die schweizer uhrenindustrie in indien
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die schweizer uhrenindustrie in indien
64GESCHICHTEGE DIE SCHWEIZER UHRENINDUSTRIE IN INDIEN Eine besondere Beziehung Pierre-Yves Donzé Obwohl man in der Uhrenwelt derzeit wie gebannt auf China blickt, ist das Reich der Mitte nicht der einzige aufstrebende Markt mit Wachstumspotenzial. Wie steht es denn mit den anderen neuen Industrienationen, die inzwischen ebenfalls zu wichtigen Global Players der Weltwirtschaft geworden sind? Dabei verdient vor allem auch Indien Interesse, nicht nur weil das Land mit über einer Milliarde Einwohner selbst grosse Marktchancen bietet, sondern auch weil seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine besondere Beziehung zur Schweizer Uhrenindustrie besteht. Exporte für die britischen Kolonialbeamten. Indien gehört zu den neuen Märkten, die zwischen 1890 und 1914 für die Schweizer Uhrenindustrie zunehmend an Bedeutung gewinnen. Während bis Mitte des 19. Jahrhunderts Europa und die USA die traditionellen Absatzmärkte für helvetische Uhren sind, kommt Ende des Jahrhunderts ein grosser Diversifizierungs prozess der 64 | watch around Nr. 011 Frühling-Sommer 2011 ESCHICHTEGESCH Schweizer Exporte nach Indien 1885-2000 Wert (in heutigen Franken) und Anteil der Fertiguhren (in %) 25 000000 100.0 90.0 20 000000 80.0 70.0 15 000000 60.0 50.0 10 000000 40.0 30.0 5 000000 20.0 10.0 0.0 1885 1890 1895 1900 1905 1910 1915 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1885 1890 1895 2000 0 Wert Fertiguhren (%) Quelle: Verband der Schweizerischen Uhrenindustrie Märkte in Gang. Dieses Phänomen ist einerseits auf den Aufstieg amerikanischer Uhrenfirmen wie Waltham Watch und Elgin Watch zurückzuführen, die den amerikanischen Markt zum wettbewerbsfähigsten der Welt machen, und andererseits auf die Entwicklung neuer Technologie im Fernmelde- und Transportwesen (Telegraph, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen), die eine Ausdehnung der Geschäftsbeziehungen über die ganze Welt erlauben. So wird der Orient zu einem neuen Abnehmer für die schweizerische Uhrenindustrie. Zu diesen neuen Märkten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommen, gehört Indien, und seine Bedeutung nimmt bis in die 1920er Jahre laufend zu. In der Tat steigt der Wert der Schweizer Uhrenexporte nach dem Indischen Subkontinent von 658 000 Franken im Jahr 1885 auf 1.7 Millionen im Jahr 1900 und auf über 21 Millionen Franken 1920. Und dieses Wachstum beruht fast ausschliesslich auf dem Export fertiger Uhren: ihr Anteil an den Uhrenexporten nach Indien von 1885-1920 beträgt 97.4%. Die Schweizer Uhrenhersteller gründen in Indien keine AssemblageFabriken, wie sie es zum Beispiel in Russland oder Japan tun. Auf dem Indischen Subkontinent gib es keine einheimische Uhrenproduktion. Somit hat der Handel mit Schweizer Uhren dort freies Spiel. Bei diesen Uhren handelt es sich hauptsächlich um einfache und günstige Produkte. Man kann gar eine stetige Abnahme ihres durchschnittlichen Werts von 22 Franken im Jahr 1885 auf 6.5 Franken 1915 beobachten, bevor der Wert 1920 wieder auf 17 Franken steigt. Bei den Exporten handelt es sich also nicht einfach um 65 watch around Nr. 011 Frühling-Sommer 2011 | GESCHICHTEGESC Luxusuhren für die Wirtschaftselite, sondern auch um Produkte für die Mittelschichten, die mit der Entwicklung der indischen Städte und Industrie in Erscheinung treten. Die Beamten des British Empire, die die Kolonie verwalten, sind eifrige Abnehmer der helvetischen Uhren. Auch die Eisenbahnen und die Armee sind wichtige Kunden der Schweizer Uhrenindustrie, wie sich den Inseraten der Schweizer Firmen entnehmen lässt, die auf diesem Markt präsent sind. Somit ist Indien in den frühen 1920er Jahren zu einem wichtigen Absatzmarkt für Schweizer Uhren geworden. Die relative Bedeutung dieses Marktes nimmt gar noch stetig zu : von 1.0% Volumenanteil an den Uhrenexporten im Jahr 1885 auf 1.8 % 1900 und gar 8.8 % im Ausnahmejahr 1920. Damit hat er beinahe die Bedeutung des amerikanischen Marktes erreicht. Erweiterte Absatzmärkte. Für die Zwischenkriegszeit weisen die Exportstatistiken eine grosse Stabilität des indischen Marktes aus : Im Mittel belaufen sich die Uhrenexporte in dieses Land auf 4.6 Millionen Franken jährlich und umfassen hauptsächlich komplette Uhren (95.4 % der Exporte). Die halbe Million Uhren, die Jahr für Jahr an den Indischen Subkontinent gehen, machen über 3 % der gesamten Schweizer Exporte aus. In den 1930er Jahren ändert sich die Struktur des Marktes jedoch stark. Um der weltweiten Krise zu trotzen, werfen die Schweizer Uhrenhersteller neuartige Typen einfacher und standardisierter Uhren auf den Markt. So bringt die West End Watch, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu den wichtigsten Schweizer Firmen gehört, die auf dem indischen Markt präsent sind, eine neue günstige Uhr, die Secundus heraus, die sowohl als Taschenuhr wie als Armbanduhr angeboten wird. Im Folgejahr lanciert dieselbe Firma ihre Marke Sowar mit einem neuen, preiswerten Armbanduhrmodell neu. Diese Uhren sind hauptsächlich für die Arbeiter und eine weniger exklusive Kundschaft bestimmt und tragen zur Demokratisierung der Benutzung von Uhren bei der städtischen Bevölkerung Indiens bei. Auslagerung nach Indien? Nach der Unabhängigkeit von 1947 verfolgt Indien eine Wirtschaftspolitik, die fundamental mit der Kolonialzeit bricht. Der Staat 66 | watch around Nr. 011 Frühling-Sommer 2011 etabliert sich in den 1950er und 1960er Jahren als Hauptakteur in der industriellen Entwicklung des Landes. In der Kontrolle über den Aussenhandel in der Nachkriegszeit und der Einführung des zweiten Fünfjahresplans (1956-1961) zeigt sich das Bestreben des Staates, eine nationale Industrie aufzubauen und die ausländischen Einflüsse auf die inländische Wirtschaft möglichst zurückzubinden. In der Uhrenbranche kontingentieren die Behörden die Importe und führen für Unternehmen, die Uhren nach Indien verkaufen möchten, ein Lizenzsystem und damit Handelsbeschränkungen ein, die bis Ende der 1990er in Kraft bleiben und zum Ziel haben, den Aufbau einer einheimischen Uhrenindustrie zu fördern. In der Schweizer Uhrenbranche ist man sich der Herausforderung bewusst, jedoch uneins über die Strategien, mit denen man ihr begegnen könnte : Soll man sich an der Verlagerung der Industrie beteiligen, um Marktanteile zu behaupten ? Oder soll man im Gegenteil diese Praxis verbieten und den Export fertiger Produkte fördern ? 1958 wird von der Uhrenindustrie eine Delegation nach Indien entsandt, um die Produktionsmöglichkeiten vor Ort zu studieren. Allerdings untersagen die Bestimmungen des Uhrenstatuts (siehe WA010) den Schweizer Firmen vorerst solche direkten Investitionen im Ausland. Als der Kartellzwang 1961 gelockert wird, sehen die Firmen immerhin eine Möglichkeit, die Auslagerung eines Teils ihrer Produktion nach Indien zu erwägen. So ziehen sechs Schweizer Unternehmen, von denen mehrere schon seit langem auf dem indischen Markt etabliert sind, den Aufbau von Produktionsbetrieben vor Ort in Betracht, nämlich SSIH (mit Tissot und Omega), Favre-Leuba, Enicar, Degoumois, Benrus (eine amerikanische Firma mit Schweizer Niederlassung) und Langendorf. Sie richten 1964 ein Gesuch an die eidgenössischen Behörden, mit dem sie die Erlaubnis erwirken möchten, in Indien zu investieren. Doch weder dem Uhrenverband noch der Schweizerischen Uhrenkammer gelingt es trotz derEinsetzung von ad hoc-Arbeitsgruppen, eine Einigung in der helvetischen Uhrenbranche zu erzielen, denn einige Fabrikanten wehren sich heftig gegen den Industrietransfer. Das hat zur Folge, dass bis Ende der 1960er Jahre kein einziges namhaftes Uhrenindustrieprojekt mit Schweizer Beteiligung konkret wird. CHICHTEGESCHIC West End-Kataloge der 1930er Jahre (oben) und von 1943 (vorige Seite). Der Markt wird der Konkurrenz der Schweiz überlassen. Unterdessen sind die Hauptkonkurrenten der Schweizer Uhrenindustrie gut gerüstet. Sie investieren in Indien und tragen zum Aufbau einer Uhrenindustrie in dieser Region in den frühen 1960er Jahren bei. Dazu sind etwa jene Uhrenfabrikanten zu zählen, die mit indischen Partner die Firma Indo-French Time Industries Private Ltd. in Bombay gründen, oder das deutsche Unternehmen Kasper & Co aus Pforzheim, das mit lokalen Industriellen die Asika Time Industries Private Ltd. in Konoor ins Leben ruft. Beide bauen Uhrwerke zusammen, die sie aus Frankreich beziehungsweise Deutschland importiert haben. Doch hauptsächlich ist es die japanische Firma Citizen Watch, die in Indien Fuss fasst, indem sie in Bangalore ein Joint Venture mit der HMT (Hindustan Machine Tool) eingeht, die 1953 von der indischen Regierung zur Herstellung von Werkzeugmaschinen und Präzisionsinstrumenten gegründet wurde. Das japanische Unternehmen stellt ebenfalls seit Mitte der 1950er Jahre Werkzeugmaschinen her, die es nun exportiert, um die Uhrenwerkstätten der HMT zu bestücken. Zudem beliefert es seinen indischen Partner so lange mit Rohwerken und Bestandteilen, bis er in der Lage ist, eigene Werke herzustellen. Am engsten ist die Zusammenarbeit jedoch bei der Ausbildung des indischen Fachpersonals. 1961 nimmt Citizen 51 indische Ingenieure auf, um sie ein Jahr lang in ihren Betrieben zu schulen. Im Juni 1962 wird eine Gruppe Ingenieure von Citizen nach Indien geschickt, um gemeinsam mit 67 watch around Nr. 011 Frühling-Sommer 2011 | GESCHICHTEGESC © CEJARE, Saint-Imier. Fonds Aubry Frères SA Infolge der geschilderten Politik stagnieren die Uhrenexporte nach Indien und können nicht mehr ungehindert wachsen. Bis 1955 ist noch ein merkliches Wachstum feststellbar, und vor allem werden weiterhin fertige Uhren exportiert (93 % der Uhrenexporte nach Indien im Jahr 1955). Mit dem Aufschwung von HMT in den 1960er Jahren nehmen die Exporte fertiger Uhren jedoch ab, und ihre Stückzahl sinkt von 918 000 im Jahr 1955 auf 30 000 1970 und 12 000 im Jahr 1980. Hohe Zahlen erreichen die Uhrenexporte nach dem Subkontinent vor allem noch dank der Bestandteile, die zweifellos für die indischen Firmen bestimmt sind. Der Anteil der Fertiguhren an den Exporten nach Indien schwindet jedoch von über 90 % noch in den 1950er Jahren auf 46 % 1970 und nur noch 24% 1980. West End-Inserat aus den 1940er Jahren. den heimgekehrten indischen Technikern den Produktionsaufbau zu überwachen. Und im Dezember 1962 geht die Firma dann in Betrieb. HMT wird im Laufe der 1970er Jahre zum grössten indischen Uhrenhersteller. Die indische Produktion beruht zwar hauptsächlich auf der Assemblage meist aus Japan importierter Stücke, boomt jedoch regelrecht in den 1960er und 1970er Jahren. Von 1965 bis 1980 steigt die einheimische Uhrenproduktion von 208 000 auf 4.8 Millionen Stück. Seit den späten 1980er Jahren ist auch die Firma Titan kräftig am Aufschwung der indischen Uhrenindustrie beteiligt, die den Heimmarkt vor allem mit Quarzuhren versorgt und zum Hauptkonkurrenten von HMT wird. 1993 beläuft sich die indische Uhrenproduktion auf gegen 30 Millionen Stück, an denen HMT einen Marktanteil von 47% und Titan einen Anteil von 37% hält. 68 | watch around Nr. 011 Frühling-Sommer 2011 Die Liberalisierung. Die liberale Wirtschaftspolitik, die ab Ende der 1990er Jahre praktiziert wird, erlaubt den Schweizer Uhrenfabrikanten schliesslich eine kraftvolle Rückkehr auf den indischen Markt. Nach und nach fallen alle Einfuhrbeschränkungen für Schweizer Uhren, namentlich das bis 1998 geltende System der Sonderlizenzen für den Import und auch eine untere Wertschwelle für Importe (von 35000 Rupien oder ca. 1000 Dollar bis 2000 und von 4000 Rupien oder rund 120 Dollar bis 2002). Seit 2002 ist der Uhrenhandel mit Indien vollständig liberalisiert. In der Folge steigen die Exporte nach dem Subkontinent von 14 Millionen Franken im Jahr 1990 auf 21.9 Millionen 2000 und über 77 Millionen im Jahr 2008. Auch im Anteil der Fertiguhren, der von 24.3 % im Jahr 1980 auf 95.5 % 2000 steigt, spiegeln sich die Veränderungen der 1990er Jahre. Trotz dieser starken Expansion figuriert Indien 2009 bloss auf dem 26. Platz der Absatzmärkte der Schweizer Uhrenindustrie. Zusammen mit einigen Ländern des Fernen Ostens verzeichnet dieser Markt jedoch Ende der 2000er Jahre eine der stärksten Wachstumsraten. Die kürzliche Eröffnung von Monomarken-Boutiquen in Bangalore und in den grössten indischen Metropolen nach dem Vorbild von Omega, die es 2010 schon auf fünf davon brachte, ist ein sichtbares Zeichen des Potenzials dieses Marktes. •