritze bekam. Nach weiteren wenigen Minuten war
ihr nicht mehr so übel. Die Sanitäter wollten sie unbedingt in ein Krankenhaus bringen.
Die Alternative dazu war ihre Unterschrift. Unter eine Erklärung, daß sie freiwillig, auf
eigene Gefahr darauf verzichte. Brigitte hat nicht die Freiheit gewählt, sie wollte mit
mir nach Hause. Die freundlichen Herren zogen un-, bzw. halb verrichteter Dinge ab.
Vorher versicherten sie uns noch, daß die Fahrt eines Rettungsautos hinter den
Dom in dieses enge Eckchen eine Jungfernfahrt war. Es ist noch keine Ambulance bis
zum Teehaus vorgedrungen. Wir haben Geschichte gemacht.
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ielleicht ist der Tirolerhof das Kaffeehaus, wo ich am längsten Stammgast war.
Und zwar nicht wegen der Annehmlichkeiten des Lokals, in dem bis zum heutigen Tag keine Klimaanlage eingebaut und es daher im Sommer heiß und im Winter
kalt ist, auch nicht wegen seiner einzigartigen Lage mit Aussicht auf das umstrittene
Hrdlicka-Denkmal an der Albertina. Aber man nimmt vieles in Kauf, wenn man vom
besten Oberkellner der Stadt bedient wird. Das war der Herr Helmut eindeutig. Der
freundlichste, aufmerksamste, einfühlsamste, geschickteste undsoweiterste, alles was
dazugehört, Vorzeigemann seiner Zunft. Er beobachtete und merkte sich alles. Deine
Wünsche las er dir nicht von den Augen ab, er erriet sie. Lieblingsplatz, Lektüre, die
Kleine Gold, welche ich mir angewöhnt hatte (eigentlich dasselbe wie der Kleine
Braune, d.h. Kaffee mit Milch oder mit Obers für mich, nur noch heller) plus meine
kleine Flasche Mineralwasser, und wenn frisch, der Topfenstrudel des Hauses mußten nicht extra bestellt werden, sie waren einfach da. So schnell, als hätte er all dies
nicht gebracht, sondern gebeamt. Aber damit genug, ich will ja den Herrn Helmut
nicht heiligsprechen, er ist auch nur ein Mensch wie du und ich, nur begabter in seinem Beruf.
Eines schönen Tages ist er in Pension gegangen und ich habe Freundschaft
geschlossen mit Helmut Menner. Seitdem suchen wir von Zeit zu Zeit gemeinsam
diverse Kaffeehäuser heim. Einst Werkstätten, bedeuten sie nun auch für ihn Orte des
Vergnügens oder sogar Horte der Rast.
Seitdem ich die Arbeit an diesem Kaffeehausreport begonnen
habe, besteht mein Plan, dieses
Gewerbe durch Freund Helmut
auch aus einem anderen Blickwinkel kennenzulernen. Ich werde
ihn ausfragen, dachte ich, wie ein
Kellner den Gast sieht. Unter ihnen
die unmöglichen, protzigen, eingebildeten Typen, die das Personal
bis aufs Blut quälen, alles zurückschicken und die Bediensteten
ständig auf Trab halten. Zur Genüge konnte ich selbst solche
Sadisten beobachten, ich mußte
mich nur umschauen. Das hat nur
den Nachteil, daß man dabei unwillkürlich in einen unerläßlichen
Einrichtungsgegenstand aller KafKarl Farkas (r.) und Fritz Grünbaum
feehäuser blickt: in den Spiegel.
Aber meine zuweilen auftretende nervöse Launenhaftigkeit hat Helmut zuerst
über-, dann nachgesehen...
Nun, dieser Abschnitt meines Vorhabens wird ziemlich unvollständig bleiben.
Es ist mir nicht gelungen, viel aus meinem Freund herauszuholen. Ich sprach ihn auf
die ewig Unzufriedenen an, die alles und jedes beanstanden, denen nichts paßt,
nichts gut genug ist.
„Na ja“, erinnerte sich Helmut, „einen Fall weiß ich noch. Der verlangte jeden
Tag Rindfleisch zu Mittag, nachher schimpfte er darüber, es schmeckte ihm nie. Am
nächsten Tag bestellte er wieder Rindfleisch.“
Damals war der quengelnde Gast noch jung und arm. Heute ist er so sehr über
alles erhaben, daß ihm die Schilderung seiner „Jugendsünde“ nicht mehr schaden
kann: Es war der Maler Ernst Fuchs...
Zu meiner Erleichterung fielen
meinem Freund
Geschichten vom
Typus Zeitungstiger und Zeitungsmarder ein. Die
ersten sind edles
Wild, sie kommen
schon bei Sonnenaufgang zur Tränke. (Dies ist natürlich nicht wörtlich
zu nehmen, gemeint ist die morgendliche
Öffnungszeit.)
Sie
beschlagnahmen den gesamten Zeitungsvorrat und machen die anderen Gäste zu
Analphabeten - keiner kann lesen. Die zweiten sind Schädlinge, welche die sie interessierenden Teile sämtlicher Presseorgane mit einer Rasierklinge ausschneiden.
Manche unter ihnen bringen eine leere Büromappe mit und transportieren ihre
Ausschnitte in dieser Hülle unauffällig ab. Die milde Sorte dieser Zeitungsokkupierer
arbeitet nicht mit Klingen, sondern entnimmt dem Zeitungsspanner einfach ihre
Lieblingsseiten, z.B. den Kulturteil, und hängt den Rest der Zeitung wieder auf den
Ständer. An jenem Tag bleibt das Kaffeehaus eben ohne Kultur. Helmut ist allerdings
draufgekommen, wie man diesen Streich verhindert: Er hat den begehrten Kulturteil
mit einer Büroheftmaschine so an die übrigen Seiten geklammert, daß er nicht mehr
entfernt werden konnte. Intellektuelle Vandalen wüten auch; der eine oder andere
Leser betätigt sich als Schreiber und gibt die Zeitung am Rande mit seiner politischen
Meinung vollgeschrieben zurück.
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Der beste Oberkellner der Stadt
V
Wenn wir schon bei den
Zeitungen sind... Jedes Kaffeehaus hat „Kunden“, die die alten
Zeitungen abholen. Diese kann
ich nicht negativ beurteilen,
höchstens die Gesellschaft, welche für ihr Los verantwortlich ist.
Es sind ganz arme Leute, die
sich keinen Kaffeehausbesuch
leisten können, aber sich für das
gedruckte Wort interessieren.
Und auch Obdachlose, die sich
mit dem Wärme spendenden
Papier zudecken.
Unter den schäbigen Gestalten, die täglich den ganzen
Zeitungsstoß abholten, war
auch einer, der später als eine
geistreiche Wiener Figur und
wandelndes Lexikon bekannt
wurde. Jetzt weiß ich erst,
Wiener Piccolo um 1900 - ein künftiger Oberkellner?
woher der mittlerweile zu Fernsehberühmtheit gelangte Hermes Phettberg seine Bildung hat...
Das war alles, was ich von meinem Freund, dem Kaffeehausexperten, erfuhr.
Wie ich auch weiter bohrte, er ließ nicht zu, die Kaffeehausbesucher nicht schlecht
zu machen, er nahm seine Schäflein in Schutz. Da kam ich endlich drauf, wieso dieser Mann so ein guter Kellner gewesen war: Weil er seine Gäste ehrlich liebte!
Vergnügen übrig blieb. (Solche Arbeiten, die schließlich in der Luft verpufften, schildere ich in der Hoffnung, daß der geneigte Leser mir zubilligt, in meiner Laufbahn
nicht nur Makulatur, sondern hie und da auch Literatur produziert zu haben. Ohne
Abbruch, bis zum bitteren Ende.)
Im Programm folgen also zwei Niegelungen-Lieder. Durch die ich allerdings
zum Fastmitarbeiter von Karl Farkas, dem Altvater des österreichischen Kabaretts, und
Gerhard Bronner, seinem moderneren Rivalen wurde…
Bronner, selbst aus dem ehemaligen ungarischen Oberland (Felvidék) stammend, bot mir anfangs 1957 an, mit ihm ein magyarisches Kabarettprogramm für sein
Theater zusammenzustellen. Im Mittelpunkt hatten ungarische Originalstücke stehen sollen, vornehmlich alte, aber auch neue Sketsche, Schwänke, musikalische Szenen,
Chansons, alle in meiner Übersetzung; für Verbindung und Rahmen hätte Bronner
gesorgt. Eine Woche trafen wir uns allabendlich in einem Innenstadtcafé und teilten
die Arbeitsvorgänge auf - ich erzählte und Bronner machte sich Notizen. Es ist keine
magyarische Übertreibung, wenn ich behaupte, daß ich das „Best of“ der Budapester
Kabarettbühnen seit ihren Anfängen um die - jetzt muß man schon hinzufügen: vorletzte - Jahrhundertwende kannte, und Teile von Glanzstücken sozusagen auswendig
wußte. Das war kein Wunder bei dem Vater, den ich aufzuweisen hatte; schließlich
prägte er diese Kleinkunstform von den ersten Tagen an mit… Meine Nacherzählung
umfaßte Texte von Nóti bis Miklós László, von Vadnai bis Kellér und Kôváry und vielen-vielen anderen. Auch Kishon vergaß ich nicht, dessen erster Schwank von meinem
Vater für das Pódium Kabaré angenommen worden war.
Arbeit oder Vergnügen?
B
eides zugleich. Für uns Schreiberlinge ist unsere Arbeit ein Vergnügen. Der Beruf,
der uns ausgewählt hat, ist auch unser Hobby, unsere Leidenschaft. Die meisten
von uns können und wollen ein Leben lang nichts anderes tun als schreiben. Die
extremsten Exemplare beugen der Gefahr vor, ihre Tätigkeit in Schwerarbeit ausarten zu lassen und steigern ihr Vergnügen dadurch, daß sie ihr geliebtes Ambiente,
auf Neudeutsch: ihr Wellnesscenter, zum Arbeitsplatz machen. Sie bilden die
Gruppe der Kaffeehausliteraten, zu der ich mich auch zähle. Für mich wird in dieser
Umgebung ebenfalls die Pflicht zur Kür.
Da ein beträchtlicher Teil meiner Kaffeehausvisiten mit dem Stichwort Arbeit/
Vergnügen zusammenhing, betrachte ich es als meine Pflicht, die Kür wenigstens teilweise Revue passieren zu lassen. Dabei werde ich gnadenlos zu mir selber sein und
auch solche Arbeiten aufzählen, die nicht zum Ziel geführt haben. Bei denen nur das
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Künstler im Budapester Kaffeehaus Japán um 1900
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Bronner wählte aus. Das Programm wäre gewiß zustande gekommen, wenn es
sich auch allmählich abzeichnete, daß in der einen oder anderen vorgesehenen
Programmnummer manches einen Lokalkolorit enthielt, welcher nicht „rübergekommen“ wäre. Doch die entscheidende Erkenntnis traf uns erst plötzlich, als wir mit dem
Rohkonzept zu 90 Prozent fertig waren: Die (noch dazu möglichst rasche) Beschaffung der Rechte von den zahlreichen Autoren stellt eine Hürde dar, die zu nehmen
unmöglich war! Mindestens ein Dutzend ungarischer Humoristen hatten inzwischen
in Hollywood Karriere gemacht, also hätte man ihre Aufführungsrechte von verschiedenen amerikanischen Filmproduktionsgesellschaften und/oder Agenturen beschaffen müssen. Doch ihre Verwandten und bei so manchen mittlerweile ihre Erben könnten in Ungarn zu finden sein. Mit Budapest zu verhandeln schien überhaupt aussichtslos in diesen Zeiten, mit der niedergemetzelten, aber längst nicht bewältigten
Revolution noch immer im Rücken, nicht hinter sich. Bronner hatte wenig Lust, mit
postrevolutionären Behörden zu verkehren, ich hätte gar nicht in Erscheinung treten
können, ich war ja eine Unperson mit meinem „Fremdenpaß“; österreichischer Staatsbürger wurde ich erst im nächsten Jahr.
So gaben wir unser Vorhaben auf, obwohl das geplante Programm auch schon
einen Titel hatte. Nein, zwei. Gerhard Bronner wollte es „Extra Hungariam“ nennen,
was ich non est richtig fand. Ich meinte, das einheimische Publikum hätte zu diesem
Spruch keine Beziehung und wäre damit am Ende seines Lateins. Statt dessen schlug
ich in Anlehnung an den damaligen Erfolgsfilm mit der Piroschka vor: „Ich denke oft
an Paprika!
…Das Programm ist also nur ein Gedanke geblieben. Daß ich Jahre später in
einer anderen Form mit Gerhard Bronner zusammengearbeitet habe - ich schrieb einige Beiträge für seine wöchentlich ausgestrahlte kabarettistische Fernsehsendung „Das
Zeitventil“, natürlich auch in kaffeehäuslichem Ambiente -, das ist ein anderer Kaffee.
ie „Zusammenarbeit in einer anderen Form“ mit Karl Farkas ist kein Nach-, sondern ein Vorwort. An einem Sonntagvormittag im Januar 1957 veranstaltete der
Verein „Künstler helfen Künstlern“ im Volkstheater eine Matinee zugunsten von Berufskollegen unter den Ungarnflüchtlingen. Alles, was Rang und Namen hatte, trat auf,
von Hans Moser bis Peter Alexander, von Burgtheaterstars bis zu Opernsängerinnen
und ungarischen Musikern. Als Conférencier durfte ich durch das Programm führen.
Mit dem Wagemut des Grünschnabels fragte ich meinen Exlandsmann Farkas, der
einen Kurzauftritt zugesagt hatte, ob er mit mir eine Doppelconférence machen
würde. „Wenn Sie etwas für uns beide schreiben, mach ich's!“ lautete seine Antwort.
Wir hatten etwa noch vier Wochen bis zum Ereignis. Ich verfaßte einen Text, feilte
daran ein, zwei Wochen, lieferte ihn im Kabarett Simpl ab und begann von da an
darauf zu pochen, daß wir die Szene proben müßten. Es fand sich nie Zeit dafür.
Als der Tag X eintraf und mir während der schon laufenden Vorstellung gemeldet
wurde, daß der Großmeister
des Humors im Theater angekommen sei und sich in der
Garderobe aufhalte, bat ich den
gleichfalls anwesenden Maxi
Böhm, das Ansagen der nächsten Nummern zu übernehmen
und eilte zu meinem Wunschpartner. Farkas stand vor dem
Spiegel und legte sich Puder
auf. „Wenn Sie wollen”, sagte
er zu mir - „können wir jetzt die
Doppelconférence durchgehen.“
Und wir sagten den Text auf,
den er mit seiner unglaublichen
Routine auswendig beherrschte
und mit improvisierten Eigenformulierungen ergänzte, zehn
Minuten später standen wir auf
2001erhält Kövary das Österreichische Ehrenkreuz
der Bühne und spulten den Spaß
für Wissenschaft und Kunst
ab.
So lernte ich die österreichische Kabarettlegende, sozusagen das Pendant zu
meinem ungarischen Vater, persönlich kennen, und so geriet ich in ein gewisses
Nahverhältnis zu ihm.
Und so ist es wohl nicht ganz unverständlich, daß ich mich ihm mehr als ein
Jahrzehnt nach der Volkstheatermatinee abermals für eine Zusammenarbeit angeboten
habe. Die Programme seines Stammhauses wurden laut Plakat und Programmheft von
zwei ständigen Autoren erstellt: von Karl Farkas und Hugo Wiener. Als eines Tages
die Zeitungen berichteten, daß der künstlerische Leiter des Simpl K.F. sich von seinem
Co-Autor getrennt hat, suchte ich den alten Wolf auf (kleine Sprachlektion gefällig?
Farkas = Wolf), um mich als Nachfolger seines Mitautors zu empfehlen. Es war mir
ja bekannt, daß er durch regelmäßige Drehbuch-, Bühnenstückbearbeitungs-, diverse
Rundfunk- und Fernsehaufträge voll ausgelastet war. Sich genau darauf berufend sagte
er sofort Ja. Wir vereinbarten, das nächste Simpl-Programm gemeinsam zu schreiben.
Die nächsten zwei oder drei Wochen - auf den Tag genau kann ich mich nicht
mehr an die Dauer unseres Zusammenwirkens erinnern - trafen wir uns jeden
Nachmittag im Mariahilfer Café Ritter, gegenüber dem Bezirk Neubau, wo er wohnte. Ein Tisch war täglich für uns reserviert, wir werkten bis 6 Uhr, dann mußte Farkas
ins Theater. Bis dahin hatte er seine neuen Entwürfe bzw. Neubearbeitungen alter
Sketsche vorgelesen, ich meine Ideen erläutert und er seinen Senf dazugegeben,
schließlich teilte er mir die Aufgaben zu, welche ich bis zum nächsten Mal ausarbeiten sollte. Meine Feuerprüfung war offensichtlich die Kaffeehausszene, die ich auf
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„Wir bleiben zusammen!“
D
den Tisch legte. Dieses Genre war gleichsam ein Pflichtgegenstand des alten
Kabaretts und spielte sich stets zwischen drei Standardfiguren ab: Der Gescheite
bemühte sich, dem Dummen gewisse Aktualitäten zu erklären, und der Kellner assistierte ihnen und erzeugte in seiner kleinen Rolle Lokalkolorit. Mit diesem Opus
schien ich den anerkannten Fachmann überzeugt zu haben, sein höchstmögliches
Lob erfüllte mich wirklich mit Stolz. Es lautete: „Absolute Profiarbeit - es könnte auch
von mir sein…“
Es ging wie geschmiert, das Programm
nahm Gestalt an, nur
eines verursachte mir
Unbehagen. Gleich zu
Beginn forderte mich
Farkas auf, auch die
Schätze des ungarischen Kabaretts zu
berücksichtigen; wenn
etwas davon in unser
Programm paßt, könnten wir es einarbeiten.
Ich machte ihn darauf
aufmerksam, daß solche „Anleihen“ urheberrechtliche Fragen aufwerfen und die Originalautoren abzugelten
sind. Er beruhigte mich, daß er das wüßte. Ich meinerseits wußte es anders; Karl
Farkas war neben seinen zweifelsfreien Meriten auch dafür bekannt, daß er auf Ideen
aus dem Nachbar- (und seinem Ursprungs-) Land zurückgriff und es mit der Bezahlung
nicht so genau nahm.
Ich bin überzeugt davon, daß das Unternehmen an diesem Punkt scheiterte,
auch wenn eine andere Ursache vorgeschoben wurde. Nach Ablauf unserer selbst
festgesetzten Frist überraschte mich Karl der Große mit der Nachricht, der Eigentümer
des Simpl, ein gewisser Herr Picker, bestünde darauf, daß kein Mitautor mehr in
Erscheinung trete, die Ikone des Kabaretts Karl Farkas habe das Programm allein zu
schreiben.
„Aber wir bleiben zusammen!“ versicherte mir Farkas zum Abschied.
Als Pointe hörte es sich lustig an, wenn ich hinzufügte: …und wir sahen uns nie
wieder. Aber es stimmt nicht, wir begegneten einander noch oft. Im Theater, bei
Rundfunk- und Fernsehaufnahmen und so weiter. Und wenn er mich sah, behauptete
er noch mehrere Male, ob aus Höflichkeit, als Trost oder war es einfach Gedankenlosigkeit, ich weiß es nicht: „Wir bleiben zusammen!“
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Ich ließ es mir natürlich nicht nehmen, das Simpl-Programm anzuschauen. In dieser Hinsicht war er einwandfrei fair - er verwendete keine Silbe von mir oder aus dem
ungarischen Kabarett. Auch der Titel stammte von ihm, ganz in dem Sinne der
Tradition, die er mir im Café Ritter erklärt hatte. Demnach mußte ein guter Titel zu
einem Kabarettprogramm aus 3 Wörtern bestehen, und im idealen Fall 13 Buchstaben enthalten.
Das Simpl-Programm betitelte sich: „Ins eigene Nest.“
***
E
ine Vorläuferin der Disc-Jockey-Sendungen war die wöchentliche Rubrik des Österreichischen Rundfunks, das „Konzertcafé“. Ein Sprecher plauderte in einem imaginären Kaffeehaus zwischen Musikstücken eines eingebildeten Orchesters. (Nicht die
Musiker waren eingebildet, sondern den Klangkörper mußte man sich einbilden, den
der imaginäre Kaffeehausbesitzer für sein Etablissement engagiert hatte.)
Die musikalischen Darbietungen kamen selbstverständlich von Schallplatten. In
den Siebzigern wurde ich für das Redigieren dieser Sendereihe auserkoren. Anstelle
des Kommentators erfand ich Typen von Kaffeehausbesuchern, die da waren: ein
junges Liebespaar, eine Baronin, ein Geschäftsmann, eine ungarische Emigrantin
und andere mehr. Die Figuren, von namhaften Schauspielern dargestellt, füllten die
Pausen mit ihrem Plausch über jeweils aktuelle Themen in verschiedener Zusammensetzung, jeweils zu zweit,
aus. Die Autoren, die für
diese Serie hinzugezogen wurden, lieferten ihre
Texte bei mir ab, ich stellte dann die halbe Stunde
mit eigenen Ergänzungen
zusammen. Nachdem
dies ein Jahr lang meine
Aufgabe war, übertrug
mir die Unterhaltungsabteilung die Sendung
als alleinigen Autor für
Melange
noch ein Jahr.
Das „Konzertcafé“ wurde vom Publikum mit allgemeiner Zufriedenheit auf- und
also angenommen. Nur einmal beanstandete ein Politiker, Mitglied der Hörer- und
Sehervertretung, daß damals noch als Revoluzzer angesehene sogenannte
„Langhaarige“ mit einer abfälligen Bemerkung bedacht worden waren. Er hatte überhört und übersehen, daß die Abwertung nicht unbedingt die Meinung des Verfassers,
sondern die der Baronin war. Aber der gute Mann war ja schließlich nur Vertreter
der Hörer und Seher, nicht der Denker…
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Die Antwort des Prüflings: „Ich überzeuge mich davon, an welchem Tisch der
Gast sitzt, der zahlen will, und gehe sofort mit entschlossenen Schritten in die entgegengesetzte Richtung!“
…Als Humorist muß ich diese Bosheit, die im realen Leben Tag für Tag wiederkehrt, mit den mir zustehenden Waffen bekämpfen. Als kaffeehauserfahrener
Konsument hingegen weiß ich, daß es sich um keine Bosheit, sondern um eiserne
Logik handelt. Aus kaufmännischer Sicht ist für den Cafetier stets der frisch angekommene, sich im Zustand des Nochnichtbestellthabens befindende Kunde der wichtigere. Wenn der vernachlässigt wird, könnte es ihm fad werden und er nimmt seinen Hut. Oder geht ohne Hut. Derjenige, der zahlen will, wartet auch schon mal,
bis er an die Reihe kommt. Ein Zechpreller ruft gar nicht „Zahlen!“ der macht sich
unauffällig aus dem Staub. Und noch ein Bedenken, noch eine Hoffnung drängt sich
dem Kaffeekapitalisten auf: Wenn der Zahlungswillige warten, im Lokal verweilen
muß - vielleicht gibt er noch eine Bestellung auf?!
***
B
m Jahre 1983 feierte das Wiener Kaffeehaus seinen 300. Geburtstag. Aus diesem
Anlaß erhielt ich den Auftrag vom Wiener Volksbildungswerk, das für die Festwochenveranstaltungen in sämtlichen Bezirken der Hauptstadt zuständig war, ein
kabarettistisches Programm zu Ehren des Geburtstagskindes zu schreiben. Das dreiköpfige Ensemble des „Café Cabaret“ - Tilla Hohenfels, eine bekannte, inzwischen
verstorbene Kabarettistin; Heinz Horak, Pianist und Komiker, zugleich musikalischer
Leiter des Abends; und ich als Autor und Conférencier - zog für die Dauer der
Wiener Festwochen durch illustre Kaffeehäuser und verschiedene Bezirksämter.
Es ist uns, glaube ich, gelungen, in diese kalten Gebäude der Stadtverwaltung
(wobei kalt hier nicht für das Klima, sondern für das ach so Offizielle steht) ein
bißchen Kaffeehausflair einziehen zu lassen. Die Stimmung war locker, die Zuschauer sind mitgegangen, sie haben die Pointen souverän verstanden, weil sie sie
kannten.
Verstehen Sie mich bitte nicht miß, liebe Leserinnenundaußen, wir haben unserem Publikum keine alten Witze aufgetischt, sondern uns über Dinge lustig gemacht,
die alle schon selbst erlebt haben; wir haben ja vor Wienern gespielt, und die sind
bekanntlich mehrheitlich Kaffeehausgeher!
Kein Wunder also, daß der „Kellnerkurs“ den größten Lacherfolg erntete. In dieser Szene wird ein Kandidat für diesen Beruf geprüft.
Die Lehrperson fragt: „Was ist zu tun, wenn ein Gast „Herr Ober, zahlen!“
ruft?“
ald darauf - mein Vater wäre 100 Jahre alt geworden, wenn er das Diesseits
nicht mit 83 verlassen hätte - beschloß das Ungarische Fernsehen, einen
Gedenkabend für ihn auszustrahlen. Mit dem Verfassen des Drehbuchs (wer an Zufall
glaubt, ist selber schuld) wurde ich betraut. Ich stellte einen Strauß aus seinen Stücken
zusammen, die mit den populärsten Budapester Schauspielern aufgenommen wurden, zeigte einige Ausschnitte aus seinen Filmrollen, erzählte über ihn und ließ
erzählen, und zwar von Prominenten, die sowohl seine als auch meine Zeitgenossen
waren, und streute kurze Szenen, sogenannte Blackouts dazwischen, in denen ich
Begebenheiten aus seinem Leben kabarettgerecht zubereitete.
Eine davon hatte seine Kaffeehausleidenschaft zum Inhalt. Der/die/das
Magyar Televízió ließ sich nicht lumpen, die Szene wurde im Interesse der Authentizität tatsächlich in Wien gedreht! Ein Team kam für einen Tag angereist, okkupierte
nach vorangegangener Beschaffung der Drehgenehmigung das Café Bräunerhof
und hatte das Werk am Abend im Kasten.
Wenn ich nun kurz
die Handlung des Sketschs
skizziere, muß ich das mit
dem Geständnis verbinden, daß ich mich in diesem Fall nicht damit begnügte, wirkliche Begebenheiten anekdotisch aufzuarbeiten, sondern eine
größere Portion dichteriBräunerhof im Jahre 2000
sche Freiheit strapazierte.
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Café Sperl um 1900
***
I
Ich ließ einen ungarischen Ober auftreten, der seinen Stammgast noch aus Budapest
kannte, sowie einen lästigen Kaffeehausgast, der den Künstler mit einem Redeschwall
bei der Arbeit an seinen Memoiren stört und ein Autogramm von ihm haben möchte. Die Schlußeinstellung wurde auf der Bräunerstraße vor dem Kaffeehaus aufgenommen: Der Mann kommt aus der Lokalität, schaut sich das Autogramm an, stellt
vor sich hin murmelnd fest, daß er diesen Kôváry - oder wie er heißt - mit seinem
Konkurrenten Békeffi verwechselt hatte und schmeißt den Zettel weg.
Der wahre Kern der Geschichte: Mein Vater hatte auch in Wien seine Vorliebe
für das Kaffeehaus beibehalten und schrieb dort seine bis heute noch immer nicht
erschienene Autobiografie.
Die Verfilmung konnte noch einen wahren Kern bieten: In die Rolle meines
Erzeugers schlüpfte der beliebte ungarische Komiker András Kern. Den unangenehmen Gast gab Péter Balázs, den Oberkellner Rezsô Romhányi.
Wir waren fast schon fertig mit den Dreharbeiten, als die Wirklichkeit sich mit
der Fiktion mischte. Plötzlich stürmte eine Horde Jugendlicher von der Straße herein
und belagerte die Schauspieler um Autogramme. Wie es dazu kam? Eine Schulklasse war, offensichtlich an ihrem Ausflugstag, an dem Kaffeehaus vorbeigekommen, einige Jungs - pardon, es geschah in Wien, also einige Buben - waren am
Fenster stehen geblieben, schließlich haben alle den Filmleuten zugeschaut. Der
Oberkellner hat sich zu ihnen gesellt, sie darauf aufmerksam gemacht, daß da weltberühmte Schauspieler am Werk sind und sie zu dem Streich animiert.
Der aufmerksame Leser wird es schon erraten haben: Der wahrhaftige Kellner
vom Bräunerhof war nicht nur ein echter Kellner, sondern auch ein echter Ungar…
***
E
inen lächerlich kleinen Nebenverdienst, mittleren Nutzen für die Erfahrung in
Sachen Umgang mit der Leserschaft und größere Befriedigung der schriftstellerischen Eitelkeit bringt die vom Verband der Kaffeebesitzer (oder -sieder?) ins Leben
gerufene Reihe „Literatur im Kaffeehaus“. Auch ich hatte öfters die Ehre und zuweilen
das Vergnügen, die diversen Heimstätten meiner Passion mit Lesungen aus meinen
Werken heimzusuchen. Darunter berühmte Etablissements wie das Dommeyer, wo
einst Johann Strauß mit seiner Kapelle aufgespielt hat. Oder das Sperl, wo noch
heute literarisches Flair in der Luft zu spüren ist. Cafés, die baulich mit Theatern verbunden sind wie das Landtmann, welches das Theater Tribüne im Souterrain beherbergt oder das Prückl, in dessen Keller das Theater der Courage zu Hause war, als
die Bühnenlegende noch lebte. Praktische Cafés, die sich in der Nähe meiner
Wohnung befanden, wie das Wortner. In letzterem begann ich einmal meine Lesung
mit dem von mir verfälschten Bibel-Zitat: „Am Anfang war das Wortner…“
Café Wortner
Mein Programm bestand meistens auf meinen allgemeinen Wunsch aus Abschnitten meines Magyarenspiegels „Ein Ungar kommt selten allein“, sowie anderen
Büchern, Humoresken und Satiren, aber auch vor Nonsensgedichten schreckte ich
nicht zurück. Ein Gedicht, eher mit einem bißchen sens, schrieb ich gezielt für solche
Gelegenheiten:
Im Budapester Kaffeehaus Centrál um 1910
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Liebe Kaffeehausgemeinde!
Hochverehrte Bücherfreunde!
Leihen Sie mir nun Ihr Ohr,
Denn ich lese Ihnen vor
Aus meinen bescheidnen Werken,
Damit Sie sich doppelt stärken
mit Kaffee, mit Tee, mit Geist.
Dieses Hochvergnügen heißt
Autor live - Kaffeehauslesung.
Eine kulturelle Lösung!
Selber will ja keiner lesen,
Dafür gibt’s die irren Wesen,
Die statt brav und still zu bleiben,
Immer wieder Bücher schreiben;
Und Sie komm’n, o weh und ach,
Ihnen ins Kaffeehaus nach!
Wer wird sich mit Lesen plagen?
Buch wird vor- und nachgetragen!
Keine Pause bei der Jause Klüger gehen Sie nach Hause!
Im Kaffeehaus wer’n Sie heute
Statt des Wahnsinns - Bildungs Beute!
Mußt nicht lesen - hoch die Tassen Kannst im Café lesen lassen!
Zu dieser Freizeitgestaltung
Wünsch ich gute Unterhaltung!
Assoziationen weckenden Namen „Kavarna“ abgesehen, alte MonarchieAtmosphäre verströmten, ob am Wenzelsplatz, ob als Hauseinrichtung des Hotel
Pariz, wo ich abgestiegen war und wo mich ein junger aufstrebender Sänger aufsuchte, der den jungen Casanova spielen sollte. Sein Name: Karel Gott.
Übrigens ist die Aufführung wegen der außergewöhnlichen klimatischen Verhältnisse abgesagt worden. In Prag ist in jenem Jahr nach dem Frühling im August
der Winter eingebrochen.
***
Z
urück zu ‘56 und den Folgejahren. Als frischgebackener Österreicher holte ich
die Entdeckung des Westens nach. Von Wien aus, wo man schon im Westen
war, noch ein Stückchen weiter in den Westen zu ziehen war ja keine große Angelegenheit. Und so beeilte ich mich, jene Metropole aufzusuchen, welche in der modernen Kaffeehauskultur die Hauptrolle gespielt hat: Paris.
Nachdem ich die altehrwürdigen Kaffeehäuser in der Gegend des Boulevard
St. Germain und Boulevard St. Michel „abgegrast“ hatte und auf den Spuren vieler
ungarischer Klassiker gewandert war - eine Reihe ungarischer Dichter und Meister
der Prosa wählten Frankreich zu ihrer zweiten Heimat, wie Endre Ady, Gyula Illyés
oder Vaszary Gábor -, begab ich mich endlich ins Kaffeehaus Nr. 1 Europas, das
Cafés in aller Welt
M
ein Bericht wäre unvollständig, wenn ich nicht wenigstens einen kurzen Blick
auf die große Welt würfe, von der meine Heimat im Kommunismus mit unmenschlichem Antlitz ausgeschlossen war. 1968 lernte ich das Dubceksche Experiment kennen, welches natürlich von vornherein zum Tode verurteilt war, weil eine
Diktatur mit menschlichem Antlitz ein Ding der Unmöglichkeit ist, wie die Quadratur
des Kreises, wie ein Eisenring aus Holz. (Dieses Bild entwarfen die Ungarn für einen
Widerspruch an sich, es heißt fából vaskarika.)
Ich durfte eine einwöchige Kostprobe vom Prager Frühling genießen. Das
Karlstheater - so kann man, meine ich, die Operettenbühne der damals tschechoslowakischen Hauptstadt auf deutsch bezeichnen - hatte mein Musical über
Casanova angenommen und ich wurde zu Besprechungen eingeladen. Aus diesem
Anlaß besuchte ich natürlich mehrere Prager Kaffeehäuser, die, von ihrem ungute
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Mit Frau Brigitte im Jahre 1999
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Café de la Paix. Über die inneren Räumlichkeiten gibt es nichts zu berichten, außer
daß ich ausgerutscht bin und mich auf das Tortentablett gesetzt habe. Mit einem
Trinkgeld oder in diesem Falle Schmerzensgeld und einer Anzugreinigung war die
Kleinigkeit aus der Welt geschafft. Auf der Terrasse hatte ich allerdings ein Abenteuer. (Kein solches, das Sie sich denken!)
Ein junger Maler ist von Tisch zu Tisch gegangen und versuchte seine Miniaturen zu verkaufen. Erst als er an mich herantrat, erkannten wir uns gegenseitig. Es
war ein Budapester Grafikstudent. Wir wurden beide rot. Ich, weil ich ihn dabei
ertappte, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente, er, weil er sich dafür schämte.
Obwohl nichts dabei war, wir waren ja beide Neuflüchtlinge. Er machte seine
Runde und kam an meinen Tisch zurück. Ich bot ihm Platz und er lud mich zu einer
prächtigen Jause ein. Ich konnte seine Großzügigkeit nicht gut abschlagen, denn er
flunkerte mir vor, daß die Verkaufstour in Kaffeehäusern eine Wette war, die er verloren hatte und nun einlösen mußte; die Einnahmen wollte er sowieso verprassen…
Ich tat, als würde ich ihm glauben, und so wahrten wir beide sein Gesicht.
***
B
ei der Entdeckung des Westens konnte es auch südwärts gehen, denn Italien
gehörte beispielsweise auch zum Westen. Italien, das Land, das Michelangelo,
da Vinci, die Lollobrigida, die Loren und das Espresso der Welt geschenkt hat!
Am Tag meiner Ankunft lief in den Kinos der Fellini-Film „La dolce vita“ an, welcher einem Zeitabschnitt seinen Namen geben sollte. Nach der ersten Nachmittagsvorstellung stand das Zentrum Roms, der Nabel der Welt, auf dem Programm: die
seither heruntergekommene Via Veneto mit ihren Luxuskaffeehäusern.
I
m Café de Paris wollte ich mich nur umsehen, aber auch die paar Minuten dort
waren eher unangenehm. Man trat durch die Tür in einen schlauchförmigen Saal,
links eine langgezogene Bartheke, rechts an der Wand aufgereihte kleine Tische,
dazwischen Gedränge. An der Bar saßen auf den üblichen Barhockern lauter
Männer, mit dem Rücken zu den Leuten, und ein jeder von ihnen hatte in der Gesäßtasche eine künstliche Hand aus marmoriertem Papier oder ähnlichen Material, und
wenn man vorbeiging, wurde man von diesen Geisterhänden begrapscht. Und da
die Menge auf und ab wogte, gab es kein Entrinnen, man mußte sich diesen DolceVita-Spaß gefallen lassen.
I
m Donai interviewte ich dann den seinerzeit als zweite Marilyn Monroe gehandelten Hollywoodstar Jayne Mansfield für den Kurier in Wien. Ihr Ehemann Mickey
Hargitay alias Mr. Universum stellte mich ihr mit den Worten vor „Jayne, the gentleman is Hungarian!“
Worauf sie mir ihre anwesende kleine Tochter so präsentierte:
„My kislány!“
Café Centrál in Budapest im Jahre 2001
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Es war eine schöne, heitere, freundliche Stunde mit einem echten römischen
Sonnenuntergang, römischen Sommertemperaturen, sich laut äußerndem römischen
Temperament um uns herum auf der Donaiterrasse. Keiner von uns wurde auch nur
von der leisesten Ahnung getrübt, daß diese lebensfrohe Blondine, dieses Sexidol,
in ein paar Jahren eines schrecklichen Unfalltodes sterben würde…
***
***
S
chließen wir den Bogen, indem wir uns von der Institution Kaffeehaus in
Deutschland verabschieden. Das Café Vetter in Marburg an der Lahn verdient es,
besonders hervorgehoben zu werden. Es ist nämlich ein literarisches Kaffeehaus.
Ludwig Legge, lokale Kapazität in Sachen Schreib- und Lesekundige, hat das
Publikum so zu „erziehen“ verstanden, daß es die Events dankbar mitmacht, den
Vortragenden je nach Gattung der Matinee in andächtiger Stille folgt oder sie mit
Z
um Stichwort Markusplatz in Venedig mit seinen drei weltbekannten Kaffeehäusern kann ich sicher nicht mit solch einem Jahrhunderterlebnis aufwarten wie
Ödön Bárdi, der zu meiner Jugendzeit bereits Doyen des Budapester Lustspieltheaters, des legendären Vígszínház, war und mir erzählte, daß er 1909 (wenn ich
mir die Jahreszahl richtig gemerkt habe) an selbiger Piazza seinen Kaffee getrunken
hatte, als neben ihm der Campanile einstürzte. Aber auch ich habe persönliches zu
bieten. Wobei ich mich nicht damit begnüge, mich an die Freunde aus Wien und
Budapest zu erinnern, die ich an dem magischen Ort unversehens getroffen habe.
So gehört sich’s ja; sagt man doch, am Markusplatz geht in regelmäßigen
Abständen die ganze Welt vorbei. Daß im Café Quadri die Kapelle von einem
ungarischen Stehgeiger geleitet wurde, der sein Repertoire nach meinen Wünschen
gestaltete, ist freilich für mich unvergeßlich, doch vielleicht auch nicht so einmalig.
Hingegen kommt zum persönlichen noch etwas sozusagen ausgefallenes, das in
einer Karnevalszeit passierte: Es war ein Vormittag im Februar, die Sonne hatte
jedoch offensichtlich schon weitergeblättert im Kalender, so daß einige Mutige sich
auf der Terrasse des Quadri den lauwarmen Strahlen des freundlichen Himmelskörpers hingaben. So saßen auch meine Frau und ich auf unserem Lieblingsplätzchen.
(Das geschichtsträchtige Florian, das nachmittags zur Kaffeezeit im Schatten stand,
mochten wir nicht übermäßig, das Lavena hatte in den vergangenen Jahren seinen
Betrieb eingestellt.) Die Kapelle spielte erst ab Nachmittag, der Karneval meldete
sich durch Lautsprecher, die die ganze Gegend mit Musik beschallten. Ein herrliches
Orchester (die Wiener Philharmoniker?) stimmte den Donauwalzer an. Ich stand auf,
verbeugte mich vor meiner Brigitte und forderte sie zum Tanz auf. Wir wirbelten über
den fast leeren Markusplatz und machten aus dem klassischen Boden ein Tanzparkett. So wurde unter meiner bescheidenen Mitwirkung das Quadri zum Tanzcafé.
Den Markusplatz, besonders im Hinblick auf die Kaffeehausgeschichte, gibt es
nochmal im Miniformat auf Capri. Wenn der Markusplatz der „Salon der Welt“ ist,
so ist es die dortige Piazetta im Kleinformat ebenfalls. Drei Kaffeehäuser mit breiten
Terrassen umrahmen die paar Quadratmeter, welche den Platz ausmachen, und sie
lassen gerade noch den eher schmalen Mittelteil frei für die ganze Welt, die da vorüber flaniert. Es ist gewiß kein Einzelfall, aber für mich eine meiner markantesten
Erinnerungen, daß ich auf diesem paradiesischen Fleckchen an einem meiner
Kleinformate arbeiten durfte und der Ober der Al Piccolo Bar mich täglich mit meinem reservierten Tisch erwartete.
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Kaffeehaus Reitter in Budapest um 1900
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gewünschtem Unernst,
in fröhlicher Stimmung
begleitet. In jener Saison veranstaltete Legges
„Neue Literarische Gesellschaft“ bekannterweise Ungarische Kulturtage. (Der Pester Lloyd
berichtete.)
***
I
n Witzenhausen, Geburtsort meiner Brigitte wo denn sonst soll die
Ehefrau eines Humoristen geboren worden
sein? - werde ich stets in
einem Kaffeehaus abgegeben (dessen Name
mir momentan nicht einfällt), wenn sie den hessischen Zweig ihrer
Verwandtschaft besucht
und ich arbeiten muß. In
dieser lieblichen Stadt voller Fachwerkhäuser könnte ich endlich mein Inkognito
genießen, wenn ich nicht so verdammt eitel wäre. Dort kennt mich kein Hund, höchstens als namenlosen Prinzgemahl der geborenen Kindervatter, deren Familie bereits
im 14. Jahrhundert den Bürgermeister gestellt hatte. Der Name des Kaffeehauses ist
mir noch immer nicht eingefallen. Das muß aber keine Alzheimer sein, ich tippe eher
auf Rachegelüste in meinem Unterbewußten.
Phönix aus der Zigarrenasche
Oder aus dem Kaffeesatz?
J
edenfalls will ich damit sagen, daß das Kaffeehaus aufgestanden ist von den
Scheintoten. Mag sein, daß die neue Blüte nur kurze Zeit von Dauer sein wird. Die
Gäste vom alten Schlag werden sich jedenfalls ändern, oder sie werden ganz ausbleiben. Warum sollten sich Liebespaare auch ins Kaffeehaus bemühen, wenn es
Chatrooms gibt? Bohèmiens in Kaffeeschenken ihr Leben fristen, wenn sie gar keines
mehr haben, weil sie nämlich ausgestorben sind? Geschäftsleute sich in Cafés treffen, wenn es für sie Konferenzschaltungen gibt?
Meinerseits möchte ich es nicht missen, daß das Kaffeehaus in meinem Leben
eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Es war für mich ein Hort, ein Born, ein
Zuhause, eine Arbeits- und Ruhestätte als angehender, als gut gehender und als
abgehender Schriftsteller. Und ich hoffe, daß das Lebensgefühl, welches durch diese
Einrichtung bereichert wird, noch eine Weile aufrecht bleibt, in Budapest und in
Wien, wo es teils noch, teils wieder zu Ehren kommt. Und daß es uns Ungarn mit
uns Österreichern verbindet.
I
n Berlin war es mir sogar vergönnt, ein Kaffeehaus zu eröffnen! Kollege und
Namensvetter György Dalos, bis vor kurzem Direktor des Hauses Ungarn am
Alexanderplatz, lud mich zu einer Lesung ein, die zugleich zur Eröffnung des literarischen Café Zsolnay diente. Er gestaltete das Programm so, daß er nicht nur mein
Schaffen, sondern auch mich selbst vorstellte. Wir saßen zu zweit am Vortragstisch,
ich las jeweils ein kurzes Stück, dann unterbrach er mich und stellte mir Fragen meine
Person betreffend. Eine seiner Fragen lautete:
„Als zweisprachiger Schriftsteller - in welcher Sprache träumst du?“
Ich antwortete:
„Ich träume Deutsch mit ungarischen Untertiteln!“
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Der leidenschaftliche Kaffeehaus-Besucher Georg Kövary ist eigentlich passionierter Biertrinker,
wie er dem PESTER-LLOYD-Chefredakteur Gotthard B. Schicker (r.) nach einer Lesung
im Hotel schweizerhof in Gyôr unübersehbar gestand...
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Für die Unterstützung bei der Herausgabe dieses Buches
bedanken wir uns bei:
Österreichisches Kulturforum
...ein gutes Stück Ungarn
DER NEUE PESTER LLOYD
1055 Budapest, Falk Miksa u. 30
Telefon: (+36 1) 269-3009, 269-3011 ● Fax: 269-3035
[email protected] ● www.pesterlloyd.de
Gyôr
Außerdem im PESTER LLOYD VERLAG erschienen:
Melancholie des Markknochens
Robin Food´s gastrosophische Reisen durch das Land der Magyaren
Der erste deutschsprachige
Restaurantführer Ungarns
Auf rund 250 Seiten unternehmen Sie mit unseren NPL-Autoren eine gastrosophische Reise durch 99
Spitzen-Restaurants, typisch ungarische Gasthäuser und einige Lokale mit ausländischer Küche in
Budapest sowie in ganz Ungarn. Solch bekannte NPL-Autoren wie Georg Köváry und Wilhelm Droste
haben zu den Besonderheiten der ungarischen Küche, zur Tradition der Kaffeehäuser und zum ungarischen Wein informative und kurzweilige Texte geschrieben, die dieses attraktive Buch - mit zahlreichen
Fotos von Gábor Nagy und Grafiken von Rita Kelemen-Czakó - zu einem gastrosophischen Erlebnis
werden lassen.
Benötigen Sie also ein langlebiges, „geschmackvolles“ und individuelles Firmen-, Geburtstags-,
Namenstags- oder sonst ein Geschenk, dann können Sie den ersten deutschsprachigen
Restaurantführer durch Ungarn jetzt kaufen.
Ihre Bestellungen richten Sie bitte nur schriftlich an: PESTER LLOYD,
H-1376 Budapest 62, Pf. 275, per Fax: (00 36 1) 269-3035 oder
E-Mail: [email protected]
Der Preis dieses Gastronomieführers beträgt 18.- EURO bzw. 4.500 Forint.
und
Frau Elisabeth Mayer
Herrn György Kapus
Herrn Helmut Schlegel
Herrn Peter Gstattner
Hergestellt in der Gyomaer Kner Druckerei Rt
im 120. Jahr nach der Gründung der Druckerei
Verantwortlicher Direktor: Lajos Papp
Telefon/Fax: (66) 386-211
E-Mail: [email protected]