Lesung Claudia Hempel: „Zurück auf Los. Frauen erzählen aus der

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Lesung Claudia Hempel: „Zurück auf Los. Frauen erzählen aus der
Lesung Claudia Hempel: „Zurück auf Los. Frauen erzählen aus der Arbeitslosigkeit“
Dokumentation
Alle 13 Frauen, die Claudia Hempel für ihr Buchprojekt interviewte, waren arbeitslose Akademikerinnen. Sie wollten ihre Geschichte erzählen, doch Anonymität war ihnen wichtig. Sie zählten sich ohne
Job oftmals zu den Verliererinnen der Gesellschaft, zweifelten an ihrem gesellschaftlichen Status.
Außerdem dürfen selbst über das Arbeitsverhältnis hinaus, Firmeninterna häufig nicht an Dritte weiter
gegeben werden. Also wurden die Namen der Frauen geändert, die ehemaligen Arbeitnehmer blieben
unbenannt.
Die Aussagen der 13 Frauen in „Zurück auf Los. Frauen erzählen aus der Arbeitslosigkeit“ beweisen,
dass Arbeitslosigkeit nicht nur schlecht qualifizierte und unflexible, sondern auch bestens ausgebildete
Menschen treffen kann, so das Fazit von Claudia Hempel, das sie an den Anfang ihres Buches stellt.
Interviewausschnitte:
Drei Interviews, aus denen Claudia Hempel zur Lesung am 2. April 2008 im Frauenstadtarchiv Dresden Passagen vortrug, werden hier in verkürzter Form zitiert:
Anne S., 55 Jahre, Filialleiterin, seit sieben Monaten arbeitslos
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drei Jahre Ausbildung zur Verkäuferin, Bereich Foto/Optik
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Studium zum „Ökonom für Binnenhandel“, Fachrichtung Ein- und Verkauf sowie Betriebsführung
(heute: Betriebswirtin)
•
Studium „Neuerer- und Patentrecht“ an der Kammer der Technik
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Entlassung unmittelbar vor dem 30. Betriebsjubiläum
„Das Kündigungsgespräch fand drei Tage vor meinem 30. Betriebsjubiläum statt. Eine viertel Stunde
danach bin ich aus dem Haus gegangen und habe das Haus zehn Jahre nicht mehr betreten. Ich hatte noch überlegt, ob ich übers Arbeitsgericht gehe, doch ich hatte einfach nicht mehr die Kraft dazu.
Da lief ja noch die Scheidung und ich war sowieso am Ende. Da habe ich die Abfindung genommen
und bin gegangen. Es gab auch Leute, die haben sich gefreut, die haben sich hinter meinem Rücken
die Hände gerieben und gedacht: Na, endlich hat es die auch mal getroffen. Ich hatte ja die Wende
unbeschadet überstanden. Als plötzlich alle arbeitslos wurden, hatte ich Arbeit. Das hat mein Weltbild
sehr verändert, ich habe mir gesagt: Das sind alles Wölfe im Schafspelz, du musst verdammt vorsichtig sein. Ich bin gleich am nächsten Tag aufs Arbeitsamt – ich wusste gar nicht, wo das war. Das hatte
mich ja noch nie interessiert. Ich habe zu dem Beamten dort gesagt: ‚Ich will irgendwas tun, haben sie
nicht einen Lehrgang oder so was für mich?’ Da habe ich einen Marketinglehrgang belegt […].“
S. 38)
Anne S. kam dann zu einer französischen Baumarktkette. Anfangs arbeitete sie in der Holzabteilung,
später wechselte sie in die Eisenwarenabteilung. Als das Unternehmen nach Polen ging, wurde sie
wieder arbeitslos. Für ein Jahr kam Anne S. dann zu einer großen Bekleidungskette. Sie wurde halb-
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tags als Führungskraft eingestellt, doch der Arbeitsvertrag von einem Jahr wurde nicht verlängert. Das
Arbeitsamt konnte nicht helfen.
„Ich mache aber weiter. Ich fahre jetzt einfach direkt zu den Filialen hin. Am Montag fahre ich nach T.,
dort habe ich mich beworben, die haben aber nicht geantwortet. Ich fahre da einfach hin und frage,
was mit meiner Bewerbung ist. Wenn die einen sehen, dann denke ich, habe ich in meinem Alter Vorteile. Ich wollte schon immer weg von hier, aber das hat noch nie geklappt. Ich hätte überhaupt kein
Problem, irgendwo anders sesshaft zu werden. Da klapp ich meine Wohnung zusammen und los
geht’s. Ich hänge nicht an Werten, sondern ich sage mir einfach: Es muss interessant sein. Ich habe
doch jetzt alle Möglichkeiten! Kann mich frei bewegen, habe kein kleines Kind, habe keinen Mann, der
sagt: Das kannst Du nicht. Und ich habe auch kein Haus. Also von der Seite her ist es ja unkompliziert. Aber es muss halt ein Ort sein, wo ich weiß: Die wollen mich hier. Und das ist so schwierig.“
(S. 42)
Karin A., 48 Jahre, Vertriebsleiterin, seit dreizehn Monaten arbeitslos
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Lehre zur Industriekauffrau
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Sachbearbeiterin (Einkauf, Verkauf)
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Direct Reports
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Marketingmanagerin
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Vertriebsleiterin für Deutschland, Österreich, Schweiz
„Arbeit ist für mich etwas ganz Essenzielles. Ich hatte auch nie den großen Drang nach einem Kind.
Am Anfang war es so, dass ich mir gedacht habe: Na ja, vielleicht mal später. Dann habe ich mir oft
gedacht: Warum? Nur weil es von der Natur so vorgesehen ist? Ich weiß nicht. Dann kam auch immer
etwas dazwischen. Zum Beispiel als meine erste Firma pleite gemacht hat und mein Geld weg war.
Da habe ich mir gedacht: So, jetzt musst du noch mal ein paar Jahre ranklotzen. Irgendwie war halt
immer etwas. Als wir uns dann für das Haus entschieden haben, war eh klar, das hätten wir so nicht
geschafft. Da war ich ja auch schon vierzig.“ (S. 87f.)
Dann wurde auch Karin A. entlassen. Sie meldete sich beim Arbeitsamt arbeitslos, bekam von dort
einen Business-Englischkurs angeboten. Der Kurs ging über acht Wochen, acht Stunden täglich.
„Durch diese Arbeitslosigkeit jetzt habe ich einen absoluten Bruch in meiner Lebensauffassung. Ich
hatte immer den Gedanken: Wenn du nur hart genug arbeitest, dann bringst du es weit. Ich bin gar
nicht auf die Idee gekommen, dass ich mal arbeitslos werden könnte! […] Woran ich merke, dass
mich die Arbeitslosigkeit ganz schön mitnimmt, das sind so Kleinigkeiten. Neulich bei McDonald`s - da
stehen fünf Autos, denen man ansehen kann, dass sie wahrscheinlich Firmenwagen sind. Da ist mein
Blick geschult, das sieht man, wenn man selber lange Zeit Firmenautos hatte. Und dann weiß man
auch, mittags bleibt einem oft nichts anderes übrig: Zwischen zwei Kundenterminen gehst du zu
McDonald`s. Ich fahr da also so dran vorbei und auf einmal kriege ich eine Mordswut und denke:
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Wieso haben diese fünf Arschlöcher einen Job und ich nicht? Ich weiß genau, die arbeiten auch nicht
besser als ich.“ (S. 88f.)
Karin bekam nach anderthalb Jahren Arbeitslosigkeit einen neuen Job. Sie arbeitet wieder im Vertrieb,
ist geschäftlich oft in London und den USA unterwegs. Der Business-Englischkurs hat sich für sie
ausgezahlt.
Roswitha M., 49 Jahre, Ethnologin, seit sechs Jahren arbeitslos
•
Studium in der Fächerkombination Völkerkunde, Französisch, Pädagogik
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Wechsel des Studieneinfaches, statt Pädagogik Studium der Theologie
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Aushilfsunterricht in Schulen
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Kurse in der Erwachsenenbildung auf Honorarbasis, parallel Verfassen der Dissertation
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Forschungsstipendium
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freiwillige Praktika, oftmals ohne Bezahlung
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Entwicklungshelferin in Lateinamerika
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befristete Arbeitsverhältnisse, Praktika
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Lehrtätigkeit an einer Universität in Lateinamerika, Studiengang: angewandte Ethnologie
„Je besser ich wurde, desto schwieriger wurde es mit der Stellensuche.“ (S. 93)
„Ich habe zu meinem Arbeitsberater gesagt: ‚Ich wäre auch bereit, für weniger Geld zu arbeiten, als
mir gesetzlich zusteht.’ Ich werde nie vergessen, wie er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und sagte:
‚Sie haben drei Probleme auf einmal: Sie sind zu hoch qualifiziert, das heißt zu teuer, Sie sind zu spezialisiert und Sie sind zu alt.’ - Damals war ich gerade Mitte Vierzig!“ (S. 94f.)
Während ihrer Arbeitslosigkeit nahm Roswitha M. eine Nebentätigkeit auf Honorarbasis (sechs Stunden die Woche) in einer kleinen Bibliothek an. Was sie dort verdiente, wurde ihr von der Arbeitslosenhilfe abgezogen, die Rentenbeiträge wurden gekürzt. Konkrete Auskünfte konnte ihr vom Amt keiner
geben.
„Am Ende hatte ich eine Frau dran, die sagte mir: ‚Da haben Sie halt Pech gehabt, wenn Sie so viel
verdient haben. Das wirkt sich auf Ihre Rente aus, Sie bekommen dann weniger.’ Ich war erst einmal
sprachlos und sagte zu ihr: ‚Dann muss man doch die Menschen informieren, dass sie weniger Rente
bekommen, wenn sie sich selbst um Arbeit bemühen und zusätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld noch
arbeiten!’ - ‚Ach, die meisten Leute interessiert das nicht’, antwortete sie. Ich fühlte mich von allen
Seiten nur noch geohrfeigt. Ich habe das nicht auf mir sitzen lassen, ich wollte unbedingt herausfinden, ob das wirklich korrekt war und wenn ja, warum. Ich bin bis zur obersten Ebene auf dem Arbeitsamt durchgedrungen und habe erfahren, dass es wirklich so war. Das bedeutet, ab dem Zeitpunkt, ab dem ich diese Honorartätigkeit in der Bibliothek hatte, sind die Rentenbezüge nur noch in
Höhe der tatsächlich ausgezahlten Arbeitslosenhilfe bezahlt worden. Ich habe mir also rentenmäßig
sehr geschadet, dadurch, dass ich den Staat entlastet habe. Wenn ich gar nicht gearbeitet hätte, wäre
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ich rentenmäßig viel besser gekommen. […] Was ist denn das für ein Staat? Was ist denn das für ein
System?“ (S. 96f.)
„Ich denke, momentan wird eine Zweiklassengesellschaft geschaffen: die einen, die Arbeit haben, die
voll abgesichert sind, die voll darauf vertrauen können, dass sie bis zum Rentenalter arbeiten werden,
und die anderen, die in völlig ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen sind, immer voller Angst,
zum Teil nicht abgesichert, und die Arbeitslosen, die alles mit sich machen lassen. Ich habe mal irgendwo den Satz gehört: ‚Wir werden mit großer Beschleunigung in das 19. Jahrhundert zurückkatapultiert.’ Die meisten Leute sind sich dessen aber nicht bewusst. Die Leute, die Arbeit haben, sind so
überlastet mit ihrer Arbeit, die können gar nicht mehr nachdenken. Die Leute, die keine Arbeit haben,
die sind wieder anders beschäftigt, die sind ständig auf der Suche nach Lösungen für ihre Probleme:
auf der Suche nach Arbeit, auf der Suche nach einem Verdienst. Sie alle sind so resigniert, weil sie
überhaupt nicht wissen, in welche Richtung es weiter geht. Sie tun einfach nichts, sind völlig erstarrt.
Und die wenigen Leute, die wirklich aktiv sind, die schaffen es einfach nicht, an die Öffentlichkeit vorzudringen. Deswegen denke ich, es ist das Wichtigste, sich gut zu organisieren. Solange die Leute
Arbeitslosigkeit als ihr eigenes, individuelles Problem sehen, werden sie auch nicht auf die Idee kommen, eine Gruppe zu suchen, um Probleme gemeinsam zu lösen. […] Das Problem ist, dass Arbeitslose keine Lobby haben.“ (S.107f.)
Vor Erscheinen des Buches suchte die Autorin erneut den Kontakt zu den Interviewpartnerinnen. Sie
wollte wissen, was aus ihnen geworden ist, wie sich ihr Leben seitdem verändert hat, ob sie eine neue
Arbeit gefunden haben.
Im Nachspann ist zu lesen, dass Anne S. und Roswitha M. noch immer ohne Arbeit sind. Anne S.
bekommt vom Arbeitsamt keinerlei Förderung mehr. Die Ethnologin Roswitha M. ging in die Offensive.
Sie schrieb Briefe an ihre zuständige Bundestagsabgeordnete, an den Bundespräsidenten und sogar
an das zuständige Bundesministerium. Eine Antwort blieb man ihr schuldig. Fast hätte sie einen Entwicklungshelfervertrag bekommen, aber die Bearbeitung der Agentur für Arbeit überdauerte die Frist
für den Arbeitsbeginn.
Karin A. hatte mehr Glück. Nach anderthalb Jahren Arbeitslosigkeit fand sie erneut eine Stelle im Vertrieb.
(Quelle: Claudia Hempel: Zurück auf Los. Frauen erzählen aus der Arbeitslosigkeit. Springe 2006)
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